Kapitel 6 – Harte Wahrheiten
Nach einem langen Tag verabschiede ich mich von Lixt. Ich möchte den vollen Körper zur Verfügung haben, wenn der Meister gleich in sein Zimmer geht, für den Fall der Fälle. Sie ist etwas traurig, dass ich gehen muss – wird wieder eine Nacht ganz alleine verbringen – aber ich verspreche ihr, dass ich den Meister überzeuge, möglichst schnell etwas wegen Golanthe zu unternehmen. Lixt fühlt sich nicht sicher genug, ganz ohne Aufsicht ihren Golem neu zu beschwören – abgesehen davon, dass sie gar nicht wüsste, wie sie ungesehen an Material kommt, hier in den überall vermauerten Hallen. Auch das, lässt der Meister ihr durch mich mitteilen, ist kein Problem. Er hat einen Plan. Natürlich. Wird er ihn mir verraten? Natürlich nicht. Das Übliche.
Wieder vereint tarne ich mich als Armreif, zur weiteren Sicherheit unter den Ärmeln des Novizengewandes versteckt, und begleite so den Meister durch die Gänge. Ein unbekannter Tongolem kommt uns entgegen; ich spanne figurativ die Muskel an...ist es ein Attentäter? Nein, er drückt sich brav an die Wand und lässt den Meister ohne Probleme vorbei.
Und murmelt ihm dabei etwas zu. Kurz schießt der Blick des Angesprochenen zur Seite, dann zwingt er aber seine Augen nach vorne. Tut so, als würde er sich am Kopf kratzen, um mit mir zu flüstern. "Was hat er gesagt?"
"Fluchfalle über der Tür", antworte ich, die krude Sprache des anderen Golems interpretierend. Der Meister grinst. "Ausgezeichnete Arbeit, ihr beide, wirklich."
"Du solltest Ingkrias' Golem danken. Dass er so schnell einen Boten bekommen hat, und ihm innerhalb eines Tages genug Sprache beigebracht hat, dass ich ihn verstehen kann..."
"Ja, scheint so, als hätten die größten Idioten die anständigsten Golems, haha." Ich verstehe den Witz, fühle mich aber trotzdem verpflichtet, zu protestieren, was der Meister aber unterbricht. "Nein, deine Anständigkeit macht der Zweite gut wieder wett."
Wir versinken für ein Weilchen in Schweigen, bis die Tür und die Falle dahinter auftauchen. Eine Dreiergruppe Skelette kommt gerade um die Ecke; der Meister geht an seinem Zimmer vorbei, lässt sie passieren, außer Sichtweite geraten, und dreht dann um.
"So...wärst du dann so gut, Golem?", fragt er mich, und dann fällt ihm etwas ein. "Oder soll ich dich jetzt Dorelem nennen?"
Ich bin ein wenig zerknirscht. "Na ja, den Namen hat 'nur' Lixt mir gegeben, was ja eigentlich irgendwie dein Recht wäre, aber...er gefällt mir ganz gut..."
"Ach, ich bin ganz froh darum. Du meintest immer, dass du nicht unbedingt einen Namen brauchst, mit Golem zufrieden bist, aber mir ist es schon lang immer blöder vorgekommen, dass ich dich so nenne. Nur bin ich wirklich nicht gut mit Namen, und du hast mich nicht wirklich gedrängt, also...es tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat, möchte ich sagen." Kurze Pause. "Aber ich fand es ein wenig komisch, dass der
Zweite es mir sagt."
Er
ist leicht verletzt, dachte ich es mir doch. "Ich war leider lange damit beschäftigt, Lixt zu beruhigen. Hättest du das lieber ihm überlassen?"
"Haha, nein. Aber sei vorsichtig, dass ich nicht eifersüchtig werde auf die ganze Aufmerksamkeit, die du meinem Mädchen schenkst...Scherz. Was hältst du eigentlich von der Sache, Zweiter? Willst du wirklich keinen besseren Namen?"
"Ich hatte nie einen Namen und verlange nach keinem. Jedoch möchte ich höflichst darauf hinweisen, dass die nächste Patrouille in etwa drei Minuten vorbeikommen wird. Und wir nicht wissen, wie diese Falle konkret aussehen wird. Ihr wollt vermeiden, dass jemand bemerkt, dass man Euch nach dem Leben trachtet, habe ich das richtig verstanden?"
"Ja, ja, so ist es", antwortet der Meister zerstreut.
"Darf ich dann aufs Ergebenste Abstand empfehlen?"
"Sicher. Aber ist es wirklich in Ordnung, dass ich dich weiterhin 'Zweiter' nenne? Das ist so...abwertend. Und ich glaube, du hast deinen Willen, mit uns konstruktiv zusammenzuarbeiten, genug bewiesen."
"Es ist so gut wie jede andere Anrede, um Verwechslungen zu vermeiden. Ich werde jetzt hineingehen."
Irgendwie benimmt er sich komisch – ich weiß ja, dass er eine Menge Privates zu verbergen hat, und nachdem ich schon mehr und weniger freiwillig ein paar Blicke darauf werfen durfte, weiß ich auch, dass er guten Grund dafür hat. Aber es war selten so offensichtlich, dass ihm ein Thema so...nahe geht.
Wir fließen unter der Türschwelle hindurch. Sofort sehe ich, wie ein dunkel oranges Leuchten beginnt, den sonst lichtlosen Raum zu erhellen, sodass meine Nachtsicht nutzlos wird. Über unserem Kopf schwebt das Symbol eines Fluchs...ein einzelner Glühfaden, wie der Schweif eines Kometen, der von einer im Kreis fliegenden Kugel ausgeht.
Ach so ist das. Und ich hatte mich schon gewundert, wie er den Meister mit einem Fluch umbringen will.
Was ist das?
Mittelpunkt. Verwirren auf die ganz Gemeine. Die verwirrten Gegner greifen nicht mehr wahllos Ziele an, sondern nur noch ein Bestimmtes.
Ich fühle mich gar nicht so, als müsste ich den Meister angreifen.
Nein, Tonschädel. Wir sind das Ziel.
Mach dich bereit.
Wo...oh. Ich höre sie, bevor ich sie in dem schlechten Licht sehe, unzählige Füße in stetigem Rhythmus, ein Klicken und Scharren, eine Armee: Skorpione, gut ein Dutzend, die bis zur Auslösung des Fluches friedlich im Strohbett geruht hatten, und jetzt auf uns zurennen, dabei keine Rücksicht aufeinander nehmen, es zählt nur, dass wir sterben. Es sind große Exemplare, mit mächtigen Scheren und stolz erhobenen Stacheln, zuckend und bis zum Bersten mit Gift gefüllt. Sie wirken gesund, wohl genährt, gezüchtet sicher für genau ein solches Attentat. Kann sogar wie ein Unfall aussehen, wenn man nicht zu viele Fragen stellt, oder stellen will.
Die Klauen haben einen größeren Durchmesser als meine Schulterbreite. Die Spitzen der Stachel überragen mich.
Meine Hände formen ihre kleinen, lächerlich wirkenden Krallen. Sollten wir nicht lieber dem Meister Bescheid geben?
"Oh, hier ist ein ganzes Nest Skorpione, aber keine Sorge, die beißen nicht"? Wir müssten sie ohnehin ausrotten. Klar könnten wir schnell rausgehen, aber dann sammeln sie sich an der Schwelle und wir kommen nicht mehr rein.
"Alles in Ordnung?", flüstert der Meister durch den Spalt am Fuß der Tür. "Wir müssen Kammerjäger spielen", antworte ich, erleichtert, dass er nun doch informiert ist. Dann beginnt der Kampf. Ich lasse den Zweiten übernehmen – habe ich Ahnung davon, wie man Skorpione am besten verletzt? Er offenbar schon. Dem stoßenden Stachel des ersten weicht er aus, klug die Bewegungen des Gliedertiers lesend, was ich völlig verpasst hätte. Bisher hatte ich nur Übung mit sichtbaren Muskeln. Der Zweite packt den Stachel, schiebt ihn zur Seite, zwischen schon zupackende Scheren, die so blockiert sind, und den ersten auch vorerst außer Gefecht setzen. Schnell schrumpft unser Körper, damit der Hieb von der anderen Seite daneben geht, wir fließen unter den vergleichsweise weichen Bauch des Angreifers, und wie damals bei Duriel, stößt der Zweite nach oben, bohrt Klauen zwischen Körpersegmente und reißt. Eingeweide übergießen uns, das seltsam klingende Insektengeschrei erklingt, und dann wird der noch zuckende Körper schon weggerissen: Die anderen spüren ihr Ziel, setzen die Jagd fort, um jeden Preis. Noch sind die Krallen oben vom Heben des verendeten Kollegen, der Zweite nutzt das, springt darunter hinweg, packt ein Bein, reißt es aus und stößt es umgedreht in die gerade geschaffene Lücke im Panzer. Er erklimmt den ausgeschalteten Skorpion, um mehr Überblick zu gewinnen...
Der Todeskampf hat unserem letzten Opfer nicht sämtliche Kontrolle gekostet. Von hinten durchbohrt uns der Stachel.
Was solls. Keine Nerven hier zum Paralysieren.
Wir fließen zurück, um die Verdickung mit dem Gift darin, bis der Schaft des Schwanzendes in unserem Körper steckt, an der Verbindungsstelle bricht der Zweite das ganze Stachelsystem ab. Diese etwas klobige Waffe findet bald ein Ziel, und ich finde heraus, dass Skorpione nicht gegen ihr eigenes Gift immun sind.
Da halten die anderen plötzlich inne, wirken verwirrt. Was ist los?
Fluchdauer zu Ende.
Oh.
Na denn, das macht die Sache leichter.
Aber sie wehren sich jetzt gar nicht mehr!
Oh, sicher. Angreifen werden sie uns nicht mehr.
Ich töte ungern wehrlose Tiere.
Du spinnst.
Die Tür schiebt sich einen Spalt auf. "Alles klar? Oh. Die perfekte Gelegenheit, das einmal auszuprobieren."
Der Meister hebt eine Hand, und plötzlich tanzen grüne Punkte über den Köpfen der Skorpione. Kurz wirken sie noch hilfloser – und gehen dann aufeinander los, ein wildes Gemetzel. Kichernd tritt der Meister ein, geht vorsichtig um die sich gegenseitig zerreißenden Gliedertiere herum und zündet die Öllampe an, bevor er die Tür schließt.
"Gerade recht, da kommen die Skelette."
Ich starre missmutig auf das grausame Schauspiel. "Ist was, Go...Dolerem?", fragt der Meister besorgt.
"Dorelem. Ich weiß nicht, das kommt mir vor, wie einer Fliege die Flügel auszureißen."
"Fliegen haben keine Stachel. Kann nicht sagen, dass ich dich hier verstehe."
Er zerschlägt den letzten Überlebenden mit seinem Schuh. "Schau dir das an, hätte glatt noch durch die Sohle gestochen. Was haben Skorpione jetzt mit einem Fluch zu tun?"
Der Zweite erklärt es ihm, während ich mich schon daran mache, die verstümmelten Überreste einzusammeln. Wie soll ich die denn vernünftig verstecken?
"Leg sie einfach auf einen Haufen. Also, Mittelpunkt, hm. Klingt teuflisch. Aber nützlich. Verwirren funktioniert ja schon einmal prima."
Ach, das waren die grünen Punkte...wenn so etwas über mir tanzte, würde ich sicher auch ganz kirre werden. Als ich die Kadaver gestapelt habe, erschafft der Meister abwesend ein halbes Skelett aus ihnen: Ohne Gliedmaßen außer einem handlosen Arm. Es zerfällt nahezu sofort wieder, und hinterlässt – natürlich – nur Staub. Ich rümpfe die Nase...die Weichteile müssen ja trotzdem noch entsorgt werden. In einem kleinen Beutel, den kann er dann wegwerfen, beschließe ich.
"Kommst du klar mit dem Rest?", fragt der Meister, mit großer Hoffnung in der Stimme, dass ich nicht verneine.
"Aber natürlich. Leg dich hin.", komme ich ihm entgegen. Was solls. Das erledigt sich so nebenbei.
Der Hauptkörper ist derweil schon mit einem anderen Golem allein – Meisterin Fratellas schlanker Eisendiener, den sie so geformt hat, wie sie vielleicht einmal in ihrer Jugend ausgesehen hat, mit breiter Brust und Hüften. Ähnlich meinem Modell hat sie ebenfalls versteckte Klingen in den Armen, Dolche mit filigran scheinender Klinge, aber das täuscht, genauso wie die sonst harmlose Erscheinung, ohne die Stacheln und Dornen überall, die der Meister mir verpasst hat. Die Dolche sind seit Kurzem mit potentem Gift verzaubert. Eine unserer interessantesten Nachrichten für den Meister, da Meisterin Fratella die Verzauberung kurzerhand vor meinen Augen an ihrem Golem ausprobiert hat.
Man muss es ihr lassen, die Sache permanent zu machen, hat mein Meister nicht hinbekommen. Wobei ihn der Nahkampf natürlich auch nie interessiert hat. Schade nur, dass es etwas wenig Sinn hätte, unseren eigenen Dolch mit Gift zu verstärken...
Ja, eine wahre Schande, das. Viel bedrückender finde ich, dass die gute Meisterin tatsächlich zu vernünftiger Stunde ins Bett gegangen ist und wir deswegen schon viel früher als sonst die Nacht mit einer stummen Wächterin in der Ecke des Raumes beginnen.
Konzentrier dich doch derweil auf das Saubermachen.
Nein, danke, da nehme ich dir doch lieber noch ein paar Stunden mit Schach ab. Oder sollen wir sie auch ansprechen?
Ingrias' Golem leistet gute Arbeit und wir können ihm offenbar vertrauen, es gibt keinen Grund, dieses Risiko einzugehen.
Hast ja Recht.
"Mir wurde gesagt, dass ich dir für ein gewisses Geschenk danken muss?", ertönt plötzlich eine hohe, metallische Stimme im Raum. Was mir ein Grinsen aufs Gesicht zaubert. "Das klingt richtig, ja...", antworte ich. Die Nacht ist gerettet.
Oh Hölle, und ich habe mich so auf ein wenig Ruhe gefreut...
Tatsächlich hat der Zweite nach einigen Stunden keinen Grund mehr, sich zu beschweren. Meine Gesprächspartnerin ist nicht ganz so in Dankbarkeit ergeben wie der Papiergolem, aber sie möchte genausowenig wie er, dass mir und damit dem Meister etwas zustößt. Der Zweite übernimmt das Reden nach kurzer Zeit, leiert ihr, ohne zuviel von unserer Situation preiszugeben, Information über Information aus den Stahlrippen. Könnte die Meisterin Interesse daran haben, dem General zu schaden? Ein klares "vielleicht", aber sie beharrte bisher auf der Meinung, dass er zwar mehr schaden als nutzen würde, schreckt aber davor zurück, ihn zu exekutieren. Ist insofern, allein weil mehr als ein Meister das deutlich anders sehen – ohne es direkt auszusprechen, allerdings – eine starke Unterstützerin von Meister Valtores, wenn sich die Ältesten wieder einmal streiten. Viele von den genannten Namen sagen mir nichts, wobei ich überrascht bin, dass der so trockene und in der Vergangenheit zu leben scheinende Meister Baranin ganz klar ausspricht, dass er den Verbleib des Generals hier für sehr richtig hält. Der Zweite saugt natürlich die uns noch unbekannten Namen auf wie ein Schwamm. Ich stelle fest, dass Ingkrias kein einziges Mal erwähnt wird.
Er ist ein Opportunist. Hat keine feste Meinung, kann so jede Seite unterstützen, wenn die am Gewinnen ist, und am Schluss behaupten, dass er es immer schon gesagt hat. Und zieht nebenbei die Fäden im Hintergrund. Genau, was ich ursprünglich von Lixt dachte.
Und auf welche Gelegenheit genau
wartet er? Mir fehlt hier irgendwie die Motivation, wenn man bedenkt, wie alt er schon ist.
Ich weiß es nicht. Aber es kann nicht gut sein, dass ihm so viel daran liegt, die potentesten Flüche aus dem Buch zu erfahren – und das Wissen über sie sorgsam geheim hält. Und nebenbei hinterrücks versucht, den Status Quo zu untergraben. Die Leute scheinen auf Valtores zu hören, seine Meinung hat Gewicht, auch wenn hier keiner ein definierter Anführer ist...das kann Ingkrias nicht gefallen.
Du meinst, er plant einen Putsch?
Ich denke, er weiß nicht, warum Valtores den Meister als Novizen aufgenommen hat – so wenig wie wir, möchte ich hinzufügen – und das macht ihn völlig fertig. Nach dem, was ich so höre, freut sich Valtores durchaus, dass er seine Ansichten durchsetzen kann, aber es scheint fast so, als liege ihn wirklich nicht allzuviel an Machtgewinn. Was auch kompletter Unfug wäre, die haben ein gutes Gleichgewicht geschaffen. Würde einer versuchen, sich über die anderen zu erheben, bekäme er von allen Seiten Widerstand. Wenn man eine solche Situation versteht,
ist das das Paradies. Man ist in einer Position, die sich quasi nicht verbessern lässt, als Teil eines gleichberechtigten Gremiums, das den Laden am Laufen hält. Aber weil man sich als schon immer als vernünftig erwiesen hat, kann man Vorschläge bringen, die öfter als die von anderen gehört werden. Valtores hat sich hier ein wunderbares Nest geschaffen, er kann quasi tun, was er will, ohne die Regeln ihrer Oligarchie auch nur zu biegen.
Ingkrias dagegen versteht die Situation nicht im mindesten. Es geht ihm nicht ein, dass man vollkommen zufrieden sein kann damit, es so weit gebracht zu haben. So ist er paranoid – möchte Valtores vielleicht die absolute Macht an sich reißen, ihn, der andere Meinungen hat, aus dem Rat werfen? Niemals würde Valtores das machen, weil er nicht dumm ist, aber das könnte man Ingkrias nie erklären. Er sieht den Meister, einen unbekannten Faktor, aufgenommen mit unbekannter Motivation, und sieht eine Trumpfkarte. Eine Waffe in der Hinterhand. Er will Klarheit, also entfernt er die Karte aus dem Spiel. Ich bezweifle, dass er wirklich weiter denkt als so. Inklusive der Trang-Oul-Verbindung. Wetten, dass er keine Ahnung hat, was genau es bedeutet, dass der Meister einen Gürtel mit dem Symbol trägt, aber sich enorm viel darauf zusammenreimt?
Hm. Das klingt relativ schlüssig. Hast du sowas schon einmal erlebt?
Pass auf, ein Beispiel. Eine Stadt, tyrannisch regiert von einem Mann, der absolut unantastbar ist, vergiss es, er ist der Herrscher, und bleibt das auf unabsehbare Zeit. Er hat allerdings keine Lust, jede einzelne Entscheidung zu treffen, jedes Detail der Stadt zu steuern, es gibt Besseres zu tun. Also sucht er sich einen Haufen Idioten, die sowieso die ganze Zeit schon das Gefühl hatten, dass ihnen eigentlich mehr Macht, mehr Einfluss zustehen sollte, wenn da nicht dieser Kerl an der Spitze wäre. Sagt ihnen, passt auf, du kriegst dieses Stadtviertel, du dieses, ihr trefft euch einmal in der Woche und trefft Entscheidungen, und wehe, ihr nervt mich. So eliminiert er sie aus der Gleichung. Sie sind froh, ihre Macht zu haben, so legitim, wie es geht, dazu, machen seine Drecksarbeit und freuen sich des Lebens. In den Haufen Idioten setzt er zwei, drei schlaue Leute, die genau wissen, das ist das Beste, was ihnen je passieren könnte, und sie erzählen ihm sofort, falls irgendjemand auf dumme Gedanken kommt. Jetzt stell dir vor, es gibt den Mann an der Spitze nicht mehr. Was passiert? Nichts. Die Gruppe an der Spitze regiert weiter. Wird einer von ihnen die Macht übernehmen? Unmöglich. Sie haben sich die ganze Zeit gegenseitig klein gehalten. Die Schlauen arbeiten perfekt zusammen, sind die besten Freunde, gegen sie kommt niemandes Meinung an, also versucht es auch niemand. So war es hier, als Rathma das Zeitliche gesegnet hat. Seine ersten Jünger haben gemeinsam die Zügel in die Hand genommen, und der Ältestenrat besteht seitdem ohne Querelen.
Und der angesprochene Tyrann ist nicht zufällig jemand, den du sehr gut kennst...?
Wenn ich dir das erklären muss, wirst du aus unserem Rat von zwei Leuten geworfen. Ebenfalls überflüssiger Hinweis: Du gehörst zu den Idioten.
Welche Ehre. Schade nur, dass ich trotzdem das letzte Wort habe.
Hast du das.
Hm. Also, es ist bald Morgen...sollten wir denn nicht das Trang-Oul Kapitel aufschlagen? Ich bin mir sicher, Fratellas Golem wird das nicht stören.
...wir fragen sie. Mehr darüber, was Ingkrias vielleicht doch triftigen Grund für seine Paranoia gegeben haben könnte zu erfahren, ist einfach zu wichtig.
"Ich würde auf Auftrag meines Meisters ein paar Seiten hier auf eigene Faust durchlesen. Gibt es noch etwas, worüber wir reden sollten?"
"Tatsächlich gibt es das. Du solltest es nicht tun", antwortet sie schnell. Ich bin sofort besorgt. War die Übervorsicht des Zweiten begründet? "Warum?"
"Ich habe strikte Anweisung, alles Unerwartete, was du tust, zu melden, schriftlich natürlich. Großzügig interpretiert habe ich erwartet, dass du reden kannst, also kann ich das vermeiden. Aber dass du selbst Interesse an dem Buch zeigst, ist definitiv unerwartet, nicht nur von meiner Meisterin, sondern auch von mir."
"Verdammt, habe ich es mit der Frage schon versaut?" Ich ohrfeige mich innerlich.
"Unerwartetes, was du
tust. Noch hast du nichts getan. Aber ich würde nicht das Umblättern beginnen."
Halb unbewusst imitiere ich das Ausatmen angehaltener Luft. "Danke für die faire Warnung."
"Das Wenigste, was ich tun konnte."
Die Unterhaltung ist damit gestorben. Wann werden wir dem Buch die Geheimnisse entreißen können?
Etwas später wecke in den Meister. "Wie angenehm, zur Abwechslung mal wieder von deiner süßen Stimme aus dem Schlaf geholt zu werden, Dorelem. War das richtig?"
"Ja!", strahle ich ihn an. Er grinst verschroben, reibt sich den Schlaf aus den Augen. "Nun denn, was steht heute an?"
"Vormittag hilfst du in der Küche aus, kein Unterricht. Später ist Beschwörung angesagt, als Einziges. Wie jeden Mittwoch. Was würdest du ohne mich machen?"
"Keine Ahnung, es mir aufschreiben?", gähnt er. "Wenn es mir wichtig wäre, könnte ich es mir sicher auch merken. Hm, das heißt, es ist auch wieder Zeit für unser wöchentliches Treffen?"
"Aber selbstverständlich."
Er streift sich die Hose über. "Dostrian konfrontieren oder nicht, das ist hier die Frage."
"Mit was? Wir haben nur Vermutungen. Zur Hölle, vielleicht ist Mei...Valtores wirklich selbst draufgekommen."
"Niemals. Nein, ich weiß, was ich mache."
Ein paar Sekunden Stille später stelle ich eine Frage, die ich mir sparen könnte. "Aber du wirst es mir nicht sagen?"
"Ach, ich hab den ganzen Tag Zeit, darüber nachzudenken...da ist doch noch nichts in Stein gemeißelt, warum Worte verschwenden." Dann reibt er sich das Kinn. "In der Küche, hm?"
"Noch ein Plan?"
"Wir werden sehen, wir werden sehen. Was ist das?" Er deutet auf ein kleines feuchtes Leinensäckchen.
"Skorpioninnereien. Die müsstest du wegschaffen", flöte ich. Er rollt nur mit den Augen und wirft die Arme hoch. Dieser
Golem immer. Schon klar.
Töpfe schrubben sich schnell, wenn man jemand hat, der hineinsteigen kann und in jede Ecke kommt. Und ich habe ja nur eine Tonhaut, ist ja nicht so schlimm, wenn ich dreckig werde, richtig? Pah, ich helfe ihm ja gerne, aber er sollte nicht einfach so annehmen, dass es für mich überhaupt kein Problem ist. Vielleicht spreche ich ihn irgendwann darauf an...
Dann werde ich durch seinen zuletzt gefassten Plan abgelenkt, für den er mich braucht und den er mir schließlich doch verrät. Es ist eigentlich ganz einfach. Der Abfall vom Kochen ist hier unter besonderer Aufsicht. Mit einem gewaltigen Komplex voller übereifriger Novizen lässt man auch ausgekochte, gesplitterte und hohle, von Geflügel stammende Knochen nicht einfach so herumliegen. Darum werden alle diese prinzipiell unbrauchbaren Gebeine nur vorsichtshalber vor der Entsorgung noch einmal komplett zermahlen. Alle
brauchbaren Knochen sind längst schon für Experimente, Ersatzteile und Ausrüstung beiseite geschafft worden. Ich habe mitbekommen, dass es immer wieder aufkommende Diskussionen gibt, ob es in Ordnung ist, den natürlichen Lebenskreislauf so vieler Nutztiere zunächst anzuwerfen – durch Zucht – und dann wieder zu unterbrechen – durch Schlachtung. Man bemüht sich offenbar, die Population an Vieh konstant zu halten, um nicht zu viele Seelen auf einmal hin- und herzuschieben. Oder so. Ganz habe ich die Philosophie dahinter nicht verstanden, aber da bin ich, glaube ich, nicht alleine. Letztlich ist das aber egal, denn der Pragmatismus gewinnt hier immer: Totenbeschwörer brauchen Knochen in großzügigen Mengen. Punkt. Und das Fleisch schmeckt eben den meisten, was natürlich selten als Grund zugegeben wird, aber garantiert ein entscheidender Faktor ist.
Worauf ich eigentlich hinaus will – es sollte unmöglich für einen Novizen sein, sich einfach so einen Skelettdiener zu erschaffen, wann immer er oder sie will. Mal ganz abgesehen davon, dass dies auffallen würde. Die Transportwege in die Lager sind sicher, und wie gesagt, Abfall wird zermahlen.
"Ich frage mich wirklich, ob die das hier nur zur Schau machen. Wenigstens die Meister sollten doch wissen, dass es völlig umsonst ist?", murmelt der Meister, als die Grube voller Knochenmehl schon zum neunten Mal in Folge verräterisch hochstaubt. Zum ersten Mal seit einiger Zeit ist die Armee wieder komplett, versteckt unter dem auch zermahlen offenbar noch problemlos zum Beschwören geeigneten Material.
"Vielleicht. Aber ich denke nicht, dass der übliche Novize sich so einfach klar machen kann, dass es nur wichtig ist, dass es ein einmal lebendes Körpergerüst war", überlege ich halblaut. "Ich meine, die waren überrascht genug, als du die Insektenpanzer benutzt hast."
"Auch wieder wahr. Tja, was man eben in der Praxis so alles mitbekommt..." Der Meister pfeift beim Abschließen der noch anstehenden Arbeiten.
"Was hast du jetzt mit den schlafenden Kriegern da unten vor?"
"Oh, ich hab da so ein paar Ideen..." Und wem wird er sie nicht erzählen? Richtig.
Ich finde es sehr gesund, dass er eine gewisse Verschwiegenheit pflegt. Gerade in diesem unüberschaubaren Sumpf aus Geheimnissen.
Ja, aber
uns gegenüber?
Seine Sache.
Ich gebs auf.
Das Mittagessen ist ereignislos, genauso wie der Beschwörungsmarathon, vier Stunden am Stück. Übung für Übung für Übung. Der Meister muss sich vorkommen wie ein Schachmeister, der in peinlichster Genauigkeit beigebracht bekommt, in welche Richtungen man den Springer bewegen kann. Aber er bekommt eben keine Vorzugsbehandlung. Meister Valtores benimmt sich völlig normal; wo Ingkrias überkorrigiert hat und seine Schuld damit peinlichst offensichtlich war, ist der Beschwörungslehrer völlig natürlich in seiner klassischen Kühle. Er stellt dem Meister nicht mehr Fragen als den anderen Schülern, kritisiert nahezu gleich viele kleine Details in dessen Technik wie bei anderen – um genau zu sein, ein paar mehr, da der Meister natürlich einige eigene Ideen eingebracht haben, die sich oft mit der Standardmethode beißen. Und ich muss sagen, von außen betrachtet, kann er davon durchaus etwas lernen. Er hat sich sehr gut geschlagen durch eigenes Improvisieren und Ausprobieren, aber manchmal ist, was Meister Valtores ihm rät, einfach eleganter, ökonomischer, effizienter.
Irgendwann ist es vorbei. Der Meister wendet sich ganz normal zum Gehen, folgt der Dreiergruppe unserer Freunde – nun gut, je nachdem, ob Dostrian uns jetzt wirklich verraten hat oder nicht – um sich später zu ihnen an den Tisch zu setzen...da legt ihm beim Herausgehen der Blutgolem des Lehrers eine Hand auf die Schulter. Oh. Na ja, nicht wirklich Grund zur Sorge, natürlich will er mit seinem überqualifizierten Novizen reden, und das hier ist eine relativ unauffällige Gelegenheit.
"Neflum, ich möchte mit dir reden. Setz dich, bitte." Lixt hört das noch und dreht sich kurz um, aber geht dann schnell weiter. Der Meister nickt brav und wartet auf die erste Frage. "Hast du das Gefühl, dass du dich mittlerweile hier gut eingelebt hast? Dass du zurecht kommst mit den Pflichten eines Novizen und dem Studium deiner Fächer?"
"Oh, auf jeden Fall", antwortet der Meister und legt genau die richtige Menge mildes Lächeln in die Stimme. "Es ist natürlich manchmal ein wenig stressig, aber eigentlich ist es Erholung gegenüber dem, was ich draußen teilweise an Problemen hatte."
"Soso. Vermisst du diese Freiheit gelegentlich?" Wie üblich ist der Tonfall des alten Meisters nicht zu deuten.
"Ich würde lügen, wenn ich nein sagen würde. Zumindest beim Topfschrubben."
Meister Valtores geht nicht auf den Scherz ein. "Du scheinst auch schon Freunde unter Gleichaltrigen gefunden zu haben."
Die Schlinge zieht sich enger...
Sicher hat der Meister dieses Gespräch schon unzählige Male durchgespielt. Der kommt schon zurecht.
"Nun, so lange kennen wir uns noch nicht, aber ich würde sagen, wir sind auf bestem Weg."
"Und mit
guten Bekannten bespricht man natürlich auch gerne den Lernstoff, in der Freizeit?"
Enger...
"Ich meine, im Gedanken des wissenschaftlichen Austausches...", gibt der Meister etwas schwach zurück, aber er weiß ja schon, dass es absolut keine Möglichkeit gibt, sich hier zu verteidigen.
"Ein hochgestochener Ausdruck. Den du vermutlich von Dostrian übernommen hast, der ihn von mir hat. Ja, der Austausch ist sicherlich fruchtbar. Wobei ich mich frage, was du von ihnen wirklich lernen kannst." Eine gefährliche Schärfe durchdringt die sorgfältige Neutralität in den Sätzen des Beschwörungslehrers.
"Oh, dies und das...ich meine, sie haben natürlich einige Jahre länger Erfahrung als ich", weicht der Meister aus, aber eigentlich wartet er nur wie ich darauf, dass der Hammer fällt.
Dass Meister Valtores das fast wörtlich nimmt und seine Handflächen laut klatschend auf den Tisch schlägt, lässt ihn dann doch zusammenzucken. "Du bringst ihnen Dinge bei, für die ich sie in fünf Jahren noch nicht reif genug halten würde, General!", donnert er. "Hast du irgendeine Ahnung, wie gefährlich so etwas sein kann? Was für Versuchungen du in ihnen wecken könntest? Techniken, die du offenbar für harmlose Spielereien hältst, die unzählige Menschenleben kosten könnten, wenn sie in die falschen Hände geraten?"
Hat er ihn gerade "General" genannt? Der versucht, zu beschwichtigen. "Es sind doch nur..."
"Nur, nur! Es ist nicht falsch, auf Erreichtes stolz zu sein, aber du bist dir offenbar nicht im Geringsten der Verantwortung bewusst, die du hast! Ich habe dich aufgenommen, damit du lernst, dein Wissen unter Kontrolle zu bekommen, nicht, damit du es überall verstreust wie tickende Zeitbomben!"
Er funkelt den Meister an. Autsch. Das war ein wenig heftiger als erwartet. Kurz senkt sich Stille über den Raum, während der Meister überlegt. Seine Frage ist dann allerdings ganz einfach. "Und jetzt?"
Meister Valtores seufzt und setzt dann wieder absolute Neutralität auf. "Wir brauchen hier nicht um den heißen Brei herum reden, General. Du kommst hier an, versprichst, dich unterzuordnen, aber brichst mit Hingabe so viele Regeln in so kurzer Zeit, dass ich dich nicht nur herauswerfen sollte, sondern am besten gleich dafür sorgen, dass du nie wieder irgendwelche Regeln brichst."
Eiskalt bleibt der Meister sitzen. Gut so. Der Blutgolem ist nicht wirklich einer, mit dem zu spaßen ist. Nach einer sich dehnenden Pause redet Meister Valtores weiter. "Aber das würde bedeuten, dass ich meine Zeit verschwendet hätte, und dass ich mich in dir getäuscht hätte, beides Dinge, die ich ungern tue. Ich hatte Gelegenheit genug, mir ein Bild von dir zu machen. Du bist nicht nur talentiert, du bist brilliant. Wenn du auch nur ein Fünkchen weniger Schläue in dir hättest, wäre das Buch für dich komplett nutzlos gewesen, oder der Umgang damit hätte dich vermutlich relativ spektakulär das Leben gekostet. Das ist ein Potential, das ich durchaus erkenne."
"Vielen Dank", antwortet der Meister tonlos.
"Ha", schnaubt sein Gegenüber, "du solltest das nicht als Lob auffassen, General. Denn so willkürlich du deinen Namen angeblich gewählt hast, ich sehe dich an und sehe dessen ersten Träger. Jeder Bericht über seine Persönlichkeit, sein Verhalten, du erfüllst sie, als wärst du die Wiedergeburt des Bösen selbst. Die wenigen Bilder, die wir haben, könnten von dir in etwa fünfzig Jahren sein, die Nase, die Wangenknochen, sogar die Haarfarbe stimmt bereits. Schneeweiß in deinem Alter, und doch bist du kein Albino. Es ist mehr als beunruhigend. Es ist geradezu
beängstigend."
Nichts von dieser Emotion fließt in seine Rede, aber wenn man eine derart kultivierte Neutralität pflegt, ist allein das Aussprechen von Gefühlen wohl schon das Äquivalent zu schreiender Panik.
Der Meister versucht, seine Reaktion ähnlich trocken zu halten, und macht es gar nicht übel: "Ich hasse es, mich wiederholen zu müssen, aber dann wüsste ich erneut gerne, warum ich überhaupt noch lebe."
"Eine Frage, auf die ich die Antwort auch gerne wüsste. Aber ich habe schon verstanden. Warum schütze ich dich? Nun, kannst du das nicht selbst denken?"
"Potential?"
"Exakt. Du bist gefährlich. Du machst Probleme. Verursachst mir die ersten Kopfschmerzen seit gut zehn Jahren. Aber du bist voller Chancen. So Viele hier denken, du bist verdorben bis zum Kern, dein Name allein hätte ihnen gereicht, dich zu verdammen. Und übersehen das Wichtigste: dass ohne Leute wie dich die Welt sich nicht weiterdreht."
Er dreht dem Meister jetzt den Rücken zu und starrt an die Tafel. "Du bist jung, voller Energie, frischer Ideen. Das Buch hat dir geholfen, aber die Anwendung ist deine. In der kurzen Zeit, in der du hier bist, hast du mich schon mehr als einmal überrascht, und das in meinem Spezialgebiet. Weißt du, dass du seit zehn Jahren der erste Autodidakt bist, den wir hier aufgenommen haben?"
Der Meister schaltet schnell. "Die Quelle der Kopfschmerzen?"
Meister Valtores wirft ihm einen Blick zu, als wäre die Frage die dümmstmögliche. "Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Wenn es nur darum ginge, dir dein Wissen auszupressen, könnten wir das auch auf unangenehmere Weise machen, das ginge schneller und effizienter, und danach würdest du sang- und klanglos entsorgt."
Eiskalt.
Man kommt nicht in eine solche Position ohne ein gesundes Maß an Skrupellosigkeit.
"Nein, es ist von eminenter Wichtigkeit, dass du am Leben bleibst. Deine Ideen weiterentwickelst. Deine Neugier, deinen Forschungsdrang weiterhin für das Gute nutzt. Ich habe mit vielen Leuten geredet in den letzten Wochen, viele Berichte gelesen, wenig geschlafen."
Mit präzisen, gleich weiten Schritten beginnt er, auf und ab zu gehen. "Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass du bisher Einiges vollbracht hast. Von Tristram über Lut Gholein bis Kurast. Und tiefer, angeblich. Andere zerreißen sich den Mund, dass du mit deiner Macht die Welt spalten wirst, Krieg bringen, Leid, Tod in allen Ländern Sanktuarios. Was sein kann. Auch dafür hast du das Potential, das Erbe deines Namens ist Zeugnis genug dafür. Aber hast du irgendetwas in dieser Richtung unternommen? Bisher wurdest du herumgescheucht auf deiner Jagd nach den Großen Übeln, hast ohne zu klagen und ohne dich feiern zu lassen des Öfteren die Koffer gepackt und auf deiner selbst auferlegten Mission weitergemacht. Wenn du das nur tust, um dich zu profilieren, überall an Macht und Einfluss zu gewinnen, dann wäre ich fast gewillt, dir das zu gönnen, so viel Mühe, wie du dir gibst. Aber nein."
Er bleibt stehen und sieht dem Meister direkt in die Augen.
"Die anderen sehen die Gefahr, die du darstellen
könntest. Was sie dabei übersehen, in ihren konservativen, verkrusteten Hirnen, ist wie vielen Menschen du helfen könntest. Du schon geholfen
hast. Sie sehen einen Dämon kurz vor dem Amoklauf, einen Chaosstifter. Ich sehe einen jungen Mann, kaum erwachsen, mit eisernem Willen und so viel Hoffnung in den Augen."
Und endlich zeigt Meister Valtores ein äußerliches Zeichen davon, dass er sich in das redet, was bei ihm als Leidenschaft durchgeht: Er ballt die Faust an seiner Seite. "Wenn wir nicht bereit sind, ein Risiko einzugehen, den nächsten Generationen ein wenig Freiheit zu lassen, Fehler zu begehen, sie aus diesen lernen lassen, ihnen das Korsett uralter überkommener Traditionen überspannen und beim kleinsten Anzeichen des Wandels danach schreien, selbigen auszumerzen mit Stumpf und Stiel, dann werden wir innerhalb von wenigen Jahrzehnten aussterben, überholt von einer sich um uns ändernden Welt. Es ist eine Überzeugung, der ich anhänge, seit ich damals selbst Novize war, als ich jeden Tag ausbrechen wollte und am liebsten ganz Sanktuario radikal neu gestalten wollte."
Der Meister runzelt die Stirn. "Ihr seht Euch selbst in mir?"
"Trang-Oul bewahre mich vor dem Gedanken."
Er stützt sich schwer auf das Pult vor ihm. "Dafür bist du viel zu sehr von dir selbst eingenommen. Früh habe ich erkannt, dass man durchaus versuchen kann, die Welt zu ändern, aber die Welt ist genauso konservativ wie die allermeisten ihrer Bewohner. Man muss sie in winzigen Schritten voranbringen. Mit kleinen Stößen in die richtige Richtung. Darum bin ich hier geblieben, bin Meister geworden, habe Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin, um andere vollbringen zu können, auf die ich sehr stolz bin. Ich habe mein Leben der Aufgabe gewidmet, das derer, die nach mir kommen, besser zu gestalten."
Der Meister nickt beeindruckt, dann spielt ein schelmisches Grinsen um seine Lippen. "Und letztlich Euer eigenes, nicht wahr? Schließlich wird Euere Seele auch in Zukunft weiter auf Sanktuario wandeln."
Das Grinsen, das ihm antwortet, ist komplett freudlos. "Bilde dir nur nicht ein, auch nur einen Hauch unseres Glaubens zu verstehen. Um zu einem Ende zu kommen: Ich wollte, dass du einen Einblick gewinnst in was mich antreibt, um besser verstehen zu können, in welchem Dilemma ich mich durch dein Verhalten befinde. Einerseits halte ich meine Entscheidung, dich hier lernen zu lassen, für immer noch völlig richtig. Es ist nicht nur das zweifelsohne gewaltige Potential, das in der steckt, die Chance, dass du zum besten und wichtigsten Nekromanten heranwächst, den die Welt je gesehen hat." Der Meister versucht, Bescheidenheit zur Schau zu stellen und heftig zu protestieren, aber erhält keine Gelegenheit dazu. "Ich liefere keine leeren Phrasen und erwarte sie nicht. Bei jedem anderen müsste ich fürchten, dass es ihm zu Kopf steigt, aber wenn dich deine bisherigen Erfolge noch nicht zum unerträglichsten Egomanen der Welt gemacht haben, ist eine Portion einfacher Wahrheit von einem alten Meister auch nicht mehr schädlich. Der andere Grund ist ohnehin viel wichtiger: Du bist überheblich, stolz, rebellisch, manchmal auf geradezu peinlich kindische Weise, aber wie soeben attestiert, niemals ins Unerträgliche. Ich bin ein vorsichtiger Mensch, aber völlig gewillt, dir zuzugestehen, dass du ein
guter Mensch bist, und das sollte jeder in dir sehen, nicht ein potentielles Monster nur wegen deines Namens. Diese Beobachtung ist mir mehr wert als alles andere."
Langsam wird es dem Meister fast peinlich. "Ich...gebe mir Mühe."
"Tust du nicht." Meister Valtores lässt keine Zweifel daran aufkommen, dass er all das nicht als Lob meint, sondern es eben schlichte Feststellungen sind. "Es wirkt eben nicht gezwungen. Eine Einschätzung, die ich mir vor Kurzem weiter bestätigen konnte, als ich mit deinem Golem geredet habe."
"Ihr habt...", stößt der Meister hervor, in gut gespielter Überraschung. Was dennoch nicht im Mindesten überzeugt.
"Tu nicht so, du weißt es längst. Ich fände es
schön", und die Betonung sticht besonders aus seinen sonst so wohl modulierten Worten hervor, "wenn du mir sagen würdest, wie du den Kontakt hältst."
Lange überlegt der Meister nicht, bevor er seinen Ärmel hochkrempelt und den Armreif aus Ton auf den Tisch hält. Ich entfalte mich. "Erfreut, Euch wiederzusehen", sage ich höflich und verbeuge mich leicht.
Das treibt dem alten Meister nun doch eine Augenbraue in die Höhe. "Du bist ein...Ableger des Golems, der über den Folianten wacht?" Ich nicke, und der Meister tätschelt mir den Kopf. "Das ist nun nicht eine Idee von mir. Mehr eine Mischung aus Glück im Unglück und Dorelems Fähigkeit, aus der Not eine Tugend zu machen."
"Ist das dein Name?", wirft der Blutgolem ein, und wieder nicke ich nur. Möchte mich nicht allzusehr einmischen.
Meister Valtores reibt sich das Kinn. "Soso. Nun, das erklärt Einiges. Gibt es einen bestimmten Grund für dieses...Arrangement?"
Der Meister zuckt mit den Schultern. "Ich hatte bisher nicht wirklich Zeit, das Buch in aller Ruhe von vorne bis hinten zu durchforsten. So, ganz banal, wird mir die Arbeit von Leuten abgenommen, die das mit dem peniblen Nachforschen ohnehin viel besser können als ich." Ein Teil der Wahrheit. Dass insbesondere der Zweite noch deutlich mehr als das tut – was sage ich, wenn man bedenkt, was ich mit dem Papiergolem losgetreten habe, ist mein Beitrag zu besser Verschwiegenem nicht wirklich von der Hand zu weisen – muss der werte Meister ja nicht unbedingt wissen.
"Ein wenig zu banal. Aber gut. Ich habe nun wirklich selten erlebt, dass auch der edelste Totenbeschwörer wirklich
nett zu seinem Golem ist, von einem solchen Grad an gegenseitigem Respekt ganz zu schweigen."
Nicht ungesehen von mir blickt der Blutgolem bewusst teilnahmslos an die Decke. Sein Meister fährt fort: "Das ist allein deswegen keine Selbstverständlichkeit, da sich die allermeisten noch nicht einmal bewusst sind, dass Golems durchaus freien Willen haben."
"Wenn ich mir die Frage erlauben darf, wie kommt es, dass das offenbar nicht aus kompletter Unwissenheit geboren ist, sondern entgegen der
Lehrmeinung ist?", wage ich einzuwerfen.
Deinen Vorsatz, still zu halten, hast du aber schnell gebrochen.
Der Blick des Gefragten wird finster. "Oh, es wissen einige der sogenannten 'Weisen', wahrscheinlich sogar die meisten, sonst wäre der Titel ja eine komplette Farce, nicht wahr? Sie beschließen nur, wieder und wieder, Generation um Generation, dieses Wissen geflissentlich zu ignorieren."
"Aber...warum? Das ist doch..."
"Eine Schande?" Auf mein mutiges, weil heftiges Nicken seufzt Meister Valtores in echter Enttäuschung. "Stell dir vor, wir würden beginnen, den Novizen zu erzählen, dass jeder einzelne Nekromant, der ihnen bisher als Vorbild gedient hat, seit Jahren mit teilweise voller Kenntnis dieser Tatsache ein denkendes und fühlendes Wesen als rechtlosen Sklaven missbraucht hat. Weißt du, was das für uns alle bedeuten würde?"
Ich balle die Fäuste, ernsthaft wütend. "Das macht es keinen Deut besser."
"Nein, tut es nicht", schnappt Valtores. "Aber die Wahrheit herauskommen zu lassen...würde viel Leid bringen", fährt er etwas sanfter fort. "Versteh mich nicht falsch. Ich finde es nicht richtig, wirklich nicht. Dennoch muss ich praktisch denken. Ich habe Verantwortung. Auch den Golems gegenüber, aber gleichfalls den Menschen."
"Dorelem..." Dem Meister wird mein Einmischen vielleicht ein wenig zu viel, aber ich lasse mich nicht bremsen.
"Und wie, wenn ich höflichst fragen darf, nehmt Ihr Euere Verantwortung gegenüber den Golems wahr?"
Valtores sieht mich an, und in seinen eiskalten Augen liegt etwas, das ich bisher dort nicht gesehen habe...Milde.
"Wie ich bereits erklärte, ich hatte den Traum, radikale Veränderungen herbei zu führen. Aber ich gab ihn auf. Denn ich sah ein, dass dies mehr Leid bringen würde, als ich gewillt war, verursacht zu haben. Jetzt bemühe ich mich, die Veränderungen klein, aber stetig zu halten. Du wirst die Gruppe um Dostrian auch schon kennen gelernt haben?"
Ich nicke vorsichtig.
"Er ist nicht umsonst mein Protegé. Denn auch in ihm sehe ich dieses nahezu unbegrenzte Potential. Und zwar zu nachgradiger Veränderung. Meine Schritte sind langsam, vorsichtig. Aber ich glaube, dass es höchste Zeit wird, dass er und seine Freunde die Wahrheit erfahren. Sie sind jung, und die Zukunft liegt in ihren Händen. So werde ich die Verantwortung an sie weitergeben, damit die Zukunft durch sie besser wird."
Oh.
Kurz ist es still. Bis der Meister eine zögerliche Frage vorbringt: "Und...was jetzt?"
"Ich hatte noch vor, mit dir über den wahren Grund deines Hierseins zu sprechen, aber da du ja über alles informiert bist, was ich schon mit Dorelem besprochen habe, ist das hinfällig. Stattdessen kommen wir gleich zu einem Punkt, wegen dem ich auch eher früher als später mit dir reden wollte."
Man merkt immer mehr, Valtores ist jemand, der
ganz genau plant. Mit derart...revolutionären Ideen, auch nach Jahren des Abschliffs beim Gang durch die Instanzen, in seiner Position, muss er wohl auch vorsichtig sein. Nur, dass der Meister ihn nicht vorsichtig sein
lässt. Mir soll es Recht sein; wenn er dann auch noch feststellen wird, dass die Revolution um ihn herum längst im Gange ist und er sich nicht durch ein halbgar auf den Weg gebrachtes Erbe zufrieden in den ewigen Ruhestand verabschieden kann, wird er schon merken, dass er vielleicht insgesamt ein wenig zu vorsichtig war.
Du bist auch nie zufrieden, oder? Mit seinen Ansichten sollte er für dich ein Heiliger sein.
Dafür hätte er tatsächlich etwas tun sollen statt nur "die Zukunft in die richtigen Hände legen".
Meckern, Meckern, nichts als Meckern.
"Denn", so fährt Valtores fort, "ich bin zwar nunmehr zu dem Schluss gekommen, dass es gut und richtig ist, dich hier zu haben, um dir einen vernünftigen Weg aufzeigen zu können, von deinen Ideen zu profitieren et cetera. Aber andere sind da nicht wirklich zu überzeugen – und stur. Ich glaube, dass dein Leben in schwerer Gefahr ist."
Ach, tut er das.
"Durch wen denn in etwa?", fragt der Meister, in aller Unschuld. Valtores' Blick wird hart. "Das sind Spekulationen meinerseits, die dich nicht zu interessieren haben. Mehr als ein reines
Gefühl steckt auf jeden Fall hinter meiner Warnung."
"Und was bedeutet das für mich, bekomme ich Personenschutz?"
"Nein. Das wäre fatal. Deine Präsenz hier ist ohnehin schon ein Affront für Viele. Sonderbehandlung, auch wenn dies für dich weniger Freiheiten bedeuten würde, kommt gar nicht in Frage. Es ist wieder ein Dilemma, für das ich allerdings dieses Mal glaube eine leichte Lösung gefunden zu haben. Du wirst weiterhin ganz normaler Novize bleiben und dich
mustergültig verhalten, und ich meine das mehr als ernst. Es war schwer genug, einige Ratsmitglieder davon zu überzeugen, dass die plötzlichen Fortschritte der Novizen um dich herum nur von dem Verlangen stammen, sich mit dir zu messen, und nicht von heimlichen Lektionen, die du ihnen gibst."
Der Meister presst die Lippen aufeinander, aber antwortet nicht. Gut, denn Valtores ist noch nicht fertig. "Diesen Status wirst du
mindestens noch ein Jahr lang haben müssen. Irgendwann werden sich die Wogen glätten und du wirst akzeptiert werden als ganz normaler Novize, der unter Kontrolle ist und keine finsteren Absichten hegt. Dann können wir vielleicht darüber reden, dich ein paar Prüfungen vorziehen zu lassen, ein paar Privatstunden mit verschiedenen Meistern arrangieren, und so weiter. Ich wiederhole, das ist in
deinem Interesse. Wenn du nicht lernst, dich zu benehmen, bist du bald ein toter Mann, und das fänden wir beide eine ganz und gar bedauerliche Verschwendung."
Der Meister studiert seine Fingernägel. "Und...wo ist das Dilemma daran?"
"Dieser Weg bedeutet große Gefahr für dich in naher Zukunft, solange noch nicht allen klar ist, dass du harmlos sein solltest. Es ist gut möglich, dass schon morgen, übermorgen, nächste Woche ein Skelett in deinem Zimmer auf dich wartet, mit dem Dolch in der Hand, oder ein Golem plötzlich 'wahnsinnig' wird und dein Genick bricht."
Meisterhafte Selbstkontrolle des Generals, als Valtores das erste Beispiel nennt.
"Aber ohne Beweis, ohne Grund außer einer Vorahnung, kann ich dich nicht schützen. Deswegen ist es allerdings kein wirkliches Dilemma, weil ich glaube, dass du ganz gut auf dich selbst aufpassen kannst."
Sein kalter Blick fokussiert den Meister jetzt.
"Wenn du tatsächlich angegriffen werden solltest, dann wende dich sofort an mich. Ich denke, dir wird langsam klar sein, welche Risiken ich für dich eingegangen bin, also
vertraue mir. Und hör auf, selbst noch viel größere Risiken einzugehen."
Er wendet sich zum Ausgang. "Damit sollte vorerst alles geklärt sein."
Der Meister steht auch auf. "Ich danke Euch für Euere Offenheit und werde mir größte Mühe geben, die in mich gesteckten Erwartungen zu erfüllen." Das muss sogar für Valtores' Ohren extrem hohl klingen. "Und ich halte Euch auf dem Laufenden, so unauffällig wie möglich natürlich, wenn mir etwas auffällt."
"Tu das."
Sein Golem nickt mir noch zu, dann sind sie verschwunden. Ich tarne mich wieder, um gleich darauf dem Meister zuzuflüstern: "Warum hast du es ihm nicht gesagt?"
"Ich bin mir noch nicht sicher, was ihn angeht. Hätte ja fast erwartet, dass er mich hochkant herauswirft. Dass er gleich so viel Pläne für mich hat, überrascht mich jetzt doch ein wenig."
Wir sind auf dem Weg zur Gemeinschaftshalle. "Und du bist zu stur, dich einfach zu fügen?"
"Du hast ihn gehört, Personenschutz, Vorzugsbehandlung, das bedeutet nur, dass ich einige Freiheiten verliere. Privilegierter Novize im goldenen Käfig. Muss ich nicht haben, es gibt hier noch eine ganze Menge mehr Netze zu spinnen, bevor die alten Herren schnallen, dass ich nicht im Mindesten vorhabe, hier länger zu bleiben als nötig. Valtores mehr als eingeschlossen."
"Und der zweite Mordversuch in drei Tagen lässt dich nicht ein wenig an der Sinnhaftigkeit dessen zweifeln, hier völlig unbesorgt weiter den Intrigenkönig spielen zu wollen?"
"Och...", meint der Meister, und nickt einem vorbeigehenden Golem zu, der aber nicht reagiert, "ich denke, je länger wir uns nichts anmerken lassen und den Dingen ihren Lauf, desto
sicherer wird es."
Er nickt dem nächsten Golem zu, und der nickt zurück.