Kapitel 10 – Gesichtsverlust
Diesmal brennen keine Fackeln, um den Schinder-Dungeon zu erhellen. Meine Nachtsicht greift deswegen voll. Hatte er nicht mehr genug Brennstoff zur Verfügung, jetzt, wo es keine frisch getöteten Menschen mehr zum Auskochen gibt? Oder weiß Endugu nicht, dass ich mich hier so gut zurechtfinde wie er?
"Du hast einen großen Fehler begangen, Golem...du wirst hier vernichtet werden, und das bisschen Geröll am Eingang wird mich nicht lange aufhalten!"
Die Stimme des Schinderhelden kommt scheinbar von überall her. Denkt er zumindest. Aber ich bin nicht mehr der Golem, der ich einmal war. Ich habe viel gelernt...zum Beispiel, jegliche unnötigen Sinneseindrücke zu filtern. Also sollte ich ihn weiter reden lassen. "Oh, sicher lange genug, um hier alles auszuräuchern. Ohne deine Diener bist du nichts, und dann zertreten wir dich unter unseren Stiefeln", rufe ich deswegen in die leeren Gänge hinein.
"Dieser Ort ist schon zum Grab für so Viele geworden...niemand kann uns von hier vertreiben! Und der Dschungel wird bald wieder uns gehören...wir werden ausschwärmen und alle Menschen töten, die wir finden! Oh, ich bin euch so dankbar, dass ihr ihnen für einen kurzen Augenblick Hoffnung gegeben habt; jetzt sind es so viele Opfer wie nie zuvor!"
Noch ein wenig länger...
"Du scheinst davon auszugehen, dass diese Begegnung mit mir nicht ohnehin deine letzte sein wird."
"Es gibt wenig Dinge, die sicherer sind als deine Vernichtung."
"Und was soll dir das bringen? Ich werde einfach wieder kommen, solange, bis du in meinen Händen das letzte Mal zuckst", gebe ich zurück. Er ist nicht weit weg; das Echo wird gebrochen durch die vielen Lücken in der Steinverkleidung der Wände. Ebenfalls helfen die alten Zellen, welche überall hineingegraben wurden, dem Schall auch nicht wirklich bei der Ausbreitung. Es sei denn, er sitzt in einer von ihnen...
"Nächstes Mal bist du nicht allein", höhnt er. "Und wenn dein Meister erst hier ist, werde ich seine Haut in Streifen schneiden!"
Links oder rechts? "Warum sollte er sich dazu herablassen, persönlich vorbei zu kommen?"
"Zwei Gründe, mein Lieber! Einerseits, wie schon erwähnt, wird er niemals eine solche Bedrohung wie mich am Leben lassen können. Und andererseits habe ich schließlich etwas, das er möchte!"
Ach? Das bezweifle ich. Aber statt diesen sinnlosen Dialog weiter zu führen, handle ich stattdessen. Denn er ist ganz eindeutig
direkt links von mir.
Ich fließe geschmeidig zur Seite, in die Zelle hinein, aus einem scheinbar normalen Schritt nach vorne heraus, forme den Arm zum Schwert und lasse ihn herabsausen.
Nur knapp geht er daneben. Endugu ist ein verdammt flinker kleiner Bastard; er springt zur Seite, quiekend, und läuft los; ich habe etwas zu viel Kraft in den Hieb gesteckt, und so schaffe ich es nicht, ihn zu packen, als er an mir vorbei verschwindet. Den dunkelgoldenen Helm, der ihm so wichtig war, hat er offenbar an einen Diener weitergegeben oder irgendwo versteckt; ohne ihn kann er sich deutlich schneller bewegen, auch damit hatte ich nicht gerechnet.
"Fast, Golem, fast! Höchste Anerkennung! Aber du wirst mich niemals bekommen...und meinen Schatz auch nicht!"
"Lass mich raten. Du redest von deiner hässlichen Schädelmaske?"
"Ha!", tönt seine Stimme, jetzt von weiter weg, tiefer aus dem Verließ. "Spiel es nur herunter. Das ist doch der einzige Grund, warum ihr überhaupt hier seid."
Jetzt bin ich doch verwirrt. Er wollte mich doch gerade nur mit Unfug beschäftigen; ist vielleicht doch etwas dran, so überzeugt, wie er klingt? Ich setze zu einer Frage an...aber wie schon erwähnt, bin ich nicht mehr so naiv wie früher.
"Da hast du mich wohl ertappt. Aber du wolltest ja, dass ich sie sehe. Jetzt hast du sie nicht mehr bei dir...also, gibt es noch einen Grund für mich, hierzusein? Ich gleite durch die Erde nach draußen und hole meinen Meister, denn wie du vielleicht schon gemerkt hast, habe ich keine schnelle Möglichkeit, mit ihm zu kommunizieren. Dann kommt er mit einem vollen Trupp von Skeletten, und wir holen uns, was wir wollen."
Ich tue so, als würde ich mich umdrehen und zu gehen ansetzen. Wirklich, was denkt er wollen wir mit dem dreckigen alten Ding?
"Ach, du hast ihn noch nicht verständigt? Das ändert die Sache doch ganz gewaltig..."
"Ich wüsste nicht wie." Der Köder ist gelegt...
"Du bleibst schön hier! Wenn du jetzt gehst, kann der General nur noch ein paar Splitter zusammensetzen! Die Maske ist in der untersten Ebene...hol sie dir, wenn du dich traust. Oder nimm in Kauf, dass ich sie zerstöre."
"Nach all der Zeit, die du sie nur für uns aufgehoben hast? Mach dich nicht lächerlich." Aber ich habe aufgehört, mich in Richtung Ausgang zu bewegen, wo am meisten lose Erde ist.
"Für mich ist sie nichts als ein Köder. Für euch ist sie weitaus wichtiger. Komm schon, Golem...wie du bereits sagtest, was hast du zu verlieren? Versuch es doch einfach, wenn ich dich vernichte, dann kommst du einfach wieder!"
Scheinbar resigniert schüttle ich den Kopf. "Wie du meinst, dann spiele ich dein Spiel eben mit. Das Risiko gefällt mir zumindest. Entweder ich komme so oder so wieder...oder du gehst dabei drauf. Ein
sehr verlockender Preis."
Was nicht ganz stimmt, natürlich – wenn ich hier vernichtet werde, habe ich zwar noch die zweite Hälfte meines Körpers in der Stadt der Totenbeschwörer, wo der Zweite sie exklusiv kontrolliert. Aber das würde bedeuten, dass ich wieder mehrere Tagesreisen von Kurast weg bin, mich noch einmal neu spalten und entkommen muss, und derweil kann Endugu hier tun und lassen, was er will.
Demnach habe ich hier ein größeres Risiko, als er denkt. Und sicherlich auch, als
ich denke – denn warum sollte er sich sonst überhaupt auf dieses Spiel einlassen? Was will er mit mir anstellen? Mir ist etwas mulmig, als ich mich wieder weiter in die Tiefen begebe. Er hat etwas vor, und hoffentlich finde ich heraus was, bevor es zu spät ist.
Das zweite der drei Untergeschosse erreiche ich ohne Zwischenfall. Ich rufe mir die Karte von früher ins Gedächtnis; natürlich hat sich nichts verändert. In den brackigen Pfützen schwimmen immer noch die Kadaver der Wasserschlangen, die uns damals solche Probleme mit ihrer Giftspucke bereitet hatten; jetzt sind es nur noch Skelette, die Verwesung hier im Dschungel geht auch unterirdisch schnell vonstatten. Ich weiß noch ganz genau, wo die Bodenschalter sind, die durch Druck die tückischen Fallen auslösen; schnell heranschießende Stachelkugeln, auf Schulterhöhe aus den unauffälligen Löchern in der Wand fliegend, gedacht, um zu verletzen, nicht zu töten.
Da höre ich eine Bewegung. Von hinten...ha, ich habe gelernt, ohne mich umzudrehen auch dahin zu sehen. Ihr denkt also ihr könnt...ich forme meine linke Fußspitze zu einem Dolch...mich einfach so...noch ein Schritt, und dann wirble ich plötzlich auf dem rechten Fuß herum...überraschen? Ich spieße zwei Schinder auf einmal auf, mein Schwertarm fällt noch einen in der gleichen Bewegung, die gezückten Messer versenken sich in meiner Tonhaut, ich umschlinge sie, reiße die Träger, welche nicht loslassen wollen, mit und spucke Leichen wieder aus. In kürzester Zeit ist es vorbei.
Da steht der erste wieder auf, und noch eine Welle eilt heran. Drei Schamanen umzingeln mich, einer kommt von oben herab, muss sich vor mir im ersten Kellergeschoß versteckt haben, zwei blockieren die Tür. Schon bald beleben sie so schnell wieder, dass ich mit dem Töten nicht nachkomme.
Ich versuche, mich dem auf der Treppe zu nähern, aber eine Feuerzunge schlägt mir entgegen; in dem engen Raum komme ich nicht an ihn heran, ohne gegrillt zu werden. Und das würde den Ton, aus dem ich bestehe, härten...
Plötzlich geht mir auf, was Endugu vorhat. Wenn die Schamanen mich in ihrem Feuer baden, mein Material hart backen, dann werde ich mich nicht mehr bewegen können. Als lebende Statue wird mein Körper hier unten bleiben müssen...
Es wäre noch deutlich beängstigender, wenn ich keinen Ausweg durch den anderen Teil meiner selbst hätte. Denn ich wäre hier gefangen und hätte keine Möglichkeit, dem Meister Bescheid zu geben, müsste hoffen, dass er eher früher als später meine Abwesenheit als Grund zur Sorge betrachtet und mich neu beschwört...und das weiß der kleine Teufel.
Also, große Priorität, nicht flambiert werden. Aber wie? Als ich noch Skelette dabei hatte, um die Zaubernden abzulenken, war das deutlich einfacher. So müsste ich irgendeine Fernwaffe haben.
Hm...dann nehme ich mir doch einfach eine. Schnell entreiße ich einem der Schinder das Messer und schleudere es auf einen Schamanen.
Es prallt an dessen Maske ab. Ich habe zwar recht kräftig geworfen, aber sie sind nicht so schwach, wie sie aussehen...dämonische Kraft ist eine gefährliche Angelegenheit.
Die vielen kleinen Puppen versuchen, Stücke von mir abzuschneiden. Bis jetzt kann ich mich immer wieder zurückformen, wenn sie das geschafft haben, aber es könnte durchaus zu einem Problem werden, zumal der Boden hier ungebrochen ist und ich damit kein neues Material aufnehmen könnte. Und langsam rücken die Schamanen vom Ausgang her näher, versuchen mich zusammen mit ihrem Kollegen von hinten in die Zange zu nehmen.
Ich brauche schwerere Geschütze. Aber woher nehmen, wenn nicht stehlen? Soll ich doch riskieren, einfach unter dem Feuerstrahl durchzufließen und sie in den Nahkampf zu zwingen? Aber das ist riskant, und ich habe ausnahmsweise nur dies eine Leben. Ich muss umdenken.
Da fällt mein für den Kampf fokussierter Blick auf den Boden. Ha! Natürlich! Ich locke die Wolke an stechenden und hackenden Gegnern, die, unmöglich dauerhaft zum Schweigen zu bringen, umschwirren, etwas zur Seite...und trete bewusst auf die Bodenplatte, welche die Falle auslöst.
Eine Metallkugel mit langen Stacheln daran zischt sofort heran...und ich trete noch einen Schritt zur Seite, auf einen Schinder, halte meine Hand dazwischen, stemme mich nicht gegen den Schwung, nutze ihn stattdessen, lenke die Flugbahn um neunzig Grad ab und kegle mit dem teuflischen Geschoss einen der beiden näher kommenden Schamanen glatt um. Die beiden Schinder, die ihm bilden, purzeln zu Boden, einer von ihnen tot; und während der andere Schinderturm abgelenkt ist, kann ich nun doch heranstürmen, mich um seine Blickrichtung herumducken, als er ein reflexartiges Inferno wirkt, und dann sterben auch dessen beide Komponenten.
Der letzte kommt nicht nach mit dem Wiederbeleben. Ich töte seine Untergebenen mit weiten Hieben, mehrere von ihnen auf einmal, und dann bewerfe ich ihn mit zwei ihrer Messer gleichzeitig, bringe ihn aus dem Gleichgewicht und plötzlich ist mein Schwert viel zu nah und das war es dann.
Ich schüttle Schinderstücke ab; wenigstens bluten die getrockneten Fetischpuppen nicht. Sonst hätte sich das längst in meine Substanz gesaugt, und das muss ich nicht wirklich haben. Noch jemand hier, der Ärger will?
Sieht nicht so aus, also gehe ich einfach weiter. Ich achte vor allem auf Geräusche; wie ich gerade deutlich gemerkt habe, sind die flinken Schinder eigentlich recht gut zu hören, wenn man nur weiß, worauf man achten muss. Und es hilft, wenn man selber nicht klappernde Metallfüße hat und kein knappes Dutzend Skelette mit zur Geräuschkulisse beitragen. Zweimal noch versucht Endugu, mich zu überraschen, aber sogar den Hinterhalt beim Abgang zur untersten, dritten Ebene entdecke ich rechtzeitig.
Statt dass mir mehrere Schamanen in den Rücken fallen können, tropfe ich plötzlich von der Decke mitten unter sie. In Sekunden ist es vorbei mit ihnen, und die führerlosen Puppen sterben nicht viel später.
"Kannst du mich finden?", tönt es mir entgegen, als ich unten angekommen bin. Endugu hat es noch nicht begriffen. Er ist nicht weit weg – um genau zu sein, ist er hinter diesem Gitter...das wäre ein Hindernis für einen Menschen, seine Skelettarmee und besonders seinen Eisengolem gewesen. Aber doch nicht für einen aus Ton. Ohne einen solchen von mir zu geben, fließe ich einfach um die Stäbe herum, versuche, blitzschnell meinen Widersacher zu finden um ihn schnell beseitigen zu können, bevor er wieder wegläuft.
Was ich sehe, sind ganze fünf Schamanen, die sich links und rechts von dem Gitter positioniert haben.
Verdammt, jetzt bin ich doch in eine Falle getappt. Ich reiße beide Arme hoch, mehr oder minder instinktiv, und fange damit zwei Feuerstrahlen ab. Wenn nun die von hinten auch...aber was mache ich da denn? Als Golem habe ich gar keine Instinkte, ich sollte mich schämen. Meine Vernunft übernimmt und ich zerfließe, über der Schlammpfütze schießt das Inferno hinweg; aber ich spüre schon, wie ich zäher werde, Flüssigkeit verliere, und ich weiß, wenn der obere Schinder des Schamanenpaars sich nur ein wenig duckt, leckt das Feuer über den Boden, direkt über mich und das war es dann. Gerade noch kann ich mich zurückziehen, wieder durch das Gitter...und ich bleibe stecken.
Meine Arme, die die volle Wucht des ersten Angriffs spüren mussten, sind hart geworden.
Für noch eine Sekunde steigt Panik in mir auf, dann handle ich wieder rational. Meine Hand schmettert sich auf den Boden und zersplittert da. Das noch weiche Material darunter zieht sich zurück. Und die rechte? Sie ist verloren, komplett durchgehärtet. Darum spanne ich an, was meine Schulter war und katapultiere das gebrannte Glied davon. Fast erwischt es Endugu, aber er ist schon wieder am Laufen.
Reduziert fließe ich um die Ecke und muss mich kurz sammeln. Ich bin nicht an der Außenwand...und der Boden hier ist noch recht schlüssig mit Steinen bedeckt. Wenn ich mich wieder regenerieren möchte, muss ich schleunigst an neues Material kommen, bevor mich ein neuer Hinterhalt erwischt. Was ist der kürzeste Weg? Wie ich nur übergut weiß, ist das hier unten ein tückisches Labyrinth, ohne erkennbares System von Innenwänden, Gittern, Türdurchbrüchen – und die Schatzkammer, welche dieses Chaos beschützen soll, hatte gar keine Tür, sondern war im Nachhinein zugemauert worden. Dafür gedacht, dass wer auch immer blöd genug war, um nach Khalims Hirn zu suchen, hier wieder und wieder im Kreis laufen und irgendwann doch in eine der zahllosen Fallen tappen würde.
Gut, dass ich manchmal eben doch stur genug bin, um mich dem Kopf durch die Wand zu gehen...
Und diese hier sieht auch eher brüchig aus. Ich presse mich dagegen, während ich schon höre, wie von beiden Seiten kleine tippelnde Füße heranlaufen. Ein Teil meiner Substanz rinnt in die Spalten zwischen den Bausteinen. Hier eine größere Fuge...da ist er in der Hälfte durchgebrochen...
Gerade, als die ersten Schinder schon die Messer hinter mir heben,
strecke ich mich, und die Wand zerbirst. Splitter fliegen in alle Richtungen, Staub rieselt von der Decke, Ziegel fallen. So, jetzt habe ich eine Abkürzung...
Die Decke stürzt ein.
Kurz darauf fühle ich mich etwas erschlagen, aber es ist ja nicht so, als ob ich mir etwas brechen könnte. Trotzdem muss ich schnell hier raus...bevor sie noch nach mir graben. Gut, dass wir hier nicht meilenweit unter der Erde sind...auch, wenn es sich ein wenig so anfühlt. Ich fließe unter dem Steinhaufen hervor und stelle fest, dass tatsächlich noch ein wenig mehr heruntergekommen ist, als ich ursprünglich dachte. Hat natürlich auch seine Vorteile. Einerseits sind meine Verfolger von gerade jetzt verschüttet, andererseits sind jetzt gleich zwei Gänge komplett blockiert.
Ich passe meine mentale Karte an. Währenddessen trete ich schnell an die Außenwand. Meine neu geformte Hand an dem jetzt etwas kleineren Körper findet einen fehlenden Stein und die...aaah...feuchte Dschungelerde dahinter.
Meine nun wieder normal großen Finger lösen sich wieder, gerade, als ein weiterer Schwarm Schinder angelaufen kommt. "Zu spät", knurre ich und wirble herum. Mein Schwert zischt vor...
...es sind die untoten Stygischen Puppen. Eine Beobachtung, die ein kleines Bisschen zu spät kommt. Als meine Klinge die dünne Haut des im Gegensatz zu den "normalen" Schindern knochig, leichten, hohlen Wesens durchdringt und dahinter widerstandslos nichts entdeckt, bilden sich plötzlich im Inneren, Masse aus reiner Magie erzeugt, unzählige Knochensplitter, und die fliegen jetzt in alle Richtungen mit einer ebenfalls unmöglichen, aber plötzlich nur überdeutlich in der Realität vorhandenen Energie nach außen.
Mein Kopf ist weg. Das Material, das ihn gerade noch formte, spritzt an die Wand dahinter, formlos, verloren. Schwärze trifft mich von allen Seiten wie eine eiserne Faust, versucht, mich zu verschlingen; ich halte Stand, irgendwie, nur, weil ich das schon so oft tun musste. Der Tod...auch, wenn es nur ein zeitweiser ist...gewinnt auch heute
nicht gegen den unbändigen Lebenswillen in mir.
Diesmal wirklich quasi instinktiv stolpere ich zurück, finde wieder die Ritze, aus der ich gerade schon Erde zog, sauge schleunigst weitere Substanz auf, während meine Beine schon von weiteren Angreifern zerrissen werden. Ich kann auch aus dem Bauch sehen, aus den Beinen sehen, kein Problem, theoretisch kann ich in alle Richtungen gleichzeitig von jedem Quadratzentimeter meines Körpers aus meine Umgebung erkennen...das muss ich mir nur manchmal bewusst machen. Hektisch schlage ich um mich, schubse, stoße die Puppen von mir weg, die um mich tanzen. Nur nicht zu fest...ich brauche einen Moment. Ruhe.
Weg! Meine Brust bläht sich auf, wirft meine Angreifer kurz zurück, noch ein Tritt, ein ausholender Armschwung, und habe meinen Moment. Mehr Erde...mehr Schlamm...und dabei reiße ich gleich noch ein paar Steine aus ihrer Verankerung. Sie stürmen wieder heran, und einer springt mich an – da fliegt ihm ein sauber behauener Granitziegel ins Gesicht. Er zerbirst, aber erst weit weg, vom Einschlag zurückgehauen.
Mehr und mehr Steine schieße ich auf die Stygischen Puppen, sodass sie gar nicht erst herankommen können. Fernwaffe? Ha, liegt doch genug herum. Um genau zu sein...
Ich bilde meine Hand zurück, mache einen Schlammball aus ihr, und katapultiere ihn weg. Er umschlingt einen der untoten Schinder, der rollt hilflos weg...und dann zerquetsche ich ihn, denn immerhin
war das einmal meine Hand. Die Knochensplitterexplosion vernichtet sie natürlich, aber gleich forme ich sie neu.
Damit haben wir Schamanen unter Kontrolle, die Mörderpuppen...noch jemand? Nein? Endugu, du bist der nächste.
"He! Giftzwerg! Du wolltest mich mit deinem Goldhelm locken? Schön! Wo ist er? Wo bist du? Ich verspreche auch, dass ich ihn nur mitnehme und dann gehe, ganz ehrlich!"
"Nein, ich glaube, du darfst jetzt mal ein wenig Schnitzeljagd spielen, Golem!", gibt der Hexendoktor zurück.
"Ich heiße Dorelem, du Bastard." Er klang dumpf – also nicht in diesem Gang. Plan! Diese Abzweigung ist nunmehr unbegehbar...kommt er durch dieses Gitter? Nein, die sind noch fast intakt. Also...kann ich ihn da in die Enge treiben. Ich laufe los, möglichst leise; federe mit weichen Füßen die Schritte ab. Rutsche um die Ecke, Schlammball bereit.
Und da steht er auch! "Hab ich dich", zische ich. Endugu zuckt zusammen, dann fängt er sich. Tiefste Verachtung ist in seiner Stimme. "Pass erst mal auf, was hinter dir ist."
Nur der Vorsicht halber werfe ich tatsächlich einen Blick nach hinten – natürlich ohne mich umzudrehen. Und – tatsächlich – hat er darauf spekuliert, dass ich meine, er versucht den ältesten Trick der Welt. Zwei Schamanen schleichen sich heran. "Du denkst doch nicht, dass ich darauf reinfalle", sage ich, und hebe meinen Arm. Endugus zugenähte Lippen formen ein Grinsen, als das beginnende Inferno einen ersten Funken in den leeren Augen der Schamanenmasken aufblitzen lässt.
Blitzschnell zischt mein Schwert nach hinten, denn auch wenn ich meine Arme forme, als wäre ich humanoid, müssen sie natürlich nicht den Gesetzen von Gelenken gehorchen. Die blanken Maskengesichter werden in der Mitte gespalten und fallen auseinander. Die Schinder dahinter auch. Endugus Grinsen vergeht ihm. "Nein, das bist du wohl wirklich nicht." Ich feuere die Schlammkugel...aber die kurze Ablenkung durch die Schamanen war ihm genug, und er ist wieder weg. Verdammt! Aber jetzt bleibe ich dran. Er läuft, ich hinterher. Wieder ein Geschoss von mir, das knapp daneben geht. Links, rechts, er schlägt Haken. Denkt, er ist schlau, weil er einen engen Gang rechts von hier kennt. Den habe ich aber das erste Mal hier auch gesehen – unbewusst, ja, aber das Bild ist gespeichert. Er meint, er könnte eine Finte versuchen, verschwindet dann aber doch darin, und ich gewinne an Boden, weil ich es wusste. Hat er einen Plan? Diesmal nicht. Heillose Flucht. Denn jetzt...jetzt läuft er nach links...und links habe ich gerade erst die Decke einstürzen lassen. Was ihm entgangen sein muss.
Fast stolpert er, fast hätte ich ihn gehabt, als ihm zu spät aufgeht, dass er gerade in eine Sackgasse gelaufen ist. Ein Spritzer trifft ihn am Fuß, leider nicht genug, als dass ich noch Kontrolle darüber hätte...
Was hat er für Möglichkeiten? Eigentlich nur zwei. Den großen Gang...und den Durchgang da hinten haben wir letztes Mal geschaffen, als ich der General mich mich dem Material der Stäbe repariert hat, sodass ich sie brechen konnte.
Halt. Endugu hat Heimvorteil. Weil er sich auskennt, seit womöglich Jahrhunderten hier unten eingesperrt war, bis Mephistos Übernahme die Schinder erweckte und sie ausbrachen, ist er an Veränderungen nicht gewohnt. Er
wird den großen Gang nehmen. Und von da...
Ich nehme den Durchgang. Die halb zerfressenen Stäbe liegen noch am Boden. Und von hier aus gibt es noch eine Tür, und durch diese, durch diese muss er kommen!
Erwische ich ihn mit einem Schlammgeschoss? Wenn man bedenkt, wie gut ich bisher getroffen habe...
Vor der Tür ist der Boden freigelegt. Ja! Und neben mir? Rundumblick...nur ein Schritt weiter. Ich stampfe mit dem Fuß auf. Konzentriere mich.
Endugu hetzt durch den Durchgang. Und da schießt von unter ihm ein Tondorn hoch, als mein Material, unterirdisch gewandert.
Fast spieße ich ihn auf, aber natürlich konnte ich nicht genau wissen, wohin er treten wird. Die scharfe Replika meines linken Schwertes schlitzt ihm das Bein auf, wirft ihn zur Seite, endlich stolpert er, und jetzt habe ich ihn. Mein Arm formt wieder die Kugel.
"Ende der Fahnenstange, Freundchen."
Er zieht sich an dem Steinklotz, an den er gefallen ist, hoch. "Niemals!", ruft er. "Meine Diener werden dich..."
Ja, ich höre deren Schritte. Weit, weit weg. Niemals kommen sie rechtzeitig. Und ich grinse voller Häme, als ich sehe, woran er sich gerade hochgezogen hat.
"Du hältst jetzt den Mund...", beginne ich, und werfe die Kugel. Er hüpft weg – daneben! Ich habe nur den Deckel von dem Sarkophag aufgestoßen, an dem Endugu lehnt. "Zu schnell für dich! Zu schlau für dich!", kreischt er...und dann verstummt er, als ihm ein viel leiseres Knarren die Sprache verschlägt. "Oh nein."
"...und lässt dich eindosen", beende ich meinen Satz und gerade auch, weil er gerade abgelenkt ist, treffe ich ihn frontal. Die Kugel wirft ihn nach hinten, in das Steingrab hinein...und die Säurefalle, die sich gerade angekündigt hat, geht hoch. Endugu brüllt, als die grüne Giftwolke ihn umgibt und die staubtrockene Lederhaut zerfrisst. Hat er genug?
Ich kann mich nicht darum kümmern...denn jetzt sind die anderen Schinder da. Stygische Puppen stürmen als erste heran...aber ich habe einen Arm über die Türschwelle gelegt. Zweimal kurz hintereinander sticht mein Schwert aus dem Boden hervor, dann zerstören die Knochensplitter es, aber das war genug. Hinter ihnen stolpern die anderen, zwar magisch geschützt vor den Geschossen der Kameraden, dennoch für einen Moment aufgehalten...
Der Steindeckel des Sarkophags landet auf ihnen. Fast zerschmettern ihn die Explosionen, aber er hält. Die Schamanen sind verunsichert...wie sollen sie die Leichen von unter der Platte wiederbeleben?
Ich wachse plötzlich hinter ihnen in die Höhe und die Frage hat sich erledigt.
Als ich kurz darauf in die Schatzkammer trete, in der Mitte die von uns schon geplünderte goldbeschlagene Kiste, überrascht es mich nicht im Mindesten, dass Endugu schon auf mich wartet.
Die Hälfte seines Gesichtes ist weggefressen, die Fäden, die seinen Mund zusammengehalten haben, hängen lose herab. Ein Arm fehlt komplett, ein halbes Bein. Irgendwie hat er sich hierher geschleppt, und irgendwie hält er den dunkelgoldenen Helm, der ihm so unglaublich wichtig ist.
"Kein...Schritt...näher...", krächzt er. "Ich zerstöre...die Maske..."
Ich lächle kalt. "Das will ich sehen."
"Wag es...nicht. Dein Meister will diesen Helm mehr...als alles in der Welt..."
Mein Schwert formt sich. "Du kleine Mistratte, ich habe nicht einmal eine Ahnung, was dieser Helm sein soll."
"Ha...", beginnt er, aber sein Lachen geht in einem Husten unter. "Du willst mir sagen...dass Trang-Ouls Gesicht...dir nichts bedeutet? Dass ich nicht...lache..."
Ein Schock durchzieht mich, und ich halte inne. "Da siehst du", ätzt der Hexendoktor. "Du willst ihn...also erhalte dir die Chance...und zieh dich zurück...du wirst es noch einmal versuchen...du darfst das...dann bring deinen Meister mit..."
"Und du bist dann wieder hergestellt und hast noch bessere Fallen vorbereitet? Vergiss es. Ich glaube, ich hole ihn mir doch gleich."
"Wenn du das tust...sieht dieses Gesicht...aus wie meines..."
Er bereitet irgendeinen Zauber vor. Wahrscheinlich blufft er nicht mal. Aber...
"Ach, das mit deinem Gesicht tut mir natürlich sehr Leid. Du hast da was, übrigens."
"Ich...was?"
"Was verschluckt", lächle ich. Und spreize meine Finger.
Denn gerade, als der Schlammklumpen Endugu im Gesicht traf, habe ich sichergestellt, dass ein Teil dessen ihm zwischen die durchbohrten Lippen kroch. Im Körper des Schinderhelden, von ihm unbemerkt durch den Schmerz der Säure, war dieses kleine Stück Ich sicher.
Und jetzt formt es sich zu einer Nachbildung einer der Stachelkugeln, die Endugu hier unten so gerne eingesetzt hat, um möglichst viel Schmerz und Elend zu schaffen...
Die Tonstacheln stoßen aus dem kleinen Puppenkörper. Der grausame Hexendoktor erstarrt, ein stummer Schrei auf seinen Lippen. Dann zerreißt es seinen Körper, die Feuerverzauberung fordert ihren Tribut, als er zurück in die Hölle fährt, nun hoffentlich für immer. Jetzt bin ich mir sogar sicher, dass ich den Richtigen erwischt habe!
Die Wucht der Explosion schleudert den Helm von Trang-Oul durch den Raum. Ich fange ihn mühelos auf.
Bald darauf grabe ich mich aus dem Boden. Es ist dunkel geworden.
Ich starre dem Helm in die leeren Augen. Nun, das wird den General mehr als nur ein bisschen interessieren, würde ich sagen. Er wäre mir sicher böse, wenn er nicht sofort von meinem Fund erfährt.
Na ja, sagen wir nicht sofort, sagen wir heute. Ich packe den Helm sicher in mein Inneres und beginne, zurück zu dem Lager der Holzfäller zu laufen, von wo aus wir heute morgen das Arbeiten begonnen haben. Der General wird ein paar Stunden verschmerzen können und muss ja nie erfahren, dass ich ihn habe warten lassen. Denn was soll ich sagen? Ich fühle mich verantwortlich für die Leute hier. Und mehrere von ihnen sind heute wegen mir gestorben. Eine Tatsache, die mir erst jetzt allmählich klar wird, als die Schuld mich mehr und mehr in ihren Griff bekommt. Ich weiß, dass es wenig gab, das ich hätte tun können außer überhaupt nicht aufzutauchen, und dann wäre Endugu immer noch am Leben. Das hilft aber nicht wirklich, um mir inneren Frieden zu geben. Ich muss herausfinden, ob Gajaraf seine schrecklichen Verbrennungen überlebt hat. Muss den anderen sagen, was passiert ist, dass ich Ithefels Tod gerächt habe. Wir brauchen Wachen beim Schinderdorf, bevor sich manche von denen noch herausgraben; sicher sind noch welche übrig. Und sobald es draußen wieder hell ist, müssen alle Kämpfer, die wir kriegen können – das bedeutet auch so viele Eisenwölfe wie möglich, und Aschara davon zu überzeugen, wird auch nicht besonders lustig werden – in den Dungeon, um da unten alles auszuräuchern. Das haben wir viel zu lange ignoriert.
Die nächsten Schritte zu planen hilft ein wenig gegen meine Schuldgefühle. Trang-Ouls Helm...völlig vergessen. Bewusst. Ich habe meine Prioritäten. Dass ich die Leute hier über meinen Meister stelle, ohne darüber groß nachdenken zu müssen, schockiert mich nicht einmal.
Gajaraf hat es nicht geschafft.
Und schließlich, während ich den immer gleichen Weg um das Schinderdorf abgehe, ein halbes Auge und Ohr auf irgendwelche ungewöhnlichen Vorkommnisse, tue ich etwas, was ich seit mehr als einer Woche mit Freude vermieden habe.
He, Zweiter, weck den General auf. Ich habe extrem interessante Neuigkeiten, auf die er sicher nicht warten will.