8 - Die Docks von Kurast
Es hatte zu regnen begonnen. Tropfen dick wie Tennisbälle prasselten auf uns hinab, weichten den Boden auf, ließen den Fluss anschwellen. Der ohnehin schon schlammige Untergrund wurde noch unbegehbarer. Eher kämpften wir uns durch den Schlamm, als dass wir noch wirklich gingen. Dennoch verlor niemand ein Wort darüber. Warum auch? Es gab nichts zu sagen. Und obwohl es erst früher Nachmittag war (zumindest war das meine Schätzung... es hätte wohl auch Vormittag sein können, ich hätte es nicht gemerkt), war der Himmel schon so dunkel wie zu tiefster Abendstunde. Durch den dichten Vorhang aus Regen war es kaum möglich auszumachen, was wenige Meter vor einem geschah. Außerdem fror ich erbärmlich. Mein dünnes T-Shirt bot nicht unbedingt den Schutz, den ich bei diesem Wetter gebrauchen konnte. Einen Vorteil hatte es dennoch: Ich spürte meine Beine nicht mehr. Andernfalls wäre ich wahrscheinlich schon vor Stunden zusammengeklappt, weil selbige mich nicht mehr hätten tragen können. Zumindest bildete ich mir ein, dass es so war. Mana hatte mir vor nicht allzu langer Zeit ihren Mantel angeboten, doch ich hatte abgelehnt. Jetzt wünschte ich mir, ich hätte mein Ehrgefühl in den Wind geschlagen. Idiot! Vor Kälte zitternd und vom Regen vollkommen durchnässt merkte ich kaum, dass der Himmel langsam aufklarte. Und mit ihm auch die Sicht. Und vor den Vorhang aus Regen traten die Akteure, wie in einem großen Theater. Ein gigantischer Tempel, eine ganze Ansammlung von Häusern und Hütten, einige aus Stein, viele aber eher notdürftig aus Holz, Bambus und Leinen. Eine dichte Rauchfahne hing über den Docks von Kurast. Und wir waren nur noch ungefähr einen halben Kilometer davon entfernt. Wir hatten es geschafft!
Ich sah zu den beiden anderen. Mana wirkte erleichtert, lächelte müde, aber wohl glücklich, dass es endlich geschafft war. Kale hingegen setzte eine ernste Miene auf. Misstrauisch beobachtete er den immer höher steigenden Rauch. Ich folgte seinem Blick.
„Ein Feuer?“, fragte ich.
„Es... scheint ganz so...“, murmelte der Barbar nachdenklich.
„Der Regen muss es gelöscht haben.“, erwiderte Mana.
Einige Minuten blieben wir stehen, während sich die Wolken allmählich zurückzogen und den Blick auf einen - nicht wesentlich schöner anzuschauenden - graublauen Himmel preisgaben. Dann tat Kale einen Schritt vorwärts und wir folgten ihm.
Über die hölzerne Brücke, die die Docks mit dem Festland verband, betraten wir die Stadt. Ich roch das Meer. Ein Geruch, den ich seit Jahren nicht mehr genossen hatte. Damals waren ich und meine Eltern an der Ostsee gewesen. Ich war gerade 11 geworden. Dennoch ist dies einer der Gerüche, den man nie im Leben wieder vergisst. Doch unter diesem Geruch verbarg sich noch etwas. Der Regen hatte ihn beinahe fortgespühlt, sodass es sich nicht mehr genauer erkennen ließ. Aber da war noch etwas.
Erst jetzt fiel mir auf, dass kein einziger Mensch mehr auf den Straßen war. Sie waren wohl alle vor dem Regen in ihre Häuser geflohen. Aus dieser Perspektive sah die Stadt um ein Zehnfaches größer als im Spiel aus. Wahrscheinlich war sie es auch. Überall hölzerne Häuser, steinerne Tempel, alles auf Stelzen mitten im Meer. Die Rauchfahne war seltsamerweise nicht mehr zu sehen.
Kale bedeutete uns, stehen zu bleiben. Der Barbar zog seine Schwerter vom Rücken, Mana zog ihren Stab aus dem Nichts. Der Kristall schimmerte im matten Licht der Sonne, die mühsam versuchte, durch die graue Suppe am Himmel zu dringen. Hektisch blickte ich mich um. Wurden wir angegriffen? Aber es war niemand zu sehen. Es war niemand zu sehen... die Worte hallten in meinem Bewusstsein nach wie Glockenklang, bedrohlicher aber, und sehr viel schärfer.
„Berlin has fallen“, verkündete eine blecherne Radiostimme in meinem Kopf. Mai 1945(oder war es Juni gewesen? Ich erinnerte mich nicht). Was wir heute wohl für ein Datum hatten? Es traf mich wie ein Hammerschlag in die Magengegend, und mir wurde übel.
„Wollt Ihr den totalen Krieg?“
Die Leute aus den Docks waren nicht in ihren Häusern.
Kurast has fallen., Kurast ist gefallen.
Dann kam der Geruch wieder, der, den ich nicht wahrgenommen hatte (oder besser: Nicht hatte wahrnehmen wollen!), stieg mir jetzt um so intensiver in die Nase. Eine Mischung aus Schimmel, verfaulten Eiern und brennendem Plastik. Leichen. Verwesungsgestank.
„Wartet hier.“, brummte Kale und ging voran. Mana und ich blieben zurück. Ich konnte mich sowieso nicht rühren. Meine Beine waren wie festgefroren, doch diesmal nicht wegen der Kälte, sondern vor nackter Angst. Bald schon war der Barbar um eine Ecke verschwunden. Mana und ich waren nun auf uns gestellt.
„Spürst du das?“, fragte sie leise, fast schon flüsternd. Ein leichtes Zittern lag in ihrer Stimme.
Ich nickte, auch wenn ich nur ahnte, was sie gemeint hatte. Etwas lag in der Luft, hatte die ganze Zeit schon in der Luft gelegen und die Docks verschleiert wie ein gigantischer, durchsichtiger Vorhang.
Dann kamen sie. Von überall her. Und als sich die ersten Hände an die Kanten der Holzbohlen der Docks klammerten, wusste ich auch, wo die ganzen Leichen abgeblieben waren, die diesen widerlichen Gestank absonderten. Ein Grunzen, ein abgrundtiefes Ächzen. Schreie. Resident Evil und Silent Hill sind ein Scheiß dagegen, dachte ich unwillkürlich. SIE SIND TOT!, mit Blut auf die Mattscheibe geschmiert. Nur das es in diesem Fall nicht das von Jill Valentine war. Oh nein. Es würde mein Eigenes sein. Continue? Am letzten Speicherpunkt fortsetzen? Seine Leiche einsammeln und weiter gehts? Hahaha, grausame Ironie.
Wir wichen vor den Händen zurück, die nun langsam die lose an ihnen befestigten Körper hochzogen. Ich wollte nicht hinsehen, allerdings hatte ich keine Wahl. Rücken an Rücken, wie in einem schlechten Survival-Thriller standen Mana und ich da, eingekreist von einer Meute blutlüsternder Zombies. Allerdings reagierte sie im Gegensatz zu mir. Ich hörte ihre Stimme hastig etwas murmeln, konnte es aber nicht verstehen. Im nächsten Moment waren wir von einer bläulichen Blase von Kopf bis Fuß umgeben. Wellen gingen von Manas in die Höhe gestrecktem Stab aus, wanderten an der Blase entlang und versanken mit einem leisen Pling im Boden. Ihre Augen waren geschlossen. Meine waren weit geöffnet. Zu meinem Leidwesen schienen sich meine Sinne in dieser unmittelbaren Gefahr auch noch zu schärfen. Ich sah ganz deutlich, was ich nie wirklich hatte sehen wollen. Das Gesicht eines der Zombies wand sich mir zu, fahl, beinahe grün. Haut hing in Fetzen von den Knochen, das Fleisch schien mit chirurgischer Genauigkeit entfernt worden zu sein. Zahllose Wunden waren im Oberkörper und an den Armen sichtbar, doch er blutete nicht. Eine schwarze, eitrige Flüssigkeit ergoss sich aus den Schnitten, lief am ganzen Körper herunter, doch den Untoten interessierte das wenig. Das hatte wenig mit dem Blut, der Essenz des Lebens zu tun.
Raubtierfütterung. Und der Regen setzte wie auf Befehl einer dunklen Macht wieder ein, gab der ganzen Szenerie einen grausamen Anstrich. Er prasselte auf das Schild und floss in kleinen Tropfen daran herunter, wie von imprägnierten Cowboy-Stiefeln.
Ein Blitz schlug in ein nahe stehendes Gebäude ein, dann noch einer, und noch einer, der Donner war ohrenbetäubend. Das himmlische Orchester schlug zum Finale Furioso an. Die feinen Haare in meinem Nacken und auf meinen Armen stellten sich auf. Die Zombies rückten näher, die Augen, schwarzen Knöpfen gleich, lose in den Höhlen rotierend. Sie waren vielleicht noch fünf Meter entfernt. Wir waren so gut wie tot. Mana würde diesen Schild nicht ewig aufrecht erhalten können. Grunzend und kehlig lachend näherte sich die Brut weiter, umkreiste uns langsam, versuchte eine Schwachstelle in dem Schild zu finden.
Ein Kleiner, mit flach an den Schädel geklatschten Haaren und fehlender Oberlippe, stürzte sich urplötzlich auf uns, prallte am Schild ab und fiel zuckend und zappelnd zu Boden. Auch Mana schwankte kurz, stand danach aber wieder fest auf den Füßen. Hilflos sah ich mich um. Ich konnte nichts tun, um mein oder ihr Leben (seit wann interessierte mich das Leben anderer?, hätte ich mich wohl in diesem Moment gefragt, wäre mein ganzes Gehirn nicht voller Zombies gewesen) zu verteidigen. Ich fühlte mich erbärmlich. Sank zu Boden wie ein nasser Sack. Das wars, Endstation.
„Kopf hoch.“, sagte Mana mit gepresster Stimme. Sie sah sich gequält um, aber sie lächelte noch immer, auch wenn ihre Augen weiterhin geschlossen waren.
„Steh auf. Hier!“, mit einer Hand hielt sie weiterhin den Stab, mit der anderen griff sie an ihre Hüfte und holte ein Schwert hervor. Sie ließ es einfach auf den Boden fallen. Dann sollte es eben so sein.
Ich ergriff den kalten Schaft der Waffe, wog sie vorsichtig in einer Hand. Die Klinge war seltsam leicht, wog kaum mehr als eine Feder.
Jaaaaaaaaaaa!
Da war sie wieder, die Stimme. Ich ignorierte sie.
„Mana?!“
„Ja, verdammt!“, und sie ließ den Schild mit einem unsanften Schlenker des Stabes sinken. Er zerplatzte wie eine Seifenblase. Noch in der selben Bewegung richtete sie den blauen Kristall auf das Schwert, dessen Klinge sofort rot zu glühen anfing.
Sie murmelte etwas, und ich meinte die Worte „Bitte, lass es funktionieren“ zu hören, war mir aber hinterher nicht mehr sicher. Es spielte auch keine Rolle.
Dann, von einem Moment auf den anderen, fing das Schwert Feuer. Unbeeindruckt vom Regen, der nun wieder auf uns nieder ging, prasselte die Flamme munter weiter. Sie war nicht heiß, höchstens angenehm warm. In den Spielen (Oh VERDAMMT!) war es das Feuer gewesen, Licht und Hitze, was die Zombies am meisten fürchteten. Es
musste klappen, Scheiße.
Ich hielt das Schwert drohend vor mich, fuchtelte damit herum, in der wilden Hoffnung, dass die Meute davor zurückweichen würde. Sie tat es nicht. Ein hässliches Grinsen breitete sich auf den erschreckend intelligenten Gesichtern der Untoten aus. Dann griffen sie an.
Von weit her erscholl ein Pfiff, laut und durchdringend bis ins Mark.
Und die Zombies hielten inne. Sahen sich um wie jemand, der gerade aus einem tiefen Schlaf aufgewacht war und nicht genau wusste, wo er sich befand. Regen tropfte in ihre offenen Münder. Dann wandten sie sich um, gingen den Weg, den sie gekommen waren. Einige die Straßen entlang in die Dunkelheit, andere zurück in die See, die noch tiefere Finsternis. Es war ebenso schnell vorbei wie es begonnen hatte.
Im nächsten Moment waren wir wieder alleine. Regen klatschte mir ins Gesicht. Ich merkte nicht einmal, dass das Feuer, dass Manas Klinge umgeben hatte, ausgegangen war.
„Haben wir... es überstanden?“, fragte das Mädchen unsicher. Ich schwieg dazu, denn die Antwort wollte ich selbst nicht hören.
„Nein... habt ihr nicht. Dies war erst der Anfang.“
Es war nicht dieselbe Stimme, die ich schon häufiger vernommen hatte, diese dunkle selbstgefällige, grausame Stimme. Diese hier, war anders. Es klang lächerlich, aber böse wäre wohl die einzig richtige Bezeichnung gewesen. Und sie erklang direkt aus meinem Kopf. Ich schrie.
„Johnny! Was ist los? Hey!“, hörte ich Mana noch schwach, doch ihre Stimme verblasste immer mehr gegen die glasklare und dunkle Stimme, die sich in meinem Gehirn ausbreitete wie ein Blutfleck auf dem Teppich meiner Seele. Schmerz kroch in meine Ohren, meinen Oberkörper, meine Beine, ich sank erneut zu Boden, konnte mich nicht mehr rühren, nicht mehr atmen, nicht mehr
denken!
Aber sehen, dass konnte ich noch. Und was ich sah, brachte mich der Überzeugung näher als alle Zombiemassen dieser Welt, dass Resident Evil, dass dieser Bildschirm... SIE SIND TOT!... Wirklichkeit geworden war, mit meinem Blut geschrieben.
Einige Meter entfernt, im tiefsten Schatten, in dem normalerweise nichts mehr zu sehen war, stand
er. Der dunkle Wanderer. Aus meinem Traum. Und seine glühenden Kohlen ruhten auf mir.
„Du weißt, wie das ist... Johnny... nicht wahr? Oh jaaaa... aber es ist noch lange nicht vorbei. Die Hölle ist tief, Johnny, verdammt tief. Hahahaha... mein lieber Johnny. Lebe wohl... SOLANGE DU NOCH KANNST!“
„NIEMALS!“, schrie jemand mit einer durchdringenden, noch viel klareren Stimme. Sie schnitt die Dunkelheit entzwei, schlug den dunklen Wanderer zurück. Im nächsten Moment stand ich auf den Füßen. Wut raste durch meine Adern, pures Adrenalin ersetzte das Blut in meinen Venen. Alles verschwamm vor meinem Auge, ich sah nur noch die beiden glühenden Augen, die mich aus der sicheren Dunkelheit aus anfunkelten. Und dann rannte ich. Erhob das Schwert, dass Mana mir gegeben hatte. Die Flamme entzündete sich erneut, diesmal blau wie das Meer und der Himmel, der sich darin spiegelte. Immer näher kam ich den Kohlen, die vor meinem Ansturm zurückwichen.
„Ich muss dich enttäuschen, aber dies soll nicht unser Schlachtfeld sein.“, und die rot glühenden Augen verschwanden in die Dunkelheit.
Ich rutschte aus, landete mit dem Gesicht auf den nassen Holzbrettern. Wasser spritzte auf. Und der Regen prasselte weiter auf mich hinab. Ich würde ein nasses Grab finden, dachte ich noch, bevor auch mich die Schwärze umfing.
Ende... für dieses Mal. Und vielleicht für etwas länger.
Mein besonderer Dank für diese Episode geht an die größte Metal Band der Welt (Wer Namen und den verwendeten Titel weiß, kriegt nen
... aber nicht bei Google reinschauen, dass ist schummeln
), meinem Vorbild Nummer 3 in Sachen Literatur, Wolfgang Hohlbein und, nicht zuletzt, meiner Mutter (
), die mich schon mit 12 Jahren Resident Evil spielen lassen hat... ich war unglaublich schlecht in solchen Spielen und bin es bis heute
Viel Spaß mit dieser Episode
mfg
Löffel
PS @ Gentle: Danke für die Korrekturen, werde ich mich gleich drum kümmern... wenn du willst, darfste das auch hier gerne wieder machen, allerdings verlange ich das nicht von dir
Könnte diesmal nämlich etwas mehr sein, da ich keine Lust mehr zum Korrekturlesen hatte.