Kapitel 49 – Illusionen
Ich wische meine Klauen an dem Fell meines letzten Gegners ab und kehre wieder zurück zu unserem Ausgangspunkt, wo das Lager war, das diese hier überfielen. Ich hoffe schwer, dass Niemand von ihnen entkommen ist, um zu verraten, wo der Meister und ich sind, aber diese Hoffnung ist leer. Wir müssen uns darauf einstellen, verfolgt zu werden - oder erwartet.
Er bewegt sich nicht, darum brauchen meine Augen im Zwielicht einige von spontaner Panik erfüllte Sekunden, um den Meister zu finden. Mit verschränkten Armen steht er da, den Blick nach unten gerichtet. Ich trete neben ihn; zu unseren Füßen liegt der Katzenführer, der uns über die Nähe der Vergessenen Stadt berichtet hat. Seine Augen sind weit aufgerissen, und ganz sanft reflektiert die verdunkelte Sonne in ihnen, was fast die Illusion erzeugt, hinter ihnen wäre noch Leben versteckt. Lange stehen wir so da; geradezu überraschend ist endlich eine Bewegung des Meisters, ein Kopfschütteln.
„Ich wusste nicht einmal, wie er heißt.“
Abrupt dreht er sich um und geht ein paar Schritte. Er hebt die verkrümmten Hände halb – und lässt sie wieder sinken. Erneut schüttelt er den Kopf.
„Verdammt, ich weiß noch nicht einmal, wie die heißt, die wir retten wollen. Und ich weiß nicht, wie er heißt, wie er, wie sie...“
Sein zwischen den Leichen unserer Gruppe umherzuckender Finger hält inne, auf den Körper einer weiblichen Katze gerichtet; einer schwarzen. Einer Feinden. Er schreitet zu ihr.
„Himmel, sieh sie dir an. Kein Dämon, kein Monster. Ein ganz normales Leben, zerstört durch diesen Krieg, und genommen – von mir!“
Er kniet neben ihrer Leiche nieder. Es dauert eine Weile, bis er weiterspricht.
„Kann es das sein, Golem? Die Bösen töten die Guten, und wir töten die Bösen dafür – aber wir sind denn die Bösen“? Die „Guten“? Wir? Sicher nicht – oder doch beides...gleichzeitig? Wir töten uns gegenseitig, Golem. Wir sind genauso böse wie die. Und genauso gut. Und der einzig wahre Böse lacht. Lacht, während ich, der strahlende Held, den Tod von gleich zweier Gruppen lebender, denkender, fühlender Wesen zu verantworten habe! Die einen verantwortungslos zurückgelassen, die anderen von meinen Skeletten gemetzelt...“
Ich trete näher, obwohl ich nicht wirklich weiß, was ich sagen sollte, wenn ich könnte...da erstarre ich, als sich schwaches Licht in noch nicht getrocknetem Blut spiegelt. In drei kleinen Rinnsalen...Himmel...nicht die Skelette haben diese hier getötet. Ich war es. Und ich wusste es nicht mehr?
Mir wird schwindlig, als ich meine perfekten Erinnerungen durchforste: Da ist die, die ich suche. Der Meister schreit seinen Angriffsbefehl...ein paar Katzen fangen gleich an zu rennen – da, die ist sicher entkommen – und manche sind überrascht. So überrascht, dass sie nicht rennen, als ich auf sie zustürme – bis ich kurz davor bin – drei von ihnen drehen sich um – und ich erwische eine, die, die vor mir liegt, sauber durchstoßen die Klauen ihren Rücken. Ich stoße sie um und springe über ihre Leiche. An einem ihrer Freunde habe ich mir vor Kurzem die Klauen abgewischt.
Mir wird übel. Was mache ich hier eigentlich? Es gab eine Zeit, da habe ich versucht, eigentlich unschuldiges Leben wie dieses hier zu schützen. Es hat nicht funktioniert, damals, als ich die Jägerinnen in Ton einspann – aber ich habe es versucht. Und es tat mir unendlich Leid, dass ich sie töten musste.
Und jetzt? Keinen Gedanken habe ich an sie verschwendet, die ich niederstach. Und ich sprang über ihre Leiche...
Ich muss mich hinsetzen. Was ist los mit mir? Werde ich so ein gefühlloses Monster wie die Stimme in meinem Kopf? Was macht dieser Krieg mit mir? Oder...ist es...meine Kampfpersönlichkeit selbst?
Verdammt, bist du hier irgendwo drin und hältst nur Funkstelle?
...
...keine Reaktion. Spielst du mit mir? Ich passe auf in Zukunft! Ich lasse mich nicht abstumpfen!
Der Meister für seinen Teil scheint da nicht in Gefahr zu sein; im Gegenteil. Während ich abstumpfe, wird er zerrieben. Das ist genauso schlecht. Was soll das werden, ein Team aus einem Neurotiker und einem Monster?
Ich lege ihm die Hand auf die Schulter – aber er stößt sie weg. Nicht schnell genug jedoch, dass ich das leichte Zusammenzucken nicht bemerke.
„Lass mich, Golem. Lass mich ganz einfach. Ich weiß es ganz genau. Sie sind Opfer des Bösen – nicht meine! Ich bin nicht schuld! Ich kann nicht schuld sein, sonst müsste ich vergehen, zerbrechen an ihr – und bin ich im Moment nicht auch nur gekittet? Habe ich nicht Narben an den Armen, die das beweisen?
Und doch! Ich bin auch an dem nicht schuld, weswegen ich sie mir zugefügt habe. Kaschya ist nicht tot, weil ich einen Fehler gemacht habe. Du hast mir das gezeigt. Und ich bin schuld, dass es dich gibt! Du hast es gut – du hast keine Zweifel an deiner Unschuld! Ich darf mir solche auch nicht erlauben...habe ich das damals schon gewusst? Dass ich nicht an der Schuld zerbrechen darf? Habe ich dich erschaffen, weil ich wusste, dass ich nicht sterben darf?
Von wegen! Was rede ich? Ich bin ein Feigling, Golem. Der Dolch öffnete meine Adern, und der Mut verließ mich mit meinem Blut. Deswegen, und nur deswegen, kam die Formel über meine Lippen. HelKoThulEthFal, Golem!“
Er redet völlig wirr – ist es passiert? Ist er schon zerbrochen? Wir sind hier auf ganz gefährlichem Territorium...wieder einmal muss ich sein Schiff, segellos, um die Klippen des Wahnsinns lenken. Und bin ich dafür geeignet? Überhaupt – warum das Runenwort? Warum Gehorsam?
„Gehorsam! Das gleiche Runenwort, das Golems jedem Befehl folgen lässt und nebenbei ihre Ausdauer verbessert, erschafft sie auch! Ironisch, nicht wahr? Und ich muss gestehen, wieder habe ich nicht die Wahrheit gesagt, eine Illusion erschaffen, die ich gerne als Wirklichkeit hätte. Aber jetzt ist die Zeit der Desillusion.
Die Formel...ich habe sie die ganze Zeit gemurmelt. Während des ganzen Aktes des Selbstmordes. Mein letztes Wort als Erinnerung an den zweiten Tod, den ich damals verantworten zu müssen glaubte – wusstest du, dass du nicht mein erster Golem bist?“
Die ganzen Themenwechsel machen mich langsam so irre wie ihn – wie soll ich eine Reaktion zwischen seine Lamentierungen quetschen? Wie ihm helfen, zum Kern seiner Schuld vorzudringen – und diese, wenn nicht zu vergessen, zumindest zu lindern?
Andererseits...was er bisher sagte, war gehetzt, teilweise unwahr – aber anschließend korrigiert – und trotzdem immer logisch. Er hat seine Gefühlswelt so genau beschrieben, wie es möglich ist: Die Mauer von Selbstbetrug, die er aufgebaut hat, ist Lüge für Lüge eingerissen worden. Und dabei ist sein jetziger Zustand perfekt herausgekommen: Kurz vor dem Kollaps. Also: Was ist dieses Gerede von einem zweiten Golem? Er hat mir doch gesagt, ich sei sein erster, damals auf der Kalten Ebene – war dies die erste Lüge von vielen?
„Ja, Golem, er war nicht wie du, aus Fleisch und Blut. Er war aus Ton, aus kalter Erde, und doch – bei jeder Erinnerung wird es mir klarer – er war wie du, er hatte sicher...kein Herz...aus Stein.“
Während er in Tränen ausbricht, trifft mich die Erkenntnis, wie ähnliche vor ihr, wie ein Donnerschlag. Natürlich! Er weiß es nicht, er wusste es nie! Er weiß nicht, dass ich der Gleiche bin!
„Ich habe nicht einen, sondern zwei Freunde an Andariel verloren, das wurde mir immer klarer in der Zeit danach...und als die Schuld und die Trauer zu groß geworden waren, als mein Leben auf den Boden floss, da sprach ich das Wort, das schon diesen Freund aus dem Boden schuf. Nur diesmal war es mein Blut, das verwandelt wurde, Form annahm – deine. Ist es nicht ironisch, abermals, dass mir mein Freund so noch nach seinem Tod noch das Leben retten konnte?“
In der Tat. Himmel. Und ich weiß endlich, wie ich seine Schuld lindern kann – wenn auch meine noch bestehen muss, da mir Niemand helfen kann außer mir selbst...da ich gegen eben jenes Selbst kämpfen muss...er lacht plötzlich auf, das tränenüberströmte Gesicht zum Himmel gekehrt.
„Da rede ich über meine Unschuld, und die Schuld lässt mich doch nicht los...die Trauer sowieso nicht...manchmal denke ich immer noch, es wäre besser, den ganzen Müll hier einfach zu lassen...“
Sanft schließt er der Toten die Augen. Als er dann wieder zusammensinkt, energielos, berühre ich ihn wieder an der Schulter – und ziehe ihn ebenso sanft auf die Beine.
„Was ist denn...willst du mir wieder aus meiner Schuld helfen? Es wird nicht funktionieren, mein Freund. Es war schon damals...nur Illusion...“
Ich lächle ihn an. Nicht bitter, sondern ernsthaft glücklich. Er ist genau auf dem richtigen Weg – und ich habe, was ihn ans Ziel bringen wird.
Es ist oval, und ich hebe es vorsichtig. Seine Tränen, zu Boden gefallen, und eine Flasche Lebenselexiers, deren Fehlen er nicht bemerkt hat, haben Sand zu einem klebrigen Brei gemacht. Ich halte mein Werk vor mein Gesicht. Durch zwei Löcher sehen meine Augen in die des Meisters, über denen sich die Brauen heben.
„Eine Maske...?“
Ja! Und als ich sie langsam wieder abnehme, ziehen sich die Brauen zusammen...
„Eine Maske...“
Und die Augen weiten sich.
„Eine Maske – aus Ton! Du legst sie ab...wie...damals...Golem! Du warst einst aus Ton!“
Ja! Ja, war ich!
Ich habe lange genug Zeit, um erneute Tränen in den Augen des Meisters losschimmern zu sehen, aber diesmal unterstrichen von einem selig aufblühendem Grinsen, bevor er mir in einer wilden Umarmung die Sicht auf sich nimmt.