Kapitel 2: Bekanntmachungen
Ich kenne nun die Sprache (eine Sprache?) und weiß, dass ich bin, aber nicht, warum ich bin und wer ich bin.
Die Verwirrung bleibt. Ich beschließe, meinen Fokus vom Meister abzuwenden und die Umgebung zu betrachten. Hinter ihm stehen zwei dünnere Ausgaben der Spezies Mensch; die jüngst erworbenen Kenntnisse in meinem – was ist es? Die mir bekannte Definition für das Zentrum der Gedanken ist Gehirn, ist es eines? – sagen mir, dass es Skelette sind, Überreste toter Menschen.
Ich wundere mich, warum sie hier sind. Aber ich habe schließlich keine Ahnung von den Vorlieben der Spezies Mensch; vielleicht gefällt es ihnen, sich mit den Knochen Anderer zu umgeben.
Apropos Spezies; welcher Spezies gehöre ich an? Bin ich ein Mensch?
Ich beschließe, es herauszufinden. Die ursprüngliche Anweisung des Meister ist mir immer noch absolut bewusst; dem Meister muss schließlich per Definition gehorcht werden. Bis jetzt sind ungefähr zweieinhalb Sekunden vergangen. Ich wundere mich kurz über mein Zeitgefühl; was ist Zeit eigentlich? Aber weiter. Ich solle mich also bewegen. Nur habe ich nicht die leiseste Ahnung, wie das funktioniert. Der Meister bewegt sich.
Die Skelette auch.
Was?
Diese Frage muss hintenangestellt werden, der Meister wird ungeduldig. Ich wundere mich wieder, woher ich seine Gefühle weiß; aber das ist zweitrangig.
Wenn ich ähnlich aufgebaut bin wie der Meister, was zu vermuten ist, schließlich ist seine Augenhöhe nur etwas höher als meine (vorausgesetzt, ich habe Augen), dann kann ich meinen Körper betrachten, wenn ich meinen Kopf nach Vorne neige.
Mir fällt ein, dass ich damit zwei Dinge gleichzeitig erledige: ich sehe mich selbst und, viel wichtiger, gehorche dem Meister.
Etwas versucht die ganze Zeit, meinen Kopf, oder was auch immer an der selben Stelle wie meine optischen Einrichtungen ist, nach unten zu ziehen. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich mich schon die ganze Zeit dagegen
wehre. Offensichtlich ist das Ziehen meines Kopfes nach unten das Resultat einer Bewegung, und ich habe es durch eine Gegenbewegung verhindert.
Stolz, dass ich bereits weiß, wie man sich bewegt, erfüllt mich.
Ich gebe die Gegenbewegung auf und lasse meinen Kopf nach unten sinken.
Der Meister vor mir saugt scharf Luft ein.
Mir wird bewusst, das dies Atmung ist, im selben Moment, dass dies das Zeichen einer Erwartung ist und dass ich nicht atme.
Es ist noch sicherer, dass ich kein Mensch bin, als ich meinen Körper sehe: er besteht aus Ton, aus Erde und hat dieselbe Farbe wie der Boden, auf dem ich stehe.
Das ist mir egal; offensichtlich gibt es hier (wo ist hier?) nicht nur Menschen, sondern auch Skelette und...
Was bin ich?
Der Meister wird mir helfen. Ich sehe ihn wieder an. Bewegung ist einfach, wenn man weiß, wie es geht.
Ein breites Grinsen ziert sein Gesicht.
„Es hat geklappt! Ich habe einen Golem erschaffen! Ich bin der Größte! Ich habs immer gewusst!“
Ich bin also ein Golem, und er ist nicht nur mein Meister, sondern auch mein Erschaffer.
Kapitel 3: Meister
Der Meister starrt mich an.
„War das Alles? Du wirst doch wohl nicht denken, dass du Irgendwie meine Befehle missachten könntest? Ich bin dein Meister! Du musst mir gehorchen!“
Das ist mir klar...aber warum klingt er so unsicher?
Überhaupt...wie soll ich ihm sagen, dass ich es weiß? Ich versuche, meine Lippen zu bewegen wie er es tut, wenn Worte aus seinem Mund dringen.
Nichts geschieht.
Der Meister runzelt die Stirn.
„Was machst du denn da, du Idiot? Du Tonhirn hast doch wohl gar nicht den Geist, dich mit mir zu unterhalten! Du bist ja auch nicht zum Labern hier, sondern zum Kämpfen! Alles, was du machst, ist auf meine Fragen mit Ja oder Nein zu antworten!“
Was? Wie denn? Ich kann doch nicht reden...offenbar bin ich nicht so klug wie der Meister, wenn er das schon behauptet.
Aber warum kann ich dann darüber nachdenken? In derselben Sprache, die er auch benutzt?
Warum denkt er nicht genauer darüber nach, was er sagt, wenn er doch klüger ist als ich?
Was denke ich denn da? Der Meister ist oberste Instanz für mich; ich kann ihn doch wohl nicht in Frage stellen!
Der Meister scheint ungeduldig.
„Wirst du jetzt wohl endlich antworten? Soll ich meinen Skeletten sagen, dass sie dich zerhäckseln sollen? Ich kann sehr schnell wütend werden! Hast du mich verstanden?“
Und wieder klingt seine Stimme unsicher und schrill...woher weiß ich, dass er unsicher ist? Woher weiß ich, was ich weiß?
Wieder bewege ich meine Lippen, ohne dass ein Ton von ihnen kommt.
Der Meister schlägt sich an die Stirn.
„Oh Mann, natürlich! Muss man dir Alles sagen? Wenn du ja sagen willst, dann nickst du, wenn du nein sagen willst, schüttelst du den Kopf. Ist das so schwer?“
Mir wird bewusst, dass ich schon einmal genickt habe. Die Bedeutung des Wortes war mir immer klar; ich habe nur nicht darüber nachgedacht gehabt.
Andererseits...wie hätte ich selbst darauf kommen sollen? Der Meister denkt doch, dass ich nicht denken kann, und er muss doch Recht haben!
Jedenfalls schüttele ich den Kopf, weil sich die Stirn des Meisters wieder in besorgte Falten legt.
„Nein? Du willst mir nicht gehorchen...halt. Du meinst, dass das nicht so schwer ist!“
Ja. Nicken.
„Du verstehst mich also?“
Hoffnung in seiner Stimme. Was ist denn das für eine Emotion? Was ist eine Emotion? Ein Gefühlszustand. Gefühle kenne ich schon...aber Hoffnung? Die Erwartung der Verbesserung eines Zustandes. Seltsam, seltsam...
Oh. Ich muss dem Meister gehorchen! Nicken.
„Ja! Natürlich verstehst du mich!“
Erleichterung. Starke Erleichterung. Warum? War er sich denn nicht sicher, dass ich ihm gehorchen würde?
Warum hat er mich dann erschaffen?
Es kommt mir in den Sinn, dass er wohl oft seine Handlungen nicht ganz zuende denkt. Genauso wie seine Anweisungen.
Eben. Das war mal wieder unglaublich kurzsichtig.
Was war das für ein Gedanke? Ich kann doch nicht die Kompetenz des Meisters in Frage stellen! Das wäre ketzerisch, falsch. Entgegen jeder Regel!
Aber der Meister redet weiter, diesmal aber zu sich.
„Ja, das wäre wohl auch ziemlich dämlich, wenn ausgerechnet der Teil des Zaubers Fehler hätte...ein Golem ohne Verstehen meiner Sprache...dann würdest du wohl nur dumm rumstehen und dich wundern, was?“
Und da habe ich die Antwort auf viele der Fragen, die mich schon mein ganzes Lebe...meine ganze Existenz lang gequält haben. Ich bin wissend erschaffen worden, also weiß ich.
Was hat der Zauber meiner Erschaffung noch beinhaltet? Ich bin mir sicher, dass Neugierde dazugehört.
„Dann wäre das also geklärt. Hör zu, red nicht dazwischen...hihi...und merk dir Alles. Ich möchte, dass du vor Allem immer in meiner Nähe bist; und wenn du hörst, dass Jemand schlecht über den General – das bin ich – oder über die Totenbeschwörer redet, dann zeigst du ihm, was es heißt, sich mit mir anzulegen! Soweit klar?“
Eigentlich nicht...was soll ich denn tun? Er kann ja wohl kaum von mir erwarten, dass ich etwas mache, was er mir nicht befohlen hat – er hat mir ausdrücklich gesagt, ich solle nur auf seinen Befehl hin handeln.
Jetzt will er, dass ich eigenständig etwas tue, von dem ich nicht weiß, wie ich es umsetzen soll...was kann er meinen? Ich schüttele den Kopf. Mir ist es nicht klar.
„Ich dachte, du verstehst mich? Du sollst halt dafür sorgen, dass sie still sind! Sag ihnen...halt, geht nicht...ach, zieh ihnen eins über und gut ist!“
Aha. Ich soll also Jeden schlagen, der ihn beleidigt. Aber wieder ist er so unsicher, so unsicher!
Ja, kann man denn so Jemand trauen?
Schon wieder so ein seltsamer Gedanke! Natürlich kann man dem Meister trauen...wer bin ich überhaupt, mit mir Selbst zu streiten? Ich bin ein Golem, ich bin der Diener des Meisters, ich werde ihm gehorchen. Trotz Unsicherheit...
Die Weisheit des Meisters darf man doch nicht in Frage stellen, sonst ist er ja kein Meister mehr!
Stattdessen analysiere ich, was er gesagt hat. Wenn er etwas dagegen hat, dass Leute schlecht über Totenbeschwörer reden, dann ist er vermutlich einer oder ist zumindest gut mit einem befreundet.
Freundschaft ... ein seltsames Konzept.
Aber was ist denn ein Totenbeschwörer?
Jemand, der Macht hat über die Toten, Skelette aus den Leichen toter Gegner beschwört, man glaubt, dass sie mit schwarzer Magie im Bunde sind, ihre Hilfsmittel sind...
Wie nach dem Brechen eines Dammes strömen die Informationen auf mich ein, die, wie die zum Verständnis der Sprache benötigten, irgendwo in meinem Kopf versteckt waren.
Alles wird klarer. Die Skelette sind also vom Meister wiedererweckt, der Stab hilft ihm dabei unter Kanalisierung von Energie, oft werden Totenbeschwörer von der Gesellschaft gemieden, weil man sie verdächtigt, dem Bösen nahe zu sein, auch die Golembeherrschung ist eine ihrer Fähigkeiten...
Schließlich nicke ich. Ich bin mit meinen Gedankengängen überaus zufrieden. Ich verstehe nun, was der Meister meint.
„Na endlich! Das ist natürlich nicht Alles, was zu tun ist...ich hab mir nicht die Mühe gemacht, dich zu erschaffen, nur, damit du für meinen guten Ruf sorgst, oh nein!
Ich brauche dich vor allem als mobile Mauer gegen Massen von Feinden. Mit einzelnen werden die Skelette schon fertig. Du musst die Viecher ablenken und von mir fernhalten. Ich bin hier der Wichtigste!
Bei deiner Aufgabe musst du vor allem vollkommen ohne Rücksicht auf dein eigenes Leben vorgehen, weil du immer an vorderster Front kämpfst. Was rede ich denn da! Du lebst doch gar nicht!“
Wieder eine Antwort auf eine meiner offenen Fragen, die mir auch mein versteckter Vorrat an Wissen nicht beantworten kann! Ich lebe nicht.
Interessant finde ich, wie sich die ganze Gestik des Meisters bei seinen Worten verändert. Er erscheint nicht mehr nervös; geradezu, als wäre er sich das erste Mal, seit ich ihn kenne, vollkommen sicher beim dem Thema, über das er redet. Knapp und präzise sind seine Bewegungen, als seine linke Hand zu einer Masse von Feinden (welcher Art auch immer) wird, und an seine rechte stößt, die sich vor seinen Körper gestellt hat – seine rechte Hand bin ich.
Das sollte Symbolkraft haben.
Sollte es das...was denke ich nur manchmal für einen Unsinn zusammen!
Egal, was für eine schwierige Persönlichkeit er ist, sein Handwerk versteht er wenigstens, das lässt ja hoffen.
Der Meister eine schwierige Persönlichkeit? Wie kann ich mir nur ein Urteil über ihn erlauben, wo ich ihn doch weder kenne, noch irgendwelche Vergleiche zu ziehen habe! Wer weiß, vielleicht sind alle Menschen mal unsicher, mal wissend, wie er...
wie komme ich auf so etwas?
Vielleicht hat es mit seiner herablassenden Art mir gegenüber zu tun?
Ich schiebe diese Gedanken weit von mir und beschließe, ihre Quelle zu finden und auszumerzen. Mein Gehorsam darf nicht in Frage gestellt werden, am wenigsten von mir selbst.
Interessant zu erfahren ist, dass der Meister Probleme mit irgendwelchen Feind – „Viechern“ hat.
Ich frage mich, wer etwas gegen meinen wundervollen Meister haben könnte.
Die insubordinante Stelle in meinen Gedanken vielleicht.
Kapitel 4 – Totenbeschwörer
„Nun denn. Vor uns liegt eine große Aufgabe: Ich muss dafür sorgen, dass ein abtrünniges Mitglied der Jägerinnen das Zeitliche segnet. Damit kann ich mich vor ihnen beweisen. Sie treibt auf dem Friedhof ihr Unwesen und belebt die Toten aus den Gräbern wieder. Damit kenn ich mich wenigstens aus! Ich weiß nichts Genaueres, aber ich vermute, dass sich dort bereits eine beträchtliche Anzahl lebender Toter befindet. Mehr als ich habe,“ – er schaut zu den Skeletten, die schon eine ganze Weile unbeteiligt herumstehen – „aber das ist kein Problem, weil meine natürlich besser sind. Sie macht schwächere, weil sie nicht direkt unter ihrer Kontrolle stehen. Das ist anstrengend, kann ich dir sagen. Mehr als vier und dich gleichzeitig schaff ich nicht, und einen zweiten Golem kann ich mir sowieso abschminken – der Zauber war der einzige in meinem Buch und er wirkt nur auf dich. Sei glücklich.“
Ich habe das Gefühl, er hört sich gerne reden. Ich nicke.
„In Ordnung. Wir sind hier auf der sogenannten Kalten Ebene, und ich habe gerade festgestellt, dass ich mehr Muskeln in der Truppe brauche und dass ich mich bereit fühle, meinen eigenen Golem zu erschaffen. Ein harter Kampf war das gerade – du wirst festgestellt haben, dass ich nur zwei meiner vier Skelette hinter mir stehen habe. Die anderen wurden von den Gegnern zerstört, Untergebene Blutrabes. Aber das ist kein Problem – wo gehobelt wird, fallen schließlich Späne.“
Er tritt zur Seite und weist auf eine beachtliche Ansammlung toter menschlicher Körper, die in allem möglichen Stellungen hinter ihm verstreut liegen. Ich wundere mich kurz, was ein Blutrabe sein soll – ein Vogel? Dann fällt mir der menschliche Brauch ein, alles und jedem Namen zu geben, und komme zu dem Schluss, dass er die abtrünnige Jägerin meint.
Mittlerweile hat er seinen Stab auf eine der Leichen gerichtet, ein recht intaktes Exemplar, sieht man von einer eingedellten Kopfpartie ab. Er kneift die Augen zusammen – ein Zeichen von Konzentration, lasse ich mir sagen.
Die Leiche zuckt, das Fleisch fällt von ihr ab und die Knochen heben sich in die Luft. Dort werden sie weich, verformen sich etwas. Aus einem der Arme sprießt ein Krummschwert, gleich denen, die die beiden fertigen Skelette halten. Der andere wird dicker und formt schließlich ein kleines Schild. Drei gleiche Skelette stehen nun da, bloß, dass eines etwas größer ist – eins der alten. Diese haben außerdem Schrammen und Beulen. Das neue Skelett ist etwas kleiner als die vorherige Leiche. Natürlich muss die Masse der Waffen irgendwo herkommen, belehrt mich mein Gedankenzentrum.
Eine weitere Leiche wird zum Skelett. Nach der Prozedur ist der Meister schweißgebadet.
„Strengt schon an, das. Aber wenigstens musste ich hier nicht viel umstellen. siehst du das große Skelett? Das war mal eine Gargantua. Riesenviech, das. Aber ich kann nur menschenähnliche machen – mehr gibt der Zauber nicht her. Das war eine Arbeit, das Ganze umzuformen. Dafür ist der jetzt größer. Kein schlechter Tausch.“
Ich frage mich, wofür mich der Meister eigentlich braucht, bei den Kräften.
Kapitel 5 – Es wird ernst
„Der Friedhof liegt im Osten, hab ich mir sagen lassen. Geh mit zwei Skeletten voran, die anderen beiden bleiben bei mir. Ich denke, du weißt, wie man kämpft und tötet. Warum sag ich dir das eigentlich Alles? Du kannst doch sowieso nicht darüber nachdenken...“
Tatsächlich weiß ich, wie man kämpft und tötet – und darüber nachdenken tue ich trotzdem. Seltsam. Wahrscheinlich auch ein Teil des Zaubers, der mich erschaffen hat. Ich sehe den Meister an und erkenne sofort drei Stellen, an denen sein Körper verwundbar ist. Ich könnte seine Schädeldecke zertrümmern und sein Gehirn zerschmettern, sein Genick brechen und ... ich sehe meine unbewaffneten Tonfäuste an ... das Herz wäre etwas schwieriger. Verwundbar sind außerdem sämtliche Extremitäten und im Fall des Meisters der Lendenbereich. Nicht, dass ich dem Meister etwas tun würde; meine Aufgabe ist es ja, andere davon abzuhalten. Ich nicke enthusiastisch.
„War klar. Dann los!“
Ich gehe wie befohlen voran und achte das erste Mal auf die weitere Umgebung, auch wenn es nicht viel zu beachten gibt – die Landschaft ist flach, keine Hügel stören die Sicht. Kurzes, schlammiges Gewächs – Grass, wie mir einfällt – bedeckt den Boden. Kleine Grüppchen größerer Pflanzen – Bäume – stehen herum, aber alle sind blattlos und verschrumpelt, wie sie eigentlich nicht sein sollten. Irgendetwas hat diese Landschaft furchtbar verwüstet...
Die zwei neuen Skelette fallen neben mir in Gleichschritt. Ich frage mich, ob sie auch denken können wie ich, halte es aber für unwahrscheinlich. Immerhin waren die beiden frischen Exemplare nach ihrer Entstehung nicht im Mindesten verwirrt über ihre neue Existenz. Es wäre wohl auch etwas unpraktisch, jedem neuem Skelett wie mir erst eine Einweisung geben zu müssen, und der Meister hat es ja auch nicht getan.
Vor uns bewegt sich etwas. Nie erprobte, aber scharfe Kampfsinne übernehmen meine Gedanken. Ich ermesse der Störung eine potentielle Bedrohungsrate zu und versuche, nachdem ich zu dem Schluss gekommen bin, dass diese hoch ist, näheres darüber herauszufinden.
Ich beginne, auf die Schemen zuzurennen. Da schleicht sich ein rationeller Gedanke ein: will der Meister das überhaupt? Er hat mir bezüglich Feindkontakt noch keine Anweisungen gegeben. Ein weiterer Kampfgedanke: sind diese Gestalten vielleicht nur dazu gedacht, mich vom Meister abzulenken?
Ich komme zum Stillstand. Die Skelette laufen unbeirrt weiter und überholen mich.
„Was ist denn jetzt los? Auf, auf, beweg dich! Du siehst doch, dass da vorne Gegner rumgurken!“
Er soll sich nicht so aufregen und vielleicht nächstes Mal präzisere Anweisungen geben.
Ich erschrecke. Wie komme ich nur dazu, so etwas zu denken!
Nachdem ich festgestellt habe, dass ich eine Kampfpersönlichkeit habe, die sich fundamental von meiner sonst eher naiven, analytischen und neugierigen Natur unterscheidet, denke ich, dass das Zentrum der rebellischen Gedanken vielleicht auch eine andere Art Meiner zu denken darstellt.
Ich kann mich später darum kümmern, diese Gedanken auszumerzen. Der Meister wartet schon viel zu lange auf eine Reaktion von mir. Ich stürme los und lande mitten in einem Gefecht.
Kleine rote, bösartige Kreaturen, mindestens ein Dutzend, umschwärmen die Skelette. Verschiedene primitive Waffen sind in ihren Händen. Ihre Gesichter zieren Narben und Farbe. Ein Lendenschurz ist alles, womit sie bekleidet sind. Drei von ihnen liegen bereits tot am Boden. Vier weitere hängen an dem einen Skelett und ziehen es langsam zu Boden. Das andere wird sogar von sechs bedrängt. Obwohl die Skelette nur wenig mehr als einen gezielten Schlag brauchen, um einen der kleinen Dämonen zu töten, ist die Übermacht wohl doch zu groß. Und zu meiner Überraschung muss ich feststellen, dass eines der gerade durch Enthauptung getöteten Wesen wieder aufsteht, seinen Holzknüppel aufhebt und wieder auf die Mitte des Kampfes zurennt, derweil sich sein Kopf wieder auf den Schultern befestigt. Im Hintergrund steht ein Trio größerer Ausgaben dieser Biester, geschmückt mit überdimensionalen Hörnern und einen großen, glühenden Stab mit sich führend. Diese Stäbe erinnern mich an die des Meisters. Da übernimmt meine Kampfpersönlichkeit: Offensichtlich sind die dafür verantwortlich, dass die Toten nicht tot bleiben. Dieser Kampf ist nicht zu gewinnen, wenn sie nicht ausgeschaltet werden.
Außerdem ist das Glühen der Stäbe mehr als verdäch...
ein Feuerball entspringt der Spitze des Stabes dessen, der von den dreien in der Mitte steht. Er ist der größte von ihnen und ist von ihnen am meisten mit Schmuck in Form von allen möglichen Knochen und dem gelegentlichen glitzernden Stein behängt. Eins der Skelette, das sich gerade aufgebäumt hat, wird voll am Schädel getroffen, der sofort zerspringt und heißes Schrapnell in alle Richtungen verschießt. Der Körper fällt in sich zusammen und die Knochen lösen sich auf. Nur noch Staub ist vorhanden.
Ich begreife die Veränderungen, die der Zauber des Meisters an den Knochen vorgenommen hat. Wenn der Wiederbelebungszauber gebrochen ist, sind sie nicht mehr fähig, ihre Konsistenz zu bewahren.
Der Feuerwerfer kichert manisch und die kleinen Viecher heben ihre Arme kurz im Triumph, nur um sich sofort mit neuem Kampfesmut auf das verbleibende Skelett zu stürzen. Dieses hackt wild um sich und erwischt eines der Biester an der Schulter. Sein Arm fällt ab und es selber kreischend um. Einer der Wiederbeleber im Hintergrund grinst und beginnt, seinen Stab kreisen zu lassen. Der frische Leichnam beginnt sich zu erheben ... und zerfällt. Seine Gebeine heben sich in die Luft. Kurze Zeit später steht ein neues Skelett da.
Ich bemerke, dass der Meister am Schlachtfeld angekommen ist und gleich eingegriffen hat. Eines seiner Eskortenskelette, das große, kommt uns zu Hilfe. Zusammen beginnen die drei, die Flut der roten Monster zurückzudrängen. Aber schon kommen die ersten Feuerbälle geflogen und schlagen in sie ein.
Zeit, etwas dagegen zu unternehmen. Ich renne auf die Anführer zu, die feige hinter den Linien der Kämpfer stehen. Auf der anderen Seite steht der Meister, genauso weit vom Kampfgeschehen entfernt.
Ich denke mir meinen Teil und lasse eine meiner Tonfäuste gegen die Schläfe eines kleinen Teufels krachen, der sich mir in den Weg stellt. Ein Knirschen zeigt mir, dass ich über ungeahnte Kräfte verfüge. Sein zerschlagener Körper fliegt einige Meter, um dann in einem feuchten Haufen auf dem Boden zu landen. Der Weg ist frei zu den Zauberern. Der linke hat mich bemerkt. Sein Stab zuckt in meine Richtung – zu spät. Ich greife ihn mit beiden Händen, reiße ihn aus seinem Griff und schmettere das andere Ende gegen seine Kehle. Beide zerbrechen. Der große steht vor mir, mit versunkenem zahnigem Lächeln das Gemetzel vor ihm betrachtend. Ein weiteres Skelett ist gefallen. Ich hole mir seine Aufmerksamkeit mit einem Schlag in den Bauch, der zischend die Luft aus seinen Lungen entweichen lässt. Er klappt zusammen. Ich hebe meinen Fuß, um seinen Kopf zu zertreten – da springt mir eine rote Masse ins Gesicht und fängt an, mit einem kurzen Dolch wie wild meinen Rücken aufzureißen.
Es ist der dritte der drei Wiederbeleber, und er hat in einem Anflug von Heldenmut versucht, mich davon abzuhalten, seinen Anführer zu töten.
Schade für ihn, dass es mir überhaupt nichts ausmacht, dass er an mir herumsäbelt. Ich packe ihn, ziehe ihn von mir weg und zerreiße ihn in zwei tropfende Stücke, während sich die Wunde an meinem Rücken von selbst wieder mit dem Ton schließt, aus dem ich bestehe. Als ich wieder klar sehen kann, ragt auf einmal die glühende Spitze eines langen Stabes in mein Sichtfeld. Der stärkste der drei hat sich wieder aufgerichtet.
„Mächtiger Bischibosch dich töten!“
Schreit er mit einer Stimme die klingt, als würde er täglich mit Säure gurgeln. Ich bereite mich darauf vor, von einem Feuerball gefällt zu werden. Wenn ich ein Mensch wäre, hätte ich jetzt vermutlich Angst; so hoffe ich nur, dass ich dem Meister helfen konnte. Obwohl ... ein bisschen bedauere ich das baldige Ende meiner kurzen Existenz doch. Es gäbe noch viel herauszufinden über diese Welt ... über das Leben ...
Plötzlich gibt Bischibosch ein Gurgeln von sich. Aus seiner Brust ragt das Krummschwert eines Skelettes. Wo die Leiche des ersten Zauberers liegen sollte, sind nur ein paar Hautfetzen verstreut.
Dann ist mein Blick plötzlich durch einen roten Schleier getrübt – die Leiche meines Widersachers ist explodiert. Ich bin bedeckt von Blut und Knochensplittern.
Als ich mir die Augen freiwische, sehe ich das breite Grinsen des Meisters.
„Mann, das war knapp, was?“
Kapitel 6: Erkenntnis
Nach dem Kampf beginnt der Meister, die Leichen der roten Teufel zu durchsuchen. Derweil reflektiere ich das Kampfgeschehen. Ich war dem Tod nahe gewesen – und jetzt, da ich wieder klar und mit meiner ruhigen Persönlichkeit denken kann, wird mir klar, dass es mir überhaupt nicht egal gewesen wäre, hätte Bischibosch mich mit seinem Stab erwischt. Diese Erkenntnis verwirrt mich – ich wurde schließlich geschaffen, um zu kämpfen, und zum Kampf gehört der Tod ja dazu. Der Meister selbst hat mir verraten, dass ich mich im Zweifelsfall opfern soll, um seine Sicherheit zu gewährleisten. Sofort beginnen sich rebellische Gedanken in den Vordergrund zu drängen: ist der Meister nicht furchtbar egoistisch? Kümmern ihn meine Gefühle eigentlich?
Ich löse den Konflikt, indem ich mir einrede, dass es einfach nur ein Fehler war, dass ich überhaupt Gefühle besitze, dass der Zauberspruch, der mich erschuf, fehlgeschlagen ist. Ich – eine willenlose Kampfmaschine?
Der Gedanke stößt mich ab. Diese Existenz würde solche Ideen nicht aufkommen lassen – aber sie wäre wertlos. Wie ein Skelett wäre ich nur vom Willen des Meisters abhängig.
Nur: Es hat sich doch mehrfach bewiesen, dass dieser Wille des Meisters eventuell nicht ganz das ist, was er will! Zum Beispiel schon die Entscheidung, mich zu erschaffen: Er ist sich nicht sicher gewesen, ob er mir vertrauen kann - das kann er, aber er wusste es nicht, als er mich schuf, und er weiß es immer noch nicht! Das war nicht sehr vorausschauend.
Außerdem wird es doch oft so sein, dass ich Entscheidungen treffen muss, für die ich alleine zuständig bin - ich kann doch nicht auf seinen Befehl warten, ihn zu verteidigen, wenn ihn ein Monster angreift!
In der Tat, ich bezweifle, dass die Formel meiner Erschaffung fehlerhaft war. Ich denke, sie hat genauso funktioniert, wie sie sollte: Ich bin unabhängig, frei, eventuelle eigene Entscheidungen zu treffen.
Und diese meine Unabhängigkeit ist es, die der Meister braucht, die mich von den Skeletten unterscheidet. Ich kann autark handeln, um ihn zu beschützen – und diese Freiheit meiner, zu denken und zu handeln, diese Freiheit, ein sinnloses Leben zu verachten und mein eigenes Leben als sinnvoll für mich selbst zu sehen, ist auch die Freiheit, den Meister in Frage zu stellen. Er mag mir befehlen können, was er will, und ich werde seinen Befehlen immer gehorchen, komme was wolle – aber meine Gedanken sind meine eigenen. Wenn ich nicht damit einverstanden bin, dass der Meister mich wie einen Gegenstand behandelt, dann ist das nicht nur völlig in Ordnung, sondern auch begrüßenswert, denn nur durch das Infragestellen seiner Autorität kann ich mir meine eigene Unabhängigkeit immer wieder beweisen, diese Unabhängigkeit, die er und ich so brauchen und die mein ganzes Wesen ausmacht.
Und mit dieser Erkenntnis spüre ich, wie ich meine rebellische Persönlichkeit akzeptiere und wie sie endlich ein Teil von mir wird, nicht länger darauf angewiesen, meine Gedanken subtil zu beeinflussen.
Kapitel 7: Konfrontation
Mir wird bewusst, dass meine Denkprozesse mich schon ein kleines Weilchen untätig herumstehen haben lassen.
Ich bemerke sogar, dass ich meine Mundwinkel zu einem Lächeln verzogen habe. Es ist seltsam, aber ich scheine menschenähnlicher zu werden. Verständnis, Kommunikation, Bewegung, Unabhängigkeit, und nun Gesichtsausdrücke?
Vielleicht werde ich auch bald in der Lage sein zu sprechen.
Mir fällt ein weiterer Begriff für die Liste meiner Entwicklung ein: Emotionen. Hoffnung.
Sehr interessant.
Der Meister hat meine Gegenwart nicht vermisst, auch wenn ich mich etwas schuldig fühle. Was wäre geschehen, wenn einer der roten Teufel doch noch gelebt und sich auf den Meister gestürzt hätte?
Den Skeletten ist nicht zu trauen. Ich sollte mir wichtige Gedankengänge lieber aufheben, bis der Meister schläft.
Er selbst ist damit beschäftigt, seine Skelette herumzukommandieren. Er hat ihnen befohlen, die Leichen nach brauchbaren Gegenständen zu durchsuchen, und ein kleiner grausiger Berg stapelt sich bereits in der Ebene.
Ich bin mir sicher, dass sie stänken, könnte ich nur riechen.
Eigentlich bin ich froh, dass ich es nicht kann.
Ich gehe langsam auf den Meister zu und stelle mich schräg hinter ihn.
„Aha!“
Ein Skelett hat ihm gerade einen kleinen Metallring hingehalten.
„Wo hast du den her?“
Das Skelett zeigt auf die Leiche von Bischibosch.
„Das hab ich gehofft. Bei einem Zauberer und hohem Tier wie ihm ist das bestimmt kein wertloser Krimskrams. Sonst noch irgendjemand was?“
Keiner meldet sich. Dann hebt sich eine Knochenhand mit einem Gürtel, der darumgeschlungen ist.
„Lass sehen. Hm. Ich hab noch keinen, aber der ist halt furchtbar dreckig ... GOLEM!“
Ich tippe ihm auf die Schulter. Er fährt zusammen.
„Bist du wahnsinnig, mich so zu erschrecken! Was machst du dahinten überhaupt! Warum machst du dich nicht nützlich? Jetzt nimm das Ding endlich und mach es nicht noch schmutziger!“
Wenn ich jetzt sprechen könnte, würde ich ihm mal was erzählen. Er hat keinen Grund, sich aufzuregen. Er hat mir nicht gesagt, was ich tun soll, nachdem er mich vor Bischibosch gerettet hat. Dafür bin ich ihm dankbar, aber er braucht nicht so zu schreien, und ich merke, dass ich es hasse, angeschrieen zu werden.
Ich beschließe, meine neu entdeckte Freiheit etwas spielen zu lassen.
Meine Mundwinkel verziehen sich indigniert nach unten und ich verschränke die Arme.
Wie komme ich jetzt auf so etwas! Eine derart rebellische Haltung gegenüber dem Meister einzunehmen grenzt doch wohl an Gotteslästerung, ganz abgesehen davon ist es sicher unklug, er kann mich doch sicher mit einem Gedanken auslöschen!
Ich beruhige meine zaghaften Gedanken. Geistige Freiheit nützt gar nichts, es ist die körperliche, auf die es ankommt. Selbstverständlich bin ich wie ein Sklave für den Meister, und ich bin soweit mit meiner Rolle nicht allzu unzufrieden – ich wurde geschaffen, um zu dienen. Aber ich will und werde mich nicht ungerecht behandeln lassen, nicht einmal vom Meister persönlich.
Dem Meister sinkt der Unterkiefer herab. Er tritt einen Schritt zurück.
Plötzlich erkenne ich es – er hat Angst vor mir! Er denkt, dass ich jetzt gegen ihn aufgebehren werde. Er hebt langsam eine Hand und öffnet seinen Mund.
„J – Jetzt pass mal gut auf. Ich bin hier der Boss. Hast du mich verstanden? Ich will, dass du meine Befehle befolgst und nicht rumzickst. Du sollst gefälligst machen, was ich dir sage. HAST DU MICH VERSTANDEN?“
Seine Stimme ist außerordentlich schrill geworden und den letzten Teil brüllt er.
„Wenn du dich nicht benimmst, werde ich den Skeletten sagen, dass sie dich in Stücke hacken sollen. Kleine Stücke! Hast du mich verstanden!“
Ich nicke, aber ich runzle die Stirn dabei. Braucht er denn dafür die Skelette? Es müssen doch seine Gedanken sein, die meine erdige Form zusammenhalten. Kann er das nicht einfach aufgeben und mich zu einem Klumpen Blumenerde reduzieren? Kann er das etwa gar nicht?
Ich bewege meine Arme keinen Millimeter.
Der Meister scheint den Tränen nahe.
„Du bist mein Geschöpf! Du musst mir gehorchen! Ich habe dich erschaffen! Warum weigerst du dich? Was ist los?“
Sei ein bisschen höflicher, und die Sache ist aus der Welt geschafft, will ich ihm sagen. Ich kann es nicht. Ich warte.
„BITTE! Gehorch mir wieder! Du bist mein erster Golem! Ich darf bei dir nichts falsch machen! Ich kann nicht scheitern! Du musst es verstehen! Du kannst es! BITTE!“
Er schluchzt jetzt tätsächlich. Tränen fließen über sein Gesicht. Mir wird erst jetzt bewusst, wie jung er nach menschlichen Maßstäben eigentlich aussieht. Er ist höchstens vor sechzehn Jahren geboren worden.
Ich beginne zu verstehen. Natürlich bin ich sein erster Golem, natürlich muss ich ihm gehorchen. Täte ich es nicht, wäre er bei jedem weiterem seiner Golems unsicher, ob es wirklich die Diener sind, die sie sein sollen. Vielleicht wäre sein Ruf als Totenbeschwörer ruiniert. Vielleicht er selbst auch – wer weiß, welche Konsequenzen ein Scheitern hätte. Totenbeschwörer lassen sich meist mit schwarzer Magie ein, sagt meine Erinnerung. Mein Meister als Versager – ein Opfer von Dämonen? Schlimmer, ein Diener des Bösen hier auf Erden? Diener des Herrn des Schreckens persönlich?
Wer?
Meine Erinnerung versagt. Ich weiß, dass da etwas ist, aber ich kann meinen Finger nicht darauf legen.
Unwichtig. Der Meister hat recht. Ich kann es verstehen. Ich habe es verstanden.
Ich nicke ihm zu und nehme den Gürtel.
Aber soweit es mich betrifft, ist das letzte Wort in dieser Angelegenheit noch nicht gesprochen – und der letzte Gedanke noch nicht gedacht.
Kapitel 8 – Verachtung
Der Meister strafft sich.
„Na endlich. Ich will nicht, dass das noch einmal vorkommt. Ich glaube, wir brauchen jetzt eine Pause – offensichtlich bist du von den ganzen Aufregungen heute so verwirrt, dass du noch nicht einmal weißt, wem du hier Respekt zu zollen hast. Morgen bin ich nicht so nachsichtig. Hmpf.“
Er wirbelt herum und zieht etwas aus seiner Tasche. Ein Buch, zerfleddert und schmutzig. Offensichtlich braucht er es oft. Er zieht eine der losen Seiten heraus und murmelt ein paar Worte, die ich nicht verstehe. Plötzlich erscheint ein blauer Punkt vor ihm in der Luft. Dieser erweitert sich zu einem Ring aus indigofarbenem Feuer. Die Luft im Inneren flimmert.
Eine seltsame Szene ist darin zu sehen. Eine Frau, behängt mit einem Köcher und einem großen Bogen, sieht den Meister mit gelangweiltem Blick direkt an. Dahinter erheben sich einige Zelte in den grauen Himmel – derselbe, unter dem auch wir stehen. Der Meister tritt vor das Bild, steckt einen Fuß in den Ring und – tritt hindurch.
Auf einmal ist er Teil der Zeremonie. Jemand geht dicht an mir vorbei. Ich schaue in die entsprechende Richtung – es ist nur ein Skelett. Es folgt dem Meister. Ein zweites. Ein drittes. Bevor das letzte hindurchgeht, folge auch ich.
Ich stehe hinter dem Meister und der Dame, die miteinander reden. Das letzte Skelett tritt durch den Ring.
Das war anscheinend eine besondere Art von Magie – wir sind durch ein Portal and einen anderen Ort gelangt. Faszinierend. Ich drehe mich zu dem Gebilde um und betrachte es genauer. Ein Oval, etwas größer als der Meister, und doppelt so breit an der dicksten Stelle. Es schwebt in der Luft. Der Rand pulsiert.
Es sieht eigentlich ziemlich gefährlich aus. Die blauen Flämmchen, mit denen das Bild in der Mitte umrahmt ist – der Schauplatz des Kampfes, übersäht von roten Leichen (ich sehe Bischiboschs Körper in der Ferne – nur dieser ist orange) – sind kalt, aber hätte ich es wissen können? Ich hatte keinen Gedanken an eine eventuelle Gefahr verschwendet. Warum vertraute ich dem Meister, obwohl ich böse auf ihn war? Bin ich zu naiv, oder ist es mir eingegeben, dem Meister immer zu vertrauen, egal, ob es anders vernünftiger wäre, überstürztes Handeln geprägt vom Zauberspruch, der mich erschuf? Ich kann schneller und effizienter denken als der Meister, soviel ist klar. Er ist nicht besonders anpassungsfähig. Ich treffe Entscheidungen nach gründlicher Überlegung und trotzdem innerhalb von Sekunden. Der Meister ist genauso schnell, denkt aber oft überhaupt nicht nach.
Ich möchte nicht wegen einer falschen Entscheidung von ihm in Schwierigkeiten geraten. Ich muss höllisch aufpassen in Zukunft.
Die schwerbewaffnete Frau spottet derweil über den Meister.
„Du hast doch gemeint, das Blutrabe noch heute fällt, oder? Hast geprahlt damit, wie leicht deine Skelette mit den Dämonen fertig werden. Hast gesagt, im Zweifelsfall erwürgst du sie alleine, wenn deine Diener versagen, nur damit sie kein Böses mehr verbreiten kann. Welch wahrhaft edle Gesinnung! Du willst doch nur, dass wir dich bewundern, willst, dass wir dir vertrauen! Du bist wie all die anderen, heuchlerisch, egoistisch, und UNFÄHIG!“
„Das ist überhaupt nicht wahr! Ich kann doch nicht ahnen, wie viel Widerstand mir diese dämlichen kleinen Viecher entgegensetzen! Sie sind einfach überall, es ist als würden sie von der Erde selbst erzeugt werden! Was denkst du, was ich für Probleme hatte? Weißt du eigentlich, wie schwierig es war, einen Golem zu erzeugen? Weißt du, wie lang es gedauert hat? Blutrabe ist Morgen an der Reihe, daran besteht überhaupt kein Zweifel! Nicht mit dieser neuen Unterstützung! Meine Kräfte sind unvergleichlich!“
Er deutet auf mich. Ich fühle mich geschmeichelt.
„Du Versager hast niemals eine Chance gegen Blutrabe. Ihre Pfeile werden dich durchbohren, bevor deine dreckigen Skelette auch nur in Sichtweite des Friedhofs kommen! Und wenn nicht, dann wirst du kriechend zu uns zurückkommen und dir wünschen, du hättest nie unsere Verachtung verdient, du Sklave dunkler Künste.“
Der Meister lässt die Schultern hängen und sieht einfach nur elend aus. Ob er das gemeint hat, als er mir zu Anfang gesagt hat, ich solle die Leute zum Schweigen bringen, die schlechtes über Totenbeschwörer sagen? Ich denke, der Frau „eins überzuziehen“, wäre eine dumme Idee – von dem Streit angelockt, haben sich weitere der Kriegerinnen in einem Halbkreis vor dem Meister aufgestellt. Sie alle sehen ihn voll Verachtung an. Im Hintergrund steht ein Mann – der einzige außer dem Meister – in blauer Kleidung und schüttelt den Kopf.
Der Meister geht resigniert zu einem kleinen Zelt, das eindeutig das schäbigste des Lagers ist, auch wenn es nur noch wenige weitere gibt. Eine Palisadenmauer umzäunt ein kleines Areal.
Ich folge ihm ins Innere und denke mir, dass er so eine Behandlung nicht verdient hat.