TwinYawgmoth
Champion des Hains, Storywriter of the Years
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Kapitel 21 – Der Zweck der Qualen
Ein Feuerball streift einen schwarzen Lederflügel. Dessen Beschützer lässt ein Kreischen los, als er trudelnd zu Boden stürzt.
Das war fast daneben.
Ich übe!
Mit einem langen Schritt, für den ich meinen Körper strecke, setze ich dem Leiden der Kreatur ein Ende; sie vergeht in schwarzem Rauch, als mein Fuß auf ihr landet. Sofort fahre ich herum, auf der Suche nach neuen Zielen; im konstanten Dämmerlicht ist es schwer, etwas zu erkennen. War das nur ein Schatten, der durch mein eigenes Flackern erzeugt wurde, oder doch ein Gegner? Fliegen noch dutzende von ihnen durch das Dunkel, oder haben wir schon gewonnen?
Andere Sinne.
„Golem...“
Ich hebe einen Finger vor meine nicht-Lippen und lausche eindringlich. Die Skelette folgen dem Meister und verstummen komplett.
Die Höllenfledermäuse sind komplett unfähig, einfach nur zu gleiten...sie müssen flattern...Luft verdrängen, wie Schallwellen es auch tun...wenn sie denn nicht von Pfeilern, Wänden und den wenigen noch existierenden Decken hängen.
Im Moment...ist es ruhig.
„Sie sind weg, General.“
„Gut, das wollte ich...“
Her mit der Kontrolle!
Einem mittlerweile antrainierten Reflex folgend, erhält der Zweite sofort das Steuer; gleich darauf fliegt ein Feuerball direkt auf den Meister zu...dieser stolpert überrascht rückwärts...und der Schuss zischt an seinem Ohr vorbei, was ihn wegzucken lässt, wieder nur den Flügel eines Angreifers versengend, der direkt von hinter ihm kam.
Mit einer Hand an die Seite seines Kopfes gepresst flucht der Meister, wirft einen Blick über die Schulter und lässt die Skelette auf den Familiar einhacken, sobald er weiß, wo er gelandet ist.
Das war...fast daneben.
Manchmal hat das eben auch Vorteile.
„Himmel, Golem, du bringst mich noch zum Herzstillstand. Aber Danke.“
„Lob und Tadel an den Zweiten.“
„Du musst noch an deiner Aufmerksamkeit feilen, hm? Wäre mir Recht. Ich vertraue ihm einfach nicht; und ja, ich weiß, dass du zuhörst, das sollte dir sonnenklar sein.“
„Ist es, Meister.“
„Und deine Devotheit geht mir auf den Geist. Aber so ist es nunmal. Ich bin glücklich, dass du still bist und mir immer wieder den Hals rettest, Niemand muss hier den Anderen mögen. Also weiter.“
Der Meister lässt die Skelette ein wenig ausschwärmen, um Häuser zu kontrollieren, die vielleicht nicht so leer sind, wie sie scheinen, um an Säulen zu klopfen, an denen vielleicht Familiare hängen könnten, und um uns den Rücken zu decken. Ich bleibe nahe bei ihm und spitze die Ohren. Sobald ich merke, dass meine Aufmerksamkeit zu wandern beginnt, wechsle ich mich mit dem Zweiten ab; es fällt mir schwer, mich für längere Zeit völlig auf das Lauschen zu konzentrieren. Irgendwann fange ich immer an, einen plötzlich auftauchenden Gedanken zu verfolgen.
Es ist überhaupt kein Problem, sich auf eine Sache so lange, wie du willst, zu konzentrieren. Wenn du deine Gedanken etwas effizienter aussperren würdest, heißt das.
Und wie soll das gehen?
Disziplin kann man nicht lehren, die muss man haben.
Das ist ja hilfreich. Lass es mich noch einmal versuchen.
Ich versuche, mein Denken auszuschalten, und fokussiere nur eine Aufgabe in meinem Kopf: Das Achten auf Ungewöhnliches. Bewegen sich die Schatten anders, als sie durch das Magierfeuer sollten? Höre ich ein Rascheln, wo gerade kein Skelett hingeht?
Was meinte der Zweite wohl damit, dass der Meister etwas verschwiegen hätte, als ich ihn vorher gefragt habe...
Verdammt, das ist doch hoffnungslos. Wie soll ich denn mein Denken ausstellen? Will ich das denn überhaupt? Wäre doch in der gleichen Schiene wie die ständigen Sticheleien des Zweiten, dass meine Gefühle nur schädlich sind...und daran glaube ich einfach nicht.
Ich stimme der Einschätzung zu, dass du ein hoffnungsloser Fall bist. Übernimm also du wieder das Gehen, und ich passe auf.
Nein! Du hast insofern Recht, als dass ich lernen muss, immer aufmerksam zu sein. Und wenn ich mein Denken nicht ausschalten kann, dann muss eben beides gleichzeitig laufen.
Das mindert deine Effizienz aber gewaltig.
Ich blocke ihn ab. Mein Blick wandert methodisch über Mauerreste und zerbrochene Säulen. Ich lausche auf die gewohnten Schritte der Skelette, und, wie ich es mittlerweile gewohnt bin, blende sie aus.
Aufmerksamkeit...so.
Also, als ich den Meister gefragt habe, ob etwas Ungewöhnliches passiert ist, während ich von ihm getrennt war. Hat er gelogen?
...war da was? Ich rufe mein Erinnerungsbild von vor einer Sekunde auf.
...nein.
Wieder verwende ich eine Sekunde darauf, meine Überwachung der Umgebung zu fokussieren, versuche, sie zu automatisieren, und gehe dann weiter in die Vergangenheit.
War da etwas im Gesicht des Meisters, als er meine Frage verneinte...? Schwer zu sagen.
Aber definitiv...als ich sagte, dass ich Seelen befreit hatte...
Ein Stöhnen.
Ich lege dem Meister die Hand auf die Schulter; es ist ein Zeichen dessen, wie gewachsen an seinen Aufgaben er mittlerweile ist, dass er nicht einmal für einen Sekundenbruchteil zusammenzuckt.
Außerdem ha. Ich habe es gehört.
Aber zwei Komma drei vier Sekunden nach mir. Wenn du drei gebraucht hättest, hätte ich was gesagt.
Ich...
Wenn es kein Stöhnen gewesen wäre, sondern ein angreifender Gegner, wären wir längst tot, du Traumtänzer.
„Was ist, Golem?“
„Ein Geräusch, aus dieser Richtung. Klang wie ein Seufzen oder Stöhnen.“
Der Meister nickt stumm. Die verteilten Skelette nähern sich unserer Position, ohne den Rhythmus ihrer Schritte zu ändern; er berührt im Gegenzug meine darunter leicht nachgebende Feuerschulter, deutet auf die Ecke der Hausruine, hinter der das Geräusch seinen Ursprung hatte, dann hebt er drei Finger und zählt mit ihnen herunter.
Schnell begebe ich mich in Position und zähle exakt drei Sekunden ab. Einen weiteren Bruchteil später, um sicherzugehen, dass die Skelette sich auch bewegen, laufe ich um die Häuserecke.
Vor mir tut sich ein Anblick auf, der noch ein wenig bizarrer ist, als was die Stadt der Verdammten sonst zu bieten hat. Ein großes Areal, sicher fünfzig auf dreißig Meter, ist umgeben von in regelmäßigen Abständen platzierten pechschwarzen, schlanken Säulen, die allesamt komplett intakt sind, ganz im Gegensatz zum Rest der Stadt. Zwischen diesen Säulen hängen, scheinbar zufällig angebracht, dicke, schwere Metallketten, die nur wenig heller sind als ihre obsidianenen Aufhängungen. Zwischen den Gliedern ist das Innere des rechteckigen Platzes zu erkennen; der Boden ist eben, soweit ich das beurteilen kann, aber auf ihm...stehen, in krassem Kontrast zu der Regelmäßigkeit der umgebenden Säulen, völlig zufällig verteilt Pfeiler über Pfeiler, an denen jeweils eine zur Unkenntlichkeit gefolterte Seele gekettet ist.
Ab und zu lässt eine von ihnen ein Stöhnen erklingen wie das, das mich ursprünglich in diese Richtung gelockt hat; größtenteils aber sind sie ein stummes Bild des Leidens, eine einzige Anklage gegen die perversen Praktiken der Hölle.
Es sieht übrigens nicht so aus, als wären Gegner in der Nähe, falls es dich zufällig interessieren sollte.
Oh. Ja. Tut es.
„Die Luft ist rein, General!“
Er tritt zu mir. Ich versuche, seine Miene zu lesen, aber sie ist völlig ausdruckslos.
Für eine Weile starrt er nur nach vorne. Ich tue es ihm gleich, aber nach fast einer Minute wird die wachsende Unruhe in mir zu groß.
Ich drehe mich zu ihm.
„...sollen wir den Eingang suchen?“
Er zuckt zusammen. Warum jetzt?
„Warum das denn?“
Seine Stimme ist ein Krächzen. Muss er jetzt wirklich damit anfangen?
„So viele gequälte Seelen, General...du willst mir nicht wirklich sagen, dass du sie da hängen lassen willst.“
Er murmelt etwas, das ich nicht verstehe.
Das zweite Wort war sicher ein „nicht“.
„Eigentlich nicht“ vielleicht?
Zu lang...eher...
„Nein, Golem...kann man so nicht sagen...aber ich weiß nicht, ob es überhaupt einen Eingang gibt...“
„Die Monster, die sie verstümmeln, müssen doch auch zu den Seelen kommen können, oder?“
„Und wenn es nur Familiare sind?“
Der Meister wendet sich mir endlich zu.
„Ja, Zweiter, das ist gut möglich. Ich meine, es tut mir auch Leid und so, aber über diese Ketten lasse ich die Armee sicher nicht klettern, wenn es überhaupt funktionieren würde. Ich selbst käme auf keinen Fall rüber. Es wäre viel zu große Zeitverschwendung...“
Mein Mund klappt auf.
„Zeitverschwendung? Haben wir denn auf einmal Zeitdruck, von dem ich Nichts mitbekommen habe? Diese ganzen Seelen zu befreien, dauert maximal eine halbe Stunde. Mach dich nicht lächerlich.“
Plötzlich wird er wütend.
„So muss ich auch nicht mit mir reden lassen.“
Ich hingegen muss mir diesen Unfug aber auch nicht bieten lassen.
Du vergisst, wer hier ganz klar am längeren Hebel sitzt.
„Doch, General, das musst du. Du willst diese Seelen nicht befreien. Und das geht mir nicht ein. Weißt du was? Ist mir auch egal, ich brauchs nicht verstehen. Geh doch einfach eine Weile alleine weiter, ich erledige das hier ganz fix, die Ketten halten mich garantiert...“
„Das wirst du nicht!“
Was zur...er hat mich angeschrien, als hätte ich sein Leben bedroht. Ich weiche zurück, nicht sicher, was ich denken soll. Er ballt die Fäuste so stark, dass er zu zittern beginnt, und wir starren uns in peinlicher Stille an...als plötzlich etwas die Stille durchbricht.
Stöhnen aus mehr als nur eine Kehle gleichzeitig. Die Seelen haben ihn gehört, die, welche noch funktionierende Ohren haben. Und auch die anderen scheinen zu spüren, dass hier Jemand steht, der noch normal reden kann, kein Monster ist, der sie erlösen kann. Sie schreien so laut sie es können ihre Hoffnung heraus...sie betteln. Ich breite stumm die Hände aus, ein Echo des Flehens.
Der Meister lockert die Fäuste und presst die Lippen zusammen. Dann, langsam, schüttelt er den Kopf.
„Nein, Golem. Mein letztes Wort.“
Er dreht sich weg. Die Armee folgt ihm.
Ich fühle mich, als hätte er mir in den Magen geschlagen.
Na ja, das war deutlich.
Aber aber aber...
„Komm schon, Golem.“
Unwillentlich setzen sich meine Beine in Bewegung, dem direkten Befehl folgend. Ich versuche, sie daran zu hindern, aber mir fehlt die Kraft. Genauso, wie ich Nichts sagen kann.
Das Stöhnen geht weiter. Und wird scheinbar noch lauter.
Schließ es aus und lausch weiter auf Bedrohungen.
Ich...kann nicht...
Bitte, dann mach ich es eben. Wenn du den Körper wenigstens in die halbwegs richtige Richtung deuten würdest?
Wie ein Zombie folge ich, immer noch darum ringend, meine Sprache wieder zu finden. Ich wusste ja schon, dass er nicht ganz meine Meinung teilt, was die Seelen angeht. Aber er hatte mir erlaubt, sie zu befreien. Er hatte akzeptiert, dass mir die Sache extrem wichtig ist und das respektiert. Warum? Warum diese Kehrtwende? Mit ein paar Feuerbällen, wenn ich einmal einfach nur wenig isoliert durch die Reihen fließen könnte...eine halbe Stunde ist weit übertrieben.
Das flehende Stöhnen durchdringt mich. Ich lasse sie zurück. Der Meister lässt sie zurück und reißt mich mit, zwingt mich zu handeln, wie ich es niemals tun würde...es ist, als würde er mir ausdrücklich befehlen, einen Verdurstenden in der Wüste zurückzulassen. Obwohl wir doppelt so viel Wasser dabei haben, wie wir jemals brauchen werden.
Vor mir blickt der Meister zur Seite, durch den Zaun.
Mir ist, als würden seine Schritte sich verlangsamen. Ich halte die Distanz...da beißt er die Zähne zusammen, dreht sich wieder weg und stapft weiter.
Die Kakophonie lässt nicht nach.
Fast bemerke ich nicht, dass wir an dem Folterplatz vorbei sind. Die Kettenwand neben mir hat aufgehört; das rechteckige Areal liegt hinter uns. Verzweifelt drehe ich mich um, der Quelle der mich zerreißenden Hilfeschreie zuwendend...
Und sehe den Eingang. Zwei Säulen sind nicht durch Ketten verbunden.
„General.“
Er stapft weiter.
„General, es gibt einen Eingang.“
Immer noch ignoriert er mich. Obwohl wir uns entfernen, kommt es mir nicht so vor, als würde das Stöhnen leiser werden. Es hallt in meiner Seele wider.
„Bitte, gib mir nur fünf Minuten, du kannst wegsehen, aber lass mich ihr Flehen beantworten!“
Aber er wird einfach nicht langsamer.
„Hörst du es denn nicht? Wie kannst du taub sein gegenüber solchem Leid? Egal, was sie getan haben, General, du stößt Ertrinkende zurück ins Meer, die sich schon halb auf dein Schiff gezogen haben!“
Er bleibt stehen und fährt herum.
„Golem, ich weiß, also sei verdammt noch einmal still! Ich bin mir bewusst, dass ich ein Bastard bin dafür, dass ich sie ignoriere, und ja, ich gebe es zu, ich mache das willentlich und nicht, weil es uns zu viel Zeit kosten würde oder sonst etwas. Ich mache das. Meine Entscheidung. Du bist frei von Schuld. Verdamme mich, wie du willst, aber ich werde nicht anders handeln.“
Das Stöhnen beginnt abzuklingen. Die vage Hoffnung vieler Seelen, die unsere Anwesenheit geweckt hat, scheint zu schwinden. Ich starre ihn an. Er ist verzweifelt, völlig verzweifelt. Es muss etwas passiert sein, als ich ihn allein in der Hölle gelassen habe. Ich hätte darauf bestehen sollen, mitzukommen!
Dann wären wir jetzt tot.
Aber...nicht ich werde ihn verdammen, wenn er jetzt einfach geht. Er ist verdammt, wenn er es tut, wie soll er Mensch bleiben, während er gleichzeitig den Methoden der Hölle zustimmt?
„Sag mir wenigstens, warum!“
Er senkt den Blick.
„Du würdest es nicht verstehen...und mich noch mehr verurteilen.“
„Zur Hölle, General! Wer soll dich denn verstehen, wenn nicht ich? Du leidest selbst, ich sehe es doch, die Schreie nach Hilfe bohren sich in dich so wie in mich! Du bist ein guter Mensch, du hast ein Gewissen, was bringt dich dazu, es niederzukämpfen?“
„Ich glaube, in dem Fall ist meine eigene Menschlichkeit mein Untergang, Golem.“
Als wäre dies das letzte Wort, dreht er mir den Rücken zu. Verzweifelt werfe ich einen Blick über die Schulter, auf die dutzenden von Seelen, welche auf Ewigkeit gequält an ihren Pfählen hängen...und dort bleiben werden.
Ich halte das nicht aus. Nein, niemals...der Meister mag sich verdammen, warum auch immer, aber ich kann sie nicht zurücklassen, nicht solange ich meinen eigenen freien Willen habe!
Gib dich ruhig deinen Illusionen hin. Ich gebe dir drei Schritte.
Mit eiserner Entschlossenheit hebe ich einen Fuß in die Richtung, welche der Meister nicht eingeschlagen hat. Sofort durchzuckt ihn Schmerz, aufblitzend sobald ich eindeutig dem Befehl zuwiderhandle, ein konstantes Gewitter unglaublicher Agonie, welche meine nicht existenten Muskeln verkrampfen lässt und meinen Blick verschwimmen.
Der Fuß landet auf dem Boden der Hölle. Ich hebe den anderen. Die eiserne Entschlossenheit von gerade fühlt sich immer mehr an, als wäre sie stattdessen aus Holz...welches jeden Augenblick brechen kann.
Ich falle hin, die Kontrolle kurz verlierend.
Nicht einmal...ein zweiter...? Du...lässt nach...
Diese Form...braucht...keine Füße...
Mein Körper zerfließt, formt die Feuerpfütze. Zentimeter für Zentimeter nähert sie sich dem eingeketteten Platz. Jeder Millimeter purer Schmerz, der mich aufhalten will, mich zurückdrängt, in die Richtung des Meisters...in Richtung unser beider Verdammnis.
„Golem!“
Er steht über mir.
„Was tust du da? Ich sagte nein! Komm mit, ich befehle es – du bist frei von Verantwortung, es ist komplett meine Schuld. Oh Himmel, es tut mir so Leid.“
„Ich bin nicht frei von Verantwortung, General...“
Aus der Pfütze forme ich eine Hand, packe einen Fels, der hervorsteht, und ziehe mich weiter, als müsste ich gegen einen reißenden Fluss ankämpfen, der aus Rasierklingen besteht.
„Ich habe meinen eigenen Willen...und kein Befehl von dir kann das ändern...ich gehorche meiner Überzeugung...wenn dir das nicht passt...dann vernichte mich.“
„Golem...das kann ich genausowenig, wie dich die Seelen vernichten lassen...Himmel, wie schaffst du das? Verursacht die Beherrschung dir nicht unglaubliche Schmerzen?“
Wieder schaffe ich es etwas weiter. Nur...nicht...anhalten...niemals...
„Doch...aber...weniger...als wenn...ich sie zurück...lassen...würde...“
Ich sehe Nichts mehr, konzentriere Alles, was mich ausmacht, auf das Weiterkommen. Meine Schmerztoleranz ist hoch; ich habe schon viel erlitten in meinem kurzen Leben. Aber ich spüre, wie es zu viel wird. Wie die Möglichkeit lockt, einfach aufzuhören, mich in diese Richtung zu bewegen, die mir sofort Linderung verschaffen würde. Ohne Nachwirkungen. Es wäre so leicht...so unglaublich leicht...und es ist letztlich nicht meine Verantwortung. Was kann ich tun, als reines Werkzeug, als bloßer Golem? Ich bin doch nur...ich...
...habe angehalten. Habe aufgegeben.
Zur Hölle, endlich! Es waren vielleicht insgesamt keine drei Schritte, aber mir kam es vor wie eine ganze Wüste aus Dornenranken. Du weißt, dass ich das fühle – wie kannst du denn das mit deinem ach so wertvollem Gewissen vereinen?
Ich forme mich wieder zum humanoiden Golem. Mein Blick ist gesenkt. Meine Fäuste geballt. Ich kann Nichts sagen.
Der Meister berührt mein Kinn. Mein Kopf fühlt sich unendlich schwer an, als ich ihn hebe; ich kann ihm nicht in die Augen sehen. Muss es aber tun.
Diese Augen sind mit Tränen gefüllt.
„Golem, du peinigst dich selbst für diese Seelen, die du nicht kennst, die es so unglaublich mehr verdient haben zu leiden als du – warum tust du es? Kannst du nicht einfach akzeptieren, dass du manche Dinge nicht beeinflussen kannst?“
„Dann wäre ich nur ein Werkzeug...aber ich schätze, das ist sowieso hinfällig. Vielleicht bin ich Nichts weiter.“
Der Meister presst seine Faust auf den Mund. Seine Tränen fließen. Immer noch stöhnen vereinzelte Seelen.
„Geh.“
Sein gepresstes Wort dringt kaum durch den Schleier meiner Depression. Es dauert kurz, bis ich es begreife.
„...General, du...“
„Geh einfach, Golem! Los! Verbrenne sie alle, schick sie ins ewige Vergessen! Lass mich nicht zusehen, denke nicht darüber nach, tu es so schnell wie möglich und komm wieder zurück. Ich...ich kann dich nicht leiden sehen. Mein Herz mag noch so schreien, aber gratuliere, du hast gewonnen. Meine Entscheidung ist auf dich gefallen.“
„Was meinst du...“
„Warum bist du immer noch hier!“
Ich renne auf die Folterstätte zu, meine Gedanken am Rasen. Was könnte das bedeuten? Wem hat er mich vorgezogen? Was hat ihn dazu gebracht, gegen eine Überzeugung zu handeln, die er offenbar jetzt doch hat?
Der Eingang ist durchschritten. Das Feld der Schmerzen liegt mir offen. Jetzt ist keine Zeit für Gedanken. Ich soll schnell machen? Gut, dann werde ich das auch.
Keine Zeit für Gedanken wäre vor ein paar Sekunden gewesen...
Was...
Aus den Schatten der Säulen, versteckt bisher an Stellen vieler sich kreuzender Ketten, hinter mehreren enger zusammenstehender Seelenpfeiler, schlurfen Dämonen hervor. Pechschwarze Leichenspucker, ihre grotesken, immer weit aufgerissenen Mäuler dunkelrot schimmernd, als das vage Licht, das von überall her und nirgends kommt, sich in ihrem Sabber spiegelt.
Auf ein Geräusch reagierend drehe ich mich um...sie haben mich umzingelt.
Na toll. Direkt in eine Falle gelaufen. Gut gemacht!
Als ob uns das nicht egal sein könnte! Ich drehe mich wieder nach vorne, der Mehrheit zu, kampfbereit...
...wie um alles in der Welt habe ich den schreiend Türkisgrünen unter ihnen nicht bemerkt?
„Golem, Golem, es ist doch nicht zu fassen. Schon dachte ich, ich hätte meine Leute hier völlig umsonst positioniert, weil dein Meister sich deutlich schneller als vernünftig erwiesen hat, als ich dachte, da lässt er dich doch tatsächlich umdrehen. Nicht ohne noch ein wenig den Boden zu wässern. A-blu-blu-blu, wie herzzerreißend. Wahlweise ekelhaft.“
Du passt auf unseren Rücken auf.
Muss ich wohl, auf dich verlasse ich mich da sicher nicht.
„Kennen wir uns, Dämon?“
Seine gurgelnde Stimme versucht sich an einem Lachen.
„Kommt ganz auf deine Definition von 'kennen' an, du größenwahnsinnige Marionette. Was denkst du eigentlich, was du tust, hm?“
Das Stöhnen der Seelen ist wieder voll aufgeblüht; jetzt, wo ich weiß, dass ich sie erlösen werde, tut es mir nicht mehr weh.
„Still!“
Sofort verstummen alle, als der grüne Leichenspucker das Kommando bellt. Wer ist das?
Ich werfe einen demonstrativen Blick in die Runde.
„Wenn du so fragst, bin ich wohl drauf und dran, dir den Tag zu versauen. Liegt dir etwas an diesen Seelen, oder was? Bringt es dir perverses Vergnügen, sie immer wieder aufs Neue zu foltern? Bin ich auf deinen Spielplatz eingedrungen und werde gleich deine Sandburg zertreten?“
„So arrogant...als ginge es hier nur um dich und mich. Hast du mir nicht zugehört, oder geht es nicht in deinen Insektenverstand? Weitaus mehr als nur diese dutzend Seelen stehen auf dem Spiel, wenn du und dein Meister weiter an einer Ordnung rüttelt, die ohnehin viel zu hoch ist für euch Sterbliche.“
Meine Augenhöhlen weiten sich.
„Du warst die Seele, die mich dazu bringen wollte, sie zurückzulassen!“
„Ich würde klatschen, wenn mein jetziger Körper dazu in der Lage wäre. Welch brillianter Schluss. Wenn du schon zu solcher Logik fähig bist, warum nicht der nächste Schritt? Offenbar bin ich dir in Wissen und schierer Macht weit überlegen. Und doch stellst du dich gegen mich? Dein Meister war schlauer. Aber er ist wenigstens noch ein Mensch. Du bist nur ein Spielzeug, das seinen Platz nicht kennt.“
Er hat genug vom Reden.
Siehst du, dass gerade einer von ihnen von meiner Aura verbrannt wurde, habe sogar ich gehört.
Mein Arm schießt nach hinten, und ein Feuerball löst sich daraus. Ein schnell ersticktes Kreischen verrät mir, dass mein Ziel, der Schlund eines Spuckers, erreicht wurde.
„Ich denke, du unterschätzt mich.“
„Du scheinst dir nicht bewusst zu sein, wie viele von meinen Untergebenen dich gerade umringen, Golem.“
„Und doch können sie das hier nicht verhindern.“
Ein zweiter Schuss auf meiner Hand, er trifft eine der am nächsten bei mir hängenden Seelen in der Brust. Mit einem Schrei, der zu einem Seufzen wird, verbrennt sie.
Ein Zucken läuft durch den ganzen Körper des Grünen.
„Ein Staubkorn versucht, den Dreck zu Gold zu verwandeln? Vernichtet ihn!“
Wie mir nicht entgangen ist, sind die Dämonen hinter mir näher gerückt. Was mir allerdings noch nicht bewusst war, ist, dass er unbemerkt Verstärkung gerufen hat; hinter den Ketten, außerhalb des rechteckigen Areals, in dem ich gefangen bin, haben sich Verdammte aufgestellt, zu viele, als dass ich sie mit einem Blick zählen könnte. Kugelblitze fliegen auf mich zu, und Leichenspucker stürzen sich auf mich...
Ich zerfließe zu einer Pfütze und gleite davon. Wo ich gerade noch war, landet ein Dämon. Mein heiliges Feuer verbrennt überall um mich herum Gegner; ich forme kurz den Körper, donnere eine Faust in die Seite eines überraschten und viel zu langsamen Monsters, fühle, wie das Fett, aus dem es zum überwiegenden Anteil zu bestehen scheint, verbrennt, und verabschiede mich sofort wieder. Wie eine Feuerbrunst tanze ich über das Schlachtfeld, Nadelstiche setzend; ich bin mir bewusst, dass ich hier Nichts töten werde...aber ich kann sie verwirren. Ein heilloses Kreuzfeuer aus Kugelblitzen zischt durch die Luft, und ich bin mir sicher, dass so manch ein Dämon von seinen eigenen Kameraden gefällt wird. So erklären sich auch die schweren Geschosse aus wieder hochgewürgten Leichenteilen, die die schneckartigen Kreaturen auf mich feuern. Natürlich ohne zu treffen.
Werd nicht übermütig.
All das doch nur, um letztlich hierhin zu gelangen!
Ich habe durch mein wildes Ausweichen, das so wild gar nicht war, einen Seelenpfeiler erreicht. Stichflammenartig gleite ich daran hoch, der Gefolterte vergeht, ich forme mich wieder, auf der Säule balancierend.
„Siehst du, was ich hier tue? Was mir deine höllische Ordnung wert ist? Kette dich doch selbst an, wenn du so auf diese Art der Strafe stehst, und brenn in Ewigkeit. Einen Vorgeschmack kann ich dir geben!“
Bevor die Verdammten sich auf mich einschießen, bin ich wieder weg, aber einen Feuerball auf den Grünen lande ich noch. Er ist völlig unbeeindruckt.
„Du kannst nicht ewig entkommen, Golem! Und das ist gut so, denn du begehst einen gewaltigen Fehler!“
„Verrate mir doch einmal, warum ich dir überhaupt glauben sollte.“
Wieder brennt eine Seele. Aber langsam zielen sie besser. Was macht eigentlich der Meister?
„Immer noch hast du nicht verstanden, was diese Gefäße überhaupt sind, die du da zerstörst wie ein verzogenes Kind. Sie sind Seelen, ja, von einstmals auf Sanktuario lebenden Menschen. Um genau zu sein, Manifestationen dieser Seelen, da Seelen üblicherweise natürlich keine physische Gestalt haben. Denk nach. Wer gibt diesen Seelen ihren Körper, außer sie selbst? Bevor sie verstümmelt werden, sehen sie aus, wie sie im Leben aussahen – sie können nicht sterben, weil Seelen unsterblich sind, aber sie heilen, als hätten sie menschliche Körper. Sie sind gefangen in ihren eigenen Erwartungen! Jede Seele, die du hier siehst, hängt, weil sie unterbewusst weiß, dass sie es verdient hat. Im Moment ihres Todes wird ihr klar, dass ein Leben wie das ihre die unendliche Strafe verdient hat – und sie landen an einem Pfahl in der Hölle. Danach ist die Falle ihrer eigenen Gedanken unentrinnbar. Der Teufelskreis an Bedauern ihrer Schandtaten und dem daraus folgenden Schluss, dass die Strafe gerecht ist, hält sie hier fest! Willst du dich über diese Gerechtigkeit hinwegsetzen?“
Ich halte kurz inne – und ein Kugelblitz trifft mich.
Verdammt noch eins, warum hörst du ihm denn überhaupt zu?
Der Zweite übernimmt den Körper und konzentriert sich auf das Ausweichen. Solange er steuert, sterben keine weiteren Seelen, aber ich muss mir die Implikationen ohnehin durch den Kopf gehen lassen. Wenn er nicht lügt, dann werden die hier gefolterten Seelen nur deswegen diesen Qualen unterworfen, weil sie es wollen...dann sind wirklich nur die hier, die es verdient haben, und es herrscht keine Willkür. Habe ich also tatsächlich die schlimmsten Verbrecher befreit?
Aber Moment mal...nein, das würde auch bedeuten...
„Gerechtigkeit? Wenn stimmt was du sagst, heißt das doch, dass nur Menschen hier landen, die ihre Taten bereuen – wer aber im tiefsten Grunde seines schwarzen Herzens überzeugt ist, dass jede Schandtat richtig war, die er beging, wird nie seine Strafe erleiden!“
„Die wenigsten Sünder sind sich der Verkommenheit ihres Handelns völlig unbewusst .“
„Und noch etwas. Nur Sünder, die tatsächlich Reue zeigen, landen hier, aber weil sie das tun, entkommen sie der Falle ihrer eigenen Gedanken nicht? Einzig die, die zum Schluss kämen, dass es doch keinen Grund gibt, sich schuldig für ihre Taten zu fühlen, könnten der ewigen Qual entfliehen!“
Plötzlich hört die Barrage auf. Der Zweite formt unseren Körper und gibt mir die Kontrolle, mit der stummen Versicherung, sofort Bescheid zu geben, wenn er etwas bemerkt. Warum ist er so ohne jeden Kommentar kooperativ?
...weil er genauso gespannt ist auf das, was der grüne Leichenspuckerheld zu sagen hat!
„Also wirklich, ich muss zugeben, einen Fehler begangen zu haben. Ich habe deine Gabe unterschätzt, grundlegende Gesetze der Logik anzuwenden. Ja, eine wahrhaft verkommene Seele kann sich nur dann befreien, wenn sie zum Schluss kommt, dass das Böse ihre Natur ist und es keinen Sinn hat, sich gegen diese Natur zu wehren. Sobald eine Seele sich so befreit, heißen wir sie willkommen in unseren Reihen. Nahezu nur aus solchen Seelen setzen sich unsere Führungsränge zusammen.“
Meine Augen weiten sich. Ich habe ihn durchschaut, und mehr erfahren, als ich mir jemals vorzustellen gewagt hätte. Die Hölle nutzt ein System, das dazu gedacht ist, Sünder durch schreckliche Strafe auf den Weg der Reue zu führen...um diesen Weg komplett zu pervertieren und ihre besten Gefolgsleute daraus zu ziehen. Es ist abartig. Es ist böse. Es ist...überwältigend in der schieren Bedeutung, die diese Erkenntnis hat.
Sollte dies stimmen, kann Jeder sich Höllenqualen ersparen, wenn er mit der richtigen Einstellung stirbt. So etwas wie eine pandämonische Waagschale, auf der deine guten Taten gegen deine Sünden aufgetragen werden, existiert nicht. Es geht einzig und allein darum, wie du über deine Sünden denkst – selbst der nach außen frommste Mensch kann so in der Hölle landen, wenn er felsenfest davon überzeugt ist, es zu verdienen, weil er einst eine einzelne Sünde begangen hat, die ihn nicht mehr loslässt.
Es ist die ultimative Ungerechtigkeit. Und wenn die Welt davon erfahren würde...die Hölle wäre am Ende.
Und sämtliche Religionen auch, die die Balance aus guten Taten und Sünden predigen.
Mir schwirrt der Kopf, je mehr ich über die Ramifikationen dessen, was ich gerade erfahren habe, nachdenke.
Er könnte dich immer noch von vorne bis hinten belogen haben.
Aber es ergibt so viel Sinn!
„Habe ich deinen kleinen Verstand doch überfordert, Golem? Keine Sorge; ich werde sofort direkter. Nicht jeder einzelne Dämon ist durch den Prozess des Umarmens seiner Sünden gegangen. Wir sind die Herren der Hölle; wenn wir fünfzig neue Soldaten in unserer Armee brauchen, dann nehmen wir sie uns einfach. Identitätslose Seelen, deren Sünden nicht groß genug waren, um sie an die Pfähle zu ketten, aber signifikant genug, um sie hier landen zu lassen, gibt es wie Sand am Meer – oder, besser, wie Sünder auf der Welt. Wer einmal hier unten ankommt, ist verloren. In unserer Gewalt. Wir können tun und lassen, was wir wollen – wir können zum Beispiel auch jede Seele, die es uns wert erscheint, auf ewig in Stasis halten, sie am Vergessen hindern. Oder sie hier anketten. Dreh dich um.“
Ich kann mich nicht daran hindern.
Natalya hängt an einem der Pfeiler hinter mir.
Der reinste Schreck, den ich seit Langem gespürt habe, fährt in mich und lässt mich vollkommen erstarren. Mein ganzer Körper wird eiskalt, schrumpft in sich zusammen, als würde die Feuersubstanz das Paradoxon verstehen.
Ihr Körper ist nackt, rein, unberührt von irgendwelchen Verletzungen, aber ihr Gesicht ist unendlich traurig. Sie starrt durch mich hindurch und doch in mich hinein, meine Freundin, gefangen in der Hölle.
„Ah, und die Hauptperson in diesem Drama kommt gerade zur rechten Zeit.“
Ich kann meinen Blick nicht abwenden, aber der Teil meines Bewusstseins, der noch halbwegs kohärent arbeitet, sagt mir, dass der Meister soeben mit in den Kettenkäfig getreten sein muss; die Dämonendiener des Grünen sind höchstwahrscheinlich alle tot. Darum haben die Schüsse aufgehört. Aber...das ist...völlig egal...
Irgendwie muss ich in die Knie gegangen sein, ich weiß nicht mehr, wann.
Der Meister spricht.
„Warum habe ich nur gewusst, dass du Made hier sein wirst. Golem ebenfalls diesen Anblick antun. Verdammt, es tut mir Leid, Golem. Es genügt doch, wenn einer von uns leidet.“
Er klingt so resigniert, so leer...wie ich mich fühle...aber endlich kann ich mich von Natalyas Augen losreißen, die in diesem Moment vermutlich auch in des Meisters Seele starren, und ihn voll Bedauern ansehen, weil ich verstehe.
„Er hat dir sie gezeigt...und dich so dazu gezwungen, die Seelen in Ruhe zu lassen.“
Der Meister nickt, meinen Blick vermeidend.
„Ja. Das Schlimme ist, Golem, dass alle Einwände, die dir sicher auch gerade durch den Kopf gehen, mir genauso gekommen sind. Nichts beweist uns, dass das hier Natalyas echte Seele ist. Sie hat kein Wort gesprochen bisher, mich nur angesehen...mit diesem Blick, den ich nie auf ihrem wunderschönen Gesicht sehen wollte. Er könnte uns nach Strich und Faden belügen. Ausnutzen, dass die Liebe mich immer noch blendet.“
Das...war mir im ersten Augenblick gar nicht gekommen. Natürlich! Wer sagt, dass das hier wirklich Natalya ist?
Die gurgelnde Stimme des Leichenspuckers, der mehr ist, als er zunächst schien, ertönt wieder.
„Aber gleichzeitig kannst du dir nicht sicher sein, General. Du wirst es nie wissen. Und jede Seele, die du freisetzt, könnte im letzten Moment, nachdem es zu spät für dich ist, die Spitze deines Dolches abzuwenden, das Gesicht deiner Geliebten bekommen. Dann hättest du sie endgültig getötet.“
Der mich immer noch mit eisiger Faust packende Schock löst sich etwas in aufkochender Wut.
„Du verdammter Bastard nimmst ihre Seele als Geisel für all die, welche völlig grundlos leiden, und irgendwann unvermeidlich in eurer höllischen Armee landen werden...wenn sie nicht für immer weiter leiden wollen!“
Der Meister ist zu mir getreten und legt mir die Hand auf die Schulter.
„In der Tat, Golem. Doch selbst das wäre noch nicht genug gewesen, um mich innehalten zu lassen, um dir gerade fast den Befehl aufzuzwingen, der dir ewige Gewissenspein verursacht hätte.“
„...nicht?“
Er schüttelt den Kopf.
„Ich liebe Natalya über Alles, aber das heißt auch, dass ich sie nie als Geisel in den Händen dieser Monster lassen würde. Ich weiß, dass sie lieber sterben würde, als gegen mich benutzt zu werden. Aber...wenn wir schon dabei sind, verrate doch dein kleines Geheimnis auch Golem.“
Wieder das grollende Lachen aus dem tiefen Schlund des Dämons.
„Dein Meister ist darauf aus, Diablo zu vernichten. Er könnte es sogar schaffen – oder beim Versuch scheitern. So oder so ist er wertvoll für uns. Er könnte es zu viel bringen, als ein General...der Hölle...auch in eine Position, wo ihm ebenfalls Macht über die Seelen der Hölle übertragen wird.“
Endgültig ersetzt mein Zorn den Schock und die Trauer.
„Du baumelst die Chance, dass er Natalya als seine persönliche Seelensklavin wieder erschaffen könnte, über seinem Kopf? Gekoppelt an die Bedingung, dass er euch dient...wo habe ich so etwas Ähnliches schon gehört?“
„Dein Meister ist wohl beliebt, Golem! Ich weiß auch von den Bemühungen meines Rivalen...welche wieder und wieder scheiterten. Ich hingegen benötige keine rohe Gewalt, um mein Ziel zu erreichen. Du wirst freiwillig zu mir kommen, General, mich anbetteln, deine Freundin wiederhaben zu dürfen!“
Sein Rivale...
Natürlich!
„Du bist der Andere, vor dem Izual uns gewarnt hat!“
Das scheint den Dämon tatsächlich kurz zu verwirren...aber bevor er etwas dazu sagen kann, hat der Meister meine Schulter fester gedrückt. Ich sehe ihn an, um festzustellen, dass ein freudloses Lächeln auf seinem Gesicht erschienen ist.
„Golem, wie wichtig ist dir denn Natalya?“
Ich sehe ihm direkt in die Augen; jetzt hat er keine Angst mehr vor meinem Blick, wie es scheint.
„Sehr. Sie war eine echte Freundin in einer Zeit, als ich wirklich eine gebraucht habe. Aber...niemals so wichtig, dass ich ihren endgültigen Tod nicht akzeptieren könnte, um die Welt zu retten.“
„Dachte mir schon, dass du so denkst...“
Ein Skelett ist neben ihm aufgetaucht. Er greift sich den Schwertarm des Skeletts, und mit einem Klicken, das nicht direkt nach brechenden Knochen klingt, löst sich der Gebeinsäbel von der Hand des Kriegers. Er betrachtet die Waffe.
„Bis vorhin war es prinzipiell nur eine Entscheidung zwischen mir und Natalya. War ich bereit, meine eigene Verdammnis zu riskieren, um mir die Chance zu erhalten, sie zu retten? Ich bilde mir ein, dass ich fähig wäre, Diablo zu töten, seine Macht zu stehlen, wie auch immer – dieser hier und der Rote haben so etwas Ähnliches ja durchaus in Aussicht gestellt – und so Natalya zu retten, ja, wiederzubeleben, ohne mich selbst dabei zu verlieren.“
Die schiere Überheblichkeit in seinen Worten jagt mir kalte Schauer über den Rücken.
„Das kann nicht dein Ernst sein.“
„Es ist ein wenig sehr arrogant, ich weiß. Aber ich kann Nichts gegen die Gedanken tun, die mein Ego mir schickt. Aber das ist irrelevant, weißt du? Du warst vorhin bereit, so unglaubliche Schmerzen auf dich zu nehmen, nur um diese Seelen zu retten...und du wusstest noch nicht einmal, dass sie eigentlich nur Zuchtfarmen für Höllenoffiziere sind. Das hat mir gezeigt, dass es eigentlich nicht um mich oder Natalya geht in der dieser Seelensache...“
Er entfernt sich. Was hat er vor?
Blick auf den Grünen – egal, was der Meister vorhat, er ist gefährlich und du wirst ihn nicht aus den Augen lassen!
Ich muss dem Zweiten widerstrebend zustimmen.
„...sondern um Natalya oder dich.“
Er holt tief Luft.
„Und ich habe meine Entscheidung, wie gesagt, getroffen.“
Das mir nur allzu bekannte Geräusch von Fleisch, das von einer Klinge durchdrungen wird, ertönt.
Jede Warnung des Zweiten ignorierend fahre ich herum.
Der Knochensäbel steckt in Natalyas Brust. Der Meister hat eine Hand vor seine Augen gepresst und schluchzt.
„So muss ich eben hoffen...dass das wirklich nur...eine billige Kopie war...“
Augen! Nach! Vorne!
Völlig abgelenkt durch meine Unfähigkeit, mir klarzuwerden, was ich eigentlich gerade denken soll, gebe ich dem Zweiten einfach die Kontrolle. Er dreht unseren Körper herum...gerade rechtzeitig, dass wir sehen, wie der Grüne heranstürmt, schneller, als man es von einer überdimensionierten Schnecke erwarten könnte. Ich mache mich bereit...
Er rennt geradezu in eine Wand aus Schwertern, als Skelette von überall her ihn abblocken. Blitzschnell hat der Meister sie über die Ketten und durch sie hindurch klettern lassen, deutlich rascher, als der dicke Dämon sich dann doch bewegen kann, besondere Kräfte hin oder her. Die Krieger hacken einige Zeit auf den Fleischberg ein; er zertrümmert ein paar, aber hat keine Chance.
Mit Tränen im Gesicht tritt der Meister neben mich.
„Dein Angebot ist abgelehnt, genauso wie das deines Kollegen!“
Noch lebt er, was wohl auch die Intention des Meisters war.
„Narr...ich werde wiederkommen. Ich werde dich brechen. Was denkst du, wen du vor dir hast? Dann töte ich dich eben! Deine Qual wird ohne Gleichen sein, und du wirst deine Freundin niemals wieder sehen!“
„Ich habe beschlossen, dir nicht zu glauben, Fettsack. Natalya lebt noch. Wie soll sie überhaupt gestorben sein, hm? So leicht kriegt sie kein Monster klein. Warum sollte sie hier gelandet sein? Meine Hoffnung stirbt zuletzt, und sicher nach dir!“
„Du bist ohnehin verdammt! Dein eigenes Gewissen verurteilt dich schon jetzt, ich kann es spüren...du glaubst, dass du die Höllenqualen verdienst, tief drin. Wenn du stirbst, wirst du in der Falle deiner eigenen Gedanken enden, und dann gehörst du ganz und gar uns!“
„Mein Gewissen fühlt sich ganz gut an. Aber weißt du was? Egal, was mit mir passiert – Genugtuung wirst du so oder so nicht daraus ziehen können.“
Zwei Wächter packen den aufgedunsenen Kopf des Dämons. Und der Meister zückt das Jade-Tan-Do.
„Willkommen im Vergessen, du Bastard. Kannst deinem Kollegen Hallo von mir sagen.“
Damit rammt er den Dolch dorthin, wo ich an seiner Stelle auch das Gehirn der Kreatur vermuten würde. Ein gewaltiger Schrei entrinnt dem mächtigen Schlund, die Einstichstelle der gewellten Waffe beginnt giftgrün zu glühen, wie sie es auch schon bei dem roten Ritter tat.
Seine Seele wehrt sich dagegen, aufgesaugt zu werden!
Das muss es sein! Aber sobald das Gift seinen Körper wegfrisst, wird sie hilflos sein...
Leichenspucker sind giftimmun.
Na dann...
Ich knie mich vor den an unzähligen Stellen aufgeschlitzten Leib des Dämons.
„Gib deinen Geist endlich auf!“
Mit voller Konzentration auf so heiliges Feuer wie möglich jage ich eine Stichflamme komplett durch ihn durch.
Das Glühen des Jade-Tan-Dos vergeht. Ich starre auf die Einstichstelle.
„Hat es die Seele?“
Der Meister zuckt mit den Schultern.
„Ich hoffe doch sehr...dieser hier war ja zu blöd, sich rechtzeitig zu sprengen.“
„In der Tat, das war er!“
Wir beide richten uns auf, als eine bekannte Stimme spricht.
„Das gibts doch wohl nicht.“
Auf einem Stein außerhalb der Ketten sitzt der rote Ritter, ein Bein über das andere geschlagen. Aber...er wirkt nicht komplett. Sein Körper ist halb durchscheinend. Ein Geist...in der Hölle?
Dennoch klatscht er, trotz der Knochenhände ein überzeugendes Geräusch.
„Ihr seid diesen unfähigen Idioten mit Bravour losgeworden, General. Man kann Euch nur gratulieren dazu, wie Ihr diese Situation gemeistert habt. Nicht weniger hätte ich auch erwartet nach den vielen Malen, wo Ihr mir gezeigt habt, wie sehr man sich doch auf Eueren Golem verlassen kann.“
„Was willst du.“
„Nicht mehr, als was ich gerade getan habe: Mein Lob und meinen Dank aussprechen. Ihr habt mir gerade mehr geholfen, als Ihr Euch jemals vorstellen könntet. Das macht mehr als nur wett, dass Ihr mich doch etwas...behindert habt mit diesem...darf ich es sagen?...teuflischen Dolch, den Ihr da führt.“
Der Meister richtet die Spitze der besagten Waffe auf ihn.
„Kannst gerne noch mehr davon haben.“
„Oh nein, oh nein, das Risiko ist es mir nicht wert. Tatsächlich könnt Ihr Euch sicher sein, dass ich Euch solange Ihr in der Hölle seid nicht mehr belästigen werde. Gibt auch keinen Grund mehr dazu, da ich Niemandem mehr zuvorkommen muss! Im Gegenteil – ich wünsche Euch das Beste auf Euerer Reise.“
„Womit hab ich das denn verdient...“
„Sagte ich gerade! Der Verdienst schmort gerade vor Euch. Aber keine Sorge, ich biete nicht nur salbungsvolle Worte an, werter Gegenspieler. Ihr sucht den Abgang zum Flammenfluss, nicht wahr? Nun, haltet Euch links nach dem Ausgang aus diesem geschmacklosen Käfig, dann an einer Ruine rechts vorbei, die aussieht wie eine Kirche, mitten durch ein zerstörtes Haus, dessen hintere Wand fehlt, und von da aus immer geradeaus weiter.“
Er steht auf.
„He, warte...“
„Wie gesagt, viel Erfolg.“
Er beginnt, zu verblassen...doch da formt er sich kurz wieder, um noch einen Satz zu sagen.
„Ach und übrigens – was ihr gerade zerstört habt, war in der Tat nur ein Faksimile. Also macht Euch keine Gedanken und konzentriert Euch auf die wahre Aufgabe vor Euch.“
Damit ist er verschwunden. Ich starre den Meister an, und er mich.
„Ich habe das Gefühl, als hätte ich das gerade nicht tun sollen.“
„Was?“
„Das Stehlen der Seele...“
Er wirft einen Blick in Richtung der...scheinbaren?...Leiche von Natalya, aber nicht allzu lange.
„Bei dieser Entscheidung bin ich mir eigentlich ziemlich sicher, dass ich sie richtig getroffen habe.“
„General, ich...“
„Es ist trotzdem nicht schön, der Frau, die man liebt, einen Säbel in die Brust zu rammen. Golem...ich weiß, was du sagen willst. Aber du brauchst mir nicht danken, weil ich dir ohnehin für so viel andere Dinge danken sollte und meine Dankbarkeit nie zeige. Eigentlich sollte ich dir auch für das hier danken, und nicht du mir für meine Entscheidung. Jede andere wäre doch völliger Wahnsinn gewesen, oder?“
„Ja...“
Und dennoch läuft ihm noch eine Träne über das Gesicht, und sein Blick verliert sich.
„So oder so! Sie lebt noch, wie gesagt, ich bin mir ganz sicher. Ich weiß nicht, was ich vom Roten halten soll. Aber...wir werden seiner Wegbeschreibung folgen. Wenn sie stimmt, stimmt vielleicht auch, was er über das...Ding...da hinten gesagt hat.“
Er lächelt in die Ferne, wohin seine Augen sehen.
„Und das würde mich sehr glücklich machen.“
Ich lächle auch, aber ihn an, klopfe ihm auf die Schulter und belasse es dabei. Ist meine Hoffnung doch die gleiche wie seine. Ich denke, dass ich Natalya nicht so sehr liebe wie ihn. Aber es ist nahe dran. Mir tat all das auch sehr weh, und der Grüne hat mich ähnlich getroffen wie er ihn getroffen haben muss.
Wenn ich genauer darüber nachdenke...sicher hat er Natalya, wie bei mir, nur als letztes Druckmittel hervorgebracht. Heißt das, das der Meister wirklich auch ohne mich schon begonnen hat, Seelen zu befreien? Dass er die wahre Perversität der ewigen Folter auch schon ohne ihren schreckliche Sinn begriffen hat?
Heißt das aber auch, dass er auf dem Weg alleine, nachdem der Grüne ihn erpresst hatte, noch viele Seelen sah, die er töten wollte, aber nicht konnte, weil seine Liebe ihn hinderte?
Du denkst wieder einmal viel zu viel nach.
Möglich, aber...
Wie schuldig lässt ihn sich das fühlen?
Ein Feuerball streift einen schwarzen Lederflügel. Dessen Beschützer lässt ein Kreischen los, als er trudelnd zu Boden stürzt.
Das war fast daneben.
Ich übe!
Mit einem langen Schritt, für den ich meinen Körper strecke, setze ich dem Leiden der Kreatur ein Ende; sie vergeht in schwarzem Rauch, als mein Fuß auf ihr landet. Sofort fahre ich herum, auf der Suche nach neuen Zielen; im konstanten Dämmerlicht ist es schwer, etwas zu erkennen. War das nur ein Schatten, der durch mein eigenes Flackern erzeugt wurde, oder doch ein Gegner? Fliegen noch dutzende von ihnen durch das Dunkel, oder haben wir schon gewonnen?
Andere Sinne.
„Golem...“
Ich hebe einen Finger vor meine nicht-Lippen und lausche eindringlich. Die Skelette folgen dem Meister und verstummen komplett.
Die Höllenfledermäuse sind komplett unfähig, einfach nur zu gleiten...sie müssen flattern...Luft verdrängen, wie Schallwellen es auch tun...wenn sie denn nicht von Pfeilern, Wänden und den wenigen noch existierenden Decken hängen.
Im Moment...ist es ruhig.
„Sie sind weg, General.“
„Gut, das wollte ich...“
Her mit der Kontrolle!
Einem mittlerweile antrainierten Reflex folgend, erhält der Zweite sofort das Steuer; gleich darauf fliegt ein Feuerball direkt auf den Meister zu...dieser stolpert überrascht rückwärts...und der Schuss zischt an seinem Ohr vorbei, was ihn wegzucken lässt, wieder nur den Flügel eines Angreifers versengend, der direkt von hinter ihm kam.
Mit einer Hand an die Seite seines Kopfes gepresst flucht der Meister, wirft einen Blick über die Schulter und lässt die Skelette auf den Familiar einhacken, sobald er weiß, wo er gelandet ist.
Das war...fast daneben.
Manchmal hat das eben auch Vorteile.
„Himmel, Golem, du bringst mich noch zum Herzstillstand. Aber Danke.“
„Lob und Tadel an den Zweiten.“
„Du musst noch an deiner Aufmerksamkeit feilen, hm? Wäre mir Recht. Ich vertraue ihm einfach nicht; und ja, ich weiß, dass du zuhörst, das sollte dir sonnenklar sein.“
„Ist es, Meister.“
„Und deine Devotheit geht mir auf den Geist. Aber so ist es nunmal. Ich bin glücklich, dass du still bist und mir immer wieder den Hals rettest, Niemand muss hier den Anderen mögen. Also weiter.“
Der Meister lässt die Skelette ein wenig ausschwärmen, um Häuser zu kontrollieren, die vielleicht nicht so leer sind, wie sie scheinen, um an Säulen zu klopfen, an denen vielleicht Familiare hängen könnten, und um uns den Rücken zu decken. Ich bleibe nahe bei ihm und spitze die Ohren. Sobald ich merke, dass meine Aufmerksamkeit zu wandern beginnt, wechsle ich mich mit dem Zweiten ab; es fällt mir schwer, mich für längere Zeit völlig auf das Lauschen zu konzentrieren. Irgendwann fange ich immer an, einen plötzlich auftauchenden Gedanken zu verfolgen.
Es ist überhaupt kein Problem, sich auf eine Sache so lange, wie du willst, zu konzentrieren. Wenn du deine Gedanken etwas effizienter aussperren würdest, heißt das.
Und wie soll das gehen?
Disziplin kann man nicht lehren, die muss man haben.
Das ist ja hilfreich. Lass es mich noch einmal versuchen.
Ich versuche, mein Denken auszuschalten, und fokussiere nur eine Aufgabe in meinem Kopf: Das Achten auf Ungewöhnliches. Bewegen sich die Schatten anders, als sie durch das Magierfeuer sollten? Höre ich ein Rascheln, wo gerade kein Skelett hingeht?
Was meinte der Zweite wohl damit, dass der Meister etwas verschwiegen hätte, als ich ihn vorher gefragt habe...
Verdammt, das ist doch hoffnungslos. Wie soll ich denn mein Denken ausstellen? Will ich das denn überhaupt? Wäre doch in der gleichen Schiene wie die ständigen Sticheleien des Zweiten, dass meine Gefühle nur schädlich sind...und daran glaube ich einfach nicht.
Ich stimme der Einschätzung zu, dass du ein hoffnungsloser Fall bist. Übernimm also du wieder das Gehen, und ich passe auf.
Nein! Du hast insofern Recht, als dass ich lernen muss, immer aufmerksam zu sein. Und wenn ich mein Denken nicht ausschalten kann, dann muss eben beides gleichzeitig laufen.
Das mindert deine Effizienz aber gewaltig.
Ich blocke ihn ab. Mein Blick wandert methodisch über Mauerreste und zerbrochene Säulen. Ich lausche auf die gewohnten Schritte der Skelette, und, wie ich es mittlerweile gewohnt bin, blende sie aus.
Aufmerksamkeit...so.
Also, als ich den Meister gefragt habe, ob etwas Ungewöhnliches passiert ist, während ich von ihm getrennt war. Hat er gelogen?
...war da was? Ich rufe mein Erinnerungsbild von vor einer Sekunde auf.
...nein.
Wieder verwende ich eine Sekunde darauf, meine Überwachung der Umgebung zu fokussieren, versuche, sie zu automatisieren, und gehe dann weiter in die Vergangenheit.
War da etwas im Gesicht des Meisters, als er meine Frage verneinte...? Schwer zu sagen.
Aber definitiv...als ich sagte, dass ich Seelen befreit hatte...
Ein Stöhnen.
Ich lege dem Meister die Hand auf die Schulter; es ist ein Zeichen dessen, wie gewachsen an seinen Aufgaben er mittlerweile ist, dass er nicht einmal für einen Sekundenbruchteil zusammenzuckt.
Außerdem ha. Ich habe es gehört.
Aber zwei Komma drei vier Sekunden nach mir. Wenn du drei gebraucht hättest, hätte ich was gesagt.
Ich...
Wenn es kein Stöhnen gewesen wäre, sondern ein angreifender Gegner, wären wir längst tot, du Traumtänzer.
„Was ist, Golem?“
„Ein Geräusch, aus dieser Richtung. Klang wie ein Seufzen oder Stöhnen.“
Der Meister nickt stumm. Die verteilten Skelette nähern sich unserer Position, ohne den Rhythmus ihrer Schritte zu ändern; er berührt im Gegenzug meine darunter leicht nachgebende Feuerschulter, deutet auf die Ecke der Hausruine, hinter der das Geräusch seinen Ursprung hatte, dann hebt er drei Finger und zählt mit ihnen herunter.
Schnell begebe ich mich in Position und zähle exakt drei Sekunden ab. Einen weiteren Bruchteil später, um sicherzugehen, dass die Skelette sich auch bewegen, laufe ich um die Häuserecke.
Vor mir tut sich ein Anblick auf, der noch ein wenig bizarrer ist, als was die Stadt der Verdammten sonst zu bieten hat. Ein großes Areal, sicher fünfzig auf dreißig Meter, ist umgeben von in regelmäßigen Abständen platzierten pechschwarzen, schlanken Säulen, die allesamt komplett intakt sind, ganz im Gegensatz zum Rest der Stadt. Zwischen diesen Säulen hängen, scheinbar zufällig angebracht, dicke, schwere Metallketten, die nur wenig heller sind als ihre obsidianenen Aufhängungen. Zwischen den Gliedern ist das Innere des rechteckigen Platzes zu erkennen; der Boden ist eben, soweit ich das beurteilen kann, aber auf ihm...stehen, in krassem Kontrast zu der Regelmäßigkeit der umgebenden Säulen, völlig zufällig verteilt Pfeiler über Pfeiler, an denen jeweils eine zur Unkenntlichkeit gefolterte Seele gekettet ist.
Ab und zu lässt eine von ihnen ein Stöhnen erklingen wie das, das mich ursprünglich in diese Richtung gelockt hat; größtenteils aber sind sie ein stummes Bild des Leidens, eine einzige Anklage gegen die perversen Praktiken der Hölle.
Es sieht übrigens nicht so aus, als wären Gegner in der Nähe, falls es dich zufällig interessieren sollte.
Oh. Ja. Tut es.
„Die Luft ist rein, General!“
Er tritt zu mir. Ich versuche, seine Miene zu lesen, aber sie ist völlig ausdruckslos.
Für eine Weile starrt er nur nach vorne. Ich tue es ihm gleich, aber nach fast einer Minute wird die wachsende Unruhe in mir zu groß.
Ich drehe mich zu ihm.
„...sollen wir den Eingang suchen?“
Er zuckt zusammen. Warum jetzt?
„Warum das denn?“
Seine Stimme ist ein Krächzen. Muss er jetzt wirklich damit anfangen?
„So viele gequälte Seelen, General...du willst mir nicht wirklich sagen, dass du sie da hängen lassen willst.“
Er murmelt etwas, das ich nicht verstehe.
Das zweite Wort war sicher ein „nicht“.
„Eigentlich nicht“ vielleicht?
Zu lang...eher...
„Nein, Golem...kann man so nicht sagen...aber ich weiß nicht, ob es überhaupt einen Eingang gibt...“
„Die Monster, die sie verstümmeln, müssen doch auch zu den Seelen kommen können, oder?“
„Und wenn es nur Familiare sind?“
Der Meister wendet sich mir endlich zu.
„Ja, Zweiter, das ist gut möglich. Ich meine, es tut mir auch Leid und so, aber über diese Ketten lasse ich die Armee sicher nicht klettern, wenn es überhaupt funktionieren würde. Ich selbst käme auf keinen Fall rüber. Es wäre viel zu große Zeitverschwendung...“
Mein Mund klappt auf.
„Zeitverschwendung? Haben wir denn auf einmal Zeitdruck, von dem ich Nichts mitbekommen habe? Diese ganzen Seelen zu befreien, dauert maximal eine halbe Stunde. Mach dich nicht lächerlich.“
Plötzlich wird er wütend.
„So muss ich auch nicht mit mir reden lassen.“
Ich hingegen muss mir diesen Unfug aber auch nicht bieten lassen.
Du vergisst, wer hier ganz klar am längeren Hebel sitzt.
„Doch, General, das musst du. Du willst diese Seelen nicht befreien. Und das geht mir nicht ein. Weißt du was? Ist mir auch egal, ich brauchs nicht verstehen. Geh doch einfach eine Weile alleine weiter, ich erledige das hier ganz fix, die Ketten halten mich garantiert...“
„Das wirst du nicht!“
Was zur...er hat mich angeschrien, als hätte ich sein Leben bedroht. Ich weiche zurück, nicht sicher, was ich denken soll. Er ballt die Fäuste so stark, dass er zu zittern beginnt, und wir starren uns in peinlicher Stille an...als plötzlich etwas die Stille durchbricht.
Stöhnen aus mehr als nur eine Kehle gleichzeitig. Die Seelen haben ihn gehört, die, welche noch funktionierende Ohren haben. Und auch die anderen scheinen zu spüren, dass hier Jemand steht, der noch normal reden kann, kein Monster ist, der sie erlösen kann. Sie schreien so laut sie es können ihre Hoffnung heraus...sie betteln. Ich breite stumm die Hände aus, ein Echo des Flehens.
Der Meister lockert die Fäuste und presst die Lippen zusammen. Dann, langsam, schüttelt er den Kopf.
„Nein, Golem. Mein letztes Wort.“
Er dreht sich weg. Die Armee folgt ihm.
Ich fühle mich, als hätte er mir in den Magen geschlagen.
Na ja, das war deutlich.
Aber aber aber...
„Komm schon, Golem.“
Unwillentlich setzen sich meine Beine in Bewegung, dem direkten Befehl folgend. Ich versuche, sie daran zu hindern, aber mir fehlt die Kraft. Genauso, wie ich Nichts sagen kann.
Das Stöhnen geht weiter. Und wird scheinbar noch lauter.
Schließ es aus und lausch weiter auf Bedrohungen.
Ich...kann nicht...
Bitte, dann mach ich es eben. Wenn du den Körper wenigstens in die halbwegs richtige Richtung deuten würdest?
Wie ein Zombie folge ich, immer noch darum ringend, meine Sprache wieder zu finden. Ich wusste ja schon, dass er nicht ganz meine Meinung teilt, was die Seelen angeht. Aber er hatte mir erlaubt, sie zu befreien. Er hatte akzeptiert, dass mir die Sache extrem wichtig ist und das respektiert. Warum? Warum diese Kehrtwende? Mit ein paar Feuerbällen, wenn ich einmal einfach nur wenig isoliert durch die Reihen fließen könnte...eine halbe Stunde ist weit übertrieben.
Das flehende Stöhnen durchdringt mich. Ich lasse sie zurück. Der Meister lässt sie zurück und reißt mich mit, zwingt mich zu handeln, wie ich es niemals tun würde...es ist, als würde er mir ausdrücklich befehlen, einen Verdurstenden in der Wüste zurückzulassen. Obwohl wir doppelt so viel Wasser dabei haben, wie wir jemals brauchen werden.
Vor mir blickt der Meister zur Seite, durch den Zaun.
Mir ist, als würden seine Schritte sich verlangsamen. Ich halte die Distanz...da beißt er die Zähne zusammen, dreht sich wieder weg und stapft weiter.
Die Kakophonie lässt nicht nach.
Fast bemerke ich nicht, dass wir an dem Folterplatz vorbei sind. Die Kettenwand neben mir hat aufgehört; das rechteckige Areal liegt hinter uns. Verzweifelt drehe ich mich um, der Quelle der mich zerreißenden Hilfeschreie zuwendend...
Und sehe den Eingang. Zwei Säulen sind nicht durch Ketten verbunden.
„General.“
Er stapft weiter.
„General, es gibt einen Eingang.“
Immer noch ignoriert er mich. Obwohl wir uns entfernen, kommt es mir nicht so vor, als würde das Stöhnen leiser werden. Es hallt in meiner Seele wider.
„Bitte, gib mir nur fünf Minuten, du kannst wegsehen, aber lass mich ihr Flehen beantworten!“
Aber er wird einfach nicht langsamer.
„Hörst du es denn nicht? Wie kannst du taub sein gegenüber solchem Leid? Egal, was sie getan haben, General, du stößt Ertrinkende zurück ins Meer, die sich schon halb auf dein Schiff gezogen haben!“
Er bleibt stehen und fährt herum.
„Golem, ich weiß, also sei verdammt noch einmal still! Ich bin mir bewusst, dass ich ein Bastard bin dafür, dass ich sie ignoriere, und ja, ich gebe es zu, ich mache das willentlich und nicht, weil es uns zu viel Zeit kosten würde oder sonst etwas. Ich mache das. Meine Entscheidung. Du bist frei von Schuld. Verdamme mich, wie du willst, aber ich werde nicht anders handeln.“
Das Stöhnen beginnt abzuklingen. Die vage Hoffnung vieler Seelen, die unsere Anwesenheit geweckt hat, scheint zu schwinden. Ich starre ihn an. Er ist verzweifelt, völlig verzweifelt. Es muss etwas passiert sein, als ich ihn allein in der Hölle gelassen habe. Ich hätte darauf bestehen sollen, mitzukommen!
Dann wären wir jetzt tot.
Aber...nicht ich werde ihn verdammen, wenn er jetzt einfach geht. Er ist verdammt, wenn er es tut, wie soll er Mensch bleiben, während er gleichzeitig den Methoden der Hölle zustimmt?
„Sag mir wenigstens, warum!“
Er senkt den Blick.
„Du würdest es nicht verstehen...und mich noch mehr verurteilen.“
„Zur Hölle, General! Wer soll dich denn verstehen, wenn nicht ich? Du leidest selbst, ich sehe es doch, die Schreie nach Hilfe bohren sich in dich so wie in mich! Du bist ein guter Mensch, du hast ein Gewissen, was bringt dich dazu, es niederzukämpfen?“
„Ich glaube, in dem Fall ist meine eigene Menschlichkeit mein Untergang, Golem.“
Als wäre dies das letzte Wort, dreht er mir den Rücken zu. Verzweifelt werfe ich einen Blick über die Schulter, auf die dutzenden von Seelen, welche auf Ewigkeit gequält an ihren Pfählen hängen...und dort bleiben werden.
Ich halte das nicht aus. Nein, niemals...der Meister mag sich verdammen, warum auch immer, aber ich kann sie nicht zurücklassen, nicht solange ich meinen eigenen freien Willen habe!
Gib dich ruhig deinen Illusionen hin. Ich gebe dir drei Schritte.
Mit eiserner Entschlossenheit hebe ich einen Fuß in die Richtung, welche der Meister nicht eingeschlagen hat. Sofort durchzuckt ihn Schmerz, aufblitzend sobald ich eindeutig dem Befehl zuwiderhandle, ein konstantes Gewitter unglaublicher Agonie, welche meine nicht existenten Muskeln verkrampfen lässt und meinen Blick verschwimmen.
Der Fuß landet auf dem Boden der Hölle. Ich hebe den anderen. Die eiserne Entschlossenheit von gerade fühlt sich immer mehr an, als wäre sie stattdessen aus Holz...welches jeden Augenblick brechen kann.
Ich falle hin, die Kontrolle kurz verlierend.
Nicht einmal...ein zweiter...? Du...lässt nach...
Diese Form...braucht...keine Füße...
Mein Körper zerfließt, formt die Feuerpfütze. Zentimeter für Zentimeter nähert sie sich dem eingeketteten Platz. Jeder Millimeter purer Schmerz, der mich aufhalten will, mich zurückdrängt, in die Richtung des Meisters...in Richtung unser beider Verdammnis.
„Golem!“
Er steht über mir.
„Was tust du da? Ich sagte nein! Komm mit, ich befehle es – du bist frei von Verantwortung, es ist komplett meine Schuld. Oh Himmel, es tut mir so Leid.“
„Ich bin nicht frei von Verantwortung, General...“
Aus der Pfütze forme ich eine Hand, packe einen Fels, der hervorsteht, und ziehe mich weiter, als müsste ich gegen einen reißenden Fluss ankämpfen, der aus Rasierklingen besteht.
„Ich habe meinen eigenen Willen...und kein Befehl von dir kann das ändern...ich gehorche meiner Überzeugung...wenn dir das nicht passt...dann vernichte mich.“
„Golem...das kann ich genausowenig, wie dich die Seelen vernichten lassen...Himmel, wie schaffst du das? Verursacht die Beherrschung dir nicht unglaubliche Schmerzen?“
Wieder schaffe ich es etwas weiter. Nur...nicht...anhalten...niemals...
„Doch...aber...weniger...als wenn...ich sie zurück...lassen...würde...“
Ich sehe Nichts mehr, konzentriere Alles, was mich ausmacht, auf das Weiterkommen. Meine Schmerztoleranz ist hoch; ich habe schon viel erlitten in meinem kurzen Leben. Aber ich spüre, wie es zu viel wird. Wie die Möglichkeit lockt, einfach aufzuhören, mich in diese Richtung zu bewegen, die mir sofort Linderung verschaffen würde. Ohne Nachwirkungen. Es wäre so leicht...so unglaublich leicht...und es ist letztlich nicht meine Verantwortung. Was kann ich tun, als reines Werkzeug, als bloßer Golem? Ich bin doch nur...ich...
...habe angehalten. Habe aufgegeben.
Zur Hölle, endlich! Es waren vielleicht insgesamt keine drei Schritte, aber mir kam es vor wie eine ganze Wüste aus Dornenranken. Du weißt, dass ich das fühle – wie kannst du denn das mit deinem ach so wertvollem Gewissen vereinen?
Ich forme mich wieder zum humanoiden Golem. Mein Blick ist gesenkt. Meine Fäuste geballt. Ich kann Nichts sagen.
Der Meister berührt mein Kinn. Mein Kopf fühlt sich unendlich schwer an, als ich ihn hebe; ich kann ihm nicht in die Augen sehen. Muss es aber tun.
Diese Augen sind mit Tränen gefüllt.
„Golem, du peinigst dich selbst für diese Seelen, die du nicht kennst, die es so unglaublich mehr verdient haben zu leiden als du – warum tust du es? Kannst du nicht einfach akzeptieren, dass du manche Dinge nicht beeinflussen kannst?“
„Dann wäre ich nur ein Werkzeug...aber ich schätze, das ist sowieso hinfällig. Vielleicht bin ich Nichts weiter.“
Der Meister presst seine Faust auf den Mund. Seine Tränen fließen. Immer noch stöhnen vereinzelte Seelen.
„Geh.“
Sein gepresstes Wort dringt kaum durch den Schleier meiner Depression. Es dauert kurz, bis ich es begreife.
„...General, du...“
„Geh einfach, Golem! Los! Verbrenne sie alle, schick sie ins ewige Vergessen! Lass mich nicht zusehen, denke nicht darüber nach, tu es so schnell wie möglich und komm wieder zurück. Ich...ich kann dich nicht leiden sehen. Mein Herz mag noch so schreien, aber gratuliere, du hast gewonnen. Meine Entscheidung ist auf dich gefallen.“
„Was meinst du...“
„Warum bist du immer noch hier!“
Ich renne auf die Folterstätte zu, meine Gedanken am Rasen. Was könnte das bedeuten? Wem hat er mich vorgezogen? Was hat ihn dazu gebracht, gegen eine Überzeugung zu handeln, die er offenbar jetzt doch hat?
Der Eingang ist durchschritten. Das Feld der Schmerzen liegt mir offen. Jetzt ist keine Zeit für Gedanken. Ich soll schnell machen? Gut, dann werde ich das auch.
Keine Zeit für Gedanken wäre vor ein paar Sekunden gewesen...
Was...
Aus den Schatten der Säulen, versteckt bisher an Stellen vieler sich kreuzender Ketten, hinter mehreren enger zusammenstehender Seelenpfeiler, schlurfen Dämonen hervor. Pechschwarze Leichenspucker, ihre grotesken, immer weit aufgerissenen Mäuler dunkelrot schimmernd, als das vage Licht, das von überall her und nirgends kommt, sich in ihrem Sabber spiegelt.
Auf ein Geräusch reagierend drehe ich mich um...sie haben mich umzingelt.
Na toll. Direkt in eine Falle gelaufen. Gut gemacht!
Als ob uns das nicht egal sein könnte! Ich drehe mich wieder nach vorne, der Mehrheit zu, kampfbereit...
...wie um alles in der Welt habe ich den schreiend Türkisgrünen unter ihnen nicht bemerkt?
„Golem, Golem, es ist doch nicht zu fassen. Schon dachte ich, ich hätte meine Leute hier völlig umsonst positioniert, weil dein Meister sich deutlich schneller als vernünftig erwiesen hat, als ich dachte, da lässt er dich doch tatsächlich umdrehen. Nicht ohne noch ein wenig den Boden zu wässern. A-blu-blu-blu, wie herzzerreißend. Wahlweise ekelhaft.“
Du passt auf unseren Rücken auf.
Muss ich wohl, auf dich verlasse ich mich da sicher nicht.
„Kennen wir uns, Dämon?“
Seine gurgelnde Stimme versucht sich an einem Lachen.
„Kommt ganz auf deine Definition von 'kennen' an, du größenwahnsinnige Marionette. Was denkst du eigentlich, was du tust, hm?“
Das Stöhnen der Seelen ist wieder voll aufgeblüht; jetzt, wo ich weiß, dass ich sie erlösen werde, tut es mir nicht mehr weh.
„Still!“
Sofort verstummen alle, als der grüne Leichenspucker das Kommando bellt. Wer ist das?
Ich werfe einen demonstrativen Blick in die Runde.
„Wenn du so fragst, bin ich wohl drauf und dran, dir den Tag zu versauen. Liegt dir etwas an diesen Seelen, oder was? Bringt es dir perverses Vergnügen, sie immer wieder aufs Neue zu foltern? Bin ich auf deinen Spielplatz eingedrungen und werde gleich deine Sandburg zertreten?“
„So arrogant...als ginge es hier nur um dich und mich. Hast du mir nicht zugehört, oder geht es nicht in deinen Insektenverstand? Weitaus mehr als nur diese dutzend Seelen stehen auf dem Spiel, wenn du und dein Meister weiter an einer Ordnung rüttelt, die ohnehin viel zu hoch ist für euch Sterbliche.“
Meine Augenhöhlen weiten sich.
„Du warst die Seele, die mich dazu bringen wollte, sie zurückzulassen!“
„Ich würde klatschen, wenn mein jetziger Körper dazu in der Lage wäre. Welch brillianter Schluss. Wenn du schon zu solcher Logik fähig bist, warum nicht der nächste Schritt? Offenbar bin ich dir in Wissen und schierer Macht weit überlegen. Und doch stellst du dich gegen mich? Dein Meister war schlauer. Aber er ist wenigstens noch ein Mensch. Du bist nur ein Spielzeug, das seinen Platz nicht kennt.“
Er hat genug vom Reden.
Siehst du, dass gerade einer von ihnen von meiner Aura verbrannt wurde, habe sogar ich gehört.
Mein Arm schießt nach hinten, und ein Feuerball löst sich daraus. Ein schnell ersticktes Kreischen verrät mir, dass mein Ziel, der Schlund eines Spuckers, erreicht wurde.
„Ich denke, du unterschätzt mich.“
„Du scheinst dir nicht bewusst zu sein, wie viele von meinen Untergebenen dich gerade umringen, Golem.“
„Und doch können sie das hier nicht verhindern.“
Ein zweiter Schuss auf meiner Hand, er trifft eine der am nächsten bei mir hängenden Seelen in der Brust. Mit einem Schrei, der zu einem Seufzen wird, verbrennt sie.
Ein Zucken läuft durch den ganzen Körper des Grünen.
„Ein Staubkorn versucht, den Dreck zu Gold zu verwandeln? Vernichtet ihn!“
Wie mir nicht entgangen ist, sind die Dämonen hinter mir näher gerückt. Was mir allerdings noch nicht bewusst war, ist, dass er unbemerkt Verstärkung gerufen hat; hinter den Ketten, außerhalb des rechteckigen Areals, in dem ich gefangen bin, haben sich Verdammte aufgestellt, zu viele, als dass ich sie mit einem Blick zählen könnte. Kugelblitze fliegen auf mich zu, und Leichenspucker stürzen sich auf mich...
Ich zerfließe zu einer Pfütze und gleite davon. Wo ich gerade noch war, landet ein Dämon. Mein heiliges Feuer verbrennt überall um mich herum Gegner; ich forme kurz den Körper, donnere eine Faust in die Seite eines überraschten und viel zu langsamen Monsters, fühle, wie das Fett, aus dem es zum überwiegenden Anteil zu bestehen scheint, verbrennt, und verabschiede mich sofort wieder. Wie eine Feuerbrunst tanze ich über das Schlachtfeld, Nadelstiche setzend; ich bin mir bewusst, dass ich hier Nichts töten werde...aber ich kann sie verwirren. Ein heilloses Kreuzfeuer aus Kugelblitzen zischt durch die Luft, und ich bin mir sicher, dass so manch ein Dämon von seinen eigenen Kameraden gefällt wird. So erklären sich auch die schweren Geschosse aus wieder hochgewürgten Leichenteilen, die die schneckartigen Kreaturen auf mich feuern. Natürlich ohne zu treffen.
Werd nicht übermütig.
All das doch nur, um letztlich hierhin zu gelangen!
Ich habe durch mein wildes Ausweichen, das so wild gar nicht war, einen Seelenpfeiler erreicht. Stichflammenartig gleite ich daran hoch, der Gefolterte vergeht, ich forme mich wieder, auf der Säule balancierend.
„Siehst du, was ich hier tue? Was mir deine höllische Ordnung wert ist? Kette dich doch selbst an, wenn du so auf diese Art der Strafe stehst, und brenn in Ewigkeit. Einen Vorgeschmack kann ich dir geben!“
Bevor die Verdammten sich auf mich einschießen, bin ich wieder weg, aber einen Feuerball auf den Grünen lande ich noch. Er ist völlig unbeeindruckt.
„Du kannst nicht ewig entkommen, Golem! Und das ist gut so, denn du begehst einen gewaltigen Fehler!“
„Verrate mir doch einmal, warum ich dir überhaupt glauben sollte.“
Wieder brennt eine Seele. Aber langsam zielen sie besser. Was macht eigentlich der Meister?
„Immer noch hast du nicht verstanden, was diese Gefäße überhaupt sind, die du da zerstörst wie ein verzogenes Kind. Sie sind Seelen, ja, von einstmals auf Sanktuario lebenden Menschen. Um genau zu sein, Manifestationen dieser Seelen, da Seelen üblicherweise natürlich keine physische Gestalt haben. Denk nach. Wer gibt diesen Seelen ihren Körper, außer sie selbst? Bevor sie verstümmelt werden, sehen sie aus, wie sie im Leben aussahen – sie können nicht sterben, weil Seelen unsterblich sind, aber sie heilen, als hätten sie menschliche Körper. Sie sind gefangen in ihren eigenen Erwartungen! Jede Seele, die du hier siehst, hängt, weil sie unterbewusst weiß, dass sie es verdient hat. Im Moment ihres Todes wird ihr klar, dass ein Leben wie das ihre die unendliche Strafe verdient hat – und sie landen an einem Pfahl in der Hölle. Danach ist die Falle ihrer eigenen Gedanken unentrinnbar. Der Teufelskreis an Bedauern ihrer Schandtaten und dem daraus folgenden Schluss, dass die Strafe gerecht ist, hält sie hier fest! Willst du dich über diese Gerechtigkeit hinwegsetzen?“
Ich halte kurz inne – und ein Kugelblitz trifft mich.
Verdammt noch eins, warum hörst du ihm denn überhaupt zu?
Der Zweite übernimmt den Körper und konzentriert sich auf das Ausweichen. Solange er steuert, sterben keine weiteren Seelen, aber ich muss mir die Implikationen ohnehin durch den Kopf gehen lassen. Wenn er nicht lügt, dann werden die hier gefolterten Seelen nur deswegen diesen Qualen unterworfen, weil sie es wollen...dann sind wirklich nur die hier, die es verdient haben, und es herrscht keine Willkür. Habe ich also tatsächlich die schlimmsten Verbrecher befreit?
Aber Moment mal...nein, das würde auch bedeuten...
„Gerechtigkeit? Wenn stimmt was du sagst, heißt das doch, dass nur Menschen hier landen, die ihre Taten bereuen – wer aber im tiefsten Grunde seines schwarzen Herzens überzeugt ist, dass jede Schandtat richtig war, die er beging, wird nie seine Strafe erleiden!“
„Die wenigsten Sünder sind sich der Verkommenheit ihres Handelns völlig unbewusst .“
„Und noch etwas. Nur Sünder, die tatsächlich Reue zeigen, landen hier, aber weil sie das tun, entkommen sie der Falle ihrer eigenen Gedanken nicht? Einzig die, die zum Schluss kämen, dass es doch keinen Grund gibt, sich schuldig für ihre Taten zu fühlen, könnten der ewigen Qual entfliehen!“
Plötzlich hört die Barrage auf. Der Zweite formt unseren Körper und gibt mir die Kontrolle, mit der stummen Versicherung, sofort Bescheid zu geben, wenn er etwas bemerkt. Warum ist er so ohne jeden Kommentar kooperativ?
...weil er genauso gespannt ist auf das, was der grüne Leichenspuckerheld zu sagen hat!
„Also wirklich, ich muss zugeben, einen Fehler begangen zu haben. Ich habe deine Gabe unterschätzt, grundlegende Gesetze der Logik anzuwenden. Ja, eine wahrhaft verkommene Seele kann sich nur dann befreien, wenn sie zum Schluss kommt, dass das Böse ihre Natur ist und es keinen Sinn hat, sich gegen diese Natur zu wehren. Sobald eine Seele sich so befreit, heißen wir sie willkommen in unseren Reihen. Nahezu nur aus solchen Seelen setzen sich unsere Führungsränge zusammen.“
Meine Augen weiten sich. Ich habe ihn durchschaut, und mehr erfahren, als ich mir jemals vorzustellen gewagt hätte. Die Hölle nutzt ein System, das dazu gedacht ist, Sünder durch schreckliche Strafe auf den Weg der Reue zu führen...um diesen Weg komplett zu pervertieren und ihre besten Gefolgsleute daraus zu ziehen. Es ist abartig. Es ist böse. Es ist...überwältigend in der schieren Bedeutung, die diese Erkenntnis hat.
Sollte dies stimmen, kann Jeder sich Höllenqualen ersparen, wenn er mit der richtigen Einstellung stirbt. So etwas wie eine pandämonische Waagschale, auf der deine guten Taten gegen deine Sünden aufgetragen werden, existiert nicht. Es geht einzig und allein darum, wie du über deine Sünden denkst – selbst der nach außen frommste Mensch kann so in der Hölle landen, wenn er felsenfest davon überzeugt ist, es zu verdienen, weil er einst eine einzelne Sünde begangen hat, die ihn nicht mehr loslässt.
Es ist die ultimative Ungerechtigkeit. Und wenn die Welt davon erfahren würde...die Hölle wäre am Ende.
Und sämtliche Religionen auch, die die Balance aus guten Taten und Sünden predigen.
Mir schwirrt der Kopf, je mehr ich über die Ramifikationen dessen, was ich gerade erfahren habe, nachdenke.
Er könnte dich immer noch von vorne bis hinten belogen haben.
Aber es ergibt so viel Sinn!
„Habe ich deinen kleinen Verstand doch überfordert, Golem? Keine Sorge; ich werde sofort direkter. Nicht jeder einzelne Dämon ist durch den Prozess des Umarmens seiner Sünden gegangen. Wir sind die Herren der Hölle; wenn wir fünfzig neue Soldaten in unserer Armee brauchen, dann nehmen wir sie uns einfach. Identitätslose Seelen, deren Sünden nicht groß genug waren, um sie an die Pfähle zu ketten, aber signifikant genug, um sie hier landen zu lassen, gibt es wie Sand am Meer – oder, besser, wie Sünder auf der Welt. Wer einmal hier unten ankommt, ist verloren. In unserer Gewalt. Wir können tun und lassen, was wir wollen – wir können zum Beispiel auch jede Seele, die es uns wert erscheint, auf ewig in Stasis halten, sie am Vergessen hindern. Oder sie hier anketten. Dreh dich um.“
Ich kann mich nicht daran hindern.
Natalya hängt an einem der Pfeiler hinter mir.
Der reinste Schreck, den ich seit Langem gespürt habe, fährt in mich und lässt mich vollkommen erstarren. Mein ganzer Körper wird eiskalt, schrumpft in sich zusammen, als würde die Feuersubstanz das Paradoxon verstehen.
Ihr Körper ist nackt, rein, unberührt von irgendwelchen Verletzungen, aber ihr Gesicht ist unendlich traurig. Sie starrt durch mich hindurch und doch in mich hinein, meine Freundin, gefangen in der Hölle.
„Ah, und die Hauptperson in diesem Drama kommt gerade zur rechten Zeit.“
Ich kann meinen Blick nicht abwenden, aber der Teil meines Bewusstseins, der noch halbwegs kohärent arbeitet, sagt mir, dass der Meister soeben mit in den Kettenkäfig getreten sein muss; die Dämonendiener des Grünen sind höchstwahrscheinlich alle tot. Darum haben die Schüsse aufgehört. Aber...das ist...völlig egal...
Irgendwie muss ich in die Knie gegangen sein, ich weiß nicht mehr, wann.
Der Meister spricht.
„Warum habe ich nur gewusst, dass du Made hier sein wirst. Golem ebenfalls diesen Anblick antun. Verdammt, es tut mir Leid, Golem. Es genügt doch, wenn einer von uns leidet.“
Er klingt so resigniert, so leer...wie ich mich fühle...aber endlich kann ich mich von Natalyas Augen losreißen, die in diesem Moment vermutlich auch in des Meisters Seele starren, und ihn voll Bedauern ansehen, weil ich verstehe.
„Er hat dir sie gezeigt...und dich so dazu gezwungen, die Seelen in Ruhe zu lassen.“
Der Meister nickt, meinen Blick vermeidend.
„Ja. Das Schlimme ist, Golem, dass alle Einwände, die dir sicher auch gerade durch den Kopf gehen, mir genauso gekommen sind. Nichts beweist uns, dass das hier Natalyas echte Seele ist. Sie hat kein Wort gesprochen bisher, mich nur angesehen...mit diesem Blick, den ich nie auf ihrem wunderschönen Gesicht sehen wollte. Er könnte uns nach Strich und Faden belügen. Ausnutzen, dass die Liebe mich immer noch blendet.“
Das...war mir im ersten Augenblick gar nicht gekommen. Natürlich! Wer sagt, dass das hier wirklich Natalya ist?
Die gurgelnde Stimme des Leichenspuckers, der mehr ist, als er zunächst schien, ertönt wieder.
„Aber gleichzeitig kannst du dir nicht sicher sein, General. Du wirst es nie wissen. Und jede Seele, die du freisetzt, könnte im letzten Moment, nachdem es zu spät für dich ist, die Spitze deines Dolches abzuwenden, das Gesicht deiner Geliebten bekommen. Dann hättest du sie endgültig getötet.“
Der mich immer noch mit eisiger Faust packende Schock löst sich etwas in aufkochender Wut.
„Du verdammter Bastard nimmst ihre Seele als Geisel für all die, welche völlig grundlos leiden, und irgendwann unvermeidlich in eurer höllischen Armee landen werden...wenn sie nicht für immer weiter leiden wollen!“
Der Meister ist zu mir getreten und legt mir die Hand auf die Schulter.
„In der Tat, Golem. Doch selbst das wäre noch nicht genug gewesen, um mich innehalten zu lassen, um dir gerade fast den Befehl aufzuzwingen, der dir ewige Gewissenspein verursacht hätte.“
„...nicht?“
Er schüttelt den Kopf.
„Ich liebe Natalya über Alles, aber das heißt auch, dass ich sie nie als Geisel in den Händen dieser Monster lassen würde. Ich weiß, dass sie lieber sterben würde, als gegen mich benutzt zu werden. Aber...wenn wir schon dabei sind, verrate doch dein kleines Geheimnis auch Golem.“
Wieder das grollende Lachen aus dem tiefen Schlund des Dämons.
„Dein Meister ist darauf aus, Diablo zu vernichten. Er könnte es sogar schaffen – oder beim Versuch scheitern. So oder so ist er wertvoll für uns. Er könnte es zu viel bringen, als ein General...der Hölle...auch in eine Position, wo ihm ebenfalls Macht über die Seelen der Hölle übertragen wird.“
Endgültig ersetzt mein Zorn den Schock und die Trauer.
„Du baumelst die Chance, dass er Natalya als seine persönliche Seelensklavin wieder erschaffen könnte, über seinem Kopf? Gekoppelt an die Bedingung, dass er euch dient...wo habe ich so etwas Ähnliches schon gehört?“
„Dein Meister ist wohl beliebt, Golem! Ich weiß auch von den Bemühungen meines Rivalen...welche wieder und wieder scheiterten. Ich hingegen benötige keine rohe Gewalt, um mein Ziel zu erreichen. Du wirst freiwillig zu mir kommen, General, mich anbetteln, deine Freundin wiederhaben zu dürfen!“
Sein Rivale...
Natürlich!
„Du bist der Andere, vor dem Izual uns gewarnt hat!“
Das scheint den Dämon tatsächlich kurz zu verwirren...aber bevor er etwas dazu sagen kann, hat der Meister meine Schulter fester gedrückt. Ich sehe ihn an, um festzustellen, dass ein freudloses Lächeln auf seinem Gesicht erschienen ist.
„Golem, wie wichtig ist dir denn Natalya?“
Ich sehe ihm direkt in die Augen; jetzt hat er keine Angst mehr vor meinem Blick, wie es scheint.
„Sehr. Sie war eine echte Freundin in einer Zeit, als ich wirklich eine gebraucht habe. Aber...niemals so wichtig, dass ich ihren endgültigen Tod nicht akzeptieren könnte, um die Welt zu retten.“
„Dachte mir schon, dass du so denkst...“
Ein Skelett ist neben ihm aufgetaucht. Er greift sich den Schwertarm des Skeletts, und mit einem Klicken, das nicht direkt nach brechenden Knochen klingt, löst sich der Gebeinsäbel von der Hand des Kriegers. Er betrachtet die Waffe.
„Bis vorhin war es prinzipiell nur eine Entscheidung zwischen mir und Natalya. War ich bereit, meine eigene Verdammnis zu riskieren, um mir die Chance zu erhalten, sie zu retten? Ich bilde mir ein, dass ich fähig wäre, Diablo zu töten, seine Macht zu stehlen, wie auch immer – dieser hier und der Rote haben so etwas Ähnliches ja durchaus in Aussicht gestellt – und so Natalya zu retten, ja, wiederzubeleben, ohne mich selbst dabei zu verlieren.“
Die schiere Überheblichkeit in seinen Worten jagt mir kalte Schauer über den Rücken.
„Das kann nicht dein Ernst sein.“
„Es ist ein wenig sehr arrogant, ich weiß. Aber ich kann Nichts gegen die Gedanken tun, die mein Ego mir schickt. Aber das ist irrelevant, weißt du? Du warst vorhin bereit, so unglaubliche Schmerzen auf dich zu nehmen, nur um diese Seelen zu retten...und du wusstest noch nicht einmal, dass sie eigentlich nur Zuchtfarmen für Höllenoffiziere sind. Das hat mir gezeigt, dass es eigentlich nicht um mich oder Natalya geht in der dieser Seelensache...“
Er entfernt sich. Was hat er vor?
Blick auf den Grünen – egal, was der Meister vorhat, er ist gefährlich und du wirst ihn nicht aus den Augen lassen!
Ich muss dem Zweiten widerstrebend zustimmen.
„...sondern um Natalya oder dich.“
Er holt tief Luft.
„Und ich habe meine Entscheidung, wie gesagt, getroffen.“
Das mir nur allzu bekannte Geräusch von Fleisch, das von einer Klinge durchdrungen wird, ertönt.
Jede Warnung des Zweiten ignorierend fahre ich herum.
Der Knochensäbel steckt in Natalyas Brust. Der Meister hat eine Hand vor seine Augen gepresst und schluchzt.
„So muss ich eben hoffen...dass das wirklich nur...eine billige Kopie war...“
Augen! Nach! Vorne!
Völlig abgelenkt durch meine Unfähigkeit, mir klarzuwerden, was ich eigentlich gerade denken soll, gebe ich dem Zweiten einfach die Kontrolle. Er dreht unseren Körper herum...gerade rechtzeitig, dass wir sehen, wie der Grüne heranstürmt, schneller, als man es von einer überdimensionierten Schnecke erwarten könnte. Ich mache mich bereit...
Er rennt geradezu in eine Wand aus Schwertern, als Skelette von überall her ihn abblocken. Blitzschnell hat der Meister sie über die Ketten und durch sie hindurch klettern lassen, deutlich rascher, als der dicke Dämon sich dann doch bewegen kann, besondere Kräfte hin oder her. Die Krieger hacken einige Zeit auf den Fleischberg ein; er zertrümmert ein paar, aber hat keine Chance.
Mit Tränen im Gesicht tritt der Meister neben mich.
„Dein Angebot ist abgelehnt, genauso wie das deines Kollegen!“
Noch lebt er, was wohl auch die Intention des Meisters war.
„Narr...ich werde wiederkommen. Ich werde dich brechen. Was denkst du, wen du vor dir hast? Dann töte ich dich eben! Deine Qual wird ohne Gleichen sein, und du wirst deine Freundin niemals wieder sehen!“
„Ich habe beschlossen, dir nicht zu glauben, Fettsack. Natalya lebt noch. Wie soll sie überhaupt gestorben sein, hm? So leicht kriegt sie kein Monster klein. Warum sollte sie hier gelandet sein? Meine Hoffnung stirbt zuletzt, und sicher nach dir!“
„Du bist ohnehin verdammt! Dein eigenes Gewissen verurteilt dich schon jetzt, ich kann es spüren...du glaubst, dass du die Höllenqualen verdienst, tief drin. Wenn du stirbst, wirst du in der Falle deiner eigenen Gedanken enden, und dann gehörst du ganz und gar uns!“
„Mein Gewissen fühlt sich ganz gut an. Aber weißt du was? Egal, was mit mir passiert – Genugtuung wirst du so oder so nicht daraus ziehen können.“
Zwei Wächter packen den aufgedunsenen Kopf des Dämons. Und der Meister zückt das Jade-Tan-Do.
„Willkommen im Vergessen, du Bastard. Kannst deinem Kollegen Hallo von mir sagen.“
Damit rammt er den Dolch dorthin, wo ich an seiner Stelle auch das Gehirn der Kreatur vermuten würde. Ein gewaltiger Schrei entrinnt dem mächtigen Schlund, die Einstichstelle der gewellten Waffe beginnt giftgrün zu glühen, wie sie es auch schon bei dem roten Ritter tat.
Seine Seele wehrt sich dagegen, aufgesaugt zu werden!
Das muss es sein! Aber sobald das Gift seinen Körper wegfrisst, wird sie hilflos sein...
Leichenspucker sind giftimmun.
Na dann...
Ich knie mich vor den an unzähligen Stellen aufgeschlitzten Leib des Dämons.
„Gib deinen Geist endlich auf!“
Mit voller Konzentration auf so heiliges Feuer wie möglich jage ich eine Stichflamme komplett durch ihn durch.
Das Glühen des Jade-Tan-Dos vergeht. Ich starre auf die Einstichstelle.
„Hat es die Seele?“
Der Meister zuckt mit den Schultern.
„Ich hoffe doch sehr...dieser hier war ja zu blöd, sich rechtzeitig zu sprengen.“
„In der Tat, das war er!“
Wir beide richten uns auf, als eine bekannte Stimme spricht.
„Das gibts doch wohl nicht.“
Auf einem Stein außerhalb der Ketten sitzt der rote Ritter, ein Bein über das andere geschlagen. Aber...er wirkt nicht komplett. Sein Körper ist halb durchscheinend. Ein Geist...in der Hölle?
Dennoch klatscht er, trotz der Knochenhände ein überzeugendes Geräusch.
„Ihr seid diesen unfähigen Idioten mit Bravour losgeworden, General. Man kann Euch nur gratulieren dazu, wie Ihr diese Situation gemeistert habt. Nicht weniger hätte ich auch erwartet nach den vielen Malen, wo Ihr mir gezeigt habt, wie sehr man sich doch auf Eueren Golem verlassen kann.“
„Was willst du.“
„Nicht mehr, als was ich gerade getan habe: Mein Lob und meinen Dank aussprechen. Ihr habt mir gerade mehr geholfen, als Ihr Euch jemals vorstellen könntet. Das macht mehr als nur wett, dass Ihr mich doch etwas...behindert habt mit diesem...darf ich es sagen?...teuflischen Dolch, den Ihr da führt.“
Der Meister richtet die Spitze der besagten Waffe auf ihn.
„Kannst gerne noch mehr davon haben.“
„Oh nein, oh nein, das Risiko ist es mir nicht wert. Tatsächlich könnt Ihr Euch sicher sein, dass ich Euch solange Ihr in der Hölle seid nicht mehr belästigen werde. Gibt auch keinen Grund mehr dazu, da ich Niemandem mehr zuvorkommen muss! Im Gegenteil – ich wünsche Euch das Beste auf Euerer Reise.“
„Womit hab ich das denn verdient...“
„Sagte ich gerade! Der Verdienst schmort gerade vor Euch. Aber keine Sorge, ich biete nicht nur salbungsvolle Worte an, werter Gegenspieler. Ihr sucht den Abgang zum Flammenfluss, nicht wahr? Nun, haltet Euch links nach dem Ausgang aus diesem geschmacklosen Käfig, dann an einer Ruine rechts vorbei, die aussieht wie eine Kirche, mitten durch ein zerstörtes Haus, dessen hintere Wand fehlt, und von da aus immer geradeaus weiter.“
Er steht auf.
„He, warte...“
„Wie gesagt, viel Erfolg.“
Er beginnt, zu verblassen...doch da formt er sich kurz wieder, um noch einen Satz zu sagen.
„Ach und übrigens – was ihr gerade zerstört habt, war in der Tat nur ein Faksimile. Also macht Euch keine Gedanken und konzentriert Euch auf die wahre Aufgabe vor Euch.“
Damit ist er verschwunden. Ich starre den Meister an, und er mich.
„Ich habe das Gefühl, als hätte ich das gerade nicht tun sollen.“
„Was?“
„Das Stehlen der Seele...“
Er wirft einen Blick in Richtung der...scheinbaren?...Leiche von Natalya, aber nicht allzu lange.
„Bei dieser Entscheidung bin ich mir eigentlich ziemlich sicher, dass ich sie richtig getroffen habe.“
„General, ich...“
„Es ist trotzdem nicht schön, der Frau, die man liebt, einen Säbel in die Brust zu rammen. Golem...ich weiß, was du sagen willst. Aber du brauchst mir nicht danken, weil ich dir ohnehin für so viel andere Dinge danken sollte und meine Dankbarkeit nie zeige. Eigentlich sollte ich dir auch für das hier danken, und nicht du mir für meine Entscheidung. Jede andere wäre doch völliger Wahnsinn gewesen, oder?“
„Ja...“
Und dennoch läuft ihm noch eine Träne über das Gesicht, und sein Blick verliert sich.
„So oder so! Sie lebt noch, wie gesagt, ich bin mir ganz sicher. Ich weiß nicht, was ich vom Roten halten soll. Aber...wir werden seiner Wegbeschreibung folgen. Wenn sie stimmt, stimmt vielleicht auch, was er über das...Ding...da hinten gesagt hat.“
Er lächelt in die Ferne, wohin seine Augen sehen.
„Und das würde mich sehr glücklich machen.“
Ich lächle auch, aber ihn an, klopfe ihm auf die Schulter und belasse es dabei. Ist meine Hoffnung doch die gleiche wie seine. Ich denke, dass ich Natalya nicht so sehr liebe wie ihn. Aber es ist nahe dran. Mir tat all das auch sehr weh, und der Grüne hat mich ähnlich getroffen wie er ihn getroffen haben muss.
Wenn ich genauer darüber nachdenke...sicher hat er Natalya, wie bei mir, nur als letztes Druckmittel hervorgebracht. Heißt das, das der Meister wirklich auch ohne mich schon begonnen hat, Seelen zu befreien? Dass er die wahre Perversität der ewigen Folter auch schon ohne ihren schreckliche Sinn begriffen hat?
Heißt das aber auch, dass er auf dem Weg alleine, nachdem der Grüne ihn erpresst hatte, noch viele Seelen sah, die er töten wollte, aber nicht konnte, weil seine Liebe ihn hinderte?
Du denkst wieder einmal viel zu viel nach.
Möglich, aber...
Wie schuldig lässt ihn sich das fühlen?