Kapitel 22 – Die Unterschätzten
Mit Entsetzen starre ich auf das Bild vor mir. Es ist ohne Zweifel Natalya, deren neblige Klinge gerade an der Kehle des Meisters liegt, aber was hat das zu bedeuten, was ist in sie gefahren? Das wird doch nicht...nein...
Doch. Offenbar hatte ich Recht. Das Risiko war ihr zu groß, dich und damit ihn leben zu lassen. Wir haben nur eine kleine Chance, also halte dich bereit, wenn er es schafft, dann müssen wir ihn womöglich blitzschnell vor ordentlichem Blutverlust retten. Wir pressen ihm die Kehle ab, holen das Stadtportalbuch aus dem Würfel, und hoffen, dass wir nicht zu weit von Lut Gholein weg sind.
Was meinst du mit...oh...des Meisters Finger wandern ganz langsam zum Jade-Tan-Do in seinem Gürtel, das er gerade so ziehen können wird, wenn er sich verbiegt...aber ob Natalya das nicht bemerken wird?
„Bleibt weg, gerade du, Golem. Mach keinen Unfug. Wer bist du, was willst du?“
Er verzieht keine Miene! Wie schafft er es, jetzt so ruhig zu bleiben?
Nun, es ist nicht das erste Mal, dass er in tödlicher Gefahr ist, oder? Er wird im Moment nicht einmal zu Tode gefoltert. Vielleicht wird aus ihm doch noch ein kaltblütiger, überlegter und genialer Anführer...wenn er das überlebt, natürlich.
Der behelmte Kopf schießt schnell nach hinten. Die Skelette haben sich nicht gerührt, und ich hebe vorsichtshalber die Hände in Sichtweite und trete einen halben Schritt zurück...was mich in Wirklichkeit nur bereit macht, umso schneller vorzuschießen, wenn es sein muss.
„Die Skelette dorthin, wo ich sie sehen kann!“
Schnell und präzise zischen die Worte unter dem schwarzen Schädel hervor. Ich kann es immer noch nicht verstehen, dass ich mich so in Nat getäuscht haben soll...
Du weißt, wie gut sie ist im Belügen von Menschen. Du bist noch nicht einmal besonders erfahren darin, zu existieren, ist doch logisch, dass du darauf hereinfällst.
Und was ist mit dir? Du bist ihr doch auch geradezu verfallen!
Der Meister räuspert sich, und bekommt dafür die Haut von einer scharfen Klinge eingedellt. Da sehe ich es: Seine Hand zittert...die, deren Arm von Natalyas gehalten wird. Die freie linke jedoch bewegt sich ohne Hast, ohne übermäßige Regung, weiter auf das Kris zu.
„Aaah...ruhig, ruhig. Müssen wir so bleiben? Es ist unangenehm. Ich bin gerne bereit, welche Probleme auch immer Ihr mit mir haben solltet, auszuräumen, unter zivilisierten Menschen, ja? Eine Geste meines guten Willens.“
Die Skelette, die mittlerweile alle zwischen mich und den Meister und damit in Natalyas Sichtlinie getreten sind, zerfallen zu Staub. Ich verliere meine sorgsam gespannte Position. Verdammt, was treibt ihn für ein Dämon?
Das ist schlau. Sie werden Nichts nützen, und er muss sie ablenken. Du könntest dazu beitragen.
Nun, jetzt hat sie sowieso verscherzt, ich betrachte einmal gegebene Versprechungen als null und nichtig.
„Nat...“
„Mein Name ist Tees Dete. Was hast du in diesem unheiligen Dschungel zu suchen mit deiner Höllenbrut?“
Ich ersticke meine Anklage. Das gibt keinen Sinn! Warum sollte sie einen falschen Namen angeben, wenn sie eh vorhat, ihn umzubringen? Warum nach einem Grund fragen, wenn sie ihn weiß?
„Einen Moment. Golem, du wolltest was sagen?“
Verdammt, er gibt mir sogar noch eine Gelegenheit...was mache ich nun...ich wollte etwas sagen...da trifft den Meister ein Tritt in die Kniekehle, und er keucht auf.
„Dein seelenloser Diener möge schweigen. Du hast zwei Sekunden, zu antworten, bevor dein schwarzes Blut den verfluchten Boden tränken wird. Eins.“
„Na schön, na schön. Ich nenne mich den General, und bin auf dem Weg nach Travincal, um zu versuchen, Kurast von Mephistos Einfluss zu befreien...bevorzugterweise, bevor ihn seine Brüder erreichen.“
Wieder ein Tritt, diesmal ein Schmerzensschrei. Ich hätte den Mund verzogen, wenn ich könnte, und fühle schuldige Erleichterung, kein Blutband mehr mit ihm zu teilen.
„Unfug! Für wie dumm hältst du mich? Was ist dein wahrer finsterer Plan? Die nächste Lüge ist deine letzte!“
Das Gesicht des Meisters verzieht sich zu einer Grimasse...der Wut.
„Glaub mir oder nicht, aber nimm in Kauf, durch deine Vorurteile die Welt zu verdammen. Ich bin nicht automatisch böse, nur, weil ich Totenbeschwörer bin. Wenn du ohnehin planst, mich zu töten, egal, was ich sage, dann tu das jetzt. Wenn du dagegen gewillt bist, deine Fragen ehrlich beantwortet zu bekommen, dann hör auf, mich zu schlagen, und nimm das Messer von meiner Kehle. Deine Wahl. Ich gebe dir drei Sekunden, das zu tun, dann versuche ich, mich zu befreien, und werde dabei wohl sterben. Du wirst zunächst nicht wissen, was meine wirkliche Motivation ist, hier zu sein, und innerhalb kurzer Zeit wirst du am eigenen Leib erfahren, dass ich nicht gelogen habe.“
Das ist...seine Finger umschließen den Griff des Jade-Tan-Dos. Himmel! Er kann nicht Alles auf eine Karte setzen...oder will er sie nur ablenken...?
Verdammt, ich hätte nie gedacht, dass er so viel Rückgrat zeigen kann. Er stirbt als Mann, das ist besser, als wie ein Feigling zu leben.
“Nein!“
„Golem, sei still. Ich habe es satt, dass die Leute mich nicht ausstehen können, obwohl sie mich überhaupt nicht kennen. Du hast noch eine Sekunde.“
Einen Augenblick zögert Natalya, einen Augenblick, der Alles entscheiden könnte. Denn nun färben sich Knöchel um einen Griff weiß, den die Glieder schon lange als vertrauten Gefährten kennen...und reißen den Dolch aus seiner Gürtelschlaufe...gerade, als sich eine Klinge von dem Hals löst, den sie vormals küsste. Doch die Bewegung des Meisters hat die delikate Balance von Druck und Festigkeit seiner Haut zerstört...und eine feine rote Linie erscheint unter seinem Kinn. Ein Knie in den Rücken befördert ihn weg von der Assassine, er stolpert...und bleibt aufrecht, zu der Frau hinter ihm herumfahrend, die Kampfposition einnimmt.
Ein feiner Blutfaden läuft in seinen Kragen, staut sich oben auf der Haut des Vipernmagiers...färbt das dunkle Blau...ich stürze vor. Natalya macht sich bereit...
Er grinst, den Dolch hebend.
„Knapp.“
Sein Griff öffnet sich, und die Waffe klappert zu Boden.
„Halt, Golem.“
Ich schlittere zum Stillstand. Die schwarzgerüstete Figur hält inne. Der Meister setzt sich auf einen umgefallenen Baumstamm, die Hand auf die feine Wunde haltend.
„Ich stehe zu meinem Wort. Wir reden, und du kannst mich gerne weiter bedrohen, wenn dir ein unbewaffneter Mann immer noch zu gefährlich ist. Kann ich denn davon ausgehen, die nächsten Minuten zu überleben?“
Schnell tritt Natalya den Kris weit von Allen weg. Dann knurrt sie.
„Der Golem soll sich dorthin setzen. Und dann will ich deine ‚Wahrheit’ hören, wenn sie mir nicht gefällt, überlebst du genau so lange, wie deine Geschichte dauert.“
Während ich mich an die von ihr bedeutete Stelle begebe und mich hinsetze, zuckt der Meister mit den Schultern.
„Klingt doch schon viel besser. Also...“
Die nächsten Minuten liefert er einen kurzen Abriss unserer bisherigen Reise. Ich behalte die Schwärze unter den Augenhöhlen des Schädelhelmes genau im Auge, aber kein Signal dringt durch sie, nur die Blätter des Baumes dahinter sehe ich vage durch die halb transparenten Konturen des Kopfes. Ohne Regung verharrt dieser, während sich der Meister warm redet, bald mit Gesten und fast reißerisch unsere Abenteuer beschreibt, weit besser, als ich das je könnte. All das hat die Assassine doch schon von mir gehört; es wird sie aber definitiv nicht langweilen, diese neue Version, alleine deswegen, weil der Meister an genau den Stellen übertreibt, an denen ich eher bescheiden geblieben bin. Interessanterweise und völlig unpassend fühle ich mich geschmeichelt, weil er auch meine Leistungen in den Himmel hebt. Er endet mit unserer jetzigen Mission, und lässt nicht einmal die Suche nach Khalims Organen aus. Kurz bleibt Natalya still, dann schüttelt sie den Kopf.
„Außerordentlich schön ausgedacht, fast könntest du Geschichtenerzähler werden. Aber wie alle Geschichten ist diese auch nur erfunden! Du willst zwei geringere Übel getötet haben? Du, ganz allein?“
„Ich hatte kompetente Hilfe...“
Er deutet auf mich, und ich nicke ihm zu. Nat hebt die Arme.
„Was soll ich mit einem notorischen Lügner wie dir tun? Du tischst mir wilde Erzählungen auf, aber du scheinst so geradezu krankhaft naiv zu sein, so grauenhaft unschuldig, dass ich fast glauben könnte, du hättest wirklich eine weiße Weste. Wenn da nicht eines wäre...die schwarze Kunst, die du praktizierst. Nichts könnte dich besser verdammen, als mit den Überresten Toter umzugehen.“
Wieder tritt diese Wut auf sein Gesicht.
„Ich kann dir vergeben, wenn du mir nicht glaubst, weil ich es an deiner Stelle auch nicht tun würde, jedoch habe ich die Wahrheit geschworen zu sagen, und das tat ich. Unverzeihlich dagegen ist dein Verdammen meiner Kunst, ohne auch nur einen Moment die Fakten im Auge zu haben. Das waren keine Menschenknochen, die gerade zu Staub zerfallen sind, nicht einmal Knochen. Ich habe Monster getötet und ihre Kadaver verwendet. Du hast gesehen, was wir getan haben. Mein Golem hat dir geholfen, als wir dich in der Spinnenhöhle überrascht haben. Hat ein Totenbeschwörer deine Eltern getötet? Wurdest du von einem vergewaltigt? Wenn nein, dann gibt es keinen Grund für dich, mich wegen meiner Kunst zu verabscheuen. Wenn ja, dann ist mir das völlig egal, du ignorante, engstirnige Fanatikerin!“
Oh, verdammt, gar nicht gut. Was muss er jetzt austicken? Als ob er es nicht gewohnt wäre, ständig verachtet zu werden...das war dann wohl der berühmte Tropfen...jetzt fließt gleich Blut, und es wird seines sein...
Noch hat Natalya sich nicht gerührt, aber in Kürze wird sie...Moment.
Das war jetzt aber nicht sie...
„Runter...“
Nicht Nat! Sie heißt Tees!
„...Tees!“
Sofort reagiert sie auf meinen Schrei mit den Reflexen einer Tigerin. Und drei winzige Bolzen schießen durch die Stelle, an der gerade noch ihr Kopf war, um kurz vor dem Meister einzuschlagen. Ohne zu zögern springe ich auf. Argh, warum habe ich das gerade getan? Wenn die Fetische, die ich durch ihren transparenten Brustkorb vage sah, ihr die Blasrohrschüsse in den Kopf gejagt hätten, wären wir unser Problem durch sie gleich los gewesen.
Scheinbar hat deine Neugierde gesiegt; du willst auch wissen, was zur Hölle in sie gefahren ist.
Nein...nein, es ist etwas Anderes. Ich kann nicht glauben, dass sie verrückt geworden ist oder so. Sie hat einen bestimmten Grund, so zu handeln, und egal, welcher es ist – sie will uns nicht schaden. Sie ist immer noch auf unserer Seite.
Was, wie kommst du darauf?
Sie hat ohne zu zögern auf mich gehört. Wenn sie mir nicht immer noch vertrauen würde, hätte sie das nicht getan.
Oder sie lacht jetzt über deine Dummheit.
Völlig egal. Ich stürze mich in den Kampf, an ihrer Seite gegen die Dämonen. Schon fliegen erneut winzige Pfeile, die sicherlich vergiftet sind, aber die Assassine ist längst zu den Angreifern herumgewirbelt und blockt mit den Klauen Schüsse auf ihr Gesicht ab, während andere einfach von ihrer Rüstung abprallen. Genauso wie von mir. Als ich den ersten erreiche und mit nur einer Hand packe, ihn zerquetschend, rennen die anderen davon...um ersetzt zu werden durch die Nahkämpfer mit den riesigen Messern, die mit unglaublicher Geschwindigkeit heranflitzen, wie aus dem Nichts erscheinend.
Was mir egal ist. Und ihr offenbar auch. Wie ein wütender Sturm fahren wir unter die Fetische, die uns gleich einem Meer aus scharfen Klingen umspülen, doch die Wogen brechen. Rücken an Rücken stehen wir, erneut in gewohnter Pose – es ist eindeutig: Sie vertraut mir, Nichts zu tun, was sie gefährden könnte. Und gerade, als der Kampf am wildesten tobt, erreicht ein Flüstern meine Sinne.
„Es tut mir Leid, Eisenjunge...Teil des Plans, spiel mit, bitte...“
Wieder weg. Doch jetzt dämmert es mir...das wollte sie mir noch sagen, bevor mich der Wegpunkt mit sich riss, die Idee, die sie hatte, bestand offenbar genau darin, das zu tun, was sie gerade tat! Das ist doch...
...großartig. Ich hätte es nur zu schade gefunden, die letzte Gelegenheit, ihren Kampfstil zu studieren, als Gegner zu haben.
Du bist wahnsinnig, und du weißt das.
Gerade ramme ich die Köpfe zweier Fetische zusammen, da wächst vor mir eine Masse von dreien von ihnen in die Höhe, verliert Hautstücke und die strähnigen schwarzen Haare, und ein Skelett formt sich.
Da höre ich ein Fauchen, und weiß, das kann nichts Gutes bedeuten. Als mich die Wärme erreicht, bevor ich den vollen Effekt des Flammenstrahls spüren kann, ducke ich mich unter dem...Inferno heißt der Zauber?...des Schamanen hinweg. Er steht hinter und über mir, was schlecht ist, da die Feuerzunge nicht aufhört, aus seiner Maske hervorzuspringen, und sich auf mich senkt...gerade rolle ich noch zu Seite, da explodiert auch schon sein oberer Teil. Nat im Rücken zu vergessen ist eine sehr schlechte Idee. Den Tragenden ereilt ein schnelles Ende.
„Aaaaah!“
Oh, verdammt, den Schrei kenne ich nur zu gut. Was ist...
Natalya liegt am Boden, eine Hand auf das linke Auge gepresst. Hat sie...verdammt, da steht er, der kleine Fetisch mit den Blasrohr, der gerade einen Glückstreffer genau ins Schwarze erwischt hat. In hilfloser Wut stürze ich mich auf ihn zu...er rennt einfach weg. Ich krieg...
Da hebt ihn die Explosion eines toten Kameraden, über dessen Leiche er in seiner Flucht fast stolperte, hoch in die Luft, und ich sehe sofort, das hat er nicht überlebt.
Bist du wahnsinnig? Du kannst nicht, um sinnlose Rache an diesem unwichtigen Gegner zu nehmen, Nat einfach so liegen lassen!
Verdammt, dass...ich drehe mich um, und da hackt ein Paar von ihnen mit ihren überlangen Messern auf ihre Beine ein, diesmal schreit sie nicht, sie zischt nur, und schüttelt sie ab. Doch während einer hinfällt, kann der andere sich halten...und rennt über ihren Bauch blitzschnell nach oben...schneller, als ich heranstürzen kann. Den gestolperten durchbohre ich, aber der andere steht auf den Erhebungen der Brustsektion ihrer Rüstung, sein Messer für einen Stich direkt in die freie Augenhöhle hochreißend...nein! Verdammt!
Da fällt ein Schatten auf die Puppe, der sofort verschwindet, als Licht von ihr auszugehen beginnt, oranges Licht, um genau zu sein. Und bevor sein Stich trifft, fegt ihn ein zweihändig geführter Ast von der gefallenen Assassine, mit einem äußerst befriedigendem begleitenden Knirschen.
Der Meister lässt seine improvisierte Waffe fallen. Hinter mir räumen zwei Skelette und ein Magier auf. Er kniet sich neben Natalya.
„Alles in Ordnung?“
Sie stößt ihn weg, sich aufsetzend.
„Blöde Frage.“
Ihr Handschuh ist rotüberflossen, und aus der Schwärze hinter der linken Öffnung des Helms läuft die Quelle der Farbe. Ich trete heran, die Hände an ihre Schläfen legend...
„Lass mich!“
Meine Bewegung hält sich zurück. Ich wollte doch nur...da greift sie an den Gürtel, von dem ich gar nicht gemerkt hatte, dass sie ihn trägt, und holt daraus ein Fläschchen mit purpurner Flüssigkeit hervor. Oh! Ihre rechte Klaue hebt sich senkrecht, und Alles wird klar...beziehungsweise dunkel. Der Meister zuckt zurück, blind.
„He, das ist doch...“
Schnell nimmt sie den Schädelhelm ab. Ihr linkes Auge ist eine blutende Ruine, die kurzen Haare kleben verschwitzt an ihrem Kopf. Hastig stürzt sie den Regenerationstrank herunter, mit der anderen Hand den Meister umschubsend, der fluchend hinfällt, immer noch Nichts sehend. Sie verzieht das Gesicht, als sie die Flasche absetzt...und zwinkert mir mit dem linken Auge zu. Einen Handschuh abnehmend, wischt sie das Blut weg, kurz lächelnd und dann wieder alle Gesichtszüge mit der Kopfbedeckung verbergend. Gerade, als die kurz entblößten Finger auch wieder verschwinden, lichtet sich die Dunkelheit. Der Meister blinzelt, wieder auf den Beinen.
„Was sollte das jetzt?“
„Mein Gesicht ist meine Sache.“
Seine Miene verfinstert sich.
„Kein Grund, mich umzuschubsen.“
„Ein sehr guter sogar.“
Sie stößt ihm einen Finger vor die Brust. Er bleibt stocksteif stehen.
„Warum hast du mich gerettet, warum hat dein Golem mich überhaupt gewarnt?“
„Ich sehe keinen Sinn darin, ein Menschenleben an die Dämonen zu verlieren, egal, wie fehlgeleitet dieser Mensch ist.“
Die Menschen sehen mich an. Ich verschränke die Arme. Der Meister nickt.
„Dito. Also, was jetzt? Zurück zur Fragestunde? Oder bekomme ich ein ‚Danke, dass du mir das Leben gerettet hast, dafür verschwinde ich und lasse mich nicht mehr blicken’?“
Natalya legt den Kopf schief, und kurz schweigt sie. Dann schüttelt sie ihn.
„Im Gegenteil. Danke, dass du mir das Leben gerettet hast. Erlaubt mir, euch zu begleiten.“
„Was? Hab ich das gerade richtig gehört?“
Der Meister hebt eine Augenbraue...ich bleibe stumm. Hätte ich überraschter reagieren sollen, schockierter? Zu spät dafür, zu spät. Und zu groß meine...ja, was?
Freude.
Verdammt, ja. Das muss es sein. Freude, dass sie überlebt hat. Dass diese ganze verrückte Situation glimpflich ausgegangen ist.
„Ich schätze, ich muss mich erklären. Ich gehöre dem Orden der Viz-Jaq'taar an, besser bekannt als ‚Assassinen’, und wir haben uns der Aufgabe verschrieben, abtrünnige Zauberer, besonders diejenigen, die schwarze Magie benutzen, zu finden und zu töten. Kurast schien mir ein verlockender Ort für diesen Abschaum zu sein, also verbarg ich mich in der Nähe, nur darauf wartend, dass einer sich zeigen würde, gleichzeitig daran arbeitend, die Brutstätten von Dämonen auszurotten. Als ihr mich überraschtet, wusste ich nicht, mit was ich es zu tun hatte, aber nahm Hilfe gerne an. Doch ich folgte euch, und sah, was ihr wart: ein Nutzer der schwärzesten aller Künste überhaupt, der Nekromantie!“
Der Meister schnaubt, aber Natalya redet weiter.
„Eine Andere von uns hätte dich sofort getötet, aber ich bevorzuge es, Antworten vor Leichen zu stellen. Nun ist es so, dass ich in ein Dilemma geraten bin: Deine Handlungen sagen mir, dass du trotz Allem, was dagegen spricht, ein anständiger Mensch sein könntest, aber deine Lügen stellen mich wiederum vor die Frage, warum du mir verschweigst, was du wirklich vorhast hier. Ich kann dich nicht einfach laufen lassen, und ich habe keine Lust, dich im Verborgenen zu beobachten, auch, wenn das im Rahmen meiner Möglichkeiten läge. Nun denn, wenn deine Geschichte stimmt, überrasche mich und führe mich zu diesen Organen, die ihr sucht. Ich werde euch nach Kräften unterstützen, da tote Dämonen immer gute Dämonen sind.“
Ihr Gegenüber verzieht sein Gesicht.
„Wir brauchen Niemand, der uns ständig über die Schulter sieht, ob ich auch wirklich nur politisch korrekte Dinge tue, oder nicht doch heimlich Dämonen küsse, wenn gerade Niemand zusieht.“
Eine Klaue stoppt Zentimeter vor seinem Gesicht.
„Ich glaube nicht, dass du eine Wahl hast.“
Ich packe ihren Arm.
„Ich glaube doch.“
„Arm runter. Beide.“
Mein Griff lockert sich, bereit, wieder zuzugreifen, wobei ich hoffe, nicht weiter mitspielen zu müssen; immerhin will ich ja, dass sie mitkommt. Zum Glück senkt sie den ihren. Der Meister dreht ihr den Rücken zu.
Mensch, der hat ein Vertrauen in dich – oder sie, je nachdem.
„Kein Grund, wieder deine Muskeln spielen zu lassen. Im Klartext: Lass das, oder du wirst gegangen, mir völlig egal, wie oft du mit diesen Brotmessern wedelst, dann kannst du vergessen, bei uns zu bleiben. Wenn du auf den Unfug verzichten kannst, dann komm meinetwegen mit. Ich habe Nichts gegen ein wenig freiwillige Unterstützung, nicht, dass wir die brauchen würden.“
Ja! Doch Natalya scheint ihr unsympathisches Bild noch tiefer hämmern zu wollen...
„Du überschätzt dich zu sehr, kleiner Totenbeschwörer. Und unterschätzt mich.“
Er winkt über seine Schulter ab, sie nicht einmal ansehend, während er zum auf dem Boden liegenden Jade-Tan-Do geht.
„Dreh dich mal um, Tees.“
Sie tut es – und verliert tatsächlich für einen Augenblick die Selbstbeherrschung, als sie merkt, dass zwei Skelette ihre Knochensäbel nur knapp von ihrem Hals entfernt halten, die Hände bereit, ihre Schultern zu packen. Langsam schlendert der Meister zurück, den Dolch im Gürtel.
„Also, lassen wir den Unfug, wie schon gesagt. Wir sind doch keine kleinen Kinder. Keiner unterschätzt hier den Anderen, und wir können zusammenarbeiten, ohne uns ständig im Auge behalten zu müssen.“
Er streckt seine Hand aus. Sie braucht keine Pause, um sie zu schütteln.
„Abgemacht.“
Das war deutlich.
Ja, er macht mir fast ein wenig Angst so.