Kapitel 23 – Die Wahrheit übers Lügen
„Schläft er?“
„Er schläft.“
Es ist Nacht im Dschungel. Vor Kurzem hat es zu regnen begonnen, aber kaum dringt Wasser durch das Blätterdach. Nacht, dass auch mehr Regen etwas ausgemacht hätte; zwei Wächterschilde schirmen den schlafenden Körper des Totenbeschwörers, mehrere Knochenhände breiteten Blätter darüber, gruben eine Rinne, die Magier halten eine angenehme Temperatur. Und er hat sogar daran gedacht, eine Decke in den Würfel zu packen, bevor wir losgingen! Natalyas Lager wirkt dagegen weit bescheidener: Sie hat ein paar Äste abgeschnitten und, auch mit Blättern, an einem Baum einen Regenschutz gebaut. Sie ist gerade dabei, sich das Gesicht mit in ihrem Helm gesammelten Regenwasser zu waschen; ein Strom davon fließt durch eine nahe Lücke in den Baumkronen. Zwei der Flammenpyramiden flackern und zischen, als sich Tropfen darauf verirren. So ist eine gewisse Geräuschkulisse vorhanden, was in der Tat äußerst...beruhigend ist. Ich bleibe neben ihrer Hütte stehen.
„Das war also dein Plan?“
Sie nickt.
„Das war er. Ich konnte ihn dir leider nicht mehr erklären...zum Glück hat es funktioniert, mit ein wenig Improvisation. Warum bist du so schnell verschwunden?“
„Ein Wegpunktteleport reißt mich mit.“
Eine Grimasse verunziert ihr Gesicht.
„Unschön. Man sollte meinen, du hättest solche Dienerfesseln mittlerweile abgelegt.“
„Leider falsch, leider falsch. Da kann ich nicht gegen meine Natur, so wenig ich auch meine anderen Beschränkungen loswerden kann.“
Kurz betrachte ich meine verfluchte Metallhand, die, feucht, Flammen reflektiert.
„Ich stelle mir ja gerade die Frage, was dein Plan nun eigentlich genau bezweckt hat. Erklär mir doch mal den Gedanken dahinter...wenn du das nicht geheim halten möchtest.“
Ihr entfährt ein bitteres Seufzen.
„Schmerzhafte Spitze. Nein, das kann ich gut und in Ruhe erklären. Du hattest das Problem doch klar erkannt: Er wusste, dass noch Jemand, weiblich und bewaffnet, im Dschungel war. Diese Figur konnte nicht einfach verschwinden. Ich hatte ja mit dem Gedanken gespielt, meinen Tod vorzutäuschen, du würdest eine hübsche Leiche finden, wenn er gerade nicht hinsieht, Fall erledigt. Aber: Was dann? Du hattest seine Gier betont. Eine Tote in voller Kampfmontur? Hätte er sich doch nicht entgehen lassen. Klar, du hättest es hinbiegen können, du sahst nur noch Überreste, ein ganzer Haufen Fetische würde mich gerade aufessen, was auch immer. Aber du wolltest nicht lügen! So wäre Alles an dir gehangen...und noch zu viel in der Luft, was unerklärt bliebe. Also beschloß ich, das Lügen selbst zu übernehmen, und dabei deine offensichtliche Taktik fortzuführen: So nahe an der Wahrheit zu bleiben als möglich.“
Ha!
Sie hat nicht gesagt, dass das eine gute Taktik ist.
Das verschieben wir mal.
„Dann schulde ich dir wohl Dank dafür, dass du die Hauptarbeit und das ganze Risiko übernommen hast...aber warum mitkommen? Du hättest einfach unsere Aufgabe ‚glauben’ können und auf Nimmerwiedersehen verschwinden.“
Ihr nackter Finger deutet auf mich.
„Ah, da hast du falsch gedacht. Du glaubst, es wäre für mich eine Bürde, euch zu begleiten.“
Ich stutze.
„Du musst ständig deine Identität verstecken...man könnte dich in der Stadt vermissen...“
Sie winkt ab, kurz beim Ausziehen der Schuhe innehaltend.
Hilf ihr aus den Stiefeln.
Warum? Sie kommt doch zurecht.
„Mich zu verstellen bin ich gewohnt...“
Es schadet nicht, sie denken zu lassen, es hätte doch einen gewissen Effekt auf dich, wenn sie ihre Kleidung ablegt.
Während wir derweil ganz und gar unabgelenkt herausfinden können, was sie wirklich für Pläne hat, obwohl ich versprochen habe, nicht weiter nachzubohren?
„...außerdem verträgt es sich recht gut mit der Sache, über die ich nicht reden darf, wenn ich in euerer Nähe bleibe.“
...wüsste nicht, wann. Selbst wenn – wird sie so unvorsichtig, etwas von sich aus zu verraten, dann hast du nicht nachgebohrt. Sie hat ständig versucht, uns abzulenken, sogar ohne große Hoffnung auf Erfolg. Es ist nur fair, wenn wir den Spieß umdrehen. Nicht mehr als...ein Spiel.
Ich misstraue dir.
Aber du hast Recht. Es kann wirklich nicht schaden.
„Ich ignoriere den letzten Satz mal. Brauchst du Hilfe?“
Sie lächelt schelmisch.
„Oh, zu gerne.“
Ihre kräftige Wade reckt sich mir entgegen.
Und wie sie es weiter versucht. Oder einfach nur das Spiel auf ihre Weise fortsetzt, egal. Schön, dann fass ihn an der Ferse, so...das Bein sanft...
Mit Hilfe nützlicher Bilder geht es diesmal ganz einfach, auch ohne Gefühl in den Fingern. Während ich beim zweiten Fuß ansetze, bemerke ich, wie Nats Blick in die Ferne wandert.
„Dein Meister hat mich überrascht heute.“
Der zweite Stiefel löst sich.
„Positiv oder negativ?“
Stirnrunzeln.
„Nun, dass er mich überhaupt überrascht hat, war an sich schlecht. Aber ich hatte nach deiner Erzählung eigentlich einen zwar grundsätzlich guten, aber etwas naiven, gierigen und übereifrigen, unreifen Jungen erwartet, der noch gar nicht realisiert hat, in was er hier eigentlich gestolpert ist. Stattdessen lege ich meine Klinge an den Hals eines selbstsicheren, abgebrühten und mitnichten einzuschüchternden Mannes, was mein Vorhaben, ihn zu zwingen, mich mitkommen zu lassen, oder zu sterben, ein wenig ausgehebelt hat.“
Ich spreche ein Kichern aus.
„Dann hast du gegen Ende seiner und meiner Erzählung nicht aufgepasst. Seit er in Lut Gholein mit seiner Vergangenheit konfrontiert wurde – und teils recht...eindeutig...gewonnen hat – hat er sich schwer geändert. Es war brutaler, als das bei den Meisten vor sich geht, aber er ist jetzt in der Tat erwachsen geworden.“
„Mhm...“
Sie hat ihre Hose und das Hemd abgelegt und offenbar nicht vor, noch mehr auszuziehen. Das ist mir einen Kommentar wert.
„Wird dir so nicht kalt?“
Sich streckend gähnt sie.
„Ich bin es weit frischer gewohnt, und das härtet ab...wann sollst du ihn Morgen wecken?“
„Er ist gerade eingeschlafen, bevor er mir das sagen konnte. Bevor er überhaupt etwas gesagt hat, um genau zu sein.“
Die Hände hinter dem Kopf verschränkt lehnt sie sich gegen den Stamm, grinsend.
„Das ist schön. Dann bin ich sicher vor ihm wach.“
Ich nicke, mich zurückziehend.
„Schlaf gut, Nat. Ich bin froh über diese Lösung.“
„Die für uns Alle nützlichste. Kommt gut durch die Nacht, ihr beiden.“
Oh, vielen Dank!
„...doppelten Dank soll ich dir ausrichten...“
Ich lasse sie allein. Was sollte das denn jetzt?
Sie denkt auch an die Unterdrückten in uns...
Hör auf, ich weine gleich.
Hinter mir gehen die Feuerfallen aus. Der Schein der Magierhände einige Bäume weiter ist diffus genug, damit meine Nachtsicht greifen kann.
Ich entferne leise ein paar Büsche, lege sie an anderen Stellen ab, schütte an einer Stelle einen kleinen Graben auf, und klettere dann einen Baum hoch, was mit Hilfe des Schwertes kein Problem darstellt. Von hier oben sehe ich genug...da liegt der Meister, da hinten Nat...hm...ist das die Mühe wert...gut, ich habe Nichts außer Zeit.
Endlich.
Also klettere ich wieder hinunter, einen anderen Baum hoch, schneide ein paar Äste ab und kann so klar sehen. Es dauert, bis ich das geschafft habe, und ich falle öfter fast hinunter, aber meine Dornen halten mich stets fest an das Holz genagelt.
Dann bin ich mir sicher, dass mir keine Bewegung entgeht, und ich überblicke auch beide Lager. Es gibt nur noch einen Weg, auf dem man hereinkommt auf jeder Seite, jederzeit kann ich reagieren durch einen schnellen Sprung.
So. Jetzt reden wir. Du glaubst, nur durch komplette Täuschung kann man eine Lüge aufrecht erhalten. Ich dagegen bin der festen Überzeugung, nur mit fast absolut korrekter Wiedergabe der Fakten ist eine falsche Geschichte länger haltbar.
Ach bitte, du willst nicht ernsthaft mit mir diskutieren jetzt.
Was machen wir sonst? Ich tu mir schwer im Däumchen Drehen.
Du könntest ja an deiner abgrundtief schlechten Wahrnehmung feilen, vielleicht trainieren, den Monstern entgegen kommen, statt auf sie zu warten, weißt schon, irgendetwas nützliches tun, statt hier herumzusitzen und mit mir zu reden.
Nein, nein, nein. Sei still. Ich habe keine Lust mehr, dauernd deine Seitenhiebe hören zu müssen, wenn ich gerade in einer schwierigen Situation bin, mir reicht es, nur deswegen unfähig zu erscheinen, weil du mich ablenkst. Wir reden jetzt über eine gemeinsame Linie, was unsere Täuschungsmanöver angeht, und dann kannst du mir später vielleicht sogar helfen, statt nur zu meckern.
Hahahaha, was bringt dich auf den Gedanken, ich würde dir helfen wollen?
Ich weiß nicht, vielleicht bin ich ja doch zu naiv für diese Welt und glaube, in deiner schwarzen Seele ließe sich noch etwas Gutes finden. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass du überraschend viel hilfreicher warst in letzter Zeit als noch vor Kurzem.
Pah, verwechsle nicht meinen eigenen Willen, den Meister dadurch in Sicherheit zu halten, dass wir ihn in Sicherheit wiegen, mit Mitleid dir gegenüber.
Du hast also auch keine Lust, mir zu erklären, wie sich meine Wahrnehmung verbessern ließe?
Nein! Schon gar nicht, wenn ich dafür erst stundenlang eine zum Scheitern auf deiner Seite verurteilte Konversation darüber, ob du lebst oder nicht und eine Seele hast oder nicht – Tip: Letzteres – ertragen müsste.
Auch, wenn ich dadurch vielleicht einen möglichen Angriff auf den Meister übersehen würde?
...schlimmer noch...auf Natalya?
Was...du wagst es, ihre Sicherheit vor die des Meisters zu stellen?
Ich wage gar Nichts. Ich beschuldige dich hier. Der Meister, der Mensch „General“ ist dir doch völlig gleichgültig, du verachtest ihn sogar. Dein einziger Grund, ihn am Leben zu erhalten ist doch, selbst am Leben zu bleiben. Nat dagegen, die bewunderst du geradezu!
Wie ich persönlich über Jemanden denke hat auf meine Prioritätensetzung absolut keinen Einfluss! Dass dich deine „Emotionen“ negativ beeinflussen – nämlich überhaupt – wissen wir ja schon.
Soso, nun wird nicht wild, weil ich deine Liebe in Frage stelle. Und sei still und lass mich ausreden. Was ist jetzt mit der Wahrnehmung? Dein Schutz, Natalyas Schutz, der des Meisters, völlig egal, hilfst du mir dabei oder nicht?
Vergiss deine Hilfe. Ich kann deine Augen weit besser benutzen als du, und das bleibt so.
Aha, schalten wir auf stur? Ich dachte, ich wäre hier der Kindische. Also, wenn du mir damit nicht hilfst, können wir gleich hier oben bleiben, weil ich mich jetzt alleine daran mache, ist mir nämlich wichtiger als da raus zu gehen und vielleicht Monster zu finden, während wahrscheinlich schon von der anderen Seite welche angreifen.
Natalya wird sich nicht nur auf dich verlassen...
Und darum bist du dir so sicher, alleine Wache zu halten, obwohl wir zu zweit sicher sicherer sehen würden?
Ach, verdammt, dann bleib eben hier. Übe, so viel du willst, aber lass mich damit in Ruhe.
Haben wir jetzt Rollen getauscht? Ich dachte, du wärst Derjenige, den ich immer anflehen muss, ruhig zu sein.
Rede meinetwegen weiter, ich bin ja nicht so unfähig wie du im Ignorieren ungewollter Sinneseindrücke.
Ich darf also reden, oh Großmütiger? Dann rede ich. Meines Erachtens ist dein Beharren darauf, nur stets die absolute Unwahrheit zu sagen, vor Allem dadurch begründet, dass du Angst davor hast, die Wahrheit zu benutzen.
Was? Das ist irre.
Erlaube mir, zu erklären. Ist es nicht so, dass du mir äußerst wenig zutraust?
Das kann ich zumindest deutlich unterstreichen.
Ergo traust du mir auch nicht zu, eine Lüge so geschickt zu spinnen, dass ihre Basis vor Allem auf Wahrheit beruht und nur durch die Manipulation dessen, was ich sage und was nicht, der falsche Eindruck beim Hörer entsteht?
So ist es. Das kann nicht funktionieren.
Interessant allerdings, dass es schon des Öfteren funktioniert hat...und ohne weiteren Fragen. Eine saubere Art der Lüge. Keine Spuren, kein Misstrauen. Und sollte sie tatsächlich mal aufgedeckt werden – du weißt von Nichts! Du hast nicht gelogen, nur gesagt, was du gesehen hast...zu schade, dass der Andere sich nur seinen Teil gedacht hat und das offenbar falsch. Aber schwierig. Oh, so schwierig. Doch halt...ich habe es geschafft, mehrmals, das durchzuziehen! Und ich bin jedes Mal gescheitert, wenn ich bewusst täuschen wollte, weil ich einfach nicht umhin kann, letztlich doch die Wahrheit zu sagen, wenn man mich direkt fragt.
Ja, weil du dumm bist.
Trugschluss. Du bist dumm, weil du das Potential meiner Taktik nicht erkennst, dieser sauberen, weißen Lügen. Es nicht erkennen willst. Meines Erachtens hat das genau einen Grund: Du traust dir so was nicht zu.
Ich soll mir etwas nicht zutrauen, das du zu können glaubst? Klar, ich traue mir auch nicht zu, völligen Unsinn zu verzapfen wie du in diesen Moment!
Ach...lass mich weiterreden. Da du bisher völlig anders über die Kunst des Lügens gedacht hast, wovon ich ja fast mein ganzes Leben lang unbefleckt blieb, überrascht dich der Erfolg meiner Methode. Und du magst es nicht, wenn ich Erfolg habe. Im Gegenteil, es macht dich krank, zu sehen, dass ich Jungspund, ich Idiot etwas besser machen könnte als du, und dann noch dazu in einem Gebiet, in dem du dich zum Meister erklärt hast. Du verlierst die Kontrolle über mich, wenn du zugeben musst, dass ich Recht habe und nicht du. Wenn du mich nicht mehr mit Informationen nach deiner Auswahl füttern kannst, und ich sie unbesehen schlucken muss, weil ich ja weiß, dass du mir stets überlegen sein wirst durch Erfahrung und allgemeines Wissen.
Du reimst dir da was zusammen.
Mag sein, ich wollte es nur mal bemerken. Damit dir eines klar ist: Ich glaube dir nicht mehr Alles, was du mir sagst. Werde ich auch nie wieder. Ich freue mich immer über einen ernst gemeinten Ratschlag, aber dass du es ernst meinst, werde ich auch in Zukunft wohl nur erkennen, wenn die Situation wirklich auch ernst ist. Ansonsten kannst du mir viel erzählen, aber ich verlasse mich dann doch lieber auf mein eigenes Urteilsvermögen. Dass du dich hier auf keine Diskussion einlassen willst, zeigt nämlich ganz eindeutig, wie sicher du dir bist, dass du sie verlieren würdest. Sonst nimmst du doch jede Gelegenheit wahr, mich verbal fertig zu machen. Deine Überlegenheit zu beweisen.
Werd nicht irrational...
Denk nur mal darüber nach. Und jetzt stör mich nicht, ich muss üben.
Also wandte ich an, was er mich unabsichtlich verraten hatte: Nur die visuellen Eindrücke auszublenden, war nicht genug. Ich musste auch sämtliche Geräusche, die ich eben nicht hören wollte, bewusst abschalten. Sonst würde eine Schärfung meiner Sinne das, was ich wirklich hören wollte, auch nur in dem Maße verstärken, wie die viel lauteren Störgeräusche verstärkt würden.
Regen plätschert herab. Er ist stärker geworden. Ich klinge hohl, als unzählige Wasserhämmer auf meinen Glockenkörper schlagen. Jedes Mal ein bisschen anders, das Geräusch. Platsch. Plitsch. Plutsch. Ich lausche. Sehen tue ich Nichts mehr, das darf er übernehmen, wenn er sich so sicher ist. Wie filtere ich die jedes Mal ein wenig anders klingenden Tropfen? Das sich ständig verändernde Rauschen des schwachen Windes? Kann ich sie unter eine...Klangkategorie einordnen?
Ich übe, und der nächtliche Dschungel wird immer leiser und leiser...bis das Wesentliche hervorbricht: Stille.
Und so sollte es sein.