Kapitel 44 – Zu spät
Schock hat mich fest im Griff. Völlig hilflos ist Natalya an den sie um einen Kopf überragenden Holzpfahl gebunden, die Hände hinter ihm zusammen fixiert, die Füße mit einer einfachen, aber effektiven Schlinge gefesselt. Grausam grinsend hängt über ihrem Haupt ein goldener seltsam geformter Schädel, verziert mit langen Federn, bemalt mit Asche und Blut. Ähnliche Bemalung hat sich kreuzende Linien auf ihrem Körper erzeugt, wilde Muster, deren Anordnung gewissen Regeln zu folgen scheint, die sich mir aber völlig entziehen. Links und Rechts von ihr schwelen Feuer über langsam brennender Holzkohle in zwei nicht zueinander passenden Metallbecken; daraus ragt jeweils ein Griff eines Metallinstruments. Und doch, mich und den fassungslosen Meister trifft der Blick zweier stolzer, ungebeugter Augen.
„Es tut mir unglaublich Leid, dass ihr in dieser Situation seid. Ich weiß, dass es schwer ist, aber vergesst mich! Schickt diese Dämonen ohne zu zögern in die Hölle!“
Natalyas Stimme reißt mich aus meiner Starre, und ich bereite mich auf einen harten Kampf vor. Wie kann sie so stark sein?
Sie ist eine großartige Frau. Aber du weißt doch bereits, was willensstarke Menschen in Extremsituationen vollbringen können.
„Das kommt noch früh genug! Was soll dieses Spektakel, ihr verfluchten Kreaturen?“
Der Gesichtsausdruck des Meisters...so etwas habe ich noch nie gesehen. Da ist purster Zorn, aber auch...unglaublicher Fokus.
Ein Mensch, den er liebt, ist in Lebensgefahr. Das ist gefährlich, sehr gefährlich. Für Endugu sowieso, aber fast mehr noch für ihn.
...ich verstehe nicht.
Du hast noch nicht gesehen, zu was verliebte Menschen fähig sind. Manchmal könnte man meinen, sie würden beim Anblick des Objektes ihrer Begierde komplett den Verstand verlieren – und wenn du es nicht verstehst, keine Sorge: Das tue ich auch nicht.
Liebe...hm.
Der Hexendoktor verbeugt sich.
„Schön, dass Ihr Euch dafür interessiert, was wir hier aufgebaut haben. Besonders, wenn man bedenkt, dass wir nur wenig Zeit dafür hatten. Ich finde, der erste Eindruck ist schon einmal gut gelungen!“
Ein Stab hebt sich in Richtung des Sprechers.
„Du hast drei Sekunden, mir eine klare Antwort zu geben, bevor ich dich zurück in die Hölle schicke.“
Plötzlich ist ein Dolch an Natalyas Kehle, die den Träger indigniert anblickt. Seine Stimme wird sehr weich.
„Na, na, na, nur keine Dummheiten, mein Freund. Immerhin habe ich hier im Moment die Oberhand.“
„Nur, so lange du ihn lässt, General! Warum beendest du es nicht jetzt und hier?“
Eine kleine Dämonenhand schlägt der Assassine an den Hals, und sie beginnt zu husten.
„Ruhe, Süße. Wo waren wir? Ach ja! Der Grund für all das hier. Eigentlich wäre es doch lustig, Euch raten zu lassen, was er sein könnte, oder? Oder? Aber denkt daran, für jede falsche Antwort muss es eine Strafe geben!“
Auf ungehörten Befehl hin klettert ein Schinder mühsam auf die Plattform und greift sich das im Kohlebecken hängende Instrument, ein glühend heißer Eisenstab. Den er wenige Zentimeter von Natalyas Bein entfernt hochhält.
Dem Meister rinnt eine Schweißperle über die Stirn.
Wir sollten uns nicht darauf einlassen! Wenn wir nach seinen Regeln spielen, können wir nur verlieren.
Was sollen wir denn dann tun? Versuchen wir Irgendetwas, tötet Endugu sofort Natalya!
Denkst du nicht, das wäre besser, als zuzusehen, wie sie da oben geröstet wird?
Aber...wir können sie doch nicht einfach sterben lassen!
Sie will es doch auch...natürlich ist das keine leichte Entscheidung! Du weißt, dass ich sie weniger nicht ausstehen kann als den Rest von euch, aber ich sehe keine Alternative.
Du willst nur über keine nachdenken!
Langsam fährt die Zunge des Meisters über seine Lippen.
„Du hast sie noch nicht getötet, weil es dir perverses Vergnügen bereitet, mich dadurch zu quälen, dass du sie leiden lässt.“
Der Schamane überlegt kurz.
„Ein Teil des Grundes. Sagt mir innerhalb von fünf Sekunden den zweiten Teil, und sie wird nicht bestraft.“
Oh, Himmel, sag jetzt nichts Falsches...sein Blick wird hektisch.
Es ist natürlich nicht nur für den Spaß, Endugu ist dafür zu berechnend. Worum geht es ihm also? Er ist ein Planer, ein Anführer...ein wenig wie der Meister, eigentlich...
Noch eine Sekunde...er lässt sich zu lange Zeit!
Das könnte es sein!
„Du willst etwas herausfinden, was beide Menschen betrifft. Wenn du nur etwas über die Individuen wissen wolltest, könntest du sie separat foltern.“
Der Kopf des Meisters fährt zu mir herum, als meine Stimme spricht.
Keine Zeit gehabt, dir das zu erklären.
Schon gut...wenn es stimmt.
Verächtlich langsam dreht sich der Schamane zu mir um.
„Ah, Golem, mein spezieller Freund. Ist schön zu sehen, dass du deine spitze Zunge nicht verloren hast. Und Recht hast du auch noch.
Zu blöd nur, dass ich dich nicht gefragt habe, hm?“
Ein Schrei erfüllt die Lichtung, als ein glühend heißer Stab nackte Haut berührt. Gerade noch kann der Meister sich daran hindern, loszurennen, was völliger Wahnsinn gewesen wäre. Sein Blick trifft mich – und Wut liegt darin. Aber...wenn ich Nichts gesagt hätte, wäre die Zeit verstrichen und das gleiche Resultat herausgekommen!
Versuch nicht, Logik auf seine Handlungen anzuwenden. Nicht in dieser Situation. Das wird einfach nicht funktionieren.
Und das nur...wegen der Liebe? Was für eine idiotische Emotion!
Ich könnte dir nicht mehr zustimmen.
„Bringt diesen Bastard endlich um!“
Natalya muss uns zwischen zusammengebissenen Zähnen zurufen, aber sie gibt nicht auf...der Meister zittert vor ohnmächtigem Zorn.
„Du willst also etwas wissen? Schön! Lass sie gehen, und du erfährst Alles.“
Ich kann es nicht besonders gut sehen, aber der untere der Schamanenschinder verzerrt seinen zugenähten Mund relativ sicher zu einem Grinsen.
„Gehen lassen? Warum? Ich habe doch etwas erfahren. Sehr einfach, die Methode, nicht? Ein derart bescheuertes Angebot kann doch nur von Jemand kommen, der mehr für diese hübsche Assassine hier empfindet als Freundschaft. Wisst Ihr nicht, dass Liebe zwischen Kollegen meist eine ziemlich blöde Idee ist?“
Das kann der Bastard laut sagen.
Wir sollen ihm zu dieser Erkenntnis gratulieren, wenn wir ihn mit seiner eigenen Wirbelsäule erwürgen.
Bis dahin...was machen wir denn? Diese Hilflosigkeit macht mich krank!
„Das habe ich auch schon gehört. Weswegen ich es bis jetzt auch vermieden habe. Oder worauf willst du hinaus?“
...und worauf will er hinaus? Warum scheint er eigentlich noch so verhältnismäßig ruhig? Er ist nervös, aber nicht im geringsten am Verzweifeln!
Du vergisst da etwas: Er weiß nicht, dass das „Tees“ ist, die an dem Pfahl hängt. Sein Plan ist, ihn hinzuhalten, bis sie aus ihrem Versteck kommt, in dem sie offensichtlich sein muss, und den Tag rettet.
Oh Scheiße.
Und das kannst du laut sagen.
Endugu legt sein Totem als Kopfersatz schief.
„Was versucht Ihr, mir damit zu sagen? Eine Erklärung wäre schön! Ansporn benötigt?“
Der kleine Dolch setzt an Natalyas Schulter an und wandert langsam nach unten, eine rote Linie hinterlassend.
„Halt! Was soll das, du Monster? Ich habe einfach keine Ahnung, von was du redest! Sie ist überhaupt keine Kollegin von mir! Ich weiß nicht einmal, was sie hier macht!“
Für einen kurzen Augenblick hält er inne; dann beginnen die Schinder erneut unisono zu lachen. Fast fällt der Schamane auseinander. Von den anderen wiederbelebte aus dem Totenhaufen beginnen sofort, sich geradezu am Boden zu wälzen, nachdem sie ihre Lebensessenz zurückerhalten haben.
„Oh, das ist herrlich. Viel zu herrlich. Heute ist ein wunderschöner Tag, findet Ihr nicht? Ja, wirklich wunderschön. Dieses hübsche Mädchen hier, in das Ihr hoffnungslos verschossen seid, haben wir gerade erst aus einer schön geschnittenen schwarzen Rüstung geschält. Und das ist überraschend, Totenbeschwörer? Ha! Hahahahaha!“
Der angesprochene macht einen unwillkürlichen Schritt zurück.
„Das...das kann nicht sein! Ich war...mit ihr...während der Golem...“
Bedrückt trete ich näher heran und berühre ihn an der Schulter.
„Was?“
„Es stimmt, Meister. Tees ist Natalya. Es tut mir Leid.“
Sein Gesicht entgleist noch mehr.
„Du...du hast mich...auch hier angelogen...?“
Die Schinder beginnen zu klatschen, ein grausamer Rhythmus.
„Es ist meine Schuld, General! Ich habe ihn darum gebeten!“
Hilflos blickt er sie wieder an.
„Aber...warum...“
Das heiße Metall trifft eine wohlgeformte Hüfte.
„Ruhe! So unterhaltsam dies ist, wir wollen uns doch auch noch anderen Themen zuwenden, nicht? Zum Beispiel würde mich jetzt brennend interessieren, wer Ihr glaubtet, dass sie denn sei, wenn nicht Euere kleine Hure.“
„Du dreckiger, kleiner...“
Der Dolch bohrt sich zwischen Natalyas Finger – ein wenig zu nah an ihrer Hand. Sie zieht scharf Luft ein.
„Ausführlich, bitte.“
Kochend vor unterdrückter Wut beginnt der Meister, zu erzählen, wie er „Tees“ traf. Die immer mehr werdenden Schinder scheint dies köstlich zu amüsieren. Ich kann mich kaum noch still halten. Was soll das Alles? Unsere Freundin wird vor unseren Augen gefoltert, und wir können Nichts tun!
Die Schinder werden immer mehr...natürlich! Das ist es!
Was? Was ist was?
Schnapp nicht über, denk nach! Warum lässt er jetzt den Meister diese unwichtige Geschichte erzählen? Das ist doch reinste Zeitverschwendung – und warum, ist doch sonnenklar: Sieh dir den Haufen Dämonenleichen an, die Natalya getötet hat, bevor sie gefangengenommen wurde...er wird immer kleiner. Aber solange er noch da ist, wären ein paar Explosionen absolut verheerend! Endugu hat uns von Anfang an getäuscht – wir sind nicht zu spät gekommen, sondern zu früh.
Oh, verdammt, natürlich! Solange die Toten herumliegen, haben wir einen unglaublichen Vorteil...ganz abgesehen natürlich von der Tatsache, dass unsere Lieblingsassassine so oder so dem Tod geweiht ist...
Zur Hölle! Gerade deswegen sollten wir jetzt handeln, je länger sie da hängt, desto länger muss sie sich von diesem Wahnsinnigen aufschlitzen und verbrennen lassen!
Dann...dann müssen wir den Meister informieren! Aber wie?
Ich flüstere, weil ich die Stimme besser kontrollieren kann. Stups ihn vorsichtig an, und bete, dass er uns noch genug vertraut, um zuzuhören.
Oooh, das ist nicht gut...ich tue es. Der Zweite flüstert sofort, äußerst leise und natürlich ohne dabei eine Regung zu zeigen.
„Red weiter, Meister. Ich muss dir etwas sagen, aber er darf es nicht hören!“
Ganz kurz stockt sein Redefluss. Ich halte figurativ den Atem an...hat der Hexendoktor etwas bemerkt? Aber auch die nächsten Schinder täuschen gefesselte Aufmerksamkeit vor, und ich bemerke, wie teuflisch Endugu uns schon durchschaut hat; er weiß, dass der Meister sich gerne reden hört, auch in dieser Situation, und ein gutes Publikum immer zu schätzen weiß.
Da, eine zu lange Pause in der Erzählung, um normal zu sein...die nur auffällt, wenn man darauf achtet. Sofort springt der Zweite in die Bresche.
„Die Schamanen verkleinern den Leichenberg.“
Nach dem zweiten Wort redet der Meister schon weiter, aber er stolpert über einen Satz; seine Konzentration ist eindeutig auf uns gerichtet. Bald kommt wieder eine Pause. Es sind nur noch etwa zehn tote Schinder übrig, aber die Schamanen beschwören langsamer; auch sie haben offenbar nicht Mana für ewig zur Verfügung.
„...und bald sind überhaupt keine mehr zum Sprengen da!“
Die Augen des Meisters weiten sich – und um das zu verpassen, ist ein Publikum zu aufmerksam. Er redet weiter, als wäre Nichts geschehen...aber Endugu verpasst Natalya einen hässlichen Schnitt im Gesicht, der sie völlig überrascht aufschreien lässt. Die Rede verstummt.
„Was ist Euch denn gerade eingefallen, Totenbeschwörer, hm?“
Wieder rinnt eine Schweißperle die Stirn des Meisters herunter, und sein Gesicht wird bleicher, so bleich, wie ich mich fühle, aber nicht. Oh Himmel, wenn er merkt, dass wir ihm auf die Schliche gekommen sind...
„Mir ist nur soeben gekommen, wie lächerlich das Ganze hier überhaupt ist. Ist das eine Märchenstunde oder ein Verhör? Mein Angebot steht noch immer, ich sage dir Alles, was du wissen willst, aber dann lass sie jetzt frei!“
Ich blende Alles aus meiner Wahrnehmung aus außer dem Gesicht des unteren Schamanenschinders. Und da schießen dessen Augen kurz zum Leichenberg; seine winzigen Finger tippen einen seltsamen Rhythmus auf den Knöchel des Totemträgers über ihm, Alles so schnell, dass ich es fast verpasst hätte. Habe ich aber nicht. Wieder zögert Jemand zu lange, diesmal er; er überlegt, passt seinen Plan an, genauso, wie der Meister gerade improvisieren musste, wird auch Endugus nächste Aussage völlig spontan sein.
„Ah, wollen wir also die Karten auf den Tisch legen, Totenbeschwörer? Schön, schön, wir sind ja nicht zum Kaffeetrinken hier, hm? Also lassen wir die Nettigkeiten. Als mir dieses wunderbare Geschenk in die Hände gefallen ist, wusste ich sofort, dass ich damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen konnte: Erstens, wie du bereits korrekt herausgefunden hast, eine Menge Spaß haben, und zweitens, wie der Golem tatsächlich nicht richtig erraten hat, eine wichtige Frage klären: Wie um Alles in der Welt schaffst du es eigentlich, dem Einfluss des puren, konzentrierten Hasses meines Meisters in diesem Dschungel so gut zu widerstehen?“
Der Meister...lächelt. Böse.
„Das willst du wissen? Nun, mein Trick ist eigentlich ganz leicht, wenn man ihn kennt. Lass mich raten: Du willst den Einfluss Mephistos selbst abschütteln, um frei von seinen Befehlen dein eigenes Ding hier im Dschungel, fern von seiner physischen Präsenz, durchzuziehen?“
Unser Feind...sagt Nichts. Ihm streckt sich eine beringte Hand entgegen.
„Ich kann dir dabei helfen. Ich begebe mich freiwillig in deine Gefangenschaft, um dir Alles beizubringen, was du wissen musst, um Mephisto zu widerstehen. Im Gegenzug verlange ich nur, dass du diese Frau freilässt.“
„Nein!“
„Still, Weib!“
Eine Brandspur zieht sich über Natalyas Bauch, die nur noch zu Tränen fähig ist, als der Schinder unter ihr den Metallstab in den Magen schlägt. Endugu hüpft aufgeregt herum.
„Du denkst also, du hast mich durchschaut, hm? Kannst in mir lesen wie in einem schwarzen Buch? Du glaubst, es ist Macht, die mich motiviert?“
Er hebt den Dolch...und sticht ihn seiner Gefangenen in den Oberarm. Zieht ihn heraus, Blut fließt. Und erneut. Und erneut. Meine Hände ballen sich so fest zu Fäusten, dass ich Dellen in meinen Handflächen erzeuge.
Das Gesicht des Meisters verliert jede Regung. Der Schamane tanzt weiter um die gefesselte Assassine herum, immer öfter zustechend, immer mehr Blut aus nicht allzu tiefen, aber vielen Wunden vergießend.
„Falsch gedacht! Falsch gedacht! Ich bin völlig glücklich mit meiner Position! Aber neugierig, sind wir das nicht Alle? Ich will wissen, was deine Grenze ist, Totenbeschwörer! Zeig mir, wie weit ich gehen kann, bevor dein Hass auf mich die Oberhand gewinnt über die seltsame Kontrolle, die du bisher darüber hattest! Was würdest du sagen, wenn ich ihr ein Auge ausbrenne? Wenn ich teuflische Symbole in ihr Gesicht schnitze? Wenn ich sie langsam und genüsslich häute, bevor ich sie töte? Würdest du noch dabei zusehen, wenn meine Untertanen ihr Fleisch kochen und verzehren?“
Weiß glühender Hass steigt in mir auf, schon fast an die Reinheit des Gefühles erinnernd, das ich beim Zweiten gespürt hatte, als er mir sein Innerstes offenbarte. Mein Schwert fährt aus, und mit jedem Stich, der meine Freundin trifft, dröhnt ein immer lauteres Pochen in mir wieder wie der Herzschlag einer aus dem Winterschlaf erwachenden Bestie.
Schwer atmet der Mensch neben mir, und ich kann richtig sehen, wie er die Kontrolle zu verlieren beginnt. Spreng den Leichenberg, Meister! Schick diese Kreaturen zur Hölle, bevor Endugu Natalya noch mehr antun kann!
Da hält der Schamane inne. Gepeinigt hängt sein Opfer in den Seilen. Der kleine Dolch hebt sich.
„Na, Nekromant? Ist es schon so weit, dass du bereit bist, mich mit bloßen Händen zu ermorden, mein Dorf niederzubrennen, jeden meiner Untertanen einzeln zu zerquetschen? Willst du dich schon auf meinen Meister stürzen, ihn leiden lassen, stundenlang? Gib deinem Hass nach! Lass es geschehen! Ich will dich brechen sehen!“
Töte...ihn...
Ich...will...ihn...
Äußerst unangenehme Bilder füllen meinen Kopf, als der Zweite mir graphisch zeigt, was er jetzt gerne mit Endugu anstellen würde. Dessen eigene Beschreibung beginnt nicht einmal annähernd, die Grausamkeiten erahnen zu lassen, die dem Zweiten vorschweben.
Ich schrecke zurück, und mein Hass mit mir. So weit...so weit darf ich nie gehen.
Und in diesem Moment der Klarheit...bin ich fähig nachzudenken. Der Leichenberg ist immer noch nicht abgebaut. Eine Sprengung jetzt wäre immer noch verheerend für die Dämonenarmee vor uns. Warum stachelt Endugu den Meister jetzt an? Er hätte ihn doch sicher noch ein paar Minuten länger mit Belanglosigkeiten ablenken können...
...es sei denn, er ist darauf gekommen, was ich dem Meister zugeflüstert habe. Dann hätte er gewusst, dass die Hinhaltetaktik vergebens wäre, weil nach nur kurzer Zeit ihm Leichen um die Ohren geflogen wären, Natalya hin oder her. Der Meister ist vielleicht verliebt, aber nicht dumm.
Aber warum hat er dann so improvisiert, dass er ihn dazu treibt, anzugreifen? Den Hass aufsteigen zu lassen? Das ist doch...
Und da trifft mich die Erkenntnis. Was mache ich denn gerade? Ich denke nach – was ich nicht getan habe, als der Hass noch in mir aufstieg. Aber das kann nicht Alles sein, blinde Wut ist nie so blind, dass Endugu wirklich erwarten kann, dass der Meister komplett vergisst, dass er die toten Schinder sprengen kann. Es muss etwas Anderes sein...zumal der Meister ja immer noch nicht dem Hass nachgegeben hat. Es ist wirklich bewundernswert, wie er widerstehen kann, während dieser Wahnsinnige diese Dinge mit Natalya anstellt.
...wobei der Hexendoktor das doch eigentlich wissen sollte, oder? Er hat uns immerhin schon lange genug beobachtet, wie es den Anschein hat. Er hat selbst zugegeben, überrascht zu sein von der Fähigkeit des Meisters, den Hass zurückzuhalten...
Natürlich! Ja! Er baut darauf, dass der Meister sich unter Kontrolle hat, und so konzentriert versucht, nicht in ungezügelte Wut auszubrechen, dass er dabei völlig übersieht, dass die Leichen gleich verschwunden sind! Eine teuflische Zwickmühle...wenn wir jetzt angreifen, dem Hass nachgeben, gewinnt er, weil wir nicht klar denken können in diesem Zustand...und wenn wir warten, verlieren wir jede Chance, zu gewinnen. Allein dass lässt meinen Zorn auf diesen Mistkerl schon wieder wachsen...er spielt mit uns, will uns...nein. Nein! Er gewinnt nicht!
„Meister, er versucht immer noch, uns hinzuhalten! Der Leichenberg ist gleich verschwunden, wir müssen jetzt handeln! Nicht, weil wir dem Hass nachgeben, sondern weil es vernünftig ist!“
Die wutverzerrte Grimasse wird vom Gesicht meines Erschaffers gefegt und sein starrer Blick löst sich von Natalyas Qualen, zu den Schinderleichen schießend, als der Zweite meine Erkenntnis herausbrüllt.
Gut gedacht. Wirklich, gut gedacht, das muss ich zugeben. Fast hätte er mich gehabt.
Die vorher noch entgegenkommend, jetzt verlangend ausgestreckte Hand des Meisters ballt sich zu einer Faust. Mit der anderen greift er an seinen Gürtel. Endugus Gesicht wird zu einer Grimasse. Wieder hebt der obere Schinder den Dolch.
„Du verdammter Blechschädel! Ich werde deinen Meister vor deinen Augen bei lebendigem Leibe rösten! Und sei dir bewusst, dass du für ihren Tod verantwortlich bist!“
„He, Schrumpfhirn, du wolltest doch noch wissen, wie ich dem Hass widerstehen kann.“
Der Dolch hält kurz vor der Kehle der Assassine inne.
„Ja? Ja? Ich glaube nicht, dass du das noch wirst, wenn ich sie jetzt töte! Aber erzähl es mir nur!“
Weil es ihm vielleicht doch noch Zeit gibt, die letzten Leichen vernichten zu lassen...nur noch zwei liegen tot am Boden! Meister, handle!
„Tja, es ist eigentlich ganz einfach. Was du brauchst, ist Fokus. Fokus auf ein Ziel, wie beispielsweise dich. Und wenn du den hast, fallen dir auf einmal vielleicht sogar Dinge ein, die du bisher völlig vergessen hattest.“
Unwissentlich verwendet der Meister nun Endugus Taktik gegen ihn selbst, als er schon auf seinem vorletzten Wort den Angriff startet...und ein kleiner Feuerblitz sich von seiner ausgestreckten Faust löst. Kurz bin ich auch überrascht, aber dann setzt mein Gedächtnis ein: Der Ring, den Duriel uns hinterlassen hat – er hat ihn nie abgelegt, aber auch noch nie benutzt! Jetzt aber fliegt das kleine Geschoß perfekt gezielt über die kleinen Schinderköpfe hinweg...und trifft einen kreischenden Schamanen, dem es den Dolch aus der Hand fegt, bevor dieser eine bleiche Kehle öffnen kann. Klappernd fällt er vor Natalyas Füße.
Die Explosion der letzten Leiche wirft die darum gruppierten Schamanen auseinander, während gleichzeitig die Skelette nach vorne stürmen und neue Leichen erzeugen. Ich ignoriere sie komplett und stürme durch ein Meer aus für mich völlig harmlosen Messer- und Blasrohrdämonen, hektisch auf meine gefesselte Freundin zurennend...denn wenngleich die Schockwelle der Explosion nahe war, sind beide türkisberockten Schamanenschinder neben ihr auf den Beinen geblieben, ihren Körper als Polster benutzend. Weitere Donnerschläge erklingen hinter mir, aber kein Schinder um den ehemaligen Leichenberg herum ist gestorben...ein Desaster. Wir waren zu langsam. Unter meinen Beinen zerbröseln Dämonen noch und nöcher, die kleinen Püppchen sterben in Scharen, aber sie gruppieren sich um meine Schienbeine, klammern sich fest, behindern mich...ich werde wieder nicht rechtzeitig sein.
Endugu sieht mich direkt an.
„Golem, Golem...da wirst du wohl doch nicht verhindern können, was du gleich in bester Lage zu Gesicht bekommen wirst. Genieße den Anblick!“
Er wendet sich der hilflosen, aus unzähligen Wunden blutenden Assassine zu. Innerhalb von Sekunden wird sie ein Feuerstrahl verschlingen...und ich...komme...nicht...zu...ihr...
Ich weiß nicht, wer meine Stimme kontrolliert, als der Zweite und ich gemeinsam unkontrolliert aufschreien.
Da schießt Natalyas Kopf hoch, den sie in geschlagener Ergebenheit gesenkt hatte – und ein blutiges Lächeln ziert ihre Lippen.
„Überraschung, du Arschloch.“
Und über ihren Kopf zischt das Inferno ins Leere, als etwas den unteren Schinder umwirft. Unsanft landet er vor ihren Füßen...die frei sind. Zwischen ihnen klemmt der Dolch, den der Hexendoktor gerade hat fallen lassen.
„Lass nie ein scharfes Instrument in Zehenreichweite einer Person liegen, die ihre Hauptarbeit mit den Beinen macht!“
Und die Klinge dringt noch einen Zentimeter tief in das Holz der Plattform, nachdem sie Endugus Kopf aufgespießt hat. Ich zucke nach vorne...er war doch...
Nichts passiert. Das kann doch nicht bedeuten...
Der zweite Schinder mit türkisem Rock steht oben auf dem Totempfahl, den Schädel dort lockernd und abreißend. Am Boden liegt achtlos zurückgelassen der Schamanentotemschädel.
Er war...der Obere? Zum Glück ist er gerade zu sehr mit diesem Ding beschäftigt, um seinen Kollegen zu sprengen! Verdammt, wir müssen diesen Bastard kriegen und ihn zahlen lassen!
Den schweren Schädel halb jonglierend, halb tragend, brüllt der Schinderheld mich an.
„Sei verflucht, Golem! Das bedeutet Nichts! Dein Meister wird elendiglich in diesem Dschungel verrecken! Komm nur zu mir, unter die Erde, und suche nach den Überresten des edlen Khalim! Dort wirst du Nichts als Qual und endlose Pein finden!“
Er weiß, was wir suchen?
Du weißt, wie lange er uns beobachtet hat.
Wir sind unter dem Totempfahl angekommen und während ich Natalya freischneide, starre ich nach oben, meinem Feind direkt in die zugenähten Augen.
„Ich bin bereits bei dir, Endugu! Dein eigenes Ende wartet genau hier!“
„Ach so? Tut es das, hm? Dann jage mir nach und lass diese Frau im Stich! Deine Entscheidung, nicht wahr? Man sieht sich, denk an mich in deinen Alpträumen!“
Er springt hinunter, den Schädel mitnehmend. Hinterher!
Er darf nicht entkommen!
„Golem! Du weißt nicht, wie dankbar ich dir bin. Lass dieses kleine Monster nicht entkommen...oh, das ist schlecht.“
Ich fahre herum. Alle Schinder, ausnahmslos, haben sich uns zugewendet und beginnen, auf die Plattform zu strömen.
Das meinte er...wenn du ihm folgst, töten sie Natalya. Verdammt. Verdammt! Zur Hölle mit ihm!
Aber...mein Hass schwillt auf, und ich unterdrücke ihn, mühsam...nicht jetzt.
Wie ein zorniger Gott kommt der Meister näher, konstante Kataklysmen vor sich herschiebend, die Püppchen wie zerbrochenes Spielzeug in alle Richtungen schleudernd. Mein Schwert ist ein tödlicher Wächter gegen die Flut an von hinten panisch fliehenden, hier vorne fanatisch angreifenden Feinden. Immer wieder schießt der Dolch nach vorne, einen Gegner aufspießend, der durch meine Barrikade drang. Von diesen sind es nicht sehr viele, denn obwohl gleißende Wut in mir kocht, dass das Individuum, das für all das Leid, das wir im Dschungel ertragen mussten, direkt verantwortlich ist, erneut davon gekommen ist, habe ich ein klares Ziel vor Augen: Den Schutz Natalyas. Und ich versage darin nicht.
Alles eine Frage von Fokus.