Hallo
@Simon: Ich möchte vorweg zur Sicherheit feststellen, dass ich vorher nachgefragt habe, ob ich ein wenig spekulieren darf...
(Man könnte die erteilte Erlaubnis durchaus als Fehler einstufen)
Dann mal los...
Der Golem und sein Meister – Verwandtschaften zum klassischen Heldentum
Wie können sinnvoll Vermutungen über die Fortsetzung einer Geschichte angestellt werden? Der Leser ist hierbei automatisch im Nachteil, denn schon weit weisere Menschen erkannten:
„Der beste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie zu gestalten“.
Da es nicht am Leser selbst liegt, den Weg der teils liebgewonnenen, teils verabscheuten Charaktere zu gestalten, wird eine Vorhersage der Zukunft in diesem Fall immer beschränkt bleiben müssen. Doch ist der Leser nicht völlig blind, nicht ganz im Dunkeln – aus dem bereits Geschriebenen mag es im Vergleich mit anderen, klassischen Geschichten möglich sein, ein wenig mehr zu tun als nur ins Blaue hinein zu raten.
Im Folgenden wird durch eine Analyse der Vergangenheit versucht, den Verlauf der Zukunft zu interpolieren.
Ein klassisches Motiv in Sagen und Legenden ist die Reise des Helden. Der Held verlässt seine Heimat zu Beginn der Geschichte, tritt eine Reise an, die ihn an die Grenzen seiner Belastbarkeit führt, und kehrt schlussendlich in seine Heimat zurück, wenn seine Aufgabe vollbracht ist. Aber wer ist überhaupt der Held? Kann ein Totenbeschwörer, ein Nekromant, eine klassische böse Rolle, hier in die Rolle eines Helden schlüpfen? Nun, offensichtlich kann er das.
Der Aufbruch des Generals bleibt für den Leser direkt verborgen, da sein treuer Diener, sein Golem, gewissermaßen das Auge des Lesers, erst in der Fremde erschaffen wird. Doch ist durch das Zwischenspiel im zweiten Akt zu erahnen, wie der Aufbruch ausgesehen hat. Kein triumphaler Auszug, um die Welt zu retten – nein, die Assoziation lautet eher „Gossenkind“ und nicht „Prinzensohn“. Dann die Reise, speziell der Weg durch den ersten Akt. Nicht nur rein psychisch, sondern durchaus physisch manifestieren sich hier die Dämonen, die der General zu überwinden hat. Doch ist dies alles nur ein Vorspiel, ein Luftholen quasi, vor den größeren Prüfungen, die noch vor ihm stehen. Das Abenteuer ruft den Helden – hier schreit es eher, schreit aus tausend Kehlen, teils verzweifelt von Menschenseite, teils höhnisch aus Dämonenmündern, doch das Ergebnis ist das Gleiche. Bis zur Nasenspitze stecken der General und sein anfangs tönerner, hinterher gar stählerner Gefährte in einem Abenteuer, ob sie es wollen oder nicht.
Die Grenze der Belastbarkeit – sie ist sicherlich dann erreicht, als Kashya stirbt. Spätestens mit ihr stirbt auch die Unschuld des Generals, ein klassischer Teil der Heldenreise. Er muss erwachsen werden, um sich den Gefahren stellen zu können, um überhaupt hoffen zu dürfen, sie zu überwinden. Da ist kein Platz mehr für Unschuld und Unwissenheit, welche die Kindheit auszeichnen.
Kashyas Tod erfüllt jedoch noch einen anderen Zweck. Jeder Held muss sich, gerade zu Beginn, Schwellenwächtern entgegenstellen, die ihn von seinem Ziel abhalten wollen. Und durch ihre tödliche Macht, die der Tod der Freundin unterstreicht, wird Andariel zu einem wahrhaft fürchterlichen Schwellenwächter. Schafft der General es trotzdem, sie zu überwinden? Ja, es gelingt ihm, die Dämonin wird geschlagen. Doch ganz ohne Hilfe würde sein Weg trotzdem ein abruptes Ende finden. Hier ist es jedoch nicht ein Waldgeist oder ein Zauberer, der rettend eingreift und die Wunden des Generals verbindet (sowohl physischer als auch psychischer Natur), sondern der Golem, wiedergeboren aus dem Blut seines Meisters. Ein Blutsbruder, wörtlich, der hier die notwendige Hilfe leistet. Doch reduziert sich die Rolle des Golems, des eigentlichen Erzählers, bei weitem nicht nur darauf.
Der Schwellenwächter ist geschlagen, die Reise geht weiter. Ein Besuch in der alten Heimat reißt Wunden wieder auf, zwingt den Helden, sich den Dämonen seiner Vergangenheit zu stellen. Auftritt einer Art Mutterrolle, ein Hauch Geborgenheit – doch trügt dieser Eindruck, denn Tod, ja sogar Mord gibt es auch hier. Einmal mehr hilft der Golem, der treue Freund, drängt die Dunkelheit zurück.
Typisch für die klassischen Heldensagen sind weiterhin der weise Helfer und das magische Schwert. Deckard Cain unterstützt den Helden mit seinem Wissen, begleitet ihn nach seiner Rettung auf dessen Reise. Zwar weniger mächtig als Merlin oder seine Verwandten, aber dennoch eine verlässliche Stütze, so erscheint der letzte Sohn der Horadrim. Eigentlich ist seine relative Ohnmacht ein Segen – wäre er mächtiger, so stände er der Entwicklung des Helden im Wege und wäre, aus klassischer Sicht, allein dadurch zwangsweise dem Tode geweiht.
Interessanterweise übernimmt Tyrael hier den fehlenden Teil der Rolle. Zwar beinahe als Antagonist gezeichnet, in seiner Ablehnung des Golems, in seinem Stolz, ist er dennoch auf der Seite des Guten. Sein Versuch, die Befreiung des Bösen zu verhindern, scheitert, ‚die Macht, die ihn an diese Welt bindet, schwindet rapide’. Doch so muss es sein, der Held darf sich nicht nur auf übermächtige Hilfe von außen verlassen können.
Mächtige Hilfe von außen ist jedoch gestattet. Was wäre Artus ohne Excalibur? Ein Schwert ist selbst unter den Klassikern noch ein Klassiker, wenn es um Helden geht. Ein magisches Amulett – viel zu langweilig. Ein Ring? Symbolträchtig und mitunter sehr gefährlich, man vergleiche nur neuere Mythen – doch ein Schwert ist aktiver, verlangt Einsatz und aktive Entscheidung. Mordwaffe oder Mittel zur Verteidigung, Drohgebärde oder passive Abschreckung – ein Schwert kann viel sein, und manchmal alles gleichzeitig. Der General bekommt einen Dolch, das Jade-Tan-Do. So wie der General als Totenbeschwörer nicht dem typischen Erscheinungsbild des Helden entspricht, entspricht der kleine Dolch nicht dem Bild eines Zauberschwertes. Doch wie so oft trügt der Schein, eine große Macht wohnt in der kleinen Klinge.
Woher kommt der Dolch? Ist es gar der Dolch seines Vaters? Wieder scheint ein moderner Mythos zu grüßen.
Die Reise nimmt ihren Lauf. Der Drache, das Monstrum, hier in Gestalt einer sadistischen Made, wird überwunden – doch noch weit schlimmere Monster werden folgen. Duriel ist körperlich stark, jedoch zu sehr von sich überzeugt, übersieht eine winzige Gefahr, und wird daher doch überwunden. Die weiteren Übel werden von komplexerer Natur sein – die Wellen des Hasses, denen der General und sein Golem in Kurast ausgeliefert sind, scheinen nur ein schwacher Vorbote zu sein.
Neben dem Helden an sich sind auch die Gefährten des Helden ein Bestandteil der Heldensagen. Ob sie nun stets an seiner Seite kämpfen, wie der Golem, oder sich mehr oder weniger freiwillig opfern, um dem Helden ein Fortschreiten zu ermöglichen. Der Golem ist jedoch viel zu komplex, um auf eine Teilrolle reduziert zu werden – er ist weit mehr als nur ein Helfer, der hier und da einen Schinder zerdrückt, weit mehr als nur der ‚Watson’, dem ein kluger Plan erklärt werden muss, auf dass auch der Leser ihn verstehe. Fast mehr noch als der General selbst hat der Golem seine eigene Reise, seine eigenen Prüfungen. Personifiziert im Zweiten ist da immer seine dunkle Seite, immer sind da die eigenen Zweifel und Ängste. Gleichwohl wächst er ein ums andere Mal über sich hinaus.
Fast drängt sich hier ein Vergleich zu Pinocchio auf. Auf seiner Reise wird der Golem mehr als nur die Summe aus Lehm, Blut und Eisen, die er rein physisch jeweils dargestellt hat. Er schließt Freundschaften, versucht sich an Intrigen – und wünscht sich, das Wunder der Liebe zu verstehen.
Die Liebe – noch ein Klassiker. Die Befreiung eine Prinzessin, die Rettung der Jungfrau, viele Legenden bedienen sich dieses Motivs. Leicht abgewandelt, eine emanzipierte Prinzessin, da selbst Kriegerin beziehungsweise Assassine – Natalya. Und auch das Labyrinth hat einen Auftritt, statt Steinmauern mit dem Minotaurus in der Mitte ist es nun der Wald an sich, der sich den Helden entgegenstellt. Die Prinzessin wird gerettet, das Vordringen des Hasses in der Zuflucht der Docks gestoppt. Zumindest vorerst.
Was wird also die Zukunft für den General und seinen Golem bringen? Vielleicht ein Fall des Helden, Versuchung, der scheinbare Sieg der dunklen Seite?
Zuzutrauen ist gerade Mephisto in dieser Beziehung vieles. Doch kann der General zuversichtlich in die Prüfung gehen, denn er hat seinen treuen Golem, und dieser hat, wenn auch teilweise widerwillig, die Hilfe des Zweiten.
Interessant übrigens, welchen Wandel diese Gestalt hinter sich hat – oder welche Verstrickungen überhaupt im Vorfeld lagen, die den Zweiten zu dem gemacht haben, was er heute ist. Die sklavische Treue zum Meister, die völlige Ergebenheit, gepaart mit einem Hang zur Grausamkeit oder, weniger dunkel, Zynismus und Sarkasmus. Welche Rolle hat der Zweite beim Tod seines Meisters gespielt? Gibt er sich vielleicht die Schuld daran? Seine Anmerkung, er habe schon Sekunden über Tod und Leben entscheiden sehen, könnte so gedeutet werden, dass es ihm konkret auch selbst passiert ist, mit seinem vergötterten Meister. Wenn dies der Fall ist, so hat sein Charakter weit mehr Tiefe – vielleicht war er auch einst freundlich, hilfsbereit, teils gar naiv wie der Golem, der Eisenjunge, doch mag er an einer derartigen Schuld zerbrochen sein. Doch auch für ihn mag es Hoffnung geben, eben in der Gestalt des ihm am Anfang verhassten Golems, dessen Freundlichkeit auch über diese Dunkelheit triumphieren mag.
Der Golem – eine feurige Zukunft ist ihm sicher. Später vielleicht noch mehr – die Erinnerungen des Zweiten zeigen noch eine fünfte Golemform, eine Kombination, die er als Endform annehmen mag. Wird es sein Schicksal sein, sich als treuer Gefährte des Helden zu opfern, für den finalen Sieg über die Übel? Denn einen Triumph der Helden am Ende muss es geben, sonst ist die ganze klassische Heldenreise ad absurdum geführt. Zu wünschen ist dies nicht, viel zu liebenswert ist der kleine, große Kerl, der schon so viel mitgemacht hat.
Was geschieht mit Natalya? Sie als eisumgebene Leiche auf dem Gipfel des Arreat enden zu lassen, in Kombination mit einem vorherigen Heldentod, in den Armen ihres Geliebten – zu stumpf, zu einfach. Die klassischen Mythen erlauben ein glückliches Ende für Paare, die sich einem schweren Schicksal stellen müssen. Es möge auch dem General und Natalya gegönnt sein.
Ganz am Ende, dem Muster der Heldenreise treu, quasi als würdiger Abschluss, soll noch die Rückkehr in die Heimat des Helden stehen. Ein gewisses Maß an Aussöhnung mit der Vergangenheit ist im zweiten Akt erfolgt, so dass man vielleicht darauf verzichten kann – doch wäre es dennoch wünschenswert.
So hoffe ich persönlich, dass das Ende der Geschichte in etwa folgende Form haben wird:
Kapitel 1701 – Epilog, zehn Jahre später
Geschrei ertönt, lautes, fröhliches Geschrei. Ich stelle das Buch, in dem ich die letzten Stunden gelesen habe, wieder in das Regal – die Finger, halb Ton, halb Blut, überraschen mich immer noch durch ihre Feinfühligkeit. Nicht mehr kalte Eisengestalt, auch nicht brennendes Feuer; ich habe wieder fast die Gestalt, die ich bei unserem ersten Besuch in Lut Gholein hatte. Nur etwas widerstandsfähiger.
Und das ist auch gut so. Die Kinder würden uns sonst in Einzelteile zerlegen.
Ach, hör auf, du magst sie doch ebenso wie ich.
Als würde ich das jemals zugeben.
Ich verlasse das Gebäude und trete ins Sonnenlicht, um nach dem Rechten zu sehen. Doch die zwei Kinder des Meisters und Natalyas sind wohlauf; sie toben und lachen, spielen mit ihrer jungen Katzenfreundin. Soll ich sie zur Ruhe mahnen? Der Meister hat sich recht klar ausgedrückt, er und seine Frau möchten ungestört sein.
Es war kein direkter Befehl. Lass sie lärmen, zwei von dieser Sorte reichen eindeutig.
Du kannst morgen Vormittag machen, was du willst – nachmittags bestimme ich, was wir tun, und jetzt erfüllen wir den Wunsch des Meisters.
Doch die Mühe kann ich mir sparen, es ist ruhig geworden. Vor mir sitzen Sohn und Tochter, selig Kuchen mampfend – und Atma hinter ihnen, stolze Patentante, und lächelt mir zu. Neben ihr steht Cain, ebenso stolzer Patenonkel. Ich kann nicht anders, will auch nicht anders, und lächle ebenfalls.
Das war alles, was mir so auf die Schnelle dazu eingefallen ist
Seleya
Edit: *Hust* Ich habe mit voller Absicht so tief in die Kitsch-Kiste gegriffen - es hat so sehr getrieft, dass ich hinterher meine Tastatur reinigen musste
Bei der Kernaussage bleibe ich aber: Ich will ein Happy End! So! Nichts anderes!!
Und da mir diese Aussage in so kurz zu einfach war, habe ich halt ein wenig... ausführlicher begründet, dass die narrativen Gesetze von Jahrhunderten ein glückliches Ende verlangen. Heldenfahrt und so, ne?
Der Punkt "Golem als Held" ist richtig - bei Bedarf kann ich dazu wohl noch drei Seiten nachliefern
(ich bezweifle aber, dass das irgendwer lesen will...)