Tod über Kopf
Tag 1 - Kollegen
„Ralf, mach doch mal die Musik leiser.“
...
„Danke. Bist du dir sicher, dass wir hier richtig fahren?“
„Klar. Ich war schon mal in Windorf. Auf nem Konzert.“
„Super. Und, wie ist das Kaff? Hast du auch nur den Hauch einer Ahnung, warum uns die Verwaltungsdeppen herschicken?“
„Erich, du weißt, wie sinnlos es ist, in die Hirne dieser Idioten blicken zu wollen – auf jeden Fall, Windorf ist ein verschlafenes Nest, die haben ne kleine Polizeistation, nichts Großes, und ich glaub, der letzte Mord ist schon 10 Jahre her gewesen, als ich vor fünf Jahren da war!“
„Super. Klingt nach einer Woche Entspannung, die ich genauso gut in Spanien hätte verbringen können.“
Es ist ein grauer Herbsttag mit leichtem Nieselregen, als die Polizisten Ralf Landmann und Erich Auer in ihrem zivilen Wagen über die Autobahn in Richtung Windorf fahren. Nur zwei Tage zuvor hatte sich Erich noch auf seinen wohlverdienten Urlaub gefreut, als sein Vorgesetzter bei der Mordkommission ihm die Erlaubnis dafür entzog, weil Windorf zwei Spezialisten benötige. Sofort. Ralf, der Pathologe, ist noch weniger informiert als sein Kollege; beide verfluchen die Tatsache, dass sie die besten auf ihrem jeweiligen Gebiet sind, die der Landkreis zu bieten hat.
Als sie in Windorf angekommen sind, regnet es in Strömen; obwohl eigentlich wenig los sein sollte, ist der Parkplatz vor dem Polizeipräsidium voll, und sie müssen fünf Minuten entfernt ihren Wagen abstellen. Tropfend rennen sie durch die Drehtür.
„Und jetzt? Irgendeine Art von Rezeption hier oder so?“
„Ich grüße Sie, meine Herren. Tut mir Leid, dass unser Dorf Sie so ungastlich empfängt, aber es herrscht gerade ziemliches Chaos.“
Erichs Augen weiten sich, als er sieht, wer aus einer Seitentür getreten ist; die wohl schönste Polizistin, die er je gesehen hat, was nicht allzu viel heißt, aber dennoch – das überrascht ihn doch. Ein Seitenblick auf Ralf zeigt ihm, dass dieser sich entweder sehr gut unter Kontrolle hat – oder dass die Gerüchte, er sei schwul, stimmen. Seine Augen schießen zurück zu der Frau vor ihm, deren Lächeln viel bedeuten kann...ist ihr seine Reaktion etwa aufgefallen? Sie schüttelt ihm die Hand, hält sie sie länger als die von Ralf?
„Mein Name ist Kira Samor, ich kümmere mich um den Fall. Ihr
seid doch die Unterstützung, die sie uns geschickt haben?“
Erich beeilt sich, ihr zu antworten.
„Erich Auer der Name. Ja, wir sind die Spezialisten der Mordkommission. Das ist mein Kollege Ralf Landmann.“
Kira, deren Lächeln verschwunden war, lässt es wieder aufstrahlen.
„Na hervorragend! Sie sind ein wenig spät dran, ich hatte gehofft, dass Sie es sind, aber gerade, nachdem ich das Reden angefangen hatte, dachte ich mir, was ist, wenn Sie gar keine Polizisten sind, sondern nur Besucher? So ein Glück.“
Erichs aufgesetztes Grinsen wird ein wenig säuerlich; ist die Person vor ihm leicht bescheuert? Aber sie sieht verdammt gut aus, trotzdem...er spürt Ralfs Augen auf sich; er nimmt es ihm doch hoffentlich nicht übel, dass er ihn ihr vorgestellt hat...oder? Kira bricht das unangenehme Schweigen selbst wieder.
„Nun, ist ja egal...also, Männer, was wisst ihr über den Fall?“
„Nichts.“
Beide Polizisten haben fast gleichzeitig gesprochen, und Kira blickt ernüchtert.
„Aber Sie werden uns sicher gleich aufklären, Frau Samor?“
Erich grinst sie an, und sie schrumpft ein wenig zusammen – hat er es übertrieben mit seiner Hilfestellung? Diese unschuldige Dorfpolizistin...ein wenig doof...ach, er sollte leichtes Spiel mit ihr haben. Die Vorstellung lässt ihn ein wenig dämlich grinsen. Kira nickt hastig.
„Natürlich, natürlich...kommen Sie mit...man muss es gesehen haben, um es zu verstehen.“
Sie lässt die beiden stehen und drängt nach draußen; als sie merkt, dass es in Strömen regnet, rennt sie wieder zurück, in das Zimmer, aus dem sie kam, und kommt gleich wieder mit einem Schirm heraus. Erich und Ralf tauschen einen vielsagenden Blick.
„Kommt schon – ihr seid doch nicht aus Zuuucker!“
Und so folgen die beiden Spezialisten der Mordkommission Kira Samor, die mit ihrem Regenschirm vorangeht und kein einziges Mal zurückblickt, und sind schon nach zwei Minuten völlig durchnässt.
Der Steg, der auf die Insel führt, ist glitschig, und als Erich ausrutscht, kann er sich gerade noch einen Fluch zurückhalten; Ralf hilft ihm kommentarlos auf und erhält dafür keinen Dank. Wieder bemerkt Erich aus den Augenwinkeln seinen irritierten Blick; was soll das? Ralf kann sich doch um seinen eigenen Kram kümmern, und von einer Schwuchtel will er sich sicher nicht anfassen lassen. Oder von Jemand, der vielleicht auch was von Kira will. So oder so, warum mussten sie ihm diesen Typen mitschicken?
Das feuchte Gras platscht unter den Füßen der Ermittler, als sie unter Bäumen hindurchtrotten, die keinerlei Schutz vor dem Regen bieten und selbst noch mehr dicke Tropfen zusteuern; Erich fasst einen Entschluss: Wenn seine Chefs ihn hierher geschickt haben, um irgendeinen Hühnerdiebstahl in diesem
Bauerndorf zu untersuchen, dann wird er Irgendjemand umbringen. Vielleicht als erstes Ralf, der viel zu zufrieden aussieht – weil Kira vor ihnen läuft?
Mit Schirm?
„Hören Sie, Fräulein Samor, ist es noch weit? Wie groß ist diese Insel überhaupt?“
Sie kichert, aber bleibt nicht einmal stehen.
„Ach, Herr Auer, seien Sie doch kein Baby. Wir sind gleich da, und Sie können sicher nicht behaupten, dass es sich nicht gelohnt hat, herzukommen.“
Erich murmelt halblaut Verwünschungen und starrt auf den Boden, dahintrottend...bis er merkt, dass nur noch seine Füße auf dem Untergrund dahinplatschen.
„Was ist? Ralf! Steh nicht so rum, je schneller wir da sind, desto früher kann ich nen warmen Kaffee trinken.“
„Erich, wir
sind da...“
Erichs Blick schießt zu Ralf, der mit offenem Mund in die Höhe starrt; sofort dreht sich Erich um, und sieht Kira unter ihrem Schirm stehen, ihn ansehend und ein schiefes Grinsen im Gesicht habend.
Und neben ihrem Kopf hängt ein Totenschädel. Halt, zwei. Drei! Erich schreit auf und tritt einen Schritt zurück. Die leeren Augenhöhlen wenden sich ihm zu, als sich der Schädel dreht...ein wenig Wasser schwappt heraus...er muss gegen einen Brechreiz ankämpfen.
Die Schädel sind noch am Rest der menschlichen Skelette befestigt, und diese hängen mit ihnen nach unten, an den Knöcheln aufgeknüpft, von den Ästen eines alten Baumes herunter. Im eisigen Wind schwanken sie hin und her, zwei so nah aneinander, dass sie immer wieder gegen das andere stoßen und das Rauschen des Regens durch ein unregelmäßiges Klappern untermalen.
Kiras Grinsen wankt keinen Millimeter, und Erich bemerkt, wie dumm er dasteht; das kann er sich nicht erlauben! Solange Ralf wenigstens genauso entsetzt ist wie er...
„Das ist...interessant, Fräulein Samor...die Knorpel sind noch zwischen den Knochen, ja? Ich sehe keine Drähte, die die Knochen zusammen halten.“
Erich beißt die Zähne zusammen; was fällt dem Kerl ein, so ruhig zu sein? Er stählt sich und tritt näher zu Kira, unter einem der Schädel hindurchduckend, und starrt das Skelett an; zumindest tut er so, in Wirklichkeit geht sein Blick in die Ferne, er hat schon genügend Leichen gesehen, aber nie...solche...Gott! Keine Schwäche zeigen.
„Ja, die Knorpel sind noch dran.“
Ralf schluckt.
„Oh Himmel...ihr wisst, was das bedeutet, oder?“
Erich runzelt die Stirn. Das bedeutet...natürlich...nein...er weiß es doch! Er ist doch nicht dämlich! Nicht vor Kira!
„Jemand hat den Leichen Haut, Muskeln und Fettgewebe entfernt – sie sind nicht verfault, sonst hielten die Knochen nicht von selbst zusammen.“
Erich schickt ein Stoßgebet zum Himmel, dass Kira ihn gerettet hat...Kira? Mit neugefundem Respekt sieht er die Beamtin an. Sie ist vielleicht ein wenig dämlich, aber sie hat Mumm. Was für eine Frau. Und die Antwort auf Ralfs Frage...sie ist...verstörend...aber natürlich wäre er gleich selbst draufgekommen! Natürlich!
Der Kaffee ist lauwarm und schmeckt furchtbar. Erich verzieht das Gesicht, als er einen Schluck nimmt. Ralf fasst ihn gar nicht an, als er seine ersten Erkenntnisse mitteilt.
„Der Regen hat viel abgewaschen, aber ich glaube, die Skelette waren noch vor Kurzem vergraben, was nicht heißt, dass sie lange unter der Erde waren – wie wir schon festgestellt haben. Ich könnte ein Labor oder Ähnliches brauchen. Habt ihr so was?“
Kira Samor schüttelt den Kopf.
„Wir auf den Land sind sehr schlecht ausgestattet...“
„Dann müssen wir eben improvisieren. Ich denke, wir sollten die Leichen noch heute hierherbringen lassen, ihr habt sicher einen Raum, in dem wir drei Bahren stellen können, damit ich sie untersuchen kann, was eben noch übrig ist.“
Was erdreistet er sich schon wieder, das Heft in die Hand zu nehmen? Erich stellt die Kaffeetasse mit einem Klacken ab.
„Nicht heute! Ich muss noch den Tatort sichern und nach Fingerabdrücken suchen, Spuren ausfindig machen...“
Ralf runzelt die Stirn.
„Ja, Erich, das ist sozusagen deine Aufgabe hier, aber denkst du, du findest bei
dem Wetter und mitten in der Nacht groß was heraus? Du kannst soviel suchen, wie du willst, aber es ist nach Mitternacht, und
heute Abend will ich die Skelette hier haben!“
Dieser...mistige...Klugscheißer! Wenn Kira nicht hier wäre...
„Also, Männer, ihr wisst jetzt, worum es geht...warum schlafen wir nicht Alle eine Nacht darüber? Ihr habt euere Zimmer in der Pension, ja?“
Erich und Ralf schauen sich an.
„Ja“, antworten sie fast gleichzeitig.
Kira strahlt förmlich.
„Schön! Dann besprechen wir doch Morgen...äh, heute natürlich!, wie wir weiter vorgehen. Oh, es ist schön, euch Profis hierzuhaben, sonst wäre ich komplett aufgeschmissen!“
Nachdem sie sich verabschiedet haben, gehen die beiden Beamten schweigend durch die Straßen von Windorf; der Regen hat aufgehört. Als Erich gerade seine Tasche aus dem Kofferraum ihres Autos holt, spricht Ralf ihn an.
„Kira gefällt dir, was?“
Erich schlägt sich den Hinterkopf am Kofferraumdeckel an, als er zusammenzuckt.
„Ah, erschreck mich doch nicht so! Gefallen...pah...mit Kollegen fängt man Nichts an.“
Ralf zuckt mit den Achseln.
„Wenn du meinst...auf jeden Fall finde ich, du solltest deine Balzversuche aus unserer Arbeit heraushalten, ich habe keine Lust, dass die Ermittlungen durch so einen Unsinn wie Imponiergehabe beeinträchtigt werden. Und so, wie ich dich kenne, könnten deine Anmachen auch unsere Beziehungen zu den lokalen Polizeioffizieren beeinträchtigen, und das will ich gleich gar nicht.“
Ohne auf eine Antwort Erichs zu warten, stolziert Ralf davon.
Was fällt ihm ein?
Was fällt ihm ein? Was Erich von wem und wie will, ist doch seine eigene Sache! Er könnte...er würde Ralf jetzt am liebsten...
Nein. Nein, nur die Ruhe, dieser Dreckskerl bekommt schon, was er verdient. Früh genug, und es wird ihm Leid tun, Erich so gedemütigt zu haben!
Tag 2 - Blutmond
Der nächste Tag beginnt mit Arbeit, als sich die Ermittler zu einer Lagebesprechung treffen. Erich würde das nie zugeben, aber er hatte Alpträume wegen der Skelette, die sie auf der Insel gefunden haben, und so ist seine Laune noch schlechter, als sie es eh wäre, weil er schon wieder mit Ralf zusammenarbeiten muss.
„Auf der Insel ist also generell wenig Personenverkehr?“
Ja, versuch nur, sie mit deiner Fachsprache zu beeindrucken! Erich hofft, dass sein Zähneknirschen nicht auffällt. Kira nickt.
„Natürlich gibt es ein paar Spaziergänger, aber gegen Abend ist sie meist menschenleer, gerade in den Bereichen, die weiter vom Sporren entfernt sind. Nur bei besonderen Veranstaltungen ist mehr los.“
Wäre Kira nicht Kira, hätte Erich sie nun angefahren, weil man ihr scheinbar jede Information einzeln aus der Nase ziehen muss. So aber kann er stolz auf sein Geschick sein, wie er seine Stimme ruhig hält, als er genauer nachfragt, welche Veranstaltungen sie denn meint.
„Nun, jedes Jahr kommt eine Zeltlagergruppe, die sind vor einem Monat abgereist...vorher ist immer ein Konzert...nun, sonst wüsste ich gerade Nichts.“
Erich hebt eine Augenbraue.
„Vor recht kurzer Zeit die einzigen zwei Ereignisse mit einer Menge Menschen? Ralf, könnten die Leichen einen Monat alt sein?“
Der Pathologe zuckt mit den Achseln.
„Ich müsste sie mir genauer ansehen. Diese Zeltlagergruppe, das sind Kinder, oder? Es sind keine Kinderleichen, das ist sicher. Über den Daumen gepeilt, denke ich nicht, dass sie vor länger als zwei Wochen vergraben wurden. Wann sie letztlich gestorben sind, ist eine andere Frage.“
Erich runzelt die Stirn und lehnt sich zurück. So sehr er seinen Kollegen verabscheut, was er sagt, hat Hand und Fuß, und er wird jedes Bisschen dieser Informationen nutzen, um den Fall zu lösen – alleine, und dadurch gewisse auch anwesende Kolleginnen beeindrucken. Egal, ob die Hauptarbeit sein Rivale erledigt hat...dem er damit gleich noch eins auswischen kann. Ein Plan formt sich in seinem Kopf. Die andern scheinen zu glauben, er denke über den Fall nach – das hat Zeit! Und indirekt hat es ohnehin damit zu tun.
Er wartet länger, als er für diesen kurzen Gedankengang gebraucht hat, damit es wirklich den Anschein hat, er gebe sich besonders viel Mühe – dann schüttelt er demonstrativ bedauernd den Kopf.
„Nein, wir haben einfach zu wenig Informationen. Wer weiß, vielleicht sind es Konzertbesucher von außerhalb gewesen, die Jemand erst eingesperrt hat und dann nach zwei Wochen getötet? Vielleicht hat es Nichts mit den Veranstaltungen selbst zu tun?“
Kira schaut auf die Uhr.
„Ich habe gleich einen Termin, ein Bürger wollte eine Aussage machen. Möchtet ihr bei der Vernehmung dabei sein?“
Erich muss sich anstrengen, nicht das Gesicht zu verziehen. Was ist mit seinen Spekulationen? Hat sie dazu gar Nichts zu sagen?
“Liebend gern, Fräulein Samor.“
„Ach, Erich, duzen wir uns doch – die Sache ist kompliziert genug, dass wir eine Weile daran arbeiten könnten...“
Ihr Lächeln zaubert ein selbiges auf sein Gesicht, und Erich wäre komplett froh, wenn nicht ein unterdrücktes Schmunzeln auf Ralfs Mund erschiene...was den Moment für ihn ruiniert. Er schafft es, gepresst seine Zustimmung auszudrücken. Seine freudige, natürlich.
Der Mann, der ihnen bald darauf an einem Tisch gegenübersitzt, ist schon pensioniert, hat eine große Hornbrille und viele Lachfalten, jedoch ist sein Gesicht im Moment vor Sorge verzerrt.
„Als ich hörte, dass Leichen auf der Insel gefunden wurden – so etwas spricht sich im Dorf natürlich herum – musste ich sofort daran denken, was mich schon länger beschäftigt...ich habe einen...na ja, sagen wir, Bekannten im Dorf – er ist obdachlos – aber sehr nett!“
Wie verkrampft der alte Mann versucht, zu verneinen, mit einem sozial Niedergestellten befreundet zu sein, amüsiert Erich. Bloß nicht aus der geregelten, spießigen Weltordnung herausfallen, in der es zum guten Ton gehört, Menschen, die anders sind, zu hassen. So eine Einstellung stößt Erich fast so ab wie Homosexuelle. Er seufzt.
„Also, sie haben einen obdachlosen Freund, was ist mit dem?“
Der Mann wird rot.
„Kein Freund, er...kommt eben öfter vorbei...und erzählt Geschichten. Gute Geschichten! Meine Enkel freuen sich immer, und ich...lade ihn zu Essen ein. Nun, er ist...seit drei Wochen nicht mehr erschienen, ich habe ihn nicht einmal gesehen und ich mache...ja, ich mache mir Sorgen.“
Erich sieht zu Ralf, der nickt. Drei Wochen – möglich. Erich steht auf.
„Ich danke Ihnen für ihre Informationen, wir kommen auf Sie zurück, falls wir Ihre Hilfe erneut benötigen.“
Der Senior steht übermäßig schnell auf – er ist froh, dass das kurze Verhör vorbei ist. In der Tür dreht er sich noch einmal um.
„Ich hoffe, mein...Freund...ist keine...der Leichen. Hören Sie, Sie sollten sich diese alte Frau ansehen, die am Altwasser wohnt, und sich Madame Solumna nennt. Sie ist eine Hexe! Aber ich habe Nichts gesagt, ja? Auf Wiedersehen!“
Er verschwindet. Ralf wartet nur, bis er außer Hörweite ist, und explodiert dann.
„Was soll das, Erich? Ich hätte noch mehr Fragen an den Kerl gehabt! Wenn er während des Verhörs mit der alten Frau angekommen wäre, hätten wir auch zu ihr mehr gewusst! Wir hätten ihn festnageln können! Wann eine Befragung vorbei ist, ist doch ohnehin Sache der leitenden Ermittlerin zu entscheiden, und das ist Kira!“
Erich grinst schief – na, dich Stockfisch habe ich doch noch aus der Reserve getrieben, was? – und zuckt mit den Schultern.
„Komm, Ralf, was der erzählt, sind doch nur Dorfgerüchte – das könnte ich von Jedem erfahren, den ich auf der Straße frage. Was ich auch machen werde. Heute Nachmittag kümmere ich mich zuerst um den Tatort, und frage dann ein paar Anwohner.“
Ralf unterdrückt seinen Ärger, und Erichs Grinsen wird innerlich breiter. Ich mache dich fertig.
„Dann sehe ich mir derweil am besten diese Frau an, die der Kerl verdächtigt. Kira, weißt du, wo sie wohnt?“
Kira verrät ihm die Adresse, und Ralf bricht auf. Erich verabschiedet sich mit einem vielsagenden, langen Blick von seiner Kollegin und geht auf die Insel.
Es ist Abend, als Erich zurückkommt. Wie er vermutete: Die Dorfbewohner wissen Alle das Gleiche und im Grunde nichts Konkretes. Die ganze Sache war absolute Zeitverschwendung. Und Ralf, oh, wie er ihn hasst, hatte auch noch Recht damit, dass ihm die Untersuchung des Tatort überhaupt Nichts bringen würde.
Kira sitzt am Computer und tippt ziemlich lustlos vor sich hin. Sie ist allein...das ist Erichs Chance.
„Kira, du siehst sehr gelangweilt aus...“
Sie lächelt unsicher.
„Ja, der Papierkram wieder...“
Erich tritt näher an sie heran und setzt sich auf ihren Schreibtisch.
„Ich könnte mir Spannenderes vorstellen als das, du nicht?“
Sie grinst.
„Ich verstehe, was du meinst...
Hättest du Lust auf einen Spaziergang im Mondlicht?“
Erich stutzt; eigentlich hatte er etwas Anderes vorgehabt...aber wenn sie es langsam möchte...dann wird er ihr zeigen, wie viel er von Romantik versteht!
„In Ordnung, Kira, sehr gerne...meinst du, die Insel wäre als Ort privat genug?“
Ihr Grinsen wird noch breiter.
„Oh Erich, das wäre
wunderbar.“
Ha, denkt er sich, nicht mehr lange...
Arm in Arm schreiten sie über den Sporren, und der Mond ist bereits aufgegangen. Erich erzählt einen eher schlechten Witz, aber Kira lacht dennoch. Entweder, sie ist zu dumm, zu verstehen, wie ich mich anstelle, oder sie mag mich, denkt Erich...aber eigentlich ist es ihm egal. Ihr Weg führt sie zur Inselspitze, und sie setzen sich auf eine Bank. Für eine Weile starren sie in die Ferne und genießen den Sternenhimmel.
Da lehnt sich Kira zu Erich, und dreht den Kopf, um ihm aus nächster Nähe ins Gesicht zu sehen. Er kann sich kaum zurückhalten...lass sie den ersten Schritt machen...da gleiten Kiras Augen an seinem Gesicht vorbei, und ein gellender Schrei aus ihrem Munde zerreißt fast Erichs Trommelfell.
Er stößt sie vor sich weg und fährt herum, was hat sie gesehen?
Hinter ihnen steht ein Baum, mit einem Stamm, der gut einen Meter Durchmesser hat. Diese Seite von ihm haben sie nicht gesehen, als sie sich der Bank näherten, und nur jetzt, wo sich Kira umdrehte, bemerken Beide, was die ganze Zeit hinter ihnen lag.
Eine Leiche ist an Händen und Füßen – und durch den Bauch – an den Baum genagelt...kopfüber. Ein regelrechter See aus Blut liegt unter ihr, und mit Ekel stellt Erich fest, dass das Mondlicht Schuhabdrücke von ihnen Beiden beleuchtet, da sie beim Herangehen an die Bank gar keine Möglichkeit hatten, an der riesigen Pfütze vorbeizugehen. Wie angeklebt ruht sein Blick auf dem grausigen Bild, das der Tote bietet, aus irgendeinem Grund kann er ihn nicht von dem Loch in seinem Unterleib lösen, das der Holzpflock hinterlassen hat, zerrissene Kleidung, zerfetzte Haut...aber er zwingt sich, darüber hinaus zu sehen. Verkrümmte Finger, jeder einzelne gebrochen, hilflos um die herausragenden Nägel geschlungen, die ihn wie eine groteske Jesusfigur am Holz fixieren. Die Augen...fehlen...und der Mund ist zu einem letzten Schrei weit geöffnet, das ganze Gesicht ist tiefstrot, wie der Rest des Körpers.
Kira schluckt trocken, und als Erich sieht, dass es keine Seile sind, die um Äste geschlungen sind, sondern viele noch mit der Leiche verbunden sind, von der sie ausgehen, verliert er Alles, was er noch im Magen hat. Als er es endlich schafft, den Kopf von Boden zu heben, immer noch hypnotisiert, magisch angezogen wie abgestoßen gleichzeitig vom leeren Blick des Toten, grinst er plötzlich, zum Glück ohne, dass er Kira sieht.
Sieh an, Ralf, hast du doch bekommen, was du verdient hast.
Tag 3 und 4 – Gesichter des Horrors
„Es sind...Ritualmorde. Das Opfer leidet dabei so lange wie möglich, ohne zu sterben. Es ist eine regelrechte Kunst, dafür zu sorgen, dass man zwar Körperteile abtrennt, aber nie so viele, dass das Verbluten der Folter ein Ende setzt. Meistens endet das Leben des Opfers, nachdem es den größten Teil seiner Haut verloren hat, aber das ist wohl unterschiedlich...“
Kira blickt auf von der Seite, die sie aus dem Internet ausgedruckt hat.
„Das ist so unglaublich abstoßend! Ich kann das nicht mehr lesen...“
Erich schnappt sich das Papier und studiert es stumm. Ja, Ralf, sein sportlicher Kollege, hat durchgehalten, bis sein Peiniger daranging, seine Organe einzeln zu entfernen. Oh, wie er ihm dieses Ende gönnt. Dennoch – so sehr Kira nun auf seine Unterstützung angewiesen ist, um nicht zusammenzubrechen, er muss immer noch Jemand finden, den er für die ganze Sache beschuldigen kann...immerhin sind auch einige unschuldige Obdachlose gestorben außer Ralf...jammerschade.
„Kira, wir müssen diese Frau finden! Ralf wollte zu ihr, sie muss es getan haben. Diese Dorfgerüchte hatten wohl doch einen Kern Wahrheit.“
Ihre Stimme zittert.
„Ja...ja, das müssen wir wohl...Erich, ich...“
Er tritt näher.
„Ach, meine Liebe, das ist doch nicht so schlimm, komm her, lass dich...“
Das Telefon klingelt. Erichs Miene ist purste Wut, als er den Hörer ergreift, weil Kira nicht einmal in die Richtung des Apparates schaut – „schon das fünfte Mal heute Morgen, sicher legt der Anrufer gleich wieder auf“, murmelt sie.
„Polizeistation Windorf?“
„Ich grüße Sie...Erich, nehme ich an. Natürlich, Ihr Kollege ist ja nicht mehr. Wie schön, dass ich Sie endlich erreiche.“
Erichs Knöchel werden weiß, als er den Hörer fester packt.
„Sind Sie etwa Madame Solumna? Was wollen Sie, wo verstecken Sie sich?“
„Oh nein, Herr Auer, nun seien Sie doch nicht so neugierig...sind Sie allein?“
Erich sieht Kira an, dann nickt er – als er merkt, dass dies Nichts nützt, spricht er ein festes „Ja“ ins Telefon.
„Gut...ich habe Ihnen durchaus etwas mitzuteilen...unter vier Augen. Kommen Sie um Mitternacht auf die Insel...allein.“
Das Freizeichen ertönt. Erich starrt den Hörer an. Kira tritt hinter ihn und berührt ihn an der Schulter.
„Was ist? Wer war das?“
Kurz nur muss er überlegen, aber ihre Berührung lenkt ihn ab, und er beugt sich verschwörerisch zu Kira.
„Du hättest Nichts gegen einen zweiten Nachtspaziergang, oder?“
Als sie zögernd nickt, könnte er vor Freude aufschreien. Er ist Ralf los, Kira ist in seiner Hand, und der Fall bald auch. Die Hexe wird verantwortlich gemacht, und Niemand wird sich dafür interessieren, wer der wirkliche Mörder ist – solange die Öffentlichkeit einen Sündenbock hat, ist Alles gut...
Der Mond steht abermals hoch am Himmel, als Erich und Kira auf der Insel ankommen. Er scheucht sie in ein Gebüsch.
„Folge mir zwischen den Bäumen, du bist meine Rückendeckung, falls sie eine Überraschung parat hat – aber lass dich nicht sehen!“
Dann geht er alleine weiter, sich immer Kiras beruhigender Präsenz unsichtbar bewusst, pfeifend...es ist eine schöne Nacht. Er erreicht die Inselspitze. Wo ist die Frau?
„Ich bin froh, dass Sie gekommen sind, Erich.“
Sein Herz springt fast aus seinem Hals, als die Stimme dicht hinter ihm ertönt. Er fährt herum, seine Polizistenreflexe greifend, aber sie ist schon einen Schritt zurückgetreten. Eigentlich sieht sie ganz harmlos aus, findet er, aber das ist ihm egal – er
wird sie ausnutzen, um seine Karriere mit der Lösung dieses Falls voranzutreiben.
„Kommen Sie mir nicht so! Was spielen Sie überhaupt? Was haben Sie meinem armen Kollegen angetan?“
Sie hebt ihren Zeigefinger und schüttelt ihn unter Erichs Nase.
„Ts, ts, ts, wie schnell die Menschen immer zu Schlüssen springen, die einfach nicht wahr sind. Sie sind doch Polizist, oder?“
„Natürlich!“
“Warum interessieren Sie sich dann für Unsinn, den irgendwelche Leute im Dorf erzählen, mehr, als für Beweise?“
Erich überspielt die Unsicherheit, die diese so selbstsichere alte Dame in ihm auslöst, indem er gleich wieder in die Offensive geht.
„Welche Beweise denn? Ich weiß nur, dass Ralf zu Ihnen wollte, und jetzt ist er tot, geschlachtet geradezu!“
Sie schüttelt den Kopf.
„Regen Sie sich ab, bitte. Ich liefere Ihnen die Beweise sofort. Bitte, folgen Sie mir – nur ein paar Schritte – ja, von hier aus können Sie es sehen. Die lockere Erde da, schauen Sie!“
Erich, skeptisch, tritt noch einen Schritt näher; tatsächlich, hier wurde umgegraben.
„Und, was soll mir das jetzt sagen?“
“Hier waren vor Kurzem noch drei Skelette vergraben, Herr Auer. Ich muss es wissen, denn ich habe sie hier verscharrt.“
Er muss sich beherrschen, nicht loszuschreien.
„Sie...Sie haben diese drei ermordet...und geben es einfach zu?“
Wieder dieser Zeigefinger! Erich ist kurz davor, ihr den Hals umzudrehen.
„Ich sagte schon einmal, springen Sie nicht zu schnell zu Schlüssen. Ich wäre doch bescheuert, so eine Tat zu gestehen. Ich sage Ihnen, was wirklich passiert ist. Vor drei Wochen war ich auf dieser Insel, alleine, weil Niemand in einer Vollmondnacht um 12 Uhr hinausgeht in diesem Dorf, hier wohnen fast nur abergläubische Spinner. Ich dagegen musste um diese Zeit meine Kräuter pflücken – sie haben nur Wirkung, wenn der Vollmond hochsteht. Und da fand ich sie liegen – ihre Haut und die Muskeln waren entfernt, und ich weiß nicht, wo sie sind...ich will es auch nicht wissen. Die Skelette waren mit ausgebreiteten Armen in einem Dreieck arrangiert, die Füße in der Mitte zusammengebunden...
Ich wusste, dass ich beschuldigt werden würde. Ich wusste, dass alle Leute im Dorf in ihren sinnlosen Vorurteilen die alte Dame als Sündenbock nehmen würden, die eh allen irgendwie komisch vorkommt.
Also habe ich sie vergraben und gehofft, dass sie nie wieder auftauchen. Dem...war nicht so. Der Mörder wollte, dass sie gefunden werden, und es hat wohl diese drei Wochen gedauert, bis meine Grube entdeckt wurde...“
Erich starrt sie an. Soll er ihr glauben, dass sie die Skelette vergraben hat? Diese ganze Geschichte ist doch...und trotzdem, ein leiser Zweifel nagt an ihm. Würde sie ihm das erzählen, wenn sie nicht die Wahrheit sagen würde? Sie hätte sich einfach verstecken können, oder die Sache mit dem Vergraben nicht erwähnen...er hätte nie Beweise für eine Verwicklung von ihr in den Mord gefunden.
Aber eigentlich ist das doch egal. Er braucht einen Schuldigen – sie steht vor ihm – er hat seinen Schuldigen. So einfach ist das. Er sollte sie gleich...
Moment. Kira schaut zu. Er muss sanft vorgehen.
„In Ordnung, das ist ja Alles schön und gut, und dass Sie mir das erzählt haben, und nicht verschwunden sind, lässt mich dieses Angebot machen. Ich muss mir erst einmal – wenn es hell ist, diese Dunkelheit geht mir auf die Nerven! – diese Grube ansehen, und herausfinden, wann hier wer womit was gegraben hat. Sie kommen Morgen um 14 Uhr ins Präsidium, und wenn Sie da nicht aufkreuzen, werde ich mich nur
ganz schwer von einem anderen Hauptverdächtigen als Ihnen überzeugen lassen!“
Sie nickt.
„Ich danke Ihnen, dass Sie so vernünftig sind, Herr Auer. Ich hoffe, wenn meine Erfahrungen und ihre Beweisaufnahme hier zusammentreffen, finden wir den, der wirklich hinter den Morden steckt. Einen Dank auch dafür, dass Sie alleine gekommen sind, Sie haben Mut!“
Sie verschwindet, und Erich starrt ihr noch lange nach. Alleine. Hehe. Wenn sie wüsste, was ihr bevorsteht! Er setzt sich auf die Bank, diesmal achtet er darauf, an dem getrocknetem Blutsee vorbeizusteigen, und sieht sich eine Weile den Sternenhimmel an. Ob Kira und er wohl bald...nachdem er die alte Frau ins Gefängnis gebracht hat, sicher. Wo bleibt sie eigentlich?
„Kira? Komm schon, die Alte ist längst weg, du brauchst dich nicht mehr zu verstecken.“
Aber Kira bleibt verschwunden. Dem dummen Mädchen ist wohl langweilig geworden, nachdem klar war, dass Madame Solumna keine Bedrohung war...sicher bewundert sie Morgen seinen Mut, genau, wie die alte Frau das tat! Er fühlt sich großartig, als er zurück zur Pension geht.
Am nächsten Tag ist Kira nicht im Präsidium – hat sie die Sache so mitgenommen, dass sie doch daheimbleibt? Erich macht sich einen Kaffee und schlürft ihn genüsslich. Er denkt nicht daran, auf der Insel eine Spurensicherung bei der Grube vorzunehmen – was solls? Solumna steht doch ohnehin als Schuldige fest. Er sieht ein wenig Fern, bis seine Mittagspause anbricht, und ist um 14 Uhr bereit für ihr Kommen.
Als er zwei Stunden gewartet hat, gibt er auf und geht zur Pension, in sich hinein lachend. Sie macht es ihm zu einfach! Dass sie zur Vernehmung nicht erschienen ist, wird schwer in den Augen der Richter wiegen – sie ist erledigt. Nach Stunden der Langeweile fällt ihm ein, dass er sich um Kira kümmern könnte – sie freut sich doch sicher über eine Schulter zum Ausweinen...er ruft ihr Diensthandy an.
Kira antwortet nicht. Erich belästigt den Nachtportier des Präsidiums, er soll ihm ihre Privatnummer verraten, oder ihre Adresse, am besten beides! Eingeschüchtert von seiner Vehemenz macht der Mann es. Was für ein pflichtvergessener Feigling.
Kira ist nicht zuhause, muss Erich feststellen, als er an ihrer Tür klingelt. Und es fängt schon wieder zu regnen an! Wo ist...
Da trifft ihn eine Erkenntnis wie ein Schlag in die Magengrube. Madame Solumna tauchte heute Nacht
hinter ihm auf...sie war ihm also gefolgt...und Kira war ihm auch gefolgt. Zwar versteckt, aber eigentlich traut er der unfähigen Landpolizistin nicht zu, schleichen zu können. Was, wenn sie sie entdeckt hat...und, wenngleich wohl nicht für die ersten Morde verantwortlich, Panik bekommen hat und seine Kollegin ermordet hat? Oder er, Gott bewahre, hat sich geirrt in ihr, und sie ist
tatsächlich ein psychopathischer Killer?
Er rennt, und je schneller er rennt, desto mehr scheint es zu regnen. Er darf nicht zu spät kommen – immerhin will er Kira nicht als Leiche! Seine Schritte tragen ihn über den Sporren, ins glitschige Gras der Inselmitte...
Ein Lichtschein erregt seine Aufmerksamkeit. Er umrundet einen Baum. Und bleibt stocksteif stehen, als er die Szene vor sich sieht.
Unzählige Grabkerzen, die auch bei Regen brennen, formen einen Kreis um einen Körper, der frei schwebend von einem Baum hängt und von dem mehr als Wasser auf den Boden fließt. Die nackten Knöchel sind eng mit groben Seil zusammengebunden, und die Arme erreichen gerade nicht den Boden, obwohl sie schlaff ganz nach unten hängen. Es ist...eine Frau...und Erich muss alle seine Willenskraft aufwenden, näher zu treten, in den Kreis aus Lichtern, und er streckt eine Hand zu der Leiche aus...
„Erich!“
Sein Herz setzt einen Schlag aus, als er herumfährt...und es fängt wieder zu schlagen an, als er sieht, wer geschrieen hat. Kira steht vor ihm, und die Erleichterung auf ihrem Gesicht ist fast mit Händen zu greifen. Sie rennt zu ihm.
„Erich, oh Gott, Danke, dass du hier bist! Es ist...es ist so furchtbar, ich habe sie hier hängen gefunden, und ich weiß...ich weiß nicht, was ich tun soll!“
Sie stürzt in seine Arme, und er ist froh, dass sie sein idiotisches Grinsen nicht sieht. Endlich! Es hat fünf Tote gebraucht, aber er hat sie genau da, wo er sie haben will. Da sieht er, dass sein hastiges Umdrehen gerade die Leiche gedreht hat...
Er starrt in das Gesicht von Madame Solumna, zumindest das, was davon noch übrig ist. Ihre Lippen sind entfernt worden, und scheinbar nicht abgeschnitten, sondern abge
rissen. Ihre Nase fehlt, ihre Ohren fehlen, und der ganze Rest ist entstellt durch unzählige blaue Flecken und Brandwunden...nein, nein, Erich, du kannst Kira jetzt nicht über den Rücken spucken...er hofft, dass sie sein Zittern nicht bemerkt, er muss stark sein, ganz stark...und da stellt er etwas fest, was ihn noch mehr als alles Andere hier den Schweiß auf die Stirn treibt: Kopfüber hängend, nachdem sie verprügelt wurde, ihr Körperteile entfernt, tiefe Schnitte in den Unterleib zugefügt wurden...lebt Madame Solumna noch. Sie atmet. Und ihre Hände heben sich...er steht stocksteif da vor Horror, als ihr Mund sich öffnet, und sie flehentlich die zugeschwollenen Augen auf ihn richtet...
„Weeeeeeeeeg...“
Sie stößt zu, schwach, mit ihren gequälten Gliedern, zuckt, und er fragt sich, was will sie? Was will sie ihm mitteilen? Das ist zu viel...zu viel für ihn...
„Kann ich...kann ich Ihnen helfen? Nein, ich sehe, es geht nicht, bleiben Sie ruhig, bleiben Sie ruhig...“
„Weeeeeeeeg...Kiiiiiraaa...“
Langsam, ganz langsam dringt durch den schwarzen Schleier schlimmsten Terrors in Erichs Gedanken,
was sie ihm sagen will – und es dauert. Viel. Zu. Lange.
Er keucht, als es ihm klar wird, aber noch mehr keucht er, weil ein Messer in seinen Nieren gelandet ist. Ein langes Messer. Schmerz explodiert in seinem Rücken, und als Kira ihn loslässt, fällt er um wie ein Mehlsack. Er starrt in den Sternenhimmel, und ihr Gesicht schiebt sich in sein Blickfeld, mit einem Grinsen, dass keinen Hauch mehr von der Hirnlosigkeit enthält, die ihr Ausdruck vorher immer hatte. Es ist...grausam.
Erich spürt, wie Blut seine Kleidung beschmutzt, sich mit dem Schlamm vermischt, und er zittert, als Kira das Messer über ihn senkt, und schreit auf, als sie es plötzlich über seine Achillessehnen zieht, die eine, die andere – Gott! Er wird nie wieder gehen können! Er wird...oh nein. Nein! Nein! Sie bereitet ihn vor, wie ihre anderen Opfer! Das...das hält er nicht aus! Er...fängt an, unkontrolliert zu schluchzen, als sie ihn über einen Ast kopfüber hochzieht und mit dem Knie an den Stamm des Baumes presst, während sie den Hammer hebt, mit dem er gleich Nägel durch die Handflächen getrieben bekommen wird. Durch den Schmerz, der nicht mehr schlimmer werden kann – aber er weiß, es
wird schlimmer, viel schlimmer – bringt er noch ein Wort heraus.
„Warum?“
Kira hält kurz inne und sieht ihm ausdruckslos ins Gesicht hinunter, das neben ihrem anderem Knie ist.
„Ich erzähle meinen Opfern nie, warum ich tue, was ich tue.“
Sie nagelt methodisch, aber mit großzügigen Pausen zwischen den Schlägen, seine Füße einzeln fest. Als sie sich für seine Arme bückt, grinst sie ihn noch einmal an.
„Es nicht zu wissen erhöht die Qual nur noch, verstehst du?“
Helles Lachen durchsetzt die gellenden Schreie, die in dieser Nacht über die Insel dringen, aber von Niemanden gehört werden, und durch den Schleier aus Blut und Tränen vor seinem Gesicht sieht Erich ständig das zerschundene von Madame Solumna, dem seines immer ähnlicher wird, wie eine Anklage vor sich.