Zeltlager 2010
„Ah, ich sehe, du bist aufgewacht. Hast du gut geschlafen? Egal, eigentlich, bald wirst du noch viel länger schlafen, aber ich will das hier so einfach wie möglich machen. Ja, du siehst und hörst schon richtig. Ich bins, Robert, dein guter Freund. Du wirst dich wohl fragen, warum ich dich entführt habe und du jetzt gefesselt und geknebelt daliegst. Keine Sorge...es ist zu deinem Besten, wie du gleich feststellen wirst. Ich möchte dir erklären, warum ich das hier tue, das wird dir letztlich nicht viel nützen, aber irgendwie fühle ich mich besser, wenn ich mir das von der Seele rede; bitte hör zu...viel mehr bleibt dir ohnehin nicht übrig.
Weißt du, es ist jetzt etwa zwei Monate her, dass ich genauso verwirrt war wie du es jetzt bist; ich bin aufgewacht, allein in einem dunklen Raum, obwohl ich vorher noch einen schönen Abend in der Kneipe hatte...mein Kopf hat unglaublich geschmerzt, so wie es deiner wohl tun wird, aber mir hat man wohl etwas ins Bier gekippt, ich hab keine Ahnung, wo ich so was herbekomme, also hab ich dir einfach eins übergezogen; tut mir Leid.
Da liege ich also in vollkommener Stille und Dunkelheit da, mein Kopf tut weh und sonst auch noch so Einiges, man hatte mich in diesen Raum geschleppt und war dabei nicht besonders sanft, logisch. Ich stehe auf, langsam, taste um mich, und stoße schnell auf eine Wand; greife an ihr entlang, finde Ecken, ich bin in einem kleinen, engen Raum, vielleicht zwei auf drei Meter. Ich fluche wie ein Rohrspatz, als ich gegen etwas renne; es ist ein Waschbecken, auch eine Toilette ist hier, sonst Nichts. Etwas fühlt sich an wie eine Tür, aber sie ist völlig glatt, kein Griff, keine Gitter...
Ich fange also an zu schreien, was das soll, wo ich bin, ich hämmere gegen das kalte Metall, gegen die Wände, aber es kommt keine Reaktion. Gar Nichts. Das einzige, was mir antwortet, ist das dumpfe Echo meiner eigenen Stimme. Sie wird immer heiserer, und irgendwann versagt sie und ich hab keine Kraft mehr, meine Fäuste tun weh vom ständigen Hämmern, ich setze mich auf den Boden und versuche, mich zu beruhigen, aber in meinem Kopf steigen die irrsten Gedanken hoch; du kennst das, wenn du in einer blöden Situation bist und dein Hirn versucht, sie immer schlimmer zu machen?
Nun, die Situation war sehr blöd, wie du dir vorstellen kannst, und ich male mir in schwärzesten Farben aus, was der Grund dafür sein könnte, dass ich in diesem Loch sitze, irgendwelche Mafiosi haben mich verwechselt mit einem, der sie betrogen hat, oder der Geheimdienst hat wegen irgendeines Computerfehlers mich auf die Liste der schlimmsten Staatsfeinde gesetzt...ich denke, sicher kommt gleich Jemand durch die Tür, schlägt mich zusammen und dann beginnen die Verhöre und die Folter und was weiß ich noch Alles.
Wie lange ich so dagesessen bin weiß ich nicht, es kann gut mehrere Stunden gewesen sein oder auch nur ein paar Minuten, was ich aber weiß ist, dass ich quasi zittere vor Angst, ich mach mir fast in die Hosen, und ich denke mir, jetzt
muss doch Irgendwas passieren, die werden mich doch nicht verhungern lassen? Ich wäre fast froh gewesen, wenn tatsächlich irgendwelche Schläger reingekommen wären und angefangen hätten mich zu bearbeiten, dann hätte ich wenigstens gewusst, woran ich bin.
Da, plötzlich, endlich, aber viel zu spät, geht das Licht an. Nach der erdrückenden Dunkelheit bohren sich die Strahlen in mein Hirn, und ich schreie auf vor Schmerz, während die Flecken in meinen blinden Augen tanzen. Ich presse meine Hände vor sie, um die Helligkeit fernzuhalten, und auf einmal füllt diese Stimme den Raum, sie scheint von überall her zu kommen, und...sie ist eine der schönsten, die ich je gehört habe. Wenn da nur nicht der Inhalt wäre.
'Hallo, Robert', sagt diese weibliche Stimme zu mir, in einem unglaublich freundlichen Ton, durch den aber dieser leichte Hauch Herablassung und Verachtung schwingt, der mir sofort sagt, dass sie überhaupt nicht freundlich ist, sondern mich als Abschaum sieht, als ein Stück Dreck, das ihre Zelle beschmutzt...was sie mir auch klar macht, aber in netteren Worten.
'Es freut mich, dass du endlich wach bist', macht sie weiter, als hätte sie mich nicht gerade ewig im Dunkeln warten lassen. 'Du hast so tief geschlafen – gibt es nicht den Ausdruck „der Schlaf des Gerechten“? Damit dürfte diesem Spruch Lügen gestraft sein, denn das bist du ja nicht wirklich.'
Langsam beginne ich wieder, etwas zu erkennen, und sehe, dass ich wirklich in einer kleinen Zelle bin, das Waschbecken, die Toilette, eine nackte Neonröhre an der Decke, die Tür aus Stahl in einer Betonwand ohne Lücke darin außer einer kleinen Klappe am unteren Ende. An der Wand war einmal eine Pritsche angebracht, wie in einer wirklichen Gefängniszelle eben, aber nur noch Schraubenlöcher zeigen mir die Stelle. Ich werfe natürlich wie wild meinen Kopf hin und her – woher kommt die Stimme? Dann rede ich einfach in den Raum hinein, schreie sie mit schon wunder Kehle an, wer sie ist, was das soll, aber bekomme keine Antwort, bis mir wieder die Stimme versagt;
dann redet sie weiter.
'Ts, Robert, beruhige dich. Es gibt keinen Grund, hier so einen Aufruhr zu veranstalten, es ist ja nicht so, als ob dich Jemand hören könnte. Du bist ohnehin immer viel zu aufbrausend...das ist
die Gelegenheit für dich, ein wenig...Demut zu lernen.'
Das war der Punkt, an dem ich anfange, sie zu beleidigen; ich muss dazu flüstern, aber sie merkt sich jedes Wort, das finde ich später heraus. Irgendwann unterbricht sie mich.
'Hast du Hunger, Robert?' - im unschuldigen Ton steckt eine harte Spitze, und ich werde sofort still. Mein Magen sagt mir sofort, dass er in der Tat Hunger hat, Gott weiß, wie lange ich da unten lag, bevor ich aufgewacht bin...aber ich bin still. Will ihr nicht die Genugtuung geben, dass ich um Essen bettle. Sie bleibt aber auch still, und ich sitze da und warte, bis sie wieder redet, wild entschlossen, nicht vor ihr zu sprechen, diesen Kampf zu gewinnen...aber Nichts kommt von ihr, gar Nichts, und mir wird immer klarer, dass ich tatsächlich irren Hunger habe, auch wahnsinnigen Durst...ich könnte ja zum Waschbecken gehen und etwas trinken, aber auch dafür bin ich zu stur.
Zuerst. Aber es vergeht mehr und mehr Zeit, kein Mucks kommt von ihr, und da halte ich es nicht mehr aus, stehe auf, wanke zum Wasserhahn – meine Beine sind eingeschlafen, ich falle fast hin – drehe ihn auf, es sprudelt klare Flüssigkeit heraus, meine trockenen Lippen beugen sich herab...und der Strom endet. Egal, wie ich drehe, es kommt kein Wasser aus dem Hahn.
Da bricht mein Widerstand zusammen, als ich das erste Mal so wirklich feststelle, wie unglaublich ich ihr ausgeliefert bin, dass ich einfach komplett
machtlos bin, und leise gebe ich zu, dass ich nicht nur Hunger habe, sondern auch Durst. Und sofort, sie hat die ganze Zeit, während ich still war, ruhig gewartet, stellt sie das Wasser wieder an, es ist eiskalt und spritzt mir ins Gesicht, und während ich hektisch auf einen trinkbaren Strahl hinunter drehe, dringt wieder ihre zuckersüße Stimme aus den versteckten Lautsprechern und ich beginne, sie einfach nur zu
hassen, als sie sagt: 'Warum hast du das nicht gleich gesagt, Robert? Ich habe extra etwas für dich gekocht...du magst doch Pizza, nicht?'
Und es stimmt. Ich
liebe Pizza, wie du weißt...nun, habe ich zumindest. Aber das kommt noch...
Während ich noch trinke wie ein Verdurstender klappert es hinter mir und ein Teller kommt durch die Klappe in der Tür, darauf eine kalte Pizza ohne Belag, nur Käse und Tomatensoße. Ich stürze mich auf sie, sehe, dass ich kein Besteck bekommen habe, und halte kurz inne; aber ich merke schon, es bleibt mir Nichts übrig, also muss ich sie essen als wäre ich ein verdammtes Tier.
Und während ich die Pizza hinunterschlinge, mit den Fingern, fängt sie an, zu erzählen, in dieser wunderschönen weiblichen Stimme, was sie in ihrer Freizeit macht.
Und mein Hunger ist sofort weg.
Sie erzählt mir, wie sie einen frauenfeindlichen Polizisten kopfüber an einem Baum aufgehängt hat und ihn geschlachtet wie ein Schwein. Und seinen Kollegen auch, nur, um ihn auf eine falsche Fährte zu führen. Eine alte Frau, die im Weg war. Jedes einzelne grauenhafte Detail, jeden einzelnen Messerstich, jeden Millimeter Haut, den sie langsam entfernt hat, zählt sie mir auf, als hätte sie Protokoll geführt während sie es tat. Und das Schlimmste daran...es stimmt. Es ist wirklich passiert. Du erinnerst dich an die Morde auf der Insel, vor zwei Jahren?
Sie war es. Eine Frau mit der angenehmsten Stimme der Welt. Mir wird schlecht, und ich verliere die ganze Pizza wieder, liege da, presse die Hände auf die Ohren, bitte sie
aufzuhören mit dem Horror, aber...sie dreht einfach die Lautstärke höher, ihre sanften Worte mit dem grauenhaften Inhalt dringen in mein Hirn und foltern mich mit den schlimmsten Bildern. Ich habe die Nachrichten gesehen, damals...jetzt wusste ich die Details. Ich sehe sie immer noch in meinen Alpträumen.
Da ist sie still, und ich kauere am Boden, nur noch zitternd, weil ich weiß, ich bin in den Händen einer Irren, einer psychopathischen Mörderin, und habe Angst, solche Angst vor ihren nächsten Worten...und sie stellt nur eine Frage.
'Was denkst du, Robert, warum dieser Polizist den Tod verdient hat?'
Und da geht das Licht aus, und ich liege in kompletter Düsternis neben meiner halb gegessenen und halb wieder ausgespuckten Pizza, und zittere und zittere und denke, dass sie gleich kommt und mich holt und mich aufschlitzt, oder
jetzt, oder
jetzt, und jedes Geräusch lässt mich zusammenzucken und wimmern, aber da
waren keine Geräusche. Nur der Nachhall ihrer Stimme in meinem Kopf.
Und das Licht geht auch nicht mehr an...jetzt wirklich stundenlang nicht, wahrscheinlich einen ganzen Tag lang nicht. Sie hat mich etwa fünf Minuten lang bearbeitet, und danach hat sie mich allein zurückgelassen...
Du weißt, ich dachte immer von mir, dass ich ein harter Kerl bin. Dass mich Nichts so leicht schockt.
Aber in der Dunkelheit, mit Nichts zu tun außer mich mit meinen Gedanken zu beschäftigen, jede Sekunde absolute Panik niederkämpfend...da hab ich feststellen müssen, dass die harten Kerle am leichtesten brechen.
Irgendwann weine ich mich in den Schlaf. Irgendwann wache ich wieder. Es ist immer noch dunkel. Und ich stelle überdeutlich fest, dass ich es davor ja nicht geschafft habe, die Pizza zu essen. Ich tapse im Dunkeln umher, versuche, den kalten Rest zu finden, und als ich sie habe, esse ich sie vom Boden weg, ständig gegen das Verkrampfen meines Magens ankämpfend, als mir mein Hirn die Bilder in den Kopf schießt, die schon vor meinem Schlaf dafür sorgten, dass ich sie nicht essen konnte. Irgendwie behalte ich sie unten, und liege in der Dunkelheit, würgend...
Ich schlafe wieder ein...ständig verfolgen mich die Bilder, die sie mir mit einfachen Worten aufgezwungen hat, die mein eigener Verstand erschafft, um mich zu foltern.
Dann liege ich ewig auf dem Rücken, der langsam anfängt zu schmerzen wie die Hölle, aber irgendwie hilft mir der Schmerz, nicht völlig wahnsinnig zu werden: Er ist ein Zeichen dafür, dass ich tatsächlich noch existiere in der kompletten Dunkelheit ohne Geräusche, ohne Hoffnung...
Und als ich so daliege, geht plötzlich das Licht an und ich starre wieder direkt hinein.
Ihre Stimme ertönt, so oberflächlich nett wie immer.
'Guten Morgen, Robert. Feine Nacht gehabt? Oh, du hast ja ganz brav aufgegessen! Braver Junge. Aber deinen Abfall hast du noch nicht entsorgt. Erst aufräumen, dann erzähl ich dir vielleicht wieder eine Geschichte.'
Ich schluchze geradezu heraus, dass ich Nichts hören will, aber sie ist einfach nur still und ich halte es nicht aus und schabe das Erbrochene vom Boden, spüle es im Klo herunter, und sie redet erst weiter, als ich noch notdürftig Wasser aus dem Waschbecken benutzt habe, um mit meinen Händen Alles so gut wie möglich zu reinigen.
'Geht doch. Du hast dir etwas Unterhaltung verdient. Ach, und ich hab dir wieder etwas zum Essen gemacht!'
Und wieder kommt eine Pizza durch die Klappe in der Tür, ich krabble schnell dorthin, versuche, die Klappe zu öffnen, hinauszulugen, einen Blick zu werfen, nur einen kurzen auf ihre Beine vielleicht, aber die Klappe geht nicht auf von innen. Da sitze ich verloren vor der verdammten Pizza, gleiche Sorte wie...kann ich es 'gestern' nennen?...und mein Magen knurrt wie verrückt, und ich muss sie nehmen, beiße einmal ab, und während ich kaue, fängt sie schon wieder an zu reden.
Diesmal erzählt sie eine andere Geschichte, und sie ist noch schlimmer als die erste, sie erzählt, wie sie einen Vater von zwei Kindern gezwungen hat, sich Körperteile abzuschneiden um die Kinder zu retten, wirklich selbst eine Axt in die Hand zu nennen und seine verdammte Hand abzuhacken, und ich esse schnell, stopfe die Stücke in mich hinein, weil mich das noch weniger anekelt als was sie mir davon erzählt hat, so tief bin ich gesunken.
Dann kommt sie zu dem Teil, was sie mit seinen Kindern und seiner Frau gemacht hat, obwohl er getan hat, was sie wollte, und ich muss mich irgendwie zwingen, das Essen in mir zu behalten, und es ist das Schwerste, was ich jemals getan habe, aber etwas sagt mir, sie wird mir keine zweite Pizza geben, also habe ich keine Wahl.
Es waren
Kinder, verdammt. Junge Kinder. Und sie...Himmel. Nein, ich tu dir keine Details an, keine Sorge, aber...ich habe noch nie im Leben etwas so verabscheut wie diese Frau und was sie getan hat. Weißt du was? Ich
kannte den Kerl. Klaus Horner, hab ab und an ein Bierchen mit ihm getrunken. Er war etwas kalt, aber ein guter Mensch. Sie erzählt mir, wie sie ihm Alles im kleinsten Detail schildert, wie mir...und ihn dann einfach gehen lässt. Einfach so. Sie hat seine ganze Familie auf grausamste Art getötet, und lässt ihn einfach gehen. Er ist zwei Monate später im Osten gefasst worden. Hatte drei Landstreicher aufgeschlitzt, wegen irgendeiner Kleinigkeit. In der Zeitung stand, dass er tote Augen hatte, als wäre seine Seele schon lange gestorben. Jetzt weiß ich, warum...seine Familie hat man nie gefunden. Sie nahmen an, er wäre durchgedreht und hätte sie verschwinden lassen. Die Wahrheit war
schlimmer, Mann. Bah...entschuldige mich. Ich brauche eine kleine Pause.“
„So...ich hab mich wieder gefangen. Es...es ist grausam, sich an das Alles zu erinnern, aber sonst
verstehst du nicht, was ich hier tue, nicht? Warum ich du jetzt verschnürt vor mir liegst? Also...sie hat mir all das erzählt, und ich liege zitternd vor Angst auf dem Boden, kann nicht mehr klar denken vor Horror, und dann erzählt sie mir ganz am Schluss,
warum sie so mit Klaus umgesprungen ist.
Weil er seine Frau betrogen hatte.
Und dann geht das Licht aus.
Begreifst du langsam? Es gab nichts Schlimmeres, was sie hätte sagen können, außer dem Grund für ihren Wahn.
Sie mag es nicht, wenn man schlecht zu Frauen ist. So...
gar nicht. Und ich...ich war nicht gut zu Frauen bisher...und ich weiß, sie weiß es, sie weiß es ganz genau, und sie wird mit mir noch etwas Schlimmeres und Grauenhafteres anstellen als mit den anderen, die sie bestraft hat, und ich verbringe jede Sekunde damit, mir auszumalen, was es sein könnte und zittere und zittere und liege in der Dunkelheit da...
Ich habe keine Minute lang geschlafen, als das Licht wieder angeht. Der Schmerz der hellen Strahlen, die sich in meine Augen bohrt, ist willkommen. Die Pizza kommt ohne Kommentar ins Zimmer und ich fange mechanisch an zu essen, wohl wissend, dass es mein letztes Mahl auf Erden sein könnte, und sie schmeckt in meinem Mund wie Asche.
Sie wartet, bis ich fertig bin. Jede Sekunde, als ich esse, fürchte ich mich vor ihrem ersten Wort. Und als es kommt, verliere ich schon wieder fast meinen Mageninhalt.
'Robert...du weißt, warum du hier bist, oder?'
Ich kann nicht antworten, sitze nur da, vergrabe meinen Kopf in den Händen und weine, leise um Vergebung bittend – sie, nicht irgendeine höhere Macht, weil sie in diesem Moment die einzige Macht war, die mir Erlösung schenken konnte. Aber sie vergibt nicht, nein...sie wartet. Lange. Und plötzlich sticht wieder ihre Stimme in mein Trommelfell...ganz leise. Aber sie hätte auch brüllen können, so hart trifft es mich.
'Robert...du warst ein böser Junge. Ein ganz böser Junge. Erinnerst du dich an diesen einen Abend vor drei Jahren?'
Ja. Tue ich. Die ganze schlaflose 'Nacht' über habe ich das getan, und es so bereut wie noch nie etwas zuvor in meinem Leben. Ich glaube, ich werde nie wieder eine solche tiefe Reue spüren können, aber...sie war nicht wirklich ernst, eigentlich. Geboren aus Angst. Ich weiß nicht, ob ich es wieder tun würde, was ich damals getan habe...ob ich wirklich ein schlechter Mensch bin, durch und durch?
Aber zurück zum Geschehen...ich bin fast außer mir vor reinstem Terror, aber diesmal spüre ich, sie will eine Antwort, und sie wird ewig darauf warten können, also habe ich keine Wahl, ich muss meine Schuld eingestehen, und irgendwie formen meine Lippen ein 'Ja'.
Und dann legt sie los. Erzählt mir, was ich selbst getan habe damals, als wäre sie dabei gewesen. Erzählt es in dem gleichen Ton, wie sie erzählt hat, was sie anderen angetan hat...absolut kalt, methodisch die Details beschreibend. Außer, wenn sie darauf zu sprechen kommt, was das Opfer wohl gespürt haben muss in bestimmten Momenten...so fragt sie mich auch jetzt, ohne eine Antwort zu wollen: Was wird das arme Mädchen wohl für Schmerzen gehabt haben, körperliche und seelische? Welche Narben wird sie jetzt wohl noch haben? Jedes Wort von ihr trifft mich wie ein Hammerschlag. Endlich, nach viel zu langer Folter, ist sie fertig, und die Stille hängt im Raum. Endlich schaffe ich es, einen Satz zu sagen...dass es mir Leid tut, so unendlich Leid. Und sie? Ich habe die Worte noch genau im Kopf.
'Das sollte es auch, Robert. Jedem bösen Jungen sollte es unendlich Leid tun, wenn er einem guten Mädchen weh tut. Karl und Klaus hat es sehr Leid getan am Ende...wie viel Reue wirst du zeigen?'
Ich fange an zu schreien, dass ich das nicht verdient habe, dass ich nicht sterben will, dass ich Alles tun werde, um nicht von ihr getötet zu werden...sie lässt mich so lange aus voller Kehle brüllen, gegen die Wände schlagen, bis ich heulend am Boden liege und keinen Ton mehr heraus bringe. Dann sagt sie noch einen Satz.
'Sobald du einschläfst, kann deine Reue beginnen.'
Und das Licht geht aus.
Ich versuche natürlich, nicht einzuschlafen. Ich tue Alles, um nicht einzuschlafen. Ich breche mir halb die Finger, um vor Schmerz nicht einzuschlafen. Aber es hilft Nichts. Ich war locker zwei Tage am Stück wach. Und davor war es nicht wirklich bequem oder so. Irgendwann, ohne dass ich etwas dagegen tun kann, ersetzt die Dunkelheit des Schlafs die normale überall herrschende.
Und...ich wache wieder auf. Mit einem Schrei, weil ich solche Angst habe davor, was ich sehe...aber nachdem ich kurz...okay, mehrere Minuten...Panik geschoben habe, stelle ich fest, dass ich hinter einem Busch auf der Insel liege, gerade so versteckt, dass mich Niemand da sieht, der zufällig vorbei geht. Meine Klamotten sind noch die gleichen, jetzt völlig verdreckten, die ich die ganze Zeit trug, sogar mein Geldbeutel ist noch in der Tasche; ich habe tierische Kopfschmerzen wie das erste Mal, als ich während dieses ganzen Wahnsinns aufgewacht bin, aber ansonsten...geht es mir gut?
Wieder packt mich Panik, ich reiße mir die Kleider vom Leib, sehe nach, ob sie irgendetwas mit mir angestellt hat, während ich geschlafen habe, weil ich ihr nach dem, was sie mir erzählt hat,
Alles zutraue, aber...ich finde Nichts, keine Narben, wo sie mir seltsame Dinge eingepflanzt hat oder meine Nieren entfernt oder sonst was.
Ich ziehe mich wieder an und renne nach Hause, unter die Dusche und kauere da mehrere Stunden. Danach trinke ich einen halben Kasten Bier leer, bevor ich aufhöre, so sehr zu zittern, dass es fünf Minuten braucht, bis ich eine Flasche aufmache.
Und dann sehe ich den Brief, der auf dem Schränkchen im Flur liegt. Der vorher nicht da war.
Es braucht zwei weitere Flaschen, bis ich mich überzeugen kann, ihn auch nur anzufassen...aber kurz davor halte ich inne, als der erste klare Gedanke seit Tagen durch den Alkoholnebel in mein Hirn dringt.
Ich weiß, was sie getan hat. Ich kenne ihre Stimme. Vielleicht gibt es Zeugen, und hier habe ich ein Dokument aus
ihrer Hand.
Wenn ich vorsichtig bin, kann ich dafür sorgen, dass sie gefasst wird, bringe sie auf ewig hinter Gitter, vielleicht führen sie die Todesstrafe wieder ein für sie, egal, ich weiß, ich werde
immer in Angst leben, wenn sie noch irgendwo da draußen ist...
Also stolpere ich ins Bad, ziehe mir Wegwerfhandschuhe über und fasse das Ding an wie eine lebende Schlange, stecke es in eine Tüte und breche sofort auf zur Polizei. Die
müssen mir helfen können, so verrückt, wie die Geschichte auch klingt...sie würden ihre Fingerabdrücke haben, oder ihre DNA, oder was weiß ich denn.
Ich komme also irgendwie ins Präsidium, nach acht Flaschen total benebelt, aber darauf gekommen, dass ich einfach noch einen Tag warten könnte, bin ich nicht; ich hatte aber auch furchtbare Angst, einfach nur Panik, dass sie wieder kommen würde und mich
holen, und hier war ich sicher. Denk dir,
ich bei der Polizei. Freiwillig.
Natürlich wollen die Kerle mich sofort rauswerfen, oder am besten gleich dabehalten, weil ich sturzbetrunken bin, aber da taucht diese eine Beamtin auf, sie ist eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen habe – wirklich, einfach perfekt – und flüstert ihren Kollegen etwas zu, worauf sie mich mit sanfter Gewalt in eine Zelle schieben und uns beide alleine lassen. Ich wäre fast durchgedreht, weil...schon wieder hinter Gittern zu sein macht mich komplett
fertig, aber wenigstens ist da diese herrliche Frau...und da grinst sie mich an, mit einem Funkeln in den Augen, das mir eiskalte Schauer den Rücken hinunter jagt, und fängt an, in einer herrlichen Stimme zu reden –
ihrer Stimme.
'Ganz schön impulsiv, Robert, wie immer...du hast noch nicht mal dein Briefchen gelesen, tut man sowas?'
Ich fange an zu schreien, an den Stäben zu rütteln, versuche, sie mir zu schnappen, will ihr den schönen Hals brechen, aber sie geht nur an die Tür, sagt den Kerlen draußen, dass sie die Situation voll unter Kontrolle hat, und macht das Licht aus.
Woraufhin ich zusammenbreche. Ich halte es nicht aus, schon wieder eingesperrt, und sie ist
da, kann mich...oh Himmel, ich will es mir nicht vorstellen, tue es aber. Da dringt wieder ihre Stimme zu mir durch, süß, leise, schrecklich.
'Sind wir wieder ruhig? Das ist schön. Ich möchte nämlich ein paar Dinge klarstellen. Du bist in meiner Gewalt, du kannst dich nicht wehren, und du wirst mir nie entkommen. Sicher wirst du dir überlegen, was du Alles mit mir anstellen möchtest für das, was ich dir angetan habe, was ich Anderen angetan habe, aber diese Überlegungen werden immer fruchtlos bleiben. Ich habe an einer Stelle mehrere Dokumente hinterlassen, die man sicher finden wird, wenn mir etwas passiert; darin steht nicht nur, dass ich mich schon länger von dir bedroht fühle, komplett mich allen Daten, die man brauchen wird, um dich zu finden, es sind auch alle Beweise gesammelt dafür, dass du tatsächlich vor drei Jahren diese arme Frau überfallen hast. Seit ich das arme Ding, weinend, zitternd, verletzt, damals vor mir hatte und jedes Detail dessen gehört habe, was du ihr angetan hast, habe ich diese Beweise zusammengetragen. Es war ein netter Zeitvertreib, aber er bedeutet jetzt für dich, dass du sofort hinter Gitter kommst, wenn ich das will – oder wenn du irgendetwas gegen mich persönlich unternehmen willst.
Im Gefängnis machen sie Nachts immer das Licht aus, Robert...du wirst ständig im Dunkeln sein müssen, zusammen mit Zellengenossen, die ähnlich wie ich über Leute denken, die böse zu Frauen waren...willst du das?'
Meine einzige Antwort ist ein Wimmern, aber sie ist noch nicht fertig mit mir, noch lange nicht.
'Du wirst also ein guter Junge sein, nicht wahr? Du wirst dich
benehmen und Alles tun, was ich von dir will...und du wirst deine Sache gut machen, weil ein Scheitern immer bedeutet, dass du wieder hinter Gittern landest. Und im Dunklen.'
Ich habe keinerlei Kraft mehr übrig und schluchze ihr nur noch zu, dass ich Alles tun werde, Alles, was sie von mir verlangt. Sie schaltet das Licht wieder ein, und ihr Lächeln ist fast schlimmer als die Dunkelheit.
'Das ist ein wunderbarer erster Schritt auf deinem Weg, ein guter Junge zu werden, mein lieber Robert. Den zweiten Schritt findest du auf meinem netten Briefchen. Lies ihn dir in Ruhe durch, vielleicht, wenn du mal eine Nacht darüber geschlafen hast – vielleicht über einer leckeren Pizza oder so – und halt dich an das, was darin steht, ja?'
Wieder kann ich nur Zustimmung stammeln, da schließt sie die Tür auf, ist völlig wehrlos vor mir, aber sie ist Polizistin, ich bin nur ein betrunkener Irrer, der gerade hereingestürmt kam, ich kann Nichts tun, und ich werde nie etwas tun können...brav wie ein Lamm gehe ich an ihr vorbei, aus der Tür, entschuldige mich artig bei den Beamten und höre beim Hinausgehen noch, wie sie ihr gratulieren, die Situation mal wieder hervorragend entschärft zu haben.
'Super gemacht, Kira.'
Und das war das...darum muss ich tun, was sie mir sagt. Ich weiß nicht, ob sie mich je aus ihren Klauen entlässt...ich hoffe und bete, ja, ich habe damit angefangen, aber so, wie es jetzt aussieht, bin ich verloren. Ich kann nicht mehr schlafen, ohne das Licht brennt, als wäre ich ein Vierjähriger, der Angst hat vor Monstern unter dem Bett. Selbst wenn ich endlich wegdämmere, verfolgen mich die schlimmsten Alpträume. Aufzüge sind für mich ein absoluter Horror geworden, jeglichen engen Räume. Ich kann kein Stück Pizza mehr essen, sie widert mich an. Derweil habe ich sie so geliebt früher.
Die Frage, warum ich mit dir gemacht habe, was ich gemacht habe, ist immer noch nicht beantwortet, nicht wahr? Dafür muss ich dir, glaube ich, den Brief vorlesen. Ich habe ihn dabei, aber eigentlich kann ich ihn schon auswendig, so oft habe ich ihn gelesen.
'Hallo Robert,
ich habe dir jetzt gezeigt, was mit bösen Jungen passiert: Sie werden eingesperrt im Dunkeln, weit weg von allen Leuten, die sie kennen, und sind dort für immer allein. Ein grausames Schicksal – das aber noch viel zu wenig böse Jungen ereilt. Sie hätten es Alle verdient. Aber ich halte mich für eine grundsätzlich gnädige Person, das ist auch das Prinzip meiner Arbeit – ich könnte Jeden schlimmer bestrafen, als ich das tue, aber ich halte mich zurück...sie bekommen nur, was sie verdienen.
Du stimmst mir sicher zu, dass es gnädiger ist, böse Jungen, die keinerlei Reue zeigen, einfach aus der Gesellschaft zu entfernen, statt sie ewig durchzufüttern und dabei gleichzeitig ihr Leben zur Hölle zu machen? Das Gefängnis ist ein furchtbarer Ort – du kennst seine Schrecken nun. Nein, schnelle und endgültige Gerechtigkeit ist besser.
Und du erhältst die Chance zur Läuterung durch mich – ich mache dich zu meinem Engel der Gerechtigkeit. Ich habe dein Leben verschont, weil du perfekt dafür geeignet bist: Du bist stark, hast dich als skrupellos und gewaltfähig erwiesen, und hast keine Freunde, die dich groß vermissen würden, wenn du mal länger fehlst.
In dieser Funktion erteile ich dir meinen ersten Auftrag, mit dem du dich beweisen kannst – ein Versagen bedeutet ein Schicksal, schlimmer als der Tod: Die Zelle wartet jederzeit auf dich, wenn du nicht exakt auf meinem Pfad wandelst...
Du warst nicht alleine in der Nacht, als du die arme Frau überfallen hast. Jemand war bei dir, hat dich unterstützt, dafür gesorgt, dass du deine grauenhafte Tat in Ruhe durchführen konntest. Ich weiß nicht, wer es war, ich weiß nur, dass es eine solche Person gibt.
Er ist ein böser Junge. Entferne ihn, Robert. Lass ihn für seine Schandtat büßen, das Schwert der Gerechtigkeit auf ihn herabfahren. Ein Messer tut es aber auch, die sind so angenehm...persönlich. Schneide die Schuld deiner Vergangenheit weg, und werde so mein Racheengel. Bei Erfolg schreibe mir eine Notiz an das unten stehende Postfach. Misserfolg gibt es nicht. Ich wünsche dir viel Spaß bei deiner Mission!'
...sie hat sogar mit 'Kira' unterschrieben...ihre Arroganz kennt keine Grenzen, aber sie hat mich völlig unter Kontrolle, verstehst du das nicht? Ich
muss tun, was sie sagt. Und weißt du...vielleicht ist das ja gar nicht mal
so schlimm. Ich kann immerhin büßen für das, was ich getan habe damals...und du wirst nun ebenfalls dafür büßen, dass du mir damals geholfen hast. Ich sehe, du zitterst. Tu das bitte nicht, es macht die Sache nur schwerer für mich. Du warst ein guter Freund, aber diesen Freundschaftsdienst hättest du mir damals nicht leisten dürfen. Jetzt führt sie meine Hand, und das Messer darin...
Und denk daran...es gibt schlimmere Schicksale als den Tod. Meines zum Beispiel.
Also, halt still, mein Freund. Ich mache es schnell.“