Ein Lied ist wie ein guter Freund
Die ersten hellen Strahlen der Morgensonne fielen auf ebenfalls erst gefallenen Schnee, der, rein und unberührt, die Bürgersteige wie Puderzucker überzog. Er war von ähnlicher Konsistenz, der Kälte geschuldet, die das Land in eisigem Griff hatte; man hatte gute Aussichten auf weiße Weihnachten. Nur noch zwei Tage musste das Wetter dafür halten, viele Menschen saßen in diesem Moment zu Hause, in ihren Büros, zum letzten Mal auf einer Schulbank, in froher Erwartung des Festes und in der Hoffnung, dass das Wetter halten möge.
Ernst Jäger war keiner dieser Menschen. Im Gegenteil, er hasste dieses Wetter, die grausamen Zähne des Frostes, die in jedes seiner Körperteile bissen, das nicht unter Bergen von Kleidung begraben war, der an seiner noch warmen Haut schmelzende Schnee, der ihm langsam, quälend die Stücke Stoff durchnässte, die ihn eigentlich schützen sollten und so, je länger er hier draußen war, immer mehr frieren ließ. Wie sehr er sich wünschte, jetzt wie all die anderen in einem warmen Büro zu sitzen, den nervenden Kerl am Schreibtisch gegenüber, den unmöglichen Chef, die idiotischen Kunden ertragen zu müssen...aber nur noch zwei Tage lang. Mit Kaffeepausen. Statt in dieser Hölle gefangen zu sein, die die Wärme aus ihm sog, denn welcher vernünftige Mensch glaubte noch an einen feurigen Ort, an dem Sünder bestraft wurden? Das hier war es, das war seine Strafe. Wenn er nur wüsste, womit er das verdient hatte.
Seine Schneeschaufel grub sich in den Puderzucker. Wie schon am Tag zuvor stäubte das gefrorene Wasser davon, und er hatte im Grunde gar nichts erreicht. Man sollte wirklich mit dem Schippen warten, bis es wärmer wurde, und das Material ordentlich zusammenklebte...so war das alles sinnlos, völlig sinnlos. Womöglich war es das, was ihn an der ganzen Arbeit am meisten störte. Er bekam Geld, wenig Geld, dafür, dass er an Stellen, wo Räummaschinen nicht fahren konnten, pulvrigen Schnee entfernte und streute, ohne dass dies irgendeinen
Zweck erfüllte – wen störte etwas Pulverschnee? Man
konnte hierauf nicht ausrutschen! Einzig und allein etwas kosmetischen Effekt hatte die Tätigkeit, aber ihm konnte im Moment nichts egaler sein.
Zum zweiten Mal stieß er zu, etwas zaghafter, etwas vorsichtiger. Die halb gefüllte Schaufel wanderte von einer Stelle zur nächsten...ließ ihre Ladung dort fallen...er füllte sie wieder. Es war stupide, sogar noch stupider als die Arbeit im Büro, und wie oft hatte er sich beschwert, dass er sich nichts Langweiligeres und Hirnloseres vorstellen könnte als seine bisherige Tätigkeit? Er hatte wohl einfach nicht genug Fantasie gehabt.
Und da begann das Pfeifen. Irgendwie hatte er gehofft, in dieser kleinen Ecke seines Gehirns, die noch nicht zu einem kleinen, schwarzen Klumpen aus Verzweiflung und Verbitterung verschrumpelt war, dass es heute nicht so sein würde. „Stille Nacht“ drang in diese Ecke und zerquetschte sie auch zu einem Ball des Bösen. Er ertappte sich dabei, dass er im Geiste den Text des unsäglichen Liedes mit der Melodie verband, und wirklich, Patrick schien sämtliche Strophen zu pfeifen und noch ein paar dazu zu dichten. Die Schaufel hob und senkte sich. Sein Kollege, konstant Töne absondernd, trug den Sack mit Streusalz und spielte Sämann. Warum musste Ernst ausgerechnet zu Weihnachten mit diesem Idioten zusammen gezwungen sein, seine sinnlose Arbeit zu verrichten? Hätte er nicht stattdessen den aktuellen Sommerhit pfeifen können, während sie Blumen gossen oder so? Da wäre Ernst wenigstens der Text nicht bekannt gewesen. Oh, und es wäre wärmer.
Seine Hände hatten bereits jegliches Gefühl verloren, die Schultern wollten nicht nachstehen, als die infernalisch himmlische Melodie endlich stoppte, die während der monotonen, geisteszerrüttenden Schaufelei in seinem Gehirn zu einer Kakophonie des Wahnsinns geschwollen war. Früher hatte er noch gerne Schnee geschippt, nach dem Nachmittagskaffee eine halbe Stunde vor dem Haus...aber das hier? Das war Folter. Vielleicht wäre es erträglich gewesen, wenn er das freiwillig tun würde. Ehrenamtlich vielleicht, um einer alten Frau die Einfahrt freizuräumen, oder um sich den Gang ins Fitnessstudio zu sparen, stattdessen ein wenig Geld verdienen mit körperlicher Tätigkeit...
Doch nein! Er musste das tun, eine Drecksarbeit, der letzte Job, ganz am unteren Ende der beruflichen Nahrungskette. Weil kurzfristig, bei seinem Alter, seinem kreuzlangweiligen Lebenslauf, einfach sonst keine Gelegenheit da war. Drei Monate! Ernst zitterte innerlich vor Wut bei dem Gedanken. Seit drei endlosen Monaten hatte er keine Arbeit mehr, als die Krise seine Firma zur „Verschlankung“ gezwungen hatte – ha, gefeuert hatten sie die Hälfte der Belegschaft, einfach so, durften die das überhaupt? Wie er feststellen musste, offenbar ja, zumindest hatte ihm das jeder gesagt, und Ernst Jäger war kein großer Zweifler, nie gewesen. Er hatte die Abfindung genommen und war gegangen, im Grunde fast froh darüber, denn eigentlich war er nie wirklich glücklich gewesen mit seiner Schreibtischstelle. Wie jäh er doch bald feststellen musste, dass in der aktuellen Lage einfach keine neue Arbeit zu bekommen war...und er trotzdem irgendwie Geld heranschaffen musste.
Ja, mit das Schlimmste an diesem kleinen Nebenjob...er hatte Zeit, seine Gedanken schweifen zu lassen. Viel Zeit und sonst keine Möglichkeiten. Und seine Gedanken waren nichts, in dessen trüben Tiefen er sich im Moment oft aufhalten wollte. Vor lauter Monotonie hätte er fast nicht registriert, dass das ständige Gepfeife in der Tat aufgehört hatte – bis sich Patricks rotwangiges, tumb grinsendes Gesicht in sein Blickfeld schob.
„Das wär die Straßenseite! Tauschen wir für die andere, dann Mittag?“, brachte dieser seine tolle Idee, die im Grunde nur das übliche Prozedere ausgesprochen war – soweit man von drei Tagen von Routine sprechen konnte...ja, konnte man, denn was änderte sich denn je an dem monotonen Ablauf? Sie wechselten. Ernst trug den Sack, streute, Patrick schippte. Und pfiff „Süßer die Glocken nie klingen“.
Es wurde noch ein langer Tag bis Feierabend...Ernst hasste jede Sekunde davon.
Endlich waren die Bürgersteige für heute frei, die Schaufeln verstaut und Ernst hatte
Ruhe vor Patricks Gepfeife. Er war vielleicht ein recht netter Kerl für jemand, der es nie zu mehr gebracht hatte als Straßenfeger, aber Himmel, ging ihm das auf die Nerven. Und wenn es nur so war, weil ihn die Weihnachtslieder ständig daran erinnerten, wie schlecht es ihm ging in der eigentlich als fröhlichste gedachten Zeit des Jahres. Die Tiefgarage, ohne wenigstens etwas wärmende Sonne, war noch eisiger als draußen, und der Anblick seines klimatisierten Wagens wirkte wie der Anblick einer Oase inmitten einer Wüste auf Ernsts Augen. Leider war noch ein anderer Mensch in der Nähe, und die dicke Frau ließ sich viel zu lange Zeit, ihr Hinterteil in ihren Golf zu wuchten...er öffnete den Kofferraum, sah immer wieder nach, ob sie endlich weg wäre, und begann, vor irrationaler Wut zu zittern.
Eine Ewigkeit später war er allein. Schnell schlüpfte er aus den durchweichten Klamotten, die orange Warnweste wanderte ganz nach unten in dem Stapel, und bibbernd streifte er sich über, was schon seit Stunden in einem tiefgekühlten Auto gelegen war: Hemd, Anzug, Krawatte. Auf dem Fahrersitz Platz nehmend ordnete Ernst seine Haare, atmete eine Weile tief durch und vergewisserte sich im Rückspiegel erneut, dass man zumindest auf den ersten Blick nicht sehen konnte, dass er stundenlang im Freien Schnee geschaufelt hatte.
Nur ein weiterer langweiliger Tag im Büro.
Zuhause...er setzte sich an den Küchentisch, wie jeden Tag. Ramona kam herein, wie jeden Tag. Gab ihm einen Kuss auf die Wange, wie jeden Tag. Fragte, wie die Arbeit war, was er mit einem Grunzen beantwortete – wie jeden Tag. Schaltete die Mikrowelle ein. Hm? Ernst legte die Zeitung hin. Kurz darauf stand eine heiße Tasse Glühwein vor ihm.
Das war neu.
Sie ließ sich ihm gegenüber nieder; der Stuhl knarzte. „Ich wollte mit dir reden über die Planung der nächsten Tage! Denkst du nicht, es wird langsam doch Zeit, unserer Tochter ein paar Geschenke zu kaufen?“, fragte sie fröhlich. Ernst nahm einen tiefen Schluck...wenn sie wüsste, wie willkommen der war...um seine Grimasse zu übertünchen. Dass sie jetzt damit anfangen musste...gut, eigentlich hatte er gewusst, dass das Thema irgendwann zur Sprache kommen müsste. Wenigstens schien sie gute Laune zu haben. Noch. Derweil hatte sie nicht aufgehört, zu plappern.
„...ich hab hier einen Wunschzettel von ihr. Was sagst du dazu? Dieses PlayMobil-Modell wäre doch eine Sache, da liegt sie mir schon länger in den Ohren, und ich dachte mir, wir könnten außerdem so ein Perlenkästchen kaufen, weißt schon, mit dem man Freundschaftsarmbänder macht, das wäre doch was für ihre kleine Gruppe. Und ihr Prinzessinnenkleid vom letzten Fasching ist auch total kaputt, da könnten wir auch ein neues kaufen...“
Ernst unterbrach ihren Monolog, indem er die Hand hab. „Meinst du nicht, wir sollten dieses Jahr ein wenig kürzer treten mit den Ausgaben?“, gab er in entnervtem Ton zu bedenken. Ramona reagierte, als hätte er ihr mit einem Hammer ins Gesicht geschlagen. „Wie, warum denn das? Es läuft doch prima in der Arbeit, hast du gesagt, da könnten wir uns auch etwas leisten...“, beschwerte sie sich in weinerlicher Stimme. Ernst seufzte.
„Das war noch vor drei Monaten so, ja. Die Dinge haben sich...geändert durch die Krise. Ist nichts mehr alles so einfach wie früher...“
Sie runzelte die Stirn. „Das verstehe ich nicht. Was ist denn mit unserem Australienurlaub? Dafür haben wir dann schon Geld? Kannst du mir doch nicht erzählen.“ Wieder musste Ernst seufzen. Er schloss die Augen für einen kurzen Moment. Auch
dieses Thema noch...er hatte es ihr eigentlich schonend beibringen wollen, vielleicht bei einem Essen, das er für sie gekocht hatte, obwohl er darin gar nicht so gut war, bald...es half nichts.
„Nein, dafür haben wir auch kein Geld. Tut mir Leid.“, war seine resignierte Antwort. Was ihr noch mehr Schock auf das Gesicht zauberte. Und in ihre Stimme:
„Was? Das war doch schon seit Monaten geplant! Wie...warum sagst du mir das jetzt? Kurz, bevor wir tatsächlich losfliegen? Was sollen wir denn über Sylvester...es ist so
kalt hier!“
Kurz musste Ernst sein Gesicht in den Händen vergraben. „Hör zu, es tut mir wirklich, ehrlich Leid, aber es geht einfach nicht. Wir haben das Geld dafür nicht.
Ich habe das Geld dafür nicht.“
Langsam kroch Verzweiflung in ihre Miene. „Heißt das...du bist schlicht zu
geizig dafür? Du gönnst mir und deiner Tochter keinen Urlaub, ihr ihre Geschenke nicht...was soll das? Wenigstens zu Weihnachten können wir doch ein wenig mehr ausgeben!“, und damit begann sie zu weinen.
So viel zu ihrer guten Laune. Wenn er nur nicht...er legte so viel Mitleid in seine Stimme, wie er konnte, obwohl er leise ärgerlich wurde, weil sie so eine Aufregung machte über die paar Geschenke, den Urlaub...wenn er daran dachte, was er für Probleme im Gegensatz hatte...
„Ramona...ich hätte es dir wirklich gerne sanfter beigebracht, aber manchmal laufen die Dinge halt anders, als sie sollen...“
„Und das soll die Erklärung dafür sein, dass du dein schönes Geld nicht nutzen willst, um deiner Familie einmal eine kleine Freude zu machen?“
Wie konnten Frauen nur so schnell von Enttäuschung zu Wut umschalten? Wobei er gerade spürte, wie seine Resignation zu ähnlichen Emotionen umgesetzt wurde. Also wurde seine Stimme etwas lauter: „Denkst du wirklich, ich wäre so egoistisch, die Sache nur abzublasen, weil ich keine
Lust habe, etwas auszugeben? Welchen Teil von 'es geht nicht' hast du denn nicht verstanden?“
Sie konnte sich offenbar gerade so nicht davon abhalten, aufzustehen.
„Den 'kurz vor knapp'-Teil, was soll das? Was hat sich denn so groß verändert in letzter Zeit, hat unsere Bank beschlossen, pleite zu gehen?“
Ernst reichte es jetzt. Was war das, ein Verhör? Wenn sie Antworten von ihm wollte, dann sollte sie Antworten bekommen!
„Was sich verändert hat? Ich bin seit einer Weile
arbeitslos, verdammt!“
Das übertraf alle bisherigen Schockmomente. Ramonas Mund stand offen vor Unglauben. Und Ernst konnte auch nicht glauben, was er gerade gesagt hatte. Er musste versuchen...die Situation irgendwie zu...
„Du...du bist...ich hab mich gerade verhört, oder?“, brachte seine Frau hervor, und da wusste er, es war zu spät, er konnte es nicht mehr rückgängig machen. Tiefe Scham erfüllte ihn, und seine Verbitterung gewann erneut die Oberhand in dem Gefühlschaos, das ihn erfüllte.
„Nein. Hast du nicht. Die Krise hat mich meinen Job gekostet.“ Seine Stimme war erstaunlich ruhig.
Ihre Stimme wurde das plötzlich auch. Und kalt, so kalt, wie ihm heute trotz der Arbeit noch nicht gewesen war:
„Wie lange schon?“
Kein Sinn mehr im Lügen. „Drei Monate.“
Ein Flüstern wie aus den tiefen der frostigen Hölle traf ihn ins Mark: „Du hast mich drei Monate lang glauben lassen, es wäre alles in Ordnung bei dir, und du würdest jeden Tag normal zur Arbeit zu gehen?“
Etwas in ihm zerbrach, als sie diese Stimme benutzte, die er noch nie zuvor an ihr gehört hatte. Seine Antwort war gestammelt, unzusammenhängende Worte, die sie sofort wegwischte: „Willst du dich jetzt entschuldigen, oder was?“
„Ramona...“
„Hör auf! Was auch immer du jetzt sagen willst, spar es dir!“, kreischte sie, und Ernst zuckte zusammen. Sie sprang auf.
„Ich will dich heute nicht mehr sehen, vielleicht auch Morgen nicht! Raus mit dir, du verlogenes Schwein, was fällt dir
ein? Drei Monate!
Drei Monate! Ich glaube, ich spinne! Ich...ich weiß nicht, was ich denken soll! Bin ich
blöd? Dass du so lange mich
getäuscht hast...“
Unkontrolliert rannen Tränen über ihre Wangen
Ernst fuhr hoch. Jegliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Er rannte nach draußen, seine Jacke packend, seine Schuhe, und auf die Straße. Sein eigener Gehweg war nicht gewischt worden. Der Schnee tränkte seine Socken. In der Jackentasche war der Autoschlüssel, wie immer; er fuhr davon.
„...und dann hat sie mich mehr oder minder herausgeworfen, ich konnte gar nichts mehr erklären oder so, ich bin einfach verschwunden...“
„Das ist hart, Mann.“
Freddy hob sein Glas und zwang Ernst, es ihm gleichzutun. Beide tranken noch einen Schluck Bier, Ernsts alter Freund deutlich mehr als dieser selbst. Es war sein drittes. Nachdem sich die ursprüngliche Aufregung bei Ernst etwas gelegt hatte – er fand sich nach einiger Zeit planlosen Fahrens in einer ihm völlig unbekannten Straße wieder – hatte er den unglaublichen Drang verspürt, mit jemandem zu reden, egal mit wem, sich wenn schon nicht bei seiner Frau, dann doch bei einer anderen Person von seinen Lügen zu befreien. Also rief er Freddy an, denn wenn man sich abends auf ein Glas Bier – oder mehr – und tiefsinnige – oder weniger – Gespräche irgendwo treffen wollte, dann hatte der prinzipiell immer Zeit. Zudem kannten sie sich länger, als er sogar Ramona kannte, und er wusste, dass Freddy ihn sicher nicht verurteilen würde. Sein alter Freund nahm die Dinge immer etwas lockerer als Ernst es tat. Und gerade hatte er tatsächlich alles erzählt, ohne groß unterbrochen zu werden...
„Wobei ich das ganz große Problem dabei nicht mal sehe“, gab Freddy plötzlich zu bedenken. Was Ernst einen ungläubigen Blick entlockte. Sein Freund grinste und führte seine These weiter aus: „Frauen regen sich doch immer ganz schnell auf und sind dann wieder leicht versöhnt. Kenn ich doch auch von meiner Vera.“
Die Implikation, dass wirklich alle Frauen wie Freddys seien, gefiel Ernst nicht besonders; obwohl Ramona nicht die Hellste war – sonst hätte er sicher keine drei Monate lang seine Fassade aufrecht erhalten können – hatte er Vera schon immer für eine selten dämliche Person gehalten, mit einer Dummheit, die eigentlich gesetzlich verboten sein sollte. Weswegen er sich auch nicht zurückhalten konnte: „Vera scheint mir so gar nicht der Typ zu sein, sich überhaupt groß über was aufzuregen...dafür ist sie zu...still.“ Zum Glück hatte ihr Mann schon genug getrunken, um den Unterton nicht mitzubekommen, also lachte er nur. „Ach, weißt du, sie war einmal schon ganz schön sauer auf mich...hätte ich auch erst nicht gedacht...als sie herausgefunden hat, dass ich sie mit dieser Friseuse betrogen hatte...“
Alkoholbedingt brauchte Ernst eine Weile, um zu reagieren. „Du hast
was?“
„Wusstest du noch nicht? Schon zwei Jahre her, war nur so eine kleine Affäre nebenher. Du weißt, wie das ist. Aber die Wogen haben sich geglättet...keine Sorge.
Wobei sie besser nicht herausfinden sollte, was ich mit meiner süßen Kollegin mache.“
Für Ernst brach eine Welt zusammen. Hatte er sich wirklich nicht verhört? Hatte einer seiner besten Freunde gerade ohne mit der Wimper zu zucken zugegeben, dass...er wusste, über eine durchaus nicht triviale Sache wie plötzliche Arbeitslosigkeit nicht zu reden, weil es ihm einfach zu peinlich gewesen war, war auch nicht besonders nett, aber so was...und dann auch noch wiederholt...wobei, war Freddys Verhalten wirklich so viel schlimmer?
Als er ihm stumm dabei zu sah, wie er noch einen langen Schluck Bier nahm, wusste Ernst die Antwort schon. Ja, war es. Freddy tat es nämlich offensichtlich kein Stück Leid. Sein guter alter Freund nahm die Dinge
wirklich viel lockerer als er, wie es schien. Und das gefiel Ernst überhaupt nicht. Er war enttäuscht, verletzt – an einem Tag, an dem er das wirklich nicht brauchen konnte. Und im Hintergrund spielte das Radio „Last Christmas“.
Aber...was sollte er denn jetzt
sagen? „Freddy, merkst du eigentlich nicht, was für ein verdammter...“ Nein. Das kam irgendwie nicht in Frage. Trotzdem...Ernst war komplett mit den Nerven am Ende. Ein Schlag nach dem anderen. Das war doch nicht fair...
„Pass auf“, sagte sein heuchlerischer Bastard eines Freundes, „ich hab nen super Plan. Du schläfst heut Nacht bei mir, dann kannst du Morgen in Ruhe zu Ramona gehen und ihr alles erklären.“
Und wieder war er verwirrt. Da war er wieder, der alte Freddy, immer hilfsbereit und nett, wenn ein Freund Hilfe brauchte, für ihn da...was sollte er denn jetzt denken?
Ernst wechselte das Thema, um seine Gedanken zu ordnen: „Klingt...vernünftig. Das Problem dabei ist: Ich weiß gar nicht, was ich ihr überhaupt erklären soll. Ich habe nämlich keine wirkliche Erklärung dafür, dass ich es ihr verschwiegen habe. War mir das Ganze nur so peinlich, oder...“
Hilfesuchend sah er in das Gesicht seines Freundes. Und dieser...zuckte mit den Schultern.
„Tja, da brauchst du mich jetzt nicht fragen...ich denke, heute müssen wir auch nicht drüber nachdenken, oder? Noch ein Bier, oder was Härteres?“
Immer hilfsbereit, es sei denn, es wäre irgendwie besonders anstrengend für ihn. Ein Mann einfacher Lösungen, dieser Freddy. Ernst trank sein aktuelles Bier aus. „Danke...ich brauch Morgen einen klaren Kopf. Können wir einfach gehen?“
Natürlich konnten sie das, natürlich. In grauenhafter Stimmung folgte Ernst Freddy nach Hause, welcher Gott sei Dank genug Gespür dafür hatte und seinen Mund hielt, ohne noch mehr Dinge zu erzählen, die eine alte Freundschaft tief erschüttern konnten...
Der nächste Morgen begann um zehn Uhr, als beide Männer ihren Schlaf überwunden hatten. Freddy kochte – grauenhaften – Kaffee; Vera ließ die beiden in Ruhe, zum Glück, Ernst hätte hirnloses Gerede von ihrer Seite nicht ertragen können. Nach einer heruntergewürgten Tasse und ein paar Gläsern Wasser – er hatte doch zu viel Bier getrunken am Abend zuvor – warf er einen schnellen Blick auf die Uhr. Er hatte noch Zeit...aber er wollte weg von hier, so schnell als möglich.
„Freddy, Danke für die Bewirtung, aber ich muss los. Hab mir zur Überbrückung so einen Nebenjob geholt, wär heut Nachmittag eine kleine Schicht...“, murmelte er also und stand vom Küchentisch auf. Sein...Freund hob die Augenbrauen.
„Am Heiligabend? Was machst du denn für eine Drecksarbeit?“
Ernst knirschte mit den Zähnen. Ja, so eine war es, in der Tat. Aber sie zu verlieren konnte er sich jetzt wirklich nicht leisten, und er war auf perverse Weise auch irgendwie stolz auf sich, dass er das seit dem ersten Schnee durchgehalten hatte. „Schneeschippen. Mistjob, schlecht bezahlt, aber es hält fit, ne?“, grunzte er. Was Freddy ein Lachen entlockte. „Scheiße, Alter, das würde ich ja im Leben nicht machen wollen. Ist doch kompletter Matsch da draußen...na ja, wenn man keine Wahl hat, nicht...ich bin heilfroh, dass ich heute entspannen kann und ein wenig die Füße hochlegen.“
Danke. Arsch. Ernst zog es jetzt wirklich nach draußen, weg von diesem oberflächlichem Kerl, von dem er gedacht hatte, er wäre ein wirklich netter, mitfühlender Mensch...doch etwas hielt ihn noch zurück. Ein Hoffnungsfaden, dass er sich doch getäuscht hatte über die Veränderung, die Freddy in der letzten Zeit durchgemacht hatte? Also hielt er noch einmal inne und formulierte eine Frage: „Sag mal, du arbeitest doch in so einer Anwaltsfirma, oder? Die brauchen doch sicher auch Leute, die sich in der Verwaltung auskennen, oder meinetwegen einfache Schreibkräfte. Kannst du dich vielleicht umhören, ob da was für mich frei wäre, ein gutes Wort bei deinem Chef einlegen? Mir würd ja schon ein Praktikum reichen, irgendwas, damit ich wieder einsteigen kann!“
Freddy verzog das Gesicht, und Ernsts Herz sank. „Tja, so einfach ist das jetzt auch wieder nicht“, gab Ersterer zu bedenken. „Wir sind im Moment eigentlich ausgelastet, und weißt du...so gut ist mein Chef auch nicht auf mich zu sprechen, war wohl ein wenig zu gierig mit dem Gehalt in letzter Zeit...ich würd dir schon gerne helfen, aber ich denk eher nicht, dass das in naher Zukunft was wird. Ich bin jetzt ja auch über Weihnachten weg und so...“
Ernst unterbrach ihn. „Schon gut, schon gut...ich muss mir dann halt selbst helfen...“
Und wieder ein Hoffnungsfaden gerissen. Wie sehr sollte er Freddy verübeln, dass er da keine Möglichkeit sah, ihm zu helfen? Oder hatte er doch nur keine Lust, Ernst zu unterstützen? Egal. Raus hier. Weg von diesem heuchlerischen Typen. Warum genau waren sie jahrelang Freunde gewesen? Ein grausiger Heiligabend.
Nach einem Happen zu Mittag – das Sandwich schmeckte nach nichts, obwohl er Schinken eigentlich liebte – kam Ernst an seinem heutigen Einsatzgebiet an: Dem Bahnhof. Patrick, sein nerviger Partner, wartete schon; dies war kein Nebenjob für ihn, sondern seit Jahren sein Beruf, er war immer überpünktlich, weil er sonst nichts zu tun hatte. Gemütlich war er am Rauchen, die Kälte offenbar ignorierend...wobei, am heutigen Tag war es gar nicht so kalt. Was bedeutete, dass nur ein kümmerlicher Rest Schnee für weiße Weihnachten übrig bleiben würde. Herrlich! Bedeutete natürlich auch, dass der Schnee, der durchaus noch da war, ein feuchter Matsch war, grausig zu schaufeln, und wundersamerweise schien sämtliche weiße Restpampe der Stadt sich hier versammelt zu haben, um die Fahrgäste zu behindern. Missmutig schlurfte Ernst zu Patrick, der ihn freundlich begrüßte: „Morgen, Kamerad! Frohe Weihnachten! Hast dich ja extra in Schale geworfen für den Anlass!“
Verwirrt blickte Ernst an sich herunter – und stellte fest, dass er vor lauter Verwirrung noch immer seinen Anzug anhatte, den er schon seit Monaten nur noch zu Täuschungszwecken getragen hatte. Die scharfen Bügelfalten, die geschmackvolle Krawatte, das blütenweiße Hemd, sie widerten ihn an. Er stammelte ein wenig vor sich hin, bis Patrick abwinkte: „Ein wenig durcheinander darf jeder mal sein. Ich fang schon mal für uns beide an, zieh dich in Ruhe um. Du hast deine Sachen doch hoffentlich dabei?“
Der echt besorgte Ton ließ Ernst tatsächlich lächeln. „Ja, ja, hab ich. Danke, Patrick. Ich bin sofort zurück.“
Sein kurzer Anflug sehr dünner guter Laune verflog sofort wieder, als er feststellen musste, dass er natürlich nicht die Arbeitsklamotten zum Trocknen aus dem Kofferraum geholt hatte und so noch von gestern völlig durchweicht waren. Es half nichts, er musste sich hineinzwängen; es war kalt, feucht, ekelhaft. Er beeilte sich, um die Tortur so schnell als möglich hinter sich zu bringen, rannte fast zurück zum Bahnhof und packte gleich den Sack Streusalz, damit Patrick nicht das Schaufeln unterbrechen musste. Kurz darauf stellte er fest, dass es einen guten Grund gegeben hatte, dass der andere immer mit dieser Tätigkeit angefangen hatte: Der Sack war
schwer, weit schwerer als eine Schaufel voll Schnee, und zum Streuen musste er ihn immer mit einer Hand halten. Seine ungeübten Schreiberhände protestierten bald, aber er biss die Zähne zusammen und machte weiter. Wenn der Tag schon schlecht sein wollte, dann doch bitte ganz und gar miserabel, vielleicht konnte er so Karmapunkte für den nächsten sammeln, er brauchte jedes bisschen Glück, das er bekommen konnte; und irgendwie half der körperliche Schmerz, ihn von der grauenhaft eintönigen Arbeit abzulenken. Und vor den schwarzen Gedanken, die zwischen Ramona, Freddy und „Oh, du fröhliche“, das Patrick pfiff, alternierten.
Als sie später wechselten, stellte er fest, dass der feuchte Schnee auf den Bahnsteigen doch nicht allzu viel leichter war als ein voller Sack Streusalz; wenigstens konnte er beide Hände dafür verwenden, was beiden Armen später den grauenhaftesten Muskelkater verursachen würde, wie er schon jetzt vermutete.
Irgendwann bekam er eine Nachricht auf sein Handy, von Ramona: „wehe du kommst nicht zur Christmette. wir reden danach.“, was bedeutete, dass der eigentlich besinnliche Abend auch versaut war. Er hatte außerdem gerade genug Zeit, nach der Arbeit zur Kirche zu fahren, also konnte er nicht einmal vorher mit seiner Frau und seiner Tochter sprechen...zum Glück würde er die Bescherung nicht verpassen, denn die war nach der Kindermesse angesetzt, gegen sechs Uhr.
Noch mehr durchnässt, durchgefroren und durcheinander kam er gerade noch rechtzeitig an. Die Kirche war sehr voll, und offenbar hatte seine Familie sehr lange auf ihn gewartet, weswegen sie nahe des Eingangs stehen mussten; so konnte er sich wenigstens neben sie stellen. In seinen Arbeitssachen; Zeit zum Umziehen war nicht mehr gewesen.
„Wie siehst du denn aus?“, flüsterte Ramona. Er verzog das Gesicht. „Ich hatte zu tun.“, grummelte er. Ihre Reaktion war ein Kopfschütteln, missbilligend, und sie wollte offenbar keine weiteren Worte verlieren. Was auch gut so war, denn in diesem Moment begann der Gottesdienst.
Und sie sangen...“Oh, du Fröhliche“...als ob ihn das Pfeifen des gleichen Liedes den Tag über nicht schon genug aufgeregt hätte! Was war das, ein grausamer Scherz des Himmels? Und die Lichter strahlten, und alle Menschen waren fröhlich. Christus kam, um später die Welt zu retten. Mehrere Lesungen. Oft wanderte Ernsts Blick zur Seite, zu seiner Frau und seiner Tochter; wann immer erstere ihn bemerkte, kam ein missbilligender Blick zurück, der ihn genau ins Herz traf. Ein Blick voll Verachtung, Unverständnis...und es wurde „Süßer die Glocken nie klingen“ gesungen, von diesem Moment an wusste Ernst, dass ihn irgendjemand leiden lassen wollte dafür, dass er diesen Fehler begangen hatte.
Die Predigt begann. Das freudige Ereignis...der zweitschönste Tag des Jahres...Frieden auf Erden...
Die vielen Menschen um ihn herum ließen ihn schwitzen. Der Weihrauch machte ihn benommen. Seine Schuld und Scham drückten ihn nieder. Die lange Nacht des Vortags trug ihren Teil dazu bei. Ernst wurde schwindelig. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Die Worte des berobten Menschen vor dem Altar brodelten in seinen Ohren, wurden verzerrt zu Anklagen. Zu Verhöhnungen. Jesus war geboren, um seinem Volk Frieden zu bringen? Offenbar nicht Ernst. Ernst bekam diese Nacht seine Strafe zu spüren. Schweiß rann seine Stirn hinunter, er begann, sich vor dem unvermeidbaren Ende zu fürchten: er würde mit Ramona reden. Lange. Sie würde laut werden. Er würde sich nicht verteidigen können, nicht erklären können, warum er es getan hatte, warum er seine Frau belogen hatte...wie es weiter gehen sollte.
Seine Familie ging nach vorne, um ihre Hostien entgegenzunehmen.
Später würden sie „Stille Nacht“ singen, wie jedes Jahr.
Ernst floh aus der Kirche.
Er rannte fast durch die Straßen nach Hause, sein Auto vergessen, vage Pläne in seinem Kopf formend, die sofort wieder zerstoben. Er konnte es nicht...konnte sich nicht Ramona stellen, ihren missbilligenden Blicken, denen seiner Tochter, die keine Geschenke von ihm bekommen würde...so wenig, wie er sich dem gleichen hatte stellen können, als er seine Arbeit verloren hatte. Stattdessen war er weggelaufen vor der Wahrheit, hatte sich versteckt hinter einer Fassade aus Lügen, das Vertrauen seiner Frau ausnutzend, um ein einziges Gespräch zu vermeiden, vor dessen Ausgang er sich fürchtete.
Warum mit dem Davonlaufen aufhören? Lügen halfen jetzt nicht mehr, und er konnte auch nicht mehr rückgängig machen, dass er aus der Kirche verschwunden war...er würde schnell nach Hause laufen, ein paar Sachen in eine Tasche stopfen, sich irgendwo verstecken, bis ihn niemand mehr sah, bis die glücklichen Familien um ihre Weihnachtsbäume standen und sich freuten, verdammte Lieder sangen...und dann würde er sein Auto holen und verschwinden, nie wieder zurückkommen, sich nicht mehr der Schande stellen müssen, die sein Leben geworden war. Unvermittelt brach er in Tränen aus, seine Schritte nicht verlangsamend, lief heulend durch die Straßen – stille Nacht, heilige Nacht...die zweitschönste Nacht des Jahres. Nach Ostern. Ja, da geschah ein größeres Wunder. An Weihnachten wurde nur ein Kind geboren, das geschah ständig, dass ein Toter wieder auferstand, das war neu! Ein Zeichen? Sollte er auch ein neues Leben beginnen, irgendwo, fern, eine neue Existenz aufbauen, alleine...ha, dafür bräuchte es ein großes Wunder. Wahrscheinlich würde er in der Gosse landen. Es war ihm gleich. Ihm war alles egal an diesem Abend, als er einsam durch die Straßen zog, gequält von Schuld und Schmerz. Heute war Jesus auf die Welt gekommen, um seine Seele zu retten...ha. Ein guter Witz, so grausam wie die ganzen anderen, die in den letzten paar Stunden auf seine Kosten gemacht worden waren. Die ganze Festlichkeit, die Lieder, sie konnten ihn doch alle mal...
...was war das? Die Straßen waren komplett leer, die Leute waren alle mit ihren Familien zu Hause oder in der Kirche, warum hörte er auf einmal die Melodie von „Leise rieselt der Schnee“ - und das kurz vor seinem Haus?
Er trat um die Ecke...und erstarrte.
„Patrick?“
Sein Kollege sah auf von dem Schneehaufen, den er gerade dabei war, mit seiner Schaufel zu vergrößern. „Ja, hallo Ernst! Frohe Weihnachten noch mal – was machst du denn hier an diesem schönen Abend?“
Der Angesprochene brauchte kurz, um zu reagieren: „Ich...ich wohne hier. Du...bist am Arbeiten?“
Patrick nickte. „So siehst aus, nicht wahr? Man hat deine Gegend offenbar übersehen beim Räumen, und es hieß, wenn das heute noch erledigt wird, gibt’s Bonusgeld. Kann ich immer brauchen, und ich hab ja sonst nichts zu tun heute – der Fertigstollen im Backofen kann auch noch ein paar Stunden länger auf mich warten. Wird umso besser schmecken danach!“
Das war...Patrick hatte wirklich nichts anderes zu tun heute, als vor seinem Haus Schnee zu schaufeln? War das noch ein böser Scherz auf seine Kosten? Ernst schüttelte den Kopf. „Ich glaub's ja nicht...von all den Menschen auf der Welt...“
muss ich diesen nervigen Pfeifer treffen, was kommt als nächstes? Ein Meteoritenhagel?
Ein Grinsen antwortete ihm. „Ja, ein glücklicher Zufall, was? Ich sag's ja immer wieder, es gibt noch Wunder. Dachte, ich wäre hier drei Stunden lang allein beschäftigt, freut mich unglaublich, dass du auch nur für ein paar Worte da bist. Aber mal im Ernst – ha – was treibt dich denn hierher?“
Schon hatte Ernst den Mund geöffnet, um Patrick zu sagen, dass ihn das überhaupt nichts angehe, dass er und seine Lieder sonstwohin gehen könnten, um danach in die Wohnung zu stürmen, seine Sachen zu packen und zu verschwinden...als irgendeine Stimme noch verbliebener Vernunft in ihm geradezu schrie, wie sehr er sich gerade als Idiot gebärdete. Der Mann, der vor ihm stand, hatte offenbar weder Frau noch Kind, war Mitte fünfzig und im Grunde professioneller Schneeschaufler und Straßenkehrer, sein Abend würde aus einem einsam gegessenen Stollen in einer sicherlich kargen Wohnung bestehen – und er konnte sich ganz ehrlich darüber freuen, mit einem von Herzen offenen Lächeln, dass ein Mensch, den er erst sein fünf Tagen kannte, ihn nur ein paar Worte schenkte.
Was für ein Typ war Ernst denn wirklich? Jemand, der bereit war, alles hinzuwerfen, weil er nicht genug Rückgrat besaß, um mit seiner Frau zu reden, und gleichzeitig einen anderen zu beleidigen, der es viel, viel schwerer hatte als er und die Bürde mit einem Grinsen im Gesicht tragen konnte? Nie hatte er Patrick in einem anderen Zustand als absoluter Fröhlichkeit erlebt...und egal, ob sein Pfeifen nervte, jetzt erst kam ihm, was für ein toller Mensch eigentlich vor ihm stand, mit leicht besorgtem Blick für einen im Grunde komplett Fremden.
„Patrick...ich bin gerade dabei, eine unglaubliche Dummheit zu begehen. Falsch, ich habe sie bereits begangen“, gab Ernst mit brechender Stimme zu. Er ließ den Kopf hängen...und zuckte etwas zusammen, überrascht, als eine Hand sich auf seine Schulter legte. „Dass etwas nicht ganz in Ordnung ist, hab ich mir gedacht, als ich dich gesehen habe, Ernst. Was ist denn los? Es gibt keine Dummheit, die man nicht durch eine gute Tat wieder wettmachen kann, denke ich mir. Also erzähl mir dein Problem.“
In Ernst Miene spiegelte sich seine Verzweiflung wider...und prallte ab an Patricks erneut aufgesetztem ehrlichem Lächeln. Er brach zusammen, seine Tränen flossen frei, und er erzählte seinem Kollegen die ganze Geschichte. Dieser schaufelte, ohne sein Zuhören zu unterbrechen, eine kleine Bank in den Schneehaufen neben ihnen, und so saßen sie mehrere Minuten zusammen, während der Ernst oft unter Schluchzen pausieren musste, bis ihn der Ältere durch aufmunternde Geräusche und Gesten zum Weitermachen brachte.
Endlich war alles aus ihm herausgesprudelt, und Ernst verstummte. Einen kurzen Moment lang waren beide Männer still, und eine irrationale Furcht begann in ihm zu keimen, dass Patrick die Sache mit einem ähnlichen Schulterzucken abtun würde wie Freddy, einen sinnlosen Ratschlag bringen würde und ihn ähnlich im Stich lassen.
„Du hast also deine Frau belogen, ohne wirklich zu wissen, warum, und dein ehemals bester Freund hat sich als kolossaler Arsch herausgestellt? Du hattest es wirklich nicht leicht, du Armer. Und das an Weihnachten...“
Ernst wurde ein Taschentuch gereicht, dass er mit einem erstickten Wort des Dankes annahm. Sein verlängerter Rücken war fast taub vom Sitzen auf der Schneebank, aber ihn konnte nichts stören. Patrick, entgegen jeder Befürchtung, sprach weiter: „Aber ich denke wirklich nicht, dass aller Tage Abend ist. Besonders nicht an
diesem Abend. Du hattest Recht, jetzt wegzulaufen, wäre eine gewaltige Dummheit. Das hat noch nie Probleme gelöst. Du weißt, dass du dich einem Gespräch mit deiner Frau stellen musst, oder?“
„...ja...“
„Hätte nichts anderes erwartet. Du
bist doch ein vernünftiger Mensch. Und heute ist auch die beste Gelegenheit dazu! An Weihnachten wird jeder versöhnlich. Du hast es ja auch insofern gut, als dass du wirklich nur was dafür kannst, dass du es so lange verschwiegen hast. Stell dir vor, du hättest etwas verschwiegen, was du selbst verschuldet hast – das wäre viel schlimmer gewesen!“
So hatte Ernst das noch gar nicht betrachtet. Es stimmte: Rational betrachtet war es furchtbar dämlich von ihm gewesen, Ramona nicht gleich sein Scheitern im Beruf zu beichten. Letztlich war es nämlich wohl schon seine Schuld, weil er sich nicht unentbehrlich gemacht hatte, aber das war ein übersehbares Detail; Bürokräfte sind
immer entbehrlich. Es war einfach nicht so, als hätte er eine monatelange Affäre verschleiert...
Als hätte Patrick seine Gedanken gelesen, sprach er weiter: „Wobei das nicht das einzige Gespräch ist, was du in naher Zukunft führen solltest. Weißt du, worauf ich hinaus will?“
„Freddy...“
„Heißt so dein alter Freund? Ja, genau den meine ich. Du kannst ihn auch nicht einfach in dem Glauben lassen, dass du stumm dem zustimmst, was er tut, was er getan hat. Echte Freunde sind
ehrlich zueinander. Er hat sich unglaublich daneben benommen – aber er hat dir genug vertraut, dir alles zu erzählen, weil er wusste: Du bist sein Freund, du wirst es nicht weiter erzählen. Wenn du auch an euere Freundschaft glaubst, dann sprich ihn an und sag ihm, dass du das nicht in Ordnung findest. Ist euere Bindung noch stark genug, wird sie das überstehen. Wenn nicht, dann war sie es auch nicht wert.“
Ernst atmete schwer wie nach einem Marathonlauf. Langsam, wie Öl nach dem Umrühren, beruhigten sich seine tanzenden Gedanken. Ja, er konnte nicht einfach davonlaufen...nicht noch einmal Patrick hatte völlig Recht. Er musste mit den Menschen, die ein Problem mit ihm oder mit denen er ein Problem hatte, reden. Natürlich würde das schwer werden, aber – und da sah er seinen Partner wieder mit Bewunderung an – man konnte viel schlimmere Dinge durchstehen. Was ihn zu einer ersten Entscheidung brachte...denn er wusste nicht, ob er es durchstehen würde, oben in der Wohnung alleine auf Ramona zu warten.
„Patrick...Danke. Danke für deine Hilfe. Du glaubst nicht, wie wichtig das für mich war.“
Der Ältere wurde noch etwas röter im Gesicht, als seine Wangen ohnehin schon waren.
„Keine Ursache, wirklich. Du hast doch alles selbst schon gewusst. Manchmal braucht man nur einen Schubser in die richtige Richtung...“
Ernst lächelte. „Trotzdem...ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte. Ich...ich kenne dich erst seit so kurzer Zeit, und du hast mir schon so geholfen...“
„Dafür sind Freunde doch da, oder?“
In diesen warmen und ehrlichen Worten steckte eine tiefe Wahrheit, das spürte Ernst. Besonders der „Freunde“-Teil. Er ließ seinen Blick über die Straßen schweifen.
„Jetzt ist hier das Fegen ein wenig ins Hintertreffen geraten...ich habe hinten in der Garage meine eigene Schaufel. Lass uns ein wenig was tun, bis meine Frau zurückkommt.“
Patrick begann, abzuwinken: „Bitte, ich will euch nicht stören, das ist deine Sache...das Ding schaufelt sich Morgen genauso frei. Ich geh jetzt einfach nach Hause...“
„Unfug! Du gehst nicht nach Hause. Wir sorgen jetzt zusammen dafür, dass du dein Weihnachtsgeld dafür bekommst, hier geräumt zu haben – sieh's als Geschenk von mir – und dann isst du mit uns zu Abend. Wir haben genug.“
Der Straßenfeger hatte Mühe, seine Freude über das Angebot zu unterdrücken, und versuchte das mit diversen Beteuerungen, sich nicht aufdrängen zu wollen. Ernst blieb hart. Er hätte beinahe seinen eigenen Heiligabend komplett ruiniert, jetzt würde er den dieses Mannes, dem er zu verdanken hatte, dass es nicht zu einem Desaster geworden war, so sehr verschönern, wie es ging. Seiner Frau würde er natürlich erklären müssen, was dieser Fremde hier wollte und warum er auf einmal zu einem so guten Freund geworden war, dass er gleich mitessen dürfe...aber er würde das schaffen. Irgendwie. Genauso, wie er es schaffen würde, sich zu entschuldigen. Immerhin war Weihnachten – da war alles möglich...und die Leute in versöhnlicher Stimmung, in der Tat.
Sie schippten, und als die ersten Takte von „Alle Jahre wieder“ gepfiffen durch die Luft wehten, machte Ernst das überhaupt nichts mehr aus. Auch mit schon ewig bekannten Liedern konnte man sich versöhnen.
Was ihn an etwas erinnerte...als Patrick eine kleine Raucherpause einlegte, öffnete er sein Handy.
„freddy, wir müssen reden. hast du vor abreise noch kurz zeit? frohe weihnachten“, schickte er an einen alten Freund.
Kurz darauf kam die Antwort – offenbar war Freddy gerade nicht besonders abgelenkt, weil nicht in der Kirche.
„wollt dir eh grad texten. hab chef und frau zu mir eingeladen heute. ist was in aussicht für dich! frohe weihnachten auch dir, sehn uns morgen“
Sehr perplex senkte er das Mobiltelefon. Patrick sah schief zu ihm herüber. Langsam machte sich ein Lächeln auf Ernsts Gesicht breit.
„Er hat...dran gedacht?“
Schnell erklärte er seinem neuen Freund, was er damit meinte. Patrick grinste: „Siehst du, ist vielleicht doch kein Arsch, dein Kumpel.“
Ernst schüttelte den Kopf. „Ich muss mich wohl bei ihm für meine Gedanken entschuldigen...“
Was ihn auch lehren sollte, zu frühe Schlüsse zu ziehen. Besonders bei alten Freunden. Hoffentlich hatte er sich auch geirrt bei seiner Einschätzung, wie sehr seine Frau es ihm wirklich übel nehmen würde...aber er war guter Dinge.
Immerhin war es ein wirklich großer Zufall gewesen, dass Patrick ausgerechnet heute ausgerechnet hier Schnee geschippt hatte. Wahrscheinlich machte sich doch niemand da oben lustig über ihn – jedenfalls nicht, ohne letztlich doch gut zu ihm zu sein. Das war wirklich Grund, erhobenen Hauptes in die Zukunft zu gehen – in eine ohne Lügen, mit alten und neuen Freunden.