Einschub II
Gemütlich trottete das Kamel vor sich hin. Interessiert betrachtete Naeemah die Landschaft um sich herum, obwohl es nicht viel abwechslungsreiches zu sehen gab, in einer Sandwüste. Düne um Düne, Senke um Senke reihten sich monoton aneinander. Naeemah fühlte sich zum ersten Mal geborgen auf dem Rücken des Kamels, welches sie so gemächlich und entspannt durch die Wüste trug.
Doch plötzlich verringerte das Tier unter ihr seinen Schritt, bis es schließlich stand. Verwirrt schrak Naeemah aus ihrem Schlaf auf und erkannte den Grund des unwillkürlichen Stopps.
Direkt vor den Vorderzehen des Kamels klaffte ein tiefer Abgrund. Nicht einmal eine Stecknadel hätte zwischen die Zehen und die Klippe gepasst, so nahe stand das Tier am Überhang. Das Kamel schüttelte den Hals, streckte sich und blökte unwillig in die stille Nacht hinaus. Etwas unsicher stieg Naeemah ab und sah hinter sich. Wo war ihr Gefangener? Und wo war der Rest der Karawane?
Zum äußersten irritiert stand sie nun, am Rande eines Abgrundes, mitten in der Wüste und wusste nicht mehr, wo sie war.
Na prima... das hast du ja wieder toll hinbekommen!
Nicht einmal Sterne am Nachthimmel gaben zur Orientierung Aufschluss, es war, als wären alle Himmelslichter erloschen.
Etwas ärgerlich über sich selbst stemmte sie die Hände in die Hüften und dachte nach, wie sie schnell den Anschluss an die Karawane wieder finden würde.
Das Kamel blökte noch einmal, senkte dann den Kopf und schnupperte über den Abgrund hinweg. Auf einmal fuhr es auf dem Absatz herum und schneller, als Naeemah reagieren konnte, floh das Tier mit angelegten Ohren und einem langezogenen Blöken in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Naeemah versuchte noch, das Tier zu erreichen und sich aufzuschwingen, aber zu spät, das Kamel war weg und somit auch ihre Waffen und die Nahrungsmittel. Nur die Wasserflasche baumelte noch an ihrem Gurt.
Nun kann es ja nur noch besser werden, stöhnte sie innerlich.
Einer inneren Eingebung folgend setzte sie sich erst einmal nieder und ließ ihre Beine über dem Abgrund baumeln. Kleine Fels- und Geröllbrocken lösten sich unter dem Gewicht ihrer Schenkel und fielen in die klaffende Wunde der Erdkruste.
Mehrmals trafen sie auf ihrem Weg zum Grund Vorsprünge in der Wand, der Nachhall des Treffens von Stein auf Stein durchzog die nächtliche Stille.
Naeemah sah den Steinchen nach. Wie es sich wohl anfühlen mochte, so unendlich frei zu fallen, mit dem Wissen, dass es irgendwann vorbei wäre?
Nachdenklich schaukelte sie etwas heftiger mit den Beinen und klopfte die Füße aneinander. Staubwolken stoben auf, folgten dann aber in der windstillen Nacht der Macht der Schwerkraft und traten ihren Weg nach unten an.
Der Mond schien blaß und warf ein freundliches Licht auf Naeemahs Antlitz. Direkt daneben ließ sich bei näherem Betrachten ein heller Stern erkennen.
Sie genoss den Moment der perfekten Stille, wohl bewusst, dass sie hier draußen zum Sterben verurteilt war. Sie seufzte. Nicht einmal mehr ihre kleine Hütte würde sie sehen, die kleine Hütte, die sie eigenhändig und unter großer Mühsal an einem Abgrund erbaut hatte, einem Abgrund, der diesem hier sehr ähnelte.
Oft hatte sie sich dort im Mondlicht an die Klippe gesetzt und ihre Beine frei schwingen lassen und die Stille genossen. Hier und da durchbrach der gespenstische Ruf eines Käuzchens den Mantel der Ruhe, Naeemah wurden an solchen Abenden immer wieder bewusst, dass sie noch lebte, am Leben war und nicht schon innerlich tot und verdorrt.
Erstaunlich, wie sehr sie sich hier, mitten in der fremdartigen Wüste zu Hause fühlte.
Träumerisch schloss sie ihre Augen und genoss die kühle, klare Nachtluft, ein frischer Wind kam auf.
Als sie die Augen wieder öffnete, hatte der Mond seinen Stand soweit verändert, dass er ihr Gesicht nun vollkommen in sein kühles Licht tauchte. Beinahe konnte sie fühlen, wie die kleinen Lichtfunken über ihre Haut strichen, zärtlich ihre Lippen streichelten und ihr Haar in silbernes Licht tauchten. Hauchend zog der Wind an ihren Ohren vorbei, hinterließ den Eindruck eines weit entfernten, menschlichen Stöhnens.
Ein Luftzug fuhr ihr durchs Haar, wirbelte die langen Strähnen hoch und zog die Luftströme so durch die Strähnen, dass es sich anfühlte, als führe ihr ein Hand durchs Haar, Mellilahs Hand. Wie oft hatte sie auf diese Art und Weise über Naeemahs Kopf gestrichen und mit den pechschwarzen Strähnen gespielt, sie um ihre schlanken Finger gewickelt und deren Glanz bewundert.
Mellilah... Bald, bald Geliebte, bin ich wieder mit dir vereint!
Plötzlich begann sie, im Mondlicht zu frösteln. Kühl und unerbittlich legten sich die Strahlen auf ihre elfenbeinfarbene Haut und auch der Wind verstärkte sich zu kleinen Böen.
Instinktiv zog Naeemah ihre Beine wieder an den Körper, um die wenige Wärme ihres Körpers zu bewahren. Gedankenverloren legte sie den Kopf auf die Knie und schaute den Mond an.
Silbrig zogen sich Lichtfäden durch die dunkle Nacht. Durch einen Windstoß kam Bewegung in die Lichtfäden. Langsam verspannen sie sich miteinander, knüpften helle Knoten. Zuerst war es nur eine Lichtkugel, so groß wie Naeemahs Kopf, doch es dehnte sich beständig aus. Allmählich nahm es die Formen eines menschlichen, eines weiblichen Körpers an.
Die helle Lichtgestalt schwebte nun über dem Abgrund knapp vor Naeemah, die das Geschehen ungläubig beobachtet hatte.
Interessiert betrachtete sie die Lichtfrau. Die Gestalt war wie von einem Gespinst aus Lichtfäden umhüllt, mit einiger Mühe konnte Naeemah die Kleidungsart als typisch für die Menschen der al Shama identifizieren. Aus dem Gesicht, ein eher rundlich geschnittenes Gesicht mit hohen Wangenknochen und schmalen Kirschlippen, strahlten zwei Mandelaugen. Mellilahs Augen. Entgeistert starrte Naeemah die Lichtgestalt an.
Doch sie überließ sich nur einem kurzen Moment der Überraschung und erkannte das wahre Gesicht der Erscheinung.
„Weiche, Nachtmahr, denn als solcher habe ich dich erkannt“, forderte Naeemah die Gestalt auf, „du bist nicht Mellilah. Mellilah ist tot und ihre Seele friedlich ins Rakuén eingetreten, wie jede ihres Volkes.“
Die Lichtfrau lachte traurig auf: “Naeemah, täuschen dich deine Augen und dein Herz zugleich? Erkennst du mich nicht, najma, Stern meines Herzens? Ich bitte dich, ráissa, Herrin, höre mich an, ich kann nicht lange bleiben!“
Naeemah zögerte. Nur Mellilah hatte sie immer najma genannt, niemals im Beisein anderer Leute, denn dieses Wort war nur für ihre Ohren bestimmt.
Ganz Kriegerin beschloss sie, die geisterhafte Feengestalt zu prüfen: “Wenn du wirklich Mellilah, meine anvertraute Schülerin bist, dann sage mir, wie habe ich dich in den unvergesslichen Momenten der Zweisamkeit genannt?“
Die Lichtgestalt schwankte, schwebte in einem leichten Zick-Zackkurs auf Naeemah zu und beugte sich zu ihr herunter.
Eisig strich der Hauch von Todeskälte an Naeemahs Ohr vorbei und brannte ihr flüsternd ein einzelnes, kurze Wort ein, bevor sie sich wieder auf Distanz zurückzog: „Zuhrah......“
Erstarrt saß Naeemah da. Ihre Zuhrah, ihre Schönheit, war aus der Geistwelt zurückgekehrt und erschreckt wisperte sie: „Mellilah... was führt dich zu mir, was bringt dich dazu, das Rakuén und deine Ahnen zu verlassen?“
Fragend blickte sie zu Mellilah auf, die schwermütig ihren Kopf hängen ließ. Eine einzelne Träne aus Licht rann ihre Wange herab, zog eine helle Spur hinter sich her und tropfte schließlich auf Naeemahs ausgestreckte Hand. Der Tropfen fühlte sich unglaublich kalt an.
„Naeemah, ich... ich bin gefangen, du musst mir helfen, ich bitte dich. Ich ertrage es nicht länger! Ich sage dir wie, es ist nicht einfach, aber ich weiß, du kannst es. Schwöre auf unsere Liebe, schwöre mir, dass du mir helfen wirst!“, verzweifelt flehte Mellilah ihre Freundin an.
„Zuhrah, natürlich! Was ist los, was kann ich für dich tun? Du weißt doch, ich würde dir überall hin folgen.“
„Naeemah, du..., du musst unbedingt...“, auf einmal veränderte sich die Konsistenz der Lichtgestalt. Das helle, freundliche Strahlen nahm ab und die Konturen von Mellilahs Körper lösten sich auf. Laut klagend schrie das Lichtwesen auf und schlug die Hände vors Gesicht: “Nein! Er hat mich gefunden! Naeeeeemaaaaaaaah! Bitte hilf mir...“
Noch ehe Naeemah reagieren konnte, hatten sich die Lichtfäden wieder entknotet, ein blasser Dunst blieb zurück, welcher sich aber auch schnell verflüchtigte. Zurück blieb die Mondscheibe am Himmel, welche von einer großen, dunklen Wolke verdeckt wurde. Gefräßig schob sie sich vor die helle Scheibe und verschluckte das Licht.
Verwirrt saß Naeemah am Abgrund. Während sie noch versuchte, ihre Gedanken zu ordnen und festzustellen, ob die Geschehnisse nun real oder Trugbilder waren, umfasste sie plötzlich etwas an beiden Fußgelenken mit einem schraubstockgleichen Griff.
Erschreckt sah Naeemah zu ihren Beinen herunter. Nacktes Entsetzen packte sie, als sie sah, was an ihren Fußgelenken hing. Es war ein Körper, der aus dem Abgrund emporgekrochen kam und nun Halt an ihren Beinen suchte, um sich gänzlich aus dem gähnenden Loch zu befreien.
Überall um Naeemah herum krochen Körper in eigentümlich schwerfälliger Art und Weise aus dem Abgrund, stöhnend und seufzend.
Entsetzt versuchte Naeemah, den Zangengriff des Ungetüms zu lösen und sich vom Abgrund zu entfernen, als sie feststellte, dass es kein normaler Körper war, der an ihr hing. Es war ein verfaulter Köper, schon von Getier angenagt. Der Schädelknochen glänzte modrig, nur noch mit wenigen Haaren und Hautfetzen bedeckt, durch die dicke Maden krochen.
Die Haut an den Händen, an den Krallen der Kreatur, fehlte gänzlich, grünliches Fleisch lag bloß und Naeemah konnte jede Bewegung der Sehnen erkennen.
Ein grässlicher Gestank stieg in ihre Nase, ein Gestank von Verwesung, Vergänglichkeit und Tod drängte sich ihr gewaltsam auf, griff nach ihrer Kehle und schnürte ihr den Atem ab. Gewaltsam versuchte sie, den Klammergriff der Kreatur zu lösen, spürte sie doch, wie sie das Gewicht des monströsen Körpers nach unten zog.
In Panik trat sie mit den Beinen um sich und traf die Kreatur an Hals und Schultern.
Langsam hob der verfaulte Körper den Kopf und grinste Naeemah grausig an. Dann zog er seine verfaulten Stummel an den Körper, die wohl einmal Beine gewesen waren, stemmte sie gegen die Wand des Abgrundes und drückte sich, Naeemahs Beine immer noch umklammernd, von der Wand ab.
Verzweifelt und in Todesangst versuchte Naeemah noch, sich am Rande der Klippe festzuhalten, aber der bröselige Untergrund hielt ihr Gewicht nicht, brach unter ihren schlanken Fingern weg.
Und dann fiel sie, stürzte tief hinab in den Abgrund, einen erstickten Schrei auf den Lippen.
Ein schreckliches Lachen ertönte aus den fauligen Zahnreihe des Körpers: “Nun, najma, nehme ich dich zu mir!“
Naeemah keuchte und erst jetzt fielen ihr die mandelförmigen Augen auf, die hohen Wangenknochen.
Entsetzen packte sie mit einem grausigen Griff, streckte seine Krallen nach ihrem Herzen aus. Naeemah fühlte einen unermesslichen Schmerz in der Brust, schrie gellend auf. Betäubt vor Schmerz streckte sie ihre Arme aus, spürte den Luftzug des Fallens und dann... den Aufprall.