Kapitel VI - Teil II
"Ach", erwiderte Ivon, "die Kriegerin, sie ist vorhin mit dem Dieb aus deinem Zelt weggeritten und ohne ihn wiedergekommen, sie hat mir dann auch ganz seltsam auf meine Frage geantwortet, wo er denn nun ist. Ich mache mir schreckliche Vorwürfe, Sadira, ich hätte sie aufhalten müssen! Ich glaube, dem Mann ist etwas Schreckliches zugestoßen! Es ist einfach grässlich!"
„Der Gefangene, der meine kostbare Truhe aufbrechen wollte, ist weg?“, fragte Sadira.
Na, Gott sei Dank, verdient hat es der Mistkerl ja! Dieses Ekelpaket.. eigentlich hätte ich ihn ja selber gerne geröstet, aber das ihn mir diese seltsame Frau aus dem Weg geschafft hat, ist mir gerade recht. Anscheinend hat eine Kriegerin auch ihre positiven Seiten... Sadira hing ganz ihren Gedanken nach und bemerkte Ivons Redeschwall, Ausdruck seines Bedauerns, praktisch gar nicht mehr.
Gemeinsam liefen sie den Weg zum Nahrungslager, dort gab ihnen der dortige Aufseher die ihnen zustehende Portion
menemen und so ließen sich der junge Ritter und die Zauberin gemeinsam zum Abendessen nieder.
Die nackten Füße in den noch warmen Sand vergraben hatten sich die Zwei auf alten Teppichen niedergelassen und aßen ihr Eiergemüse.
Durch einen plötzlichen Anfall von Geselligkeit kehrte Sadira nicht direkt nach dem Essen in ihr Zelt zurück, sondern blieb noch bei Ivon sitzen und lauschte im Schein des Lagerfeuers den musizierenden Karawanenbegleitern.
Lange konnten sie ihre Pause aber nicht genießen, denn die Nacht war jung und die Karawane wollte weiterziehen.
So trennten sich Ivon und Sadira wieder, um ihr Habe wieder einzupacken und abreisefertig zu sein.
Doch bereits kurz nach Aufbruch der Karawanen fanden sie wieder zueinander, um die Mühen des beschwerlichen Marsches durch Gespräche zu verkürzen. Außerdem nahm Sadira dankbar auf Ivons Karren platz, ihr Kamel war sie schon lange leid und ließ es nun angebunden, am Ende des Karrens, schwer beladen hinterher laufen.
Der Rest der Reise verlief sehr eintönig.
Tagsüber schlafen und die matten Füße pflegen, nachts weiterreisen.
Die Landschaft wandelte sich nur allmählich, die hohen Dünen wurden von den Flacheren verdrängt, welche das Laufen angenehmer machten. Auch der Boden gewann wieder an Festigkeit. Nur der Sand und der nicht vorhandene Bewuchs wandelten sich nicht.
Die Wasser- und Nahrungsvorräte gingen zur Neige und eines Abends, als die Karawane gerade wieder loszog, verkündete Faruq, dass es nun nur noch wenige Stunden bis nach Lut Gholein, der Stadt im Herzen der Wüste, war.
Tatsächlich erreichten sie den Vorhandelsplatz der Stadt kurz nach Morgengrauen, wo sich der lange Lindwurm aus Menschen und Tieren versammelte. Waren wurden abgeladen, die Tiere in die am Rande des rechteckigen Platzes befindlichen Stallungen der Karawanserei gebracht und schließlich nahmen die Reisenden Kurs auf die hohen Stadttore Lut Gholeins.
Die dort positionierte Stadtwache prüfte genauestens die Angaben der Reisenden und so bildete sich in der aufsteigenden Mittagshitze eine schier endlose Menschenschlange.
In dieser Schlange knapp hinter Ivon und Sadira stand Naeemah und grübelte. Zwar hatte sie wieder das schwarze Kopftuch angelegt, doch sie wollte nur ungern einer Kontrolle unterzogen werden. Allein schon die vielen Giftfläschchen und die exotischen Waffen würde die Wächter, wenngleich Naeemah auch nichts Illegales tat, aufmerksam machen. Es würde getratscht und Gerüchte gestreut werden und dem wollte sie in jedem Fall aus dem Weg gehen.
Als ein schwerfälliger Marktkarren mit Obst und Gemüse an ihr vorbeiratterte, witterte sie ihre Chance.
In der Glut des Mittags waren sowieso fast alle Leute dösig und schauten auf den Boden, um ihre Augen vor der Sonne zu schützen. So gelang es Naeemah sich unbemerkt mit ihrem Gepäck unter die Ladefläche des Karren zu schieben, als dieser zum Stehen kam, und sich an den Achsen festzuhalten.
An den Füßen der Menschen erkannte sie, dass gerade Ivon und die Zauberin am Einlass standen und kontrolliert wurden, doch schon rumpelte ihr Gefährt an den Stadtwachen vorbei, der nun zufrieden an einer saftigen Frucht knabberte. Nach der ersten Biegung beschloss Naeemah, ihre Mitfahrgelegenheit wieder zu verlassen und ließ sich in der nächsten Biegung, als der Karren umringt von einer Menschenmenge war, fallen.
Ivon und Sadira fühlten sich, als würden sie schon ewig in dieser Schlange stehen. Die Sonne schien unbarmherzig auf die Köpfe der Menschen herab und es war keine Seltenheit, dass irgendjemand vor Erschöpfung umkippte.
Sadira hatte nach der Kriegerin Ausschau gehalten und sie auch etwas weiter hinter sich entdeckt. Doch auf einmal war das ungute Gefühl weg, welches sie immer in der Nähe der Frau befiel, und verwundert schaute sich Sadira noch einmal um, konnte sie aber nicht mehr entdecken.
Sie hatte nicht die Möglichkeit, sich groß darüber Gedanken zu machen, denn ein Soldat der Stadtwache kam auf sie zu, ließ sich das Gepäck zeigen und befragte Sadira und Ivon genau, was sie in Lut Gholein wollten.
Ivon überließ den Karren und das Zuggespann den Stadtsoldaten, sie hatten bereits einen Laufjungen beauftragt, die Angehörigen des verstorbenen Pärchens zu holen, Ivon nahm nur sein kleines bisschen Gepäck mit, welches ihm geblieben war.
Gemeinsam traten sie durch das hohe Steintor, welches wahrlich einen gewaltigen Anblick darstellte. Sieben Meter war der äußere Ring der Stadtmauern dick, aus robusten Granitblöcken erbaut und gründlich verfugt, dennoch hatten sich über den Köpfen der Reisenden bereits grünliche Moose am Stein festgesetzt. Vereinzelte Spinnenweben hingen am Fallgitter aus massivem Stahl, doch das Holztor an sich sah noch sehr stabil aus.
Während sie noch staunend die Mauern und den kleinen Wasserspeier betrachteten, der mit grimmigem Gesichtsausdruck über dem Torbogen wachte, wurden sie von einer Horde Kinder umringt.
Schon hingen die Kinder an den Ärmeln, zogen am Rock und lotsten Ivon und Sadira immer weiter von der Hauptstraße weg. Die Finger der Kinder waren überall, doch es war nahezu unmöglich, sich ihrer zu erwehren. Als ein besonders schmutziges kleines Mädchen Sadiras Hand ergriff und sie in einen Hauseingang ziehen wollte, trat eine Figur aus dem Schatten.
„Hinfort, Zigeunerpack! Macht, dass ihr Land gewinnt“, fauchte der Schemen die Kinder an, welche unverzüglich in alle Winde auseinander stoben.
„Und ihr, ihr solltet besser darauf achten, wohin ihr geht. Hättet ihr dieses Haus betreten, ihr wäret nur schwerlich wieder hinausgekommen – von euren Eigentum ganz zu schweigen!“
Der Schemen löste sich allmählich aus dem Schatten und die verblüffte Sadira erkannte die Kriegerin aus der Karawane.
„Aber es sind doch nur Kinder, Kriegerin“, wandte Ivon ein.
„Eben drum“, erwiderte diese, „tastet doch mal nach euren Taschen, ob ihr noch alles habt...“
Ivon und Sadira befolgten den Rat und mussten schmerzlich den Verlust ihrer Essmesser und Wasserflaschen feststellen.
„Ich wäre mit ihren Komplizen schon fertig geworden“, Sadira schimpfte wie ein Rohrspatz über Gastfreundlichkeit und Lumpenpack und Ivon versuchte verzweifelt, sich den Weg zur Hauptstrasse wieder einfallen zu lassen.
„Beruhigt euch“, lachte Naeemah zynisch auf, „ich werde euch zum Hauptverkehrsweg zurückbringen. Folgt mir einfach.“
In einem zügigen Tempo liefen die Drei durch ein wahres Wirrwarr aus schmalen Gassen, die kaum Sonnenlicht auf den Boden ließen, so hoch waren die Häuser. Das hier eindeutig das Armenviertel war, war Ivon vorher gar nicht aufgefallen, so sehr hatten ihn die Kinder abgelenkt.
Kaum betraten sie die breite, ebenfalls mit Granitblöcken gepflasterte Hauptstrasse, stürmte eine Horde Händler auf sie zu und hielt ihnen Dolche, Helme, Schwerter und Tand unter die Nase.
Eines der Schwerter gefiel Ivon besonders, es war zwar ein Einhänder, doch wunderschön gearbeitet und lag gut in der Hand. Ivon war schon drauf und dran es zu kaufen, als Naeemah ihn zurückhielt: „Ivon, in eurem eigenen Interesse, lasst es besser sein. Die Händler hier im äußeren Ring verkaufen mindere Qualität – dieses schöne Schwert würde beim Aufprall auf ein Schild sofort in tausend Teile zerspringen.“
Protestierend fuhr der Händler dazwischen, doch wie zum Beweise schlug Naeemah das Schwert mit der flachen Klinge leicht gegen die Wand und wirklich, es zeichnete sich sofort ein leichter Riss im Metall ab. Eilig zog sich der Händler und seine zwielichtigen Freunde zurück.
„Danke, Kriegerin, auch für die Rettung vorhin“, sagte Ivon erleichtert, beinahe hätte er es gänzlich vergessen!
Naeemah schaut Ivon kritisch von der Seite an.
„Nun, Ivon, die Städte des Südens können für Neuankömmlinge sehr verwirrend sein. Es ist gut, wenn man jemanden dabei hat, der sich hier auskennt.“
Dann wandte sich Naeemah an ihre beiden neuen Begleiter: „Am besten begeben wir uns auf den Marktplatz, dort könnt ihr euch ausrüsten und ein Quartier für die Nacht suchen.“
„Ja, das wäre wirklich fantastisch“, stöhnte Sadira, „diesen elenden Sand habe ich wirklich satt – ich will endlich wieder in einem richtigen Bett schlafen!“
Naeemah führte die Zwei geschickt durch die verwinkelten Gassen nebst den Hauptstrassen, dabei passierten sie zwei weiter Stadtmauern, deren Tore aber nicht mehr so stark kontrolliert wurden.
Als sie durch das letzte Tor traten, konnte man die wahre Pracht der Stadt erkennen.
Den Namen „Herz der Wüste“ hatte sich Lut Gholein wahrlich verdient.
Das scharfkantige Kopfsteinpflaster wich einer sauberen Pflasterung mit ebenso gepflasterter Unratrinne in der Mitte der Straße, welche von den Straßenfegern sauber gehalten wurde.
Die Häuser waren prunkvoll und reich verziert. Die vorherrschenden Motive des Südens waren die kunstvollen Zwiebelbögen, welche mit reichen Ornamenten ausgeschmückt waren.
Außerdem waren die Gebäude im oberen Teil der Stadt nicht aus gebrannten Lehmziegeln, sondern aus Stein erbaut, welcher eine angenehme Kühle auf die Menschen auf der Straße warf.
Besonders auffallend war, dass die Straße mit dunklen Steinen gepflastert war, aber die Häuser aus hellem Stein errichten worden waren.
Die helle Wüstensonne erwärmte die dunklen Steine der Strasse schneller und somit auch die darunter verlegten Wasserleitungen, wohingegen die hellen Wände der Häuser das Licht besser reflektierten und so die Hitze etwas abhielten. Zusätzlich dazu verschluckten die hellen Wände nachts nicht so viel Licht der Lampen, so dass die Strassen in der Dunkelheit besser beleuchtet waren.
Gelegentlich gelang Sadira ein Blick in einen Innenhof – verschwenderisch mit Marmor ausgelegt und mit Wasserbassins oder Brunnen strahlten sie eine verlockende Kühle aus. Oft standen auch Aprikosenbäume im Spalier und lockten mit prallen, saftigen Früchten und obwohl sie den Anblick der Stadt schon kannte, so war ihr dieser Stadtteil vollkommen fremd.
Ivon starrte ungläubig nach oben und verschlang die für ihn ungewohnte Form der Architektur förmlich mit den Augen.
Schließlich traten sie auf einen gut belebten, aber sehr ausladenden Platz auf dem sich Marktstände nur so tummelten.
Naeemah riss sich das Niqab herunter und atmete geräuschvoll auf.
„Das ist der
souk, hier werdet ihr fast alles kaufen können, was ihr benötigt. Seht ihr die Händlerin dort hinten rechts? Das ist Farah, bei ihr bekommt ihr gute, wenn auch recht gewöhnliche Waffen. Auf der anderen Seite des Platzes ihr gegenüber steht Lysander, er ist etwas verschroben, verkauft aber so ziemlich jeden Trank, den ihr gebrauchen könnt. Der Marktstand für Zauberstäbe und ähnliches liegt etwas außerhalb des Marktplatzes, Drognan, der Eigentümer, braucht etwas Ruhe vor dem Trubel.
Und das hier“, Naeemah wies auf ein kleines Wirtshaus im Osten des Platzes, „das ist Atmas Gasthaus. Dort haltet ihr euch besser fern. Die alte Witwe hat seit dem Tod ihres Sohnes keine Ahnung mehr von Sauberkeit und Ordnung. Besser, ihr sucht euch ein kleines Gasthaus jenseits der großen Strassen, sie sind vielleicht etwas teurer, aber dafür kein solcher Massenbetrieb.“
Ivon und Sadira, noch gänzlich beeindruckt von der Flut an Sinneseindrücken nickten schweigend.
Auf einmal gab es in der Mitte des Platzes einen Menschenauflauf, als sich ein dunkel gekleideter, bärtiger Mann in Uniform auf ein Podest stellte, welches seine Bediensteten mitgebracht hatten, eine Papyrusrolle fachgerecht entsiegelte, entrollte und den Inhalt vorlas.
Leider waren Ivon, Sadira und Naeemah zu weit entfernt, so dass sie durch das Gemurmel der Menge nur Wortfetzen verstanden.
„...Verrat am Volke...“
„...politische Morde verübt hat...“
„...und deshalb als gefährlich eingestuft...“
„Sultan Jehryn ordnet ihre Festsetzung an...“
„...lebendig... hohe Belohnung..“
Dann rollte der Sprecher sein Schriftstück wieder zusammen, schlug einen anderen Zettel am dort befindlichen Nachrichtenbrett an und verließ den Platz.
Die Menschenmenge drängte sich näher zusammen, um die neue Nachricht selber in Augenschein nehmen zu können.
Auch Sadira und Ivon drängten sich nach vorne. Am öffentlichen Anschlagsbrett tummelte sich eine Vielzahl an Schriftstücken, die meisten in einer fremdartigen Sprache verfasst, so dass sie weder Sadira noch Ivon entziffern konnten. Das neuste Objekt schien das Bildnis der gesuchten Person zu sein.
Es war eine grobe Graphitzeichnung auf ebenso groben Papyruspapier, der Maler war kein großer Künstler, denn das Portraits war in flüchtigen und unsauberen Strichen geführt und vermittelte dadurch nur einen sehr vages Bild der dargestellten Person.