Ob der Arm verloren ist? Ich äußere mich mal nicht und verweise auf das nächste Kapitel - noch mehr für die Prüfungszeit zwischendurch.
Wie durch ein Wunder liefere ich diese Woche ein ganzes Kapitel, und tatsächlich pünktlich.
Jetzt bin ich allerdings auch endgültig in der Klausurenphase...
Aber ich bin selbst beeindruckt, dass ich schon 200 Seiten zusammen habe, bei meiner ersten Geschichte hat das locker ein halbes Jahr gedauert, und nicht ein paar Wochen.
"Göttertraum" wird wohl mein bisher längstes Ding.
IX Die Legende
Ein unendliches Gewicht ruhte auf ihrer Brust und fesselte sie an das Lager. Eine falsche Bewegung, und ihre Rippen würden zerbrechen. Jeder Atemzug ein Kampf um das Leben. Aber sie nahm den Geruch des ranzigen Kerzenfetts wahr und die Schatten, die sich hinter den Zeltwänden bewegten. Und die schmale Gestalt, die neben ihr kniete.
Alles überlagert von den letzten Bildern, die sie gesehen hatte, bevor die Ohnmacht sie fortgerissen hatte. Der Pfeil, der ihr in die Brust hätte fahren sollen, und die Wand aus Gebeinen, die sich vor ihr aufgetürmt hatte, um das Geschoss aufzufangen. Der verrückte Hundesohn. Was auch geschehen sein mochte, ohne ihn würde sie nicht hier liegen, sondern auf dem Gottesacker, ohne ein eigenes Grab zu besitzen.
Vega ergriff ihren Arm und legte sich die Hand auf die Schulter. Jilis wartete auf die Empfindung der Berührung. Nichts.
„Das kannst du ewig versuchen“ , sagte sie vorsichtig. Atemzug nach Atemzug, nicht zu rasch. „Das Ding ist wie ein Stock, den man mir an die Seite genäht hat.“
„Er kann es wieder in Ordnung bringen... ich bin mir sicher.“
„Er?“
„Maro. Du hast seinen Namen im Schlaf gesprochen.“
„Ich hoffe, er ist mir zusammen mit einer Ladung Erbrochenem über die Lippen gekommen.“ Sie lachte heiser, es pochte in ihrer Brust. „Akara hatte wohl zu viel zu tun, um sich um mich zu kümmern?“ Mit dem Arm, den sie noch spürte, zog sie die Felldecke bis an den Hals hinauf. Was für ein Gedanke, dass jemand den Nekromanten an ihren Körper gelassen hatte.
„Du wärst gestorben“, flüsterte Vega und drückte ihre taube Hand.
„Früher oder später holt der Meister Tod jeden. Umgekommen im Auftrag der Herrin, was für ein Ende soll besser sein?“
„Eines, das noch auf sich warten lässt! Ich will nicht, dass du stirbst.“
Jilis drehte den Kopf zur Seite, sank in das Kopfkissen ein.
„Ich auch nicht, eigentlich.“
„Maro hatte Medizin für dich. Akara hat ihn weggeschickt, also habe ich sie dir gegeben.“
Sie setzte sich auf, soweit es ging, stützte sich auf einem Ellenbogen ab und starrte Vega an.
„Was hast du dir gedacht? Er hätte flüssiges Quecksilber oder Schlangengift in seine Krüge gefüllt haben können!“
„Nein“, sagte Vega und legte Jilis Arm zurück unter die Decke. „Das hätte er nicht. Er ist kein böser Mensch. Er hat dich den ganzen Weg hergetragen, wo auch immer du gefallen sein magst.“
Natürlich hatte Vega Recht. Quecksilber und Schlangengift, das war Meilen entfernt von dem, was der Nekromant je getan hätte.
Jilis fühlte über die Finger ihres toten Arms. Kalt und taub. Ein Stock, den ihr jemand unter die Decke gelegt hatte. Es schauderte sie, als sie die Konturen nachspürte.
„Der Friedhof“, begann sie und erzählte von der Reise, die sie mit dem Nekromanten zusammen unternommen hatte. Von den vielen geflügelten Teufeln und dem einen Teufel, der einmal ihre Freundin gewesen war.
Falke war noch immer lebendig gewesen, unter einem grässlichen Schutzwall, den sie um sich gespannt hatte und den sie
Blutrabe genannt hatte. Aber der Krieg hatte selbst das zweite Leben eingefordert, das sie erhalten hatte. Hatte gefordert, dass Falke ging, oder Jilis selbst.
„
Sie hat dir das angetan“, sagte Vega, und ihre Stimme zitterte. „Auch, wenn ich ihr nicht geglaubt habe: Akara sagte, Maro hätte dir...“
„Ein Schwachkopf ist er, und ohne Glauben oder Ehrfurcht, aber jemanden vergiften, dazu... fehlt ihm etwas. Du hast es selbst gesagt.“
Vor ihren Augen stieg wieder die Wand aus Knochen aus dem Boden, die den tödlichen Pfeil abfing und weit fortschleuderte. Was sollte sie damit nur anfangen? Ein unberechenbarer Hundesohn. Vielleicht würde er sie doch am nächsten Tag noch erdolchen, weil ihm die Laune danach stand.
„Nur Falke... Alles, was von ihr geblieben ist, ist dieses Gift. Ein letztes Geschenk“, sagte Jilis. „Wie weit ist es schon?“
Vega öffnete den Mund, um etwas zu sagen, da schlug jemand die Zeltplane zurück. Akaras Umhang flatterte im Wind, der draußen durch die Nacht ging. Ein Windhauch zog auch an Jilis vorüber und stellte ihr die Haare an den Armen auf. Wieviel hatte die alte Frau mitgehört?
„Du brauchst nicht zu fürchten“, sagte Akara. „Der Fluss des Giftes ist gestoppt, dein Körper hat es bekämpft und besiegt. Drei Tage und Nächte lang hat der Kampf gedauert, aber du hast gewonnen.“
„Kämpfe gewinnen, ohne bei Bewusstsein zu sein, daran müsste ich mich gewöhnen.“
„Danke der Herrin, sie hat gütig auf dich geblickt und dich noch nicht gehen lassen.“
„Auf meinen linken Arm hat sie nicht sehr gütig geblickt.“
Jilis hob den Arm am Handgelenk an und ließ ihn zurück auf das Lager fallen. Fast hätte sie gelacht. Und danach geweint.
„Dir ist alle Hilfe zu Teil geworden, die einer Schwester des verborgenen Auges zusteht.“
Akara drehte einige der Einmachgläser in ihrem Schrank. Vega sah hinter sich, ob die Oberin sie beobachtete, dann schüttelte sie den Kopf und schenkte Jilis ein trauriges Lächeln.
„Ich zweifle nicht an Eurer Hingabe“, sagte Jilis. „Aber mein Arm verfault mir am Körper. Es ist nicht angenehm, das zu wissen, verdammt.“
Bis zur Schulter spürte sie die Berührung ihrer Finger noch, alles darunter am Arm war taub, tot.
„Er wird nicht verfaulen. Er ist nicht tot. Das Gift der grünen Yata-Blume zerstört nur die Muskeln, und es lähmt die Nerven, damit der Vergiftete von den Schmerzen nicht erwacht. Wie ein intelligentes Lebewesen.“
„Also kann ich diesen jämmerlichen Rest als das Stück Aas sehen, von dem kein Tier mehr fressen will.“
„Wenn du möchtest, nehme ich ihn dir ab.“
Akara stützte sich auf einen Tisch und sah sie an.
Jilis steckte den Arm unter die Decke. Das erbarmungswürde Ding war nicht einmal halb so dick wie ihr gesunder Arm.
„Er ist wie die Narbe an meinem Hals. Falls er meinem Körper nicht schadet... dann soll er eine Erinnerung bleiben.“
Ein Schluchzen stieg in ihr hoch, sie drehte sich rasch weg und gab vor, zu husten.
„Eine Erinnerung an was? Du hast noch immer nicht erzählt, wie es geschehen ist.“
Und doch hatte das die Oberin nicht davon abgehalten, Gerüchte im Lager zu streuen.
„Aber du wirst Gelegenheit bekommen“, sagte Akara, „denn am Nachmittag wollen wir uns mit Kaschya bereden, wie wir weiter vorgehen.“
Jilis bewegte die Schultern. Die Verbände um ihre übrigen Wunden hielten sie gebunden wie eine Gefangene. Aber sie würde es zu der Besprechung schaffen müssen.
Aradeia, jetzt endlich hatte ihre Feindin einen Namen.
„Verlasst Euch auf mich“, sagte Jilis.
Akara nickte ihr zu.
„Aber schon vor dem Nachmittag gibt es noch etwas, das ich mit dir besprechen möchte. Vega...“
Ihre knochendünnen Finger legten sich auf den Arm der Jägerin, die daraufhin schnell nickte und aufstand. „Jilis... du schaffst es“, sagte sie und drückte ihr noch einmal ihre Hand, bevor sie aus dem Zelt verschwand.
Schaffen? Was nur? Eine gesonderte Ausbildung erforderte es nicht, wie eine Halbtote im Krankenbett zu liegen. Und die Muskeln ihres Arms nachwachsen zu lassen,
das zu schaffen, dazu fehlten ihr die Wunderkräfte.
Stille kam in das Zelt.
„Ich will meinen Arm wieder“, sagte Jilis schlicht. Falke hatte ihn ihr nicht genommen. Sondern der verdammte Geist dieser Zeiten, der die Menschen trennte und sie hungrig auf das Blut der anderen machte.
Sie bebte vor Zorn. Jetzt, da Vega fort war, musste sie sich nicht mehr beherrschen. „Mit einer Hand kann ich den Bogen unseres Ordens nicht mehr spannen!“
„Ich dachte, das wäre der Grund, weswegen du ihn behalten willst – damit du dich an die Zeiten erinnerst, als du es noch konntest.“
„Drei Höllen!“ Sie schlug mit der Faust auf das kleine Tischchen bei ihrem Lager, dass die Flüssigkeit aus den Gläsern darauf herausschwappte. „Ich bin jetzt weniger als ein Haufen Rattenschiss in diesem Lager!“
Die Oberin setzte sich ihr gegenüber und sah in ihre Augen, sah hindurch durch ihren Zorn.
„Wären wir nicht so rasch bei der Hand gewesen, du hättest
mehr verloren. Viele von uns ruft die Herrin erst durch den Tod aus der Schlacht zurück. Deine Stunde des Rückzugs ist gekommen, aber sie gewährt dir ein Weiterleben. Wir sind keine Barbaren, Jilis, die es als endgültiges Lebensziel ansehen, in einem namenlosen Krieg zu fallen.“
Wir? Dann war sie vielleicht eine Barbarin. Und das Leben hatte sie nicht den Kräutern und Tees zu verdanken, die auf dem Tischchen neben ihr standen.
Vega hatte ihr die Heilmittel gebracht, die sie gebraucht hatte. Der, von dem sie stammten... Es schmerzte, das zuzugeben.
„Schön“, zischte sie aus zusammengebissenen Zähnen. „Weswegen wollt Ihr mich sprechen?“
„Des Nekromanten wegen.“
„Ich dachte, das hätte Zeit bis zur Besprechung.“
„Es geht nicht um deinen Bericht. Ich will dich nur warnen.“
Jilis zog sich die Decke zurecht.
„Die beste Warnung habe ich im Kloster erhalten, Akara. Wandelnde Tote, Kämpfer ohne Gnade...“
Und Falke, die von dieser grausigen Macht aus dem Totenreich zurückgeholt worden war.
„Das meine ich nicht. Wir alle haben die Schrecken gesehen, die uns unser Heim genommen haben.“
Sie stutzte.
„Aber du hast noch mehr gesehen?“
„Es geht hier um dich, nicht um mich.“ Akara verschränkte die Arme, und ihre Augen verschwanden im Schatten ihrer Kapuze. „Du musst dich vor dieser Magie hüten, Jilis. Sie ist mehr als nur das, was dir die Augen zeigen. Mehr als die Wüstenmagie, die Flammenkugeln aus leerer Luft erschafft oder Blitze an einem wolkenlosen Tag herbeiruft. Die Magie der Nekromanten, Jilis, kann sehr verlockend sein.“
Für einen Augenblick schwieg Jilis, dann lachte sie los.
„In der Tat kann ich mir kaum etwas Verlockenderes vorstellen, als eine Leibgarde aus stinkenden Leichnamen zu besitzen.“
Wie eine Statue stand Akara dort, das Gesicht noch immer im Schatten verborgen.
„Du magst meinen Worten kein Gewicht beimessen, aber vergessen solltest du sie nicht.“
„Wieso erzählt Ihr mir das? Vega hätte an diesem Geheimnis ruhig teilhaben können.“
„Vega ist es nicht, die mit einem Nekromanten umherreist.“
„Aber ich? Mein Weg ins Kommandozelt am Nachmittag wird mir Reise genug sein, mit diesem...“ Sie überlegte kurz. Kaum eine Fingerbreit ihres Leibs, über den keine Bandage gebunden war. „...Wrack.“
„Es ist lediglich eine Warnung, Jilis.“
„Gut, ich bin gewarnt.“ Was sollte das? Zweifelte Akara an ihr? „Jetzt lasst mich noch etwas ruhen, damit ich heute Nachmittag nicht vor dem Zelt zusammenbreche.“
Akara verharrte in ihrer Position. Etwas zu lange. Schließlich wendete sie sich ab.
„Das wird das Beste sein, ja. Trink von dem Tee, bevor du schläfst.“
Die Brühe, aus der Dampf nach oben stieg, mochte ja Kindern die Träume erleichtern, aber einen verkrüppelten Arm konnte sie nicht heilen. Dennoch nippte sie von dem Becher, bevor sie sich zur Seite drehte.
Was für einen Weg konnte sie jetzt noch gehen, und welchen Kampf kämpfen?
Die Decke des Zelts hing so dicht über ihr. Verstellte den Blick auf den Himmel. Eine Kraft aus ihrem Innern zog an ihr, machte ihr den Körper schwer, und das Zelt verschwamm vor ihren Augen.
Um die späte Mittagszeit weckte Vega sie. Viel hatte der Schlaf nicht genutzt. Noch immer fürchtete sie, jeden Augenblick auseinanderzufallen. Aber die Verbände hielten sie zusammen, spannten sich bei jedem Schritt und drückten ihr die Haut zusammen. Vega half ihr in dünne Lederkleider, die dennoch auf die Bandagen drückten, und legte ihr einen Fellmantel um.
„Nicht umfallen“, sagte die Jüngere und stützte sie auf dem Weg nach draußen. Wie da, als sie aus dem Kloster hatten fliehen müssen. Konnte das nicht so weitergehen? Sie schlug sich Wunden und kam an der Grenze des Todes zu den Schwestern zurück. Erholte sich, zog wieder los.
Nein, wahrscheinlich konnte es nicht so weitergehen.
Der linke Ärmel des Mantels baumelte neben ihr und wurde vom Wind umhergetrieben.
Die zwei Wachen vor dem Kommandozelt würden es sehen, Kaschya, Tyreé, die anderen Anwärterinnen.
Die Luft im Zelt war stickig, und Laternen beschienen die Gesichter der Anwesenden. Kaschya stand als einzige, stützte sich auf ihren Bogen. Von Tyreé fing Jilis einen spöttischen Blick auf. Aber den hätte sie ohnehin von ihr enthalten. Die anderen Jägerinnen sahen beiseite oder starrten auf ihre Trinkkrüge.
Vega half Jilis auf einen der Stühle. Als sie saß, schwankte die Welt weniger. Niemand sprach, als wäre das alte Bewusstsein mit neuer Klarheit zurückgekehrt: Sie waren Vertriebene, hatten Heimat und viele derer, die mit ihnen gekämpft hatten, verloren.
Mit Vega an ihrer Seite schloss Jilis die Augen.
Akaras Stimme hallte, als wären das Zelt eine marmorne Halle, als wären sie noch in den vertrauten Mauern. Als wäre nichts von alldem geschehen.
„Ich danke Euch allen, dass Ihr gekommen seid. Die Tage werden kürzer, die Liste der Gefallenen länger. Wir werden heute eine Entscheidung treffen müssen.“ Die Oberin nahm auf dem größten der Stühle Platz, in dessen Lehne das verborgene Auge selbst hineingeschnitzt worden war. „Lasst uns keine Zeit verschwenden.“
Auch Kaschya nahm endlich Platz und legte den Bogen über ihre Knie. „Ja.“ Ihr Blick fiel auf Jilis. „Jilis, berichte uns, was du erfahren hast. Seid Ihr bis zum Alten Friedhof gelangt?“
Akara hob eine Hand, als wolle sie die Stimme des Hauptmanns auffangen. „Erzähle uns vor allem, was du über den Nekromanten erfahren hast.“
Die Offiziersanwärterinnen sahen sich abwechselnd gegenseitig, dann die beiden Anführer an. An diesem Tag schwang etwas in der Luft zwischen ihnen.
Jilis richtete sich auf und nickte den Anwesenden zu. „Ich werde alles so berichten, wie ich es gesehen habe.“ Und das tat sie, zum zweiten Mal an diesem Tag. Als sie über die geflügelten Teufel erzählte, nickte Akara bedächtig, und bei der Erzählung über Blutrabe saß Tyreé mit geöffnetem Mund da.
„…davon, wie ich in das Bett in Akaras Zelt gekommen bin, wisst Ihr mehr als ich.“
Das andächtige Schweigen brach, und die Stimmen schwollen an zu einem Brodem. Eine Schwester, die den Orden verraten hatte? Höllengeschmeiß mit Flügeln und Vogelkrallen, in
diesen Ländereien?
Jilis lehnte sich zurück und lächelte Vega an. Jetzt konnten sie sich das Maul zerreißen.
„Genug“, sagte Akara, und wieder hallte ihre Stimme. Es konnte nur die Magie sein, die sie aus der Wüste mitgebracht hatte. „Es ist bedauerlich, was geschehen ist. Aber aus den Dämonenwesen, die du in dem Hof angetroffen hast, können wir nur einen einzigen Schluss ziehen. Irdische Kräfte sind es nicht, die hier gewirkt haben. Nicht einmal die eines… Nekromanten.“
„Woher wollt Ihr das wissen?“, fragte Kaschya. Ihre Stimme donnerte auch ohne Zauberei mächtiger durch den Raum als Akaras. „Der Junge hat einen Riesen aus Lehm im Schlepptau gehabt, als er das Lager verlassen hat. Dämonenbeschwörungen sind von dort aus kein so großer Schritt mehr.“
Akara schmunzelte unter ihrer Kapuze.
„Ich bin noch keinen Schritt näher daran, jemanden zu entlasten. Aber die Dämonen sind nicht sein Werk, das kann ich verbürgen, und auch keiner seines Kults kann dafür die Verantwortung tragen. Doch das heißt nur, dass wir es mit einer Macht zu tun haben, die aus den Tiefen der Erde stammt. Wie oft wir in den letzten Wochen das Wort
Dämon schon gebraucht haben – dieses Mal müssen wir es in seiner vollen Bedeutung verwenden. Ein Wesen aus den unteren Reichen, das mit sich seine Gefährten und seine Höllenzauberei in unsere Welt gebracht hat.“
Alle Augen richteten sich auf Akara, und sekundenlang sprach niemand ein Wort. Kaschya schnaubte. „Was also tun? Falls Ihr Recht habt, Akara, wissen wir dennoch noch immer nicht, was dieses Biest für ein Ziel verfolgt. Erst recht nicht, wie wir gegen es vorgehen können. Pfeile speist es womöglich zum Mittag, Schwerter zum Abend.“
„Langsam.“ Akara wies mit der Handfläche auf den Boden. „Wir werden eine Lösung finden, doch lasst uns zunächst hören, was Jilis noch zu erzählen weiß. Wie ich sagte: Was den Nekromanten betrifft, hat sich nichts geändert.“
Jilis schreckte hoch. Ach ja, der lästige Bericht, für den sie überhaupt erst losgeschickt worden war… Sie räusperte sich.
„Großes gibt es nicht. Ich bin nicht die Jungfrau geworden, die er in einem Ritual seiner dunklen Götter zum Preis geopfert hat, und ich musste die Lagerstätte nicht mit lebendem Gebein teilen.“
Von den Offiziersanwärterinnen lächelten einige, selbst Tyreé hob die Mundwinkel.
„Es ist ernst“, sagte Akara, und ihre Stimme schwoll viel weiter an, als es bis jetzt geschehen war.
„Ich weiß nicht, was ich noch sagen kann… Er ist ein undurchschaubarer Hund, aber wir haben die Teufel gemeinsam zurückgetrieben.“
„Du meinst, du hast ihm in der Schlacht beigestanden – sehr nobel von dir, aber an ihm ist diese Tat wohl verschwendet.“
Natürlich, sie hatte ihm beigestanden. Sie hätte ihm nur folgen müssen, die ganze Zeit, hätte kein Wort mit ihm sprechen müssen, und beim Auftauchen der Teufel fliehen können. Dennoch.
Sie fasste sich an die Schläfen. Das letzte Bild, das sie wahrgenommen hatte. Die Knochenwand, die sich vor ihr erhob und Falkes Pfeil abfing.
„Auch ich habe nicht alles miterlebt. Die Götter wissen, was er getan hat, nachdem ich das Bewusstsein auf dem Friedhof verloren habe.“
Erst jetzt keimte in ihr ein Gedanke. Was wäre, wenn er Falke nicht getötet hatte?
„Es ist auch nicht wichtig, Kind“, sagte Akara. „Falkes Fall ist traurig, doch davon, dass unser Feind die Toten wieder leben macht, wissen wir bereits.“
„Vielleicht ist es doch wichtig. Ist er im Lager? Können wir ihn nicht rufen lassen?“
Kaum hatte sie die letzte Silbe gesprochen, da schnitt Akaras Stimme durch den Raum.
„Ein Nekromant in dieser Runde? Welcher Geist reitet dich?“
Die Kälte der Worte ließ Jilis körperlich frösteln. Die, die hier sprach, war nicht die schwache Gelehrte, die sie mit Vega aus ihrer Bibliothek gerettet hatte.
„Er könnte etwas wissen, das uns hilft“, meldete sich Kaschya. „Dann wäre es eine Torheit, diese Möglichkeit ungenutzt zu lassen.“
„Dies ist eine Versammlung der Schwesternschaft, nicht die ihrer Schinder. Was hätte unsere Gemeinschaft noch für einen Sinn, wenn wir ihre Grenzen zerbrechen lassen? Die Herrin stehe uns bei, dass so ein Frevel nur in unseren Worten, nicht in unseren Taten geschieht.“
Hoch aufgerichtet stand Akara da, die Haare umwehten ihr Gesicht wie in einem Sturm. Magie, die wild und unkontrollierbar aus ihr brach.
Kaschya nahm einen Schluck Wein und schüttelte den Kopf.
„Frevel wäre es, wenn wir die Chance vorüberziehen lassen, die sich uns bietet. Wir sind nicht in der Position, uns den Weg mit unseren Idealen zu verstellen. Lasst ihn holen. Tyreé, Marquia.“
Die Angesprochenen erhoben sich.
„Er wird bei diesem Händler sein“, sagte Jilis.
Akaras Blick bohrte sich in ihren wie glühendes Eisen.
Sie hatte die Idee aufgebracht, den Samen in Kaschya erst gesät.
Den peinigenden Blick musste sie ertragen, bis Tyreé und Marquia zurückkehrten. Der Nekromant ging an Tyreés Arm, die Verbände um seinen Schädel und die Hände standen in völligem Kontrast zu den pechschwarzen Kleidern. Sie bemerkte, dass sie die Luft anhielt. Wie ein alter Mann kam er zu ihnen gehumpelt – genau so, wie sie als alte, verkrüppelte Frau das Zelt betreten hatte. Der Kampf, den er geschlagen hatte, war nicht weniger tödlich gewesen als ihrer.
Mit dem Auge, das nicht unter einer Bandage verdeckt war, fixierte er sie und nickte ihr zu.
Akaras Blick ruhte noch immer auf ihr, aber sie nickte zurück.
„Es gibt wohl einen Grund, wieso ich aus dem Bett gezerrt werde?“, fragte er.
„Die Schwesternschaft bedarf deines Rates. Jilis hat uns bereits von eurer Reise erzählt, doch das Ende hat sie nicht mehr in wachem Zustand erlebt.“, sagte Kaschya.
„Du hast Blutrabe getötet...“, sagte Jilis. Bevor sie fortfahren konnte, schüttelte er schon den Kopf, die bleichen Haare schwangen strähnig um seine Stirn.
„Die Hexe auf dem Friedhof? Sie freut sich ihres Unlebens noch etwas länger.“
Jilis blieb der Mund offen stehen.
„Sie lebt?“
Sofort fuhr Akara ihr ins Wort. „Ein Nekromant tötet den anderen nicht, nicht wahr? Ein geheimer Bund verbindet euch.“
„Sie hat um ihr Leben gefleht, deshalb habe ich es ihr gegeben. Ein Nekromant ist sie so wenig wie ihr es seid. Ihre Kraft ist nur geliehen.“
Um ihr Leben gefleht... Falke? Wahrlich, der Fluch des Untodes hatte sie verändert. Aber wenn auch nur ein Funken der Falke übrig war, die sie gekannt hatte, dann steckte etwas anderes dahinter. Der Junge, der die Verletzungen so eifrig gesammelt hatte wie sie; gab es einen Grund für ihn, eine Geschichte zu erfinden?
„Blutrabe“, begann Kaschya, „ist jetzt nur noch eine von vielen Dienerinnen dieser
Königin, wie sie sie genannt hat. Weißt du noch mehr, Nekromant? Du hast vor Tagen behauptet, du würdest auf unserer Seite stehen. Wenn du es wirklich tust, kannst du es jetzt beweisen.“
Der Nekromant regte sich nicht. Kämpfte vielleicht mit den Schmerzen, wie sie es selbst kannte.
„Den Namen der Königin kann ich Euch nennen. Blutrabe hat sie
Aradeia genannt.“
Kaschya wandte sich an Akara.
„Ein Name, den Ihr kennt?“
„Leider nicht. Er klingt fast zu gewöhnlich.“ Die Oberin faltete die Hände in ihrem Schoß, ließ eine Pause entstehen. „Und der Titel der
Königin ist lange nicht mehr gebräuchlich in der Mark. Jeder könnte sich so nennen.“
„Dann ist das alles“, fragte Kaschya an den Nekromanten gewandt, „was du von Blutrabe erfahren hast?“
Er ruckte zur Seite, als schüttele ihn ein Krampf, und Tyreé packte seinen Arm und hielt ihn fest.
„Sie hat außerdem noch einen Namen genannt, den Ihr kennen dürftet.
Karmhang, es soll ein Dorf sein, das an den westlichen Bergen liegt.“
Die Muskeln in Akaras Gesicht spannten sich, im Licht der Laternen ähnelte sie einem Raubvogel.
„Karmhang. Was hat sie noch darüber gesagt, sprich weiter – oder ich lasse dich aus dem Zelt werfen.“
Jilis musste schmunzeln. Diese Drohung hätte Akara im Fall des Nekromanten eher als Belohnung benutzen sollen.
„Nur, dass Aradeias Diener sich dort bald zeigen werden. Aber so wird es mit allen Dörfern geschehen, sehr bald, vermute ich.“
„Nein, das vermute ich nicht“, sagte Akara und starrte auf die Felle zu ihren Füßen. „Bringt ihn weg, wir wissen alles, was wir brauchen.“
Marquia und Tyreé warteten auf den Befehl Kaschyas, und als die nickte, führten sie den Nekromanten weg. Jilis hob zwei Finger zum Abschied, der Nekromant nickte. Kurzer Auftritt für einen so verrückten Bastard wie ihn.
„Wir hätten es erwarten können, dass ihre Pläne so aussehen“, fuhr Akara fort. „Sie werden versuchen, die Einzige unter uns zum Schweigen zu bringen, die über die Dämonen mehr weiß als nur dunkle Gerüchte.“
Jilis grub in ihrem Gedächtnis. Bevor sie etwas erreicht hatte, ergriff Kaschya das Wort.
„
Wissen würde ich das nicht nennen. Zethys hat den Orden selbst verlassen, weil sie meinte, dass die Begegnung ihre Sinne verwirrt hat.“
„Sie hat mitangesehen, wie ihre gesamte Truppe ausgelöscht wurde. Grund genug, den Verstand einzubüßen.“
„Welchen Grund wir auch finden mögen... Ihr gebrochener Geist wird uns wenig helfen.“
„Selbst, wenn sie uns nicht helfen kann. Wir sind es ihr schuldig, sie vor den Klauen der Dämonen zu retten, die sie damals verfehlt haben. Sie hat den Schwestern lange Jahre gedient. Außerdem scheinen zumindest die Dämonen eine Gefahr in ihr zu sehen.“
Zethys, die der Hölle ins Angesicht gesehen hatte... Nicht nur
eine Legende machte unter den Jägerinnen die Runde. Also hatte Falke nicht schon genug an den Schwestern, die sie auf dem Friedhof gepfählt hatte – jetzt wollte sie eine Legende stürzen.
„Zu schade, dass der Nekromant die Untote nicht vernichtet hat“, sagte Kaschya.
Jilis sprach, bevor sie dachte.
„Dann gehe ich zu Zethys.“ Sie biss sich auf die Lippen. „Es ist auch mein Verschulden, dass Blutrabe entkommen ist. Da ist es nur recht, wenn ich dafür sorge, dass niemand dafür büßen muss.“
„Niemand verlangt so etwas von dir, Jilis“, sagte Kaschya nach einer Pause.
Und wenn ich es selbst verlange?
Akara schüttelte den Kopf und verbarg ihre Haare wieder unter der Kapuze.
„Dafür müssen wir nicht dich schicken. Wir sind Wenige, aber es gibt doch genug unter uns, die diese Aufgabe übernehmen können.“
Das erste Mal an diesem Tag, dass ihre Anführer beide der gleichen Meinung waren. Ausgerechnet jetzt.
„Auch ich kann sie übernehmen“, sagte Jilis. Die Aufmerksamkeit des gesamten Zelts hing an ihr, als sei sie ein exotisches Tier, ein Säbelzahnkeiler aus den Wäldern. „Ich habe noch zwei gesunde Beine, und ich werde schnell genug sein, dass ich den Bogen erst gar nicht spannen muss.“
Bitte.
Aus dem Kreis der Anwärterinnen erhob sich Tyreé.
„
Ich kann gehen.“
Hilfesuchend sah Jilis im Raum umher. Nicht Tyreé. Auch mit einem Arm noch würde sie der Schwester die Nase ein zweites Mal brechen können, würden sie um den Auftrag kämpfen.
„Du wirst noch so oft gehen können“, sagte Jilis. „Was nütze ich der Verteidigung hier im Lager… mit einem Arm? Blutrabe ist fortgescheucht worden, es gibt keine Bedrohung mehr auf den Landstraßen.“ Sie ballte eine Faust. „Ich kann es schaffen.“
Das letzte Mal kann ich etwas schaffen.
Tyreé zögerte, senkte den Kopf und setzte sich wieder. Sie hatte verstanden. Irgendetwas.
„Gut“, sagte sie leise.
Würde auch Akara verstehen? Kaschya?
„Die Dämonen könnten dich sehr wohl erwarten“, sagte der Hauptmann.
„Ich könnte sterben? Das meint Ihr? Jede Stunde im Dienst des Auges kann die letzte sein, das wisst Ihr so gut wie ich. Es ist nicht anders als sonst. Der Feind hat mir einen Arm abgeschlagen, wir haben
ihm einen Arm abgeschlagen – Blutrabe herrscht nicht mehr über den Friedhof und die Toten dort. Es sind die gleichen Chancen wie sonst.“
Nämlich eins zu tausend.
Verdammt, sie winselte wie ein Hund, winselte um die Gnade dieser letzten Aufgabe.
Gemächlich erhob sich Akara von ihrem hölzernen Thron und trat vor Jilis hin. Etwas lag in diesen Augen, die die Magie der Wüste golden wie die Dünen gemacht hatte. Es gefiel ihr nicht.
„Steh auf, Jilis.“ Sie erwartete alles. Bis hin zum Todesstoß vor der ganzen Versammlung. Vega half ihr, sich aufzurichten, ihre Gelenke knackten. „Seht sie Euch an, Schwestern. Von uns allen hat vielleicht nur sie das Recht, sich eine wahre Tochter des Auges zu nennen. Wenn eine der unseren vor Zethys treten soll, dann sie.“
Wie zur Beschwörung hob die Oberin die Arme. Ihre Worte fachten den Herzschlag in Jilis Brust an. Doch hinter den Augen leuchtete eine Magie, strahlte über all das Alter und die Runzeln in ihrem Gesicht hinweg. Eine fürchterliche Magie, die ihr den Herzschlag gefrieren lassen wollte.
Was hatte Falke gesagt…
Rachelust, die die alte Zauberin verzehren sollte?
„Ja, dann
sie“, sagte Vega mit dünner Stimme, die kaum bis in die Ecken des Zelts dringen mochte. Aber sie sagte es. Obwohl sie nichts von dem verstand.
Jilis drückte sie an sich. Die Gesichter der Anwärterinnen zeigten keine Regung, bis Kaschya nickte. Dann nickten auch sie. Die Tränen kitzelten Jilis an den Wangen.
Als sie aus dem Zelt traten, brach Jilis zusammen. Vega packte sie mit einem eisernen Griff, den sie ihr nicht zugetraut hätte, und hielt sie aufrecht. Wie ein Sack hing sie der Jüngeren als Gewicht über der Schulter.
„Bring mich zum Wagen von diesem Händler, der zu einem geilen Bock wird, wenn er Gold wittert.“
„Dein Beutel ist in unserem Zelt, ich müsste ihn erst holen…“
„Ich habe nicht gesagt, dass ich ihn noch reicher machen will.
Er interessiert mich so sehr wie seine Notdurft.“
Vega nickte ihr zu und schleppte sie voran. Jilis lächelte. Die einzige Schwester, vor der sie sich nicht verantworten musste.
In der Kühle des Abends zog sich das Fleisch an ihren Wunden wieder zusammen und zerrte mit Schmerzen an ihr. Aber nicht nur ihr würde es so gehen.
„Längst geschlossen, die Damen“, rief der Händler nach draußen und winkte ihnen vom Heck des Wagens aus zu, über das sich die Plane nicht völlig spannte. Unter seinen Augen hingen dunkle Ringe, und der bittere Geruch von Medizin stieg nach draußen. Genau wie in Akaras Zelt.
Jilis stützte sich auf die Ladefläche und blickte in das schummrige Licht im Innern.
„Was wollt Ihr? Ich habe genug damit zu tun, dass mein fahrender Laden zu einem Krankenlager geworden ist.“
Auf einer Schicht aus Teppichen wälzte sich eine Gestalt in dunklem Leder.
„Du hast Blutrabe besiegt“, begann Jilis und beugte sich an dem Händler vorbei. Der Nekromant richtete sich zitternd auf, zuckte mit den Schultern, dass es beiläufig aussehen sollte. Aber er sank rasch wieder zurück. „Wer wird der nächste sein?“
Der Nekromant hob eine Hand, an der die Fingerspitzen aus dem Verband hinausragten. „Das kommt darauf an, was mir auf dem Weg nach Karmhang begegnet.“
„Karmhang? Du hast gelauscht, nachdem du wieder aus dem Zelt warst.“
„So interessant seid ihr lange nicht.“
Kraft floss ihr in einem Schub zurück in den Körper.
„
Du willst nach Karmhang? Was willst du dort anrichten?“
Ein heiseres Lachen füllte den Innenraum des Wagens.
„Tote wird es genug geben, wenn Aradeia und Blutrabe dort aufgetaucht sind. Wo die Toten sind, sind die Nekromanten. So ist es doch, oder nicht? Du weißt das besser als ich.“
Sie bemerkte, dass es ihr eigenes Lachen war, das sich anschloss.
„Verdammter Kerl. Ich bringe dich noch um.“
Seine Hand tastete sich hin zu dem Krummsäbel in der Scheide dicht bei ihm.
„Nicht, wenn ich schneller bin.“
„Krankenlager habe ich gesagt, aber eigentlich habe ich ein Ärztehaus für Geistesschwachsinn gemeint...“, sagte der Händler und rieb sich über das Gesicht.
Es dauerte noch eine Minute, bis sie verstummten.
„Du hast noch zwei Tage“, sagte Jilis. „Dann musst du wieder laufen können. Tragen werde ich dich nicht.“
Mit einem Arm nicht.
Der Nekromant stützte sich auf seine Schwertscheide und richtete sich halb auf, keuchte. Sein Blick ging an ihr vorbei, zur Palisade des Lagers. Wahrscheinlich dort hindurch.
„Das sehen wir dann. Wer es nötig hat, getragen zu werden.“