Knapp dem Super-GAU, nämlich dem verlorenen USB-Stick, entgangen.
Deshalb hier schon einmal die erste Hälfte des neuen Kapitels.
XI Baphomet
Der Arm eines Gottes... Jilis ballte die Hand zur Faust. Nicht die leiseste Anstrengung, aber die Finger schlossen sich dennoch. Als sei sie ein Geist –
ein Gott –, der dem Gliedmaß Befehle gab, ohne selbst damit verbunden zu sein.
„Den Kopf runter!“, brüllte jemand und warf sich von hinten auf sie, dass sie vornüber ins Gras stürzte. Die Erde war warm unter ihren Händen, und die Luft flimmerte vor Hitze. Ein Junge, dem die Locken aus dem Spitzhelm quollen, rollte sich von ihr hinunter und wies mit einem viel zu großen Handschuh in den Himmel. „Die Teufel wollten Euch holen, Schwester.“ Eine der Nadelzahnbestien drehte eben ab und steuerte wieder auf das Dorf zu.
„Das haben sie sich zur Gewohnheit gemacht“, sagte Jilis und richtete sich wieder auf.
„Wann werden die anderen Eures Ordens eintreffen?“
Hoffnung flackerte in den Augen des jungen Wächters.
„Wenn diese Häuser hier längst zu einer Schicht aus Asche geworden sind. Ich bin die einzige in einem Umkreis von zwei Tagesmärschen.“
„Das verborgene Auge gefällt sich darin, verborgen zu bleiben, aye?“, fragte ein älterer Wachsoldat, dem Rußflecken den Brustharnisch verzierten. Er lehnte gegen das erbärmliche Bollwerk, das die Wächter zwischen den letzten Häusern aufgeschichtet hatten. Eine Mauer aus Karren, darin verkeilten Wagenrändern, sogar Kinderkrippen und gebrochenen Tischen.
„Diese Höllenwesen haben uns genau so geschlagen wie Euch.“
„Geschlagen sind wir noch nicht“, rief ihr ein Alter zu, der einen Zaunpfahl mit hindurchgehämmerten Nägeln und Dolchspitzen trug. Ein Schatten erklomm die Barriere aus Unrat, hangelte sich über die Spitze aus Stuhlbeinen herüber, da ging die Waffe des Manns auf ihn nieder. Die Feuer verbargen die Gestalt nicht länger, als sie den Turm hinabrollte und zwei Waschzuber mitriss. „Hab ihm ein paar Nasenlöcher mehr gemacht!“, sagte der Alte und lachte. Blut färbte die Spitzen seiner Waffe dunkel.
Jilis beugte sich nieder. Spielte ihr die flimmernde Luft einen Streich? Sie kniff die Augen zusammen, die vom Rauch brannten. Der Erschlagene vor ihr trug die Schuppen eines Reptils, und sein Kiefer streckte sich lang wie der einer Schlange, mit Reihen aus Raubtierzähnen im Maul.
Maros Mantel tauchte neben ihr auf, und mit der flachen Seite seiner Klinge hob der Nekromant den Schädel des Ungetüms an.
„Tierköpfe haben sie alle“, sagte der Lockige.
Der mit der rußigen Rüstung drückte dem Jungen den Morgenstern des Toten in die Hand.
„Das ist die Strafe der Götter. Wer hurt und spielt, dem zerkneten sie im Tode das Gesicht und ziehen ihm Tierhäute an, und dann muss er zurück auf die Erde.“
Maro sah sie an. Die Dörfler verstanden nichts, und noch vor dem Abend würde es für sie vorüber sein. Armbrustschützen flankierten die Barrikade zu beiden Seiten und zielten auf die Gassen, durch die die Dämonen kommen mochten, wenn sie den Schutzwall umgehen wollten. Doch die Nadelzahnbestien schwebten weit über ihnen, und kein Wall – und wäre er aus Stein gewesen statt aus Schrankschubladen und Wassereimern – hielt sie auf. In Abständen sanken sie nieder, entzündeten an den Flammen der Strohdächer neue Fackeln und warfen sie in Teile des Dorfs, in denen noch kein Feuer wütete. Wie leicht hätten sie die Dorfmiliz aus den Lüften jagen und Mann für Mann zerreißen können. Wie leicht die Barrikade niederbrennen, obwohl das Holz dunkel von Wasser war, das die Männer zum Schutz vor Bränden darübergeschüttet haben mussten. Die Dämonen suchten etwas anderes.
„Sie kommen nicht nur deswegen, weil sie zuviel beim Glücksspiel gewonnen haben und die Götter ihnen das neiden“, sagte Maro, als hätte er in ihren Gedanken gelesen.
„Oh“, sagte der in der Rußrüstung, „dann kommen sie, um mit uns ein gewaltiges Fest zu feiern. Seht Euch nur die Freudenfeuer an, Herr Kleriker.“
Jilis stellte sich zwischen die beiden, an das Fenster eines Kasernenbaus, dessen steinernes Dach die Feuer abwehrte.
„Ihr verlangt nach der Schwesternschaft, aber die Größte von uns sollte sich hier im Dorf aufhalten. Wo ist Zethys, die Dämonenjägerin?“
Eine Legende wie sie hatte ihren Platz zwischen den Kriegern, die den Horden der Hölle standhielten. Aber vielleicht nicht unter dem Haufen Dorfwächter, der sich außerhalb verschanzte, während die Bestien nach Willkür im Inneren der Siedlung Frauen und Kinder holen konnten. Vielleicht war Zethys im Herzen der Schlacht.
„Dämonenjägerin?“, fragte einer der Armbrustschützen und stützte sich mit der Waffe auf dem Boden ab. „Zethys hat ihr Heim gegenüber dem Ratshaus auf dem Dorfplatz gehabt. Aber der letzte Dämon, den sie gejagt hat, war der Staub auf ihrer Fensterbank.“
Die Männer um ihn herum verfielen in Gelächter. Nichts als Narren. Nur die Toten schwiegen, die Dutzenden von Kriegern mit verbeulten Harnischen und dem rot gefärbtem Gras um sich herum. Einige von ihnen stützten mit ihren Körpern den aufgeschichteten Wall. Die Besten von ihnen. Die Besten fielen zuerst.
„Keiner von euch hat den Mumm, uns zu ihrem Haus zu führen, wette ich“, sagte Jilis.
Der Alte mit der Stabwaffe schichtete den Echsenköpfigen in eine Lücke der Barrikade.
„Ich werfe mein Leben nicht gern weg. Wenn die Feuer sie noch nicht verzehrt haben, dann die Mäuler dieser Höllengesandten.“
Auch der mit der Rußrüstung stimmte zu. „
Diese da“, er zeigte auf den geschuppten Leichnam, „sind nicht alles, was durch unsere Gassen rennt. Da ist etwas, das einen Schatten von der Größe eines Tempels wirft.“
„Dass ihr selbst Schatten fürchtet, hatte ich bereits vermutet”, sagte Jilis. “Dann werden wir allein gehen.” Sie fing einen ernsten Blick von Maro auf.
Sie selbst hatte genug Grund, die Schatten zu fürchten. Jeder von ihnen konnte Blutrabe gehören. Das Gift würde ihr nicht mehr schaden, wenn sie bereits durch diese eine Dosis dagegen immun geworden war... Aber gegen den Moment, in dem sie ihre Schwester zwischen den Flammen wiedersehen würde, dagegen konnte kein Antidot sie immun machen.
Der Mann in der rußigen Rüstung richtete Holzstäbe in der Barrikade. Spaten und Harken, Feldgerät in diesem Wall aus Unrat.
„Wir können Euch leider kein Grab ausheben, unsere Schaufeln dienen zu unserem eigenen Schutz.“
“Die Mühe könntet Ihr Euch ohnehin sparen. Wir haben nicht vor, den Tod dort zu finden.“
Flammen umkränzten das Innere des Orts wie eine Krone. Ein Kirchturm wankte, brach vom Kirchdach herunter wie ein Stück trockene Brotkruste. Ein Dröhnen füllte die Gassen und brandete bis zu der hölzernen Festung der Krieger hin.
„In der Tat nicht“, sagte Maro, „ich gehe ihn an einem anderen Ort suchen. Wir werden uns nicht wiedersehen.“
Das Feuer spiegelte sich in seinen bleichen Haaren wie in Glas. Jilis spuckte einige Rußflocken aus und nickte.
„Das hätte ich auch gedacht, nachdem ich dort auf dem Friedhof zusammengesunken bin.“
„Noch einmal wird dir das nicht passieren, jetzt ist das Gift gegen dich wirkungslos. Tu, was du hier tun willst.“
Sie zog die Nase hoch.
„Du auch, zäher Hund. An deinem Leder hacken sich die Geier die Schnäbel wund.“
Das Klirren von Klingen und das Klappern von Rüstungen füllte den winzigen Stützpunkt der Krieger, der Mann mit der verrußten Rüstung brüllte Befehle. Niemand interessierte sich mehr für sie oder den Nekromanten.
Er war fremd in diesem Land. Aber vielleicht war er damit nicht allein.
„Natternköpfe von Süden“, riefen die Schützen, und die Sehnen ihrer Armbrüste sangen. Am Nordende des Verteidigungswalls rutschten die Kreaturen vom niedrigen Kasernendach und rollten sich unter einem Bolzenhagel hindurch, von Süden her sprangen sie aus Hausfenstern und stürmten aus schattigen Passagen hervor.
Maro, der Nekromant, schloss die Augen und hielt seine Klinge mit der schmalen Seite vor das Gesicht, sodass die Waffe dünn wie ein silberner Faden erschien.
„Noch ein letztes Geschenk aus dem Osten.“
Die heißen Feuerwinde hielten inne, dann stießen zwei Flammenarme aus dem Dorfinneren himmelwärts. Sie wirbelten ineinander zu einer Sphärengestalt und lösten sich von den Lagerdächern, aus denen sie entsprangen waren.
Dann waren die Magiermeister aus den Wüsten nicht die einzigen, die sich die Glut zum Diener machen konnten.
„Fahre wohl“, sagte Jilis, während das Geklirr von Eisen auf Eisen sich näherte. Die Kugel aus Hitze stand am Himmel wie eine Sternschnuppe, die im Fall innegehalten hatte. Damals hatte sie diesen Zauber des Todes und des Lebens nicht verstanden, und sie tat es auch jetzt nicht. Sie brauchte es nicht.
Schweißperlen glänzten auf Maros Gesicht, als er sich ohne ein Wort abwandte und nach Norden in den Seitenstraßen verschwand, vor denen die Miliz gegen die Tiergesichter stritt.
Ein Dutzend Grüße kannte die Schwesternschaft für Ranghöhere und –niedrigere, für Gleichrangige, aber sie kannte keinen für einen Fremden, der keiner mehr war.
„Einer für Euch, Schwester“, rief der Junge mit dem Lockenkopf, während er mit dem Morgenstern den eines dunkel Geschuppten parierte. Ein weiterer kletterte über die Barrikade und hielt die geschlitzten Reptilienaugen auf Jilis gerichtet. Er kam mit den Beinen auf dem Boden auf und richtete die Spitze einer Hellebarde auf ihre Brust.
Jilis spannte ihren Arm an, bis er sich anfühlte wie ein Strang aus Stahl an ihrer Schulter. Stahl, der ihren Bewegungen gehorchte, besser als jedes Schwert.
Der Hellebardenkopf suchte nach ihrem Herzen, der Echsenmann riss das Maul auf, als wolle er es verspeisen. Jilis bog sich zur Seite weg, das Axtblatt schnitt durch die Luft neben ihrem Ohr. Sie packte die Waffe am Schaft und rammte ihrem Gegner das stumpfe Ende in den Bauch. Ein Krächzen drang aus seiner Kehle, die lange Zunge wirbelte um sein Maul herum wie ein sich windender Wurm. Sie brach den Axtkopf seitlich von der Stange und jagte dem Krieger die Schneide seiner Waffe in den Hals. Seine Augen zitterten, dann klappte der Reptilienkiefer zu. Auch diese starben wie Menschen. Schlaff ging der gepanzerte Körper zu Boden, fiel zu den anderen, deren Panzer keine geschuppte Haut, sondern Harnisch und Schild waren.
Die Echsenköpfe bildeten eine Zange von zwei Seiten, und ein Keil strömte in die Mitte. Ein Trichter, durch den Wasser in eine Flasche strömte. Und wenn die Flasche sich gefüllt hatte, war von ihnen allen nur noch Staub übrig und schwelendes Fleisch.
Zwei Echsenmänner kamen auf einen Wachmann, und von denen trug mehr als die Hälfte noch nicht einmal einen Bartflaum im Gesicht. Ein Stoß mit einer Stachelkeule ließ dem mit dem Rußpanzer die Platten seiner Rüstung wegspringen. Er fiel, die Hände zum Himmel gereckt, und er schrie gegen das Feuerknistern an, bis ein Axthieb ihm die Lippen teilte.
Die Schützen hatten ihre Waffen getauscht gegen Kurzklingen, um die der Echsen parieren zu können.
Jilis schleuderte ihre Hellebardenspitze in den vielköpfigen Ansturm, die Waffe fuhr dem Vordersten in die Brust und warf ihn in die Arme der ihm Folgenden. Sie kaufte sich Sekunden. Lud die Armbrust und richtete sie auf den Schwarm. Einer bekam einen Bolzen durch die Nüstern zu fressen, stürzte mit den Beinen voran, als sei er im Matsch ausgeglitten. Ein Speerträger schwang sich vom Barrikadengipfel und hielt die Waffe wie einen Flock, den er in sie treiben wollte. Sie wechselte die Waffenhand, spannte ihren Götterarm zu stählerner Härte, legte die Finger der Hand aneinander zu einer geraden Fläche. Mit der Bewegung eines Aufwärtshakens empfing sie den Speerkämpfer. Ihre Fingerspitzen drangen durch das Fleisch und brachen die Halswirbel, stießen im Nacken wieder aus der Haut heraus. Das Blut wärmte ihr die Hand, und die letzten Herzschläge bebten an ihr vorüber. Das Schlangengesicht hing über ihrem Arm mit stillem Blick. Dieses hier hatte nicht einmal begriffen, wie es verendet war.
Aber die Zahlen verringerten sich nicht. Zu dritt gingen die Geschuppten auf den Lockenkopf los, zertrümmerten ihm mit Kriegshämmern die Beine und dann den Brustkorb. Sie sprachen nicht, konnten vielleicht nicht sprechen. Sie kamen und töteten, und nur das Todesgebrüll der Männer erhob sich über die Dächer. Befehle gab längst niemand mehr.
Jilis zog ihre Hand aus der Kehle des Wesens und packte dessen Speer, drosch ihm einen der Angreifer in den Oberschenkel und durchdrang dann sein Auge mit einem Bolzen. Die Schuppigen schlossen sich zu einer Wand aus Schatten zusammen, umringten sie und einen der Krieger des Dorfes. Für Sekunden stritten sie Rücken an Rücken, parierten Klauenhiebe und brachen Kiefer, dann war es der Krieger, der brach. Jilis nahm sein Schild und zerschlug mit einem Vorstoß die Ringformation um sich herum. Ein Schwertstreich suchte nach ihrer Kniekehle, sie schlug mit ihrem Messer den Arm nieder, der die Klinge führte.
Die Schlacht barst in ein Inferno, dem die Flammen des brennenden Dorfes nie gleichkommen würden. Ein Krieger, der die Hand auf seinen Armstumpf hielt, taumelte in den Echsentrupp hinein und ging in einem Reigen aus niederfahrenden Klingen unter. Die Schützen legten einen Teppich aus Bolzen über die Gegner, die sich von den Dächern auf sie niederschwangen. Dunkle Klauen reckten sich nach Schäften in Schuppenhälsen, brachen sie ab und rissen dann Rüstung und Haut der Schützen in Fetzen.
Die Wächter starben in Scharen. Abseits der Menschen, die sie schützen sollten – aber statt hier ihr Leben fortzuwerfen, hätten sie ebenso gut den Weg in die Berge und fort von diesem Schlachtfeld nehmen können. Möglich, dass sie schlicht den Ort und die Zeit für ihren Tod hatten bestimmen wollen, statt einen Versuch zu machen, ihm zu entrinnen.
Nur sie, sie durfte nicht fallen.
Über den schwarzen Schädeln ragte die Bretterkonstruktion noch immer auf, obwohl eine schwelende Bresche in der höchsten Lage von Wagenrädern klaffte. Das Herz der Hölle wartete dahinter, und mit ihm auch der Schlüssel zu seinem Untergang.
Sie zog einem Biest das Messer über die Kehle, das Menschentier stürzte rücklings in ein Fenster und verschwand aus ihrer Sicht. Ein Schildstoß zielte auf ihre Nase, sie huschte geduckt darunter hindurch und durchstieß mit der Hand die Brustschuppen und Rippen des Angreifers. Den Leichnam schüttelte sie von ihrem Arm und sprang auf eine Treppe aus Kommodenschubladen, die aus dem Bollwerk ragte. Beim Aufstieg blendete sie Maros seltsamer Zauber wie eine zweite Sonne; ein Schatten schob sich davor, mit Armen, Beinen, einer dünnen Klinge. Sie beschirmte die Augen mit dem Arm. Schwarzes Blut peitschte auf das niedrige Dach neben ihr, der Echsenmann klatschte gegen die Fassade, als wäre er ein feuchtes Tuch.
Der Weißhaarige mit der Nagellatte reckte eine Faust in die Höhe und zerrte seine Waffe aus dem Kadaver.
„Nie zu alt, noch eine Jungfer zu retten.“
„Und wer rettet Euch?“, fragte Jilis. „Ihr habt Euch mit diesem Scheusal nun lebendig eingemauert.“
In dem kärglichen Schutzwall schwelten die ersten Brände und kitzelten Jilis mit ihren heißen Fingern an den Ellbogen.
„
Wir sind die Mauer, M’lady. Wacht von Karmhang, bis zum Untergang.“
„Ein schöner Reim.“
„Schwingt Eure Gazellenbeine von unserem
Scheusal und geht, bevor diese Bastarde es einreißen. Sonst kann ich den Teufeln in den Höllen nicht ins Gesicht speien und behaupten, ich hätte an meinem letzten Tag mit meiner Hand noch für etwas gestritten, das mich überdauert.“
Eine Aschewehe schob sich zwischen sie, und Jilis taumelte den Trümmerturm rückwärts hinab.
Die Schlacht tobte weiter, ohne sie.
Keine Schlacht, ein Schlachten.
Wenn dies der Kampf war, auf den sie im Kloster so lange gewartet hatte, dann war sie der ausgemachte Dummkopf, den Falke sie immer genannt hatte.
In der Marktgasse vor ihr schlugen Flammen aus den Fenstern, gesprungene Teller und Tontöpfe bedeckten den Weg mit ihren Scherben. Markisen flatterten als brennende Fetzen vor den Läden – das Banner eines Lords, dessen Zeichen das Höllenfeuer war.
Jilis lief geduckt, um das Gesicht vor dem Wind zu schützen, der die Hitze der Flammen von links aus den Wohnhäusern, dann von rechts aus der Ladengasse trieb. Auch Blutrabe würde keinen Schutz vor der Hitze haben. Höchstens der Nekromant, der sich die Flammen zum Diener gemacht hatte, wie ein Tier.
Der Ratsplatz musste im Westen liegen, wo die Gässchen zusammenliefen. Aber wie weit noch? Die Welt zitterte in der heißen Luft, und aus Fensterläden strömten Flammenstöße, als verbargen sich Drachenmäuler dahinter.
Es war das Gleiche wie damals im Kloster. Sie ging durch das Feuer, um ein Leben zu retten... Nur, dass sie es dieses Mal im Namen der Schwestern tat; dass sich das Leben, das sie damals nicht hatte retten können, ebenfalls in dieser Hölle befand. Und, dass dieses Leben ihnen diese Hölle erst beschert hatte. Zehn Minuten, die alles entschieden hatten.
Die Brände auf der Straße nährten sich vom Kleid eines Mädchens und von seinem Körper, nährten sich auch vom Leib eines Schuppenträgers, dessen Arm aus einem Fenster hing. Sein Schädel war bis zu den Lippen gespalten, und das Feuer verbrannte zischend Fleisch und Hirn.
Der Schweiß rann Jilis über den Griff ihres Messers, machte ihn glitschig.
Holzsplitter, spitz wie Speere, flogen an ihr vorbei. Unter einem der Marktstände bäumte sich ein Schuppenkrieger auf, brüllte sein Gebrüll aus einer anderen Welt und wirbelte einen Morgenstern um den Kopf.
Jilis sprang vor und durchschlug das Holz, das die Balken des Stands hielt. Die Echse riss das Maul auf, da rammte sich ihr das Stützholz in Genick und zwischen die Schultern. Brennende Fetzen des Sonnendachs bedeckten sie, und sie zischte ein letztes Mal.
Die Höllendiener waren auch in der Stadt, und sie suchten das Gleiche wie Jilis. Sie begegnete zweien, die einen Karren durchstöberten und schoss ihnen in die Köpfe. Ein dritter stürmte ihr um eine Hausecke entgegen und empfing einen Messerstich in die Brust.
Es brauchte ein Wunder, damit dieses Heer Zethys noch nicht entdeckt hatte. Aber Zethys war eine Legende, und Wunder gehörten zu Legenden.
Über dem Platz in der Ortsmitte kreisten die Nadelzahnbestien, ließen sich fallen und packten zappelnde Menschenkörper aus den Straßen, die sie in die Luft zogen und dort zerrissen – aber dann kreisten sie weiter,
suchten.
Dann hatten sie also noch nichts gefunden.
Jilis sprintete zu den Trümmern eines Springbrunnens in der Mitte des Platzes. Ihre Haut leuchtete in wundem Rot, brannte und trug einen Schweißfilm, dass sie sich wie ein Reptil vorkam. Sie schöpfte die letzten Tropfen aus dem Brunnen und benetzte Gesicht und Arme. Als sie aufsah, kniete ein Mann im dunklen Umhang, mit weißem Haar, neben dem zerbrochenen Fischschwanz einer Nixenstatue.
„Du hättest verschwinden sollen“, sagte Maro. Seine Wangen glänzten wie Wachs, aber kein Schweißtropfen blitzte darauf.
„Das habe ich vor. Ich will kein Bratferkel werden. Dein Zauber macht es aber auch nicht angenehmer. Oder hältst du diese Echsen für umgekehrte Wermenschen und willst ihnen ihre Gestalt mit einer zweiten Sonne austreiben?“
Sie setzte zum nächsten Wort an, aber hielt inne. In den Flammen des Rathauses stand eine Menschengestalt, dunkel vor dem Hintergrund des Feuers und wabernd in der heißen Luft. Doch eine Echsenschnauze konnte sie nicht erkennen.
„Geh
jetzt, los.“
Maro wich rückwärts fort und wies mit der Spitze seiner Klinge auf ihre Brust. War es Zethys, die in den Flammen wartete?
„Was soll das?“, fragte sie.
Maro antwortete nicht, ging weiter auf das Rathaus zu, den Blick in sie gebohrt. Sie machte einen Schritt, da schnitt seine Stimme durch die Flammen.
„In die andere Richtung, dummes Mädchen. Noch einen Schritt-“
„Dummes…“
Es war, als drangen Finger in das Fleisch ihres Arms und spielten auf den Muskelsträngen wie auf einer Mandoline. Ihre Hand ballte sich zu einer Faust… Etwas
wollte, dass ihre Hand sich zu einer Faust ballte. Sie stemmte sich dagegen, drückte die Finger wieder nach außen. Dann brach ihr Widerstand. Das Gefühl wich ihr aus dem Arm, und das nächste, was sie fühlte, war der Fauststoß, den sie sich selbst in die Magengrube gab. Ihre Eingeweide krümmten sich und sie sank auf den Rand des Brunnens.
Maros Zauber… Sie schnaufte gegen die Ohnmacht an und zwang sich, die Augen offen zu halten.
„Ich hab es gewusst, deine Worte sind auch nicht mehr als ein schönes Märchen gewesen. Dreckiger…“
Sie fluchte und schlug auf die Statue eines Fischmannes ein, kämpfte gegen die Ohnmacht mit Schmerzen an.
Zethys war es nicht, die dort in den Flammen stand. Der Gedanke drang mit erbarmungsloser Klarheit in sie.
„Eine Hure der Dämonen bist du!“, rief sie. Falke. Falke, die diesen Namen vergessen hatte und mit ihm
alles.
Asche legte sich ihr in den Mund und sie hustete, hustete Blut und Staub. Auch Maro hatten sie jetzt, hatten ihn vielleicht die ganze Zeit gehabt. Sie schüttelte die Flecken ab, die sich ihr vor die Augen legten, und stemmte sich hoch – ihr Arm gehorchte ihr wieder.
Sie rannte zu dem Rathaus hinüber, in dessen klaffendes Dach der Uhrenturm eingebrochen war. Wie ein Vorhang schlossen sich die Feuerwalzen um die beiden Menschen, die mitten im Inferno standen.
Dann glitt ein Schatten über sie hinweg, breit wie eine Wolke. Vor ihr bohrte sich eine Wand aus Eisen in den Boden, wie ein übergroßes Turmschild der Rittersmänner aus Zakarum. Sie bedeckte das Gesicht mit den Armen. Erde und Trümmer eines Wagenrads spritzten hoch und schlugen ihr gegen die Schenkel. Ihr Blick wanderte das Schild hinauf – es verbreiterte sich nach oben hin, und ein Holzschaft, dick wie zwei Baumstämme, ragte oben heraus. Sie verstand erst, als eine Pranke sich um den Schaft schloss. Ein Speer, und das Schild war die
Spitze. Ein Grollen donnerte über den Platz und peitschte die Flammen beiseite.
„Das Auge!“, bellte eine Stimme über ihr. „Du trägst das Auge.“
Der Kopf eines Ziegenbocks hing über dem Trümmerfeld, zehn Schritt hoch. Sein Körper war es, der vom Berg aus hoch wie eine Scheune erschienen war. Die Schultern ragten über die Schornsteine von einstöckigen Häusern hinaus und dort, wo bei einem gewöhnlichen Bock der Hals ansetzen musste, schloss sich bei diesem Wesen ein menschlicher Oberkörper mit zwei Armen an. Es war, als hätte ein grausamer Wille einen der legendären Zentauren dadurch entstellt, dass er ihm einen Ziegenbock zum Vater gegeben hatte.
Die Hufe zermalmten verschüttete Früchte und Markttheken. Jilis wich zurück in den Trümmerhaufen des Springbrunnens. Diese Bestie musste von allen Zicklein und Böcken dieser Welt die Mutter sein – und der Vater noch dazu.
Aber vielleicht hatte es neben seiner Riesengestalt nur das Hirn eines Zuchttiers.
„Ganz recht, du großer Narr! Zethys hast du gesucht und gefunden.“ Sie holte den Bogen vom Rücken und legte einen Pfeil in die Sehne. Seltsam, wie fremd sich die Waffe anfühlte. „Aber du wirst Blutrabe nicht mehr von deinem Fund berichten können – ich bin nicht umsonst unter den Menschen zur Legende geworden.“
Der Riese fuhr sich mit der Spitze des Speers durch den Gamsbart an seinem Kinn.
„Ihr Menschen macht Legenden und Sagen aus Prinzessinnen in Seidenkleidern. Verzeih mir, wenn ich keine Furcht empfinde. Außerdem hatte ich gedacht, dass Menschen noch immer mit der Last des Alterns zu kämpfen haben. Du dagegen siehst jünger aus als noch vor Jahren.“
Ein grausamer Zug spielte um seine Schnauze. Er war es gewesen... Er, der Zethys und ihren Jägerinnen begegnet war. Jilis sah sich nach Deckung um. Aber weder die Karren, noch die schwelenden Trümmer – noch die
Häuser konnten Schutz vor diesem Koloss bieten.
„Ja“, sagte er, „du solltest Runzeln und Falten im Gesicht tragen. Oder ist dies hier dein Jungbrunnen gewesen?“ Die Spitze seines Speers durchfurchte die Trümmer des Brunnens wie lockere Felderde. „Vielleicht haben auch die anderen Menschen davon getrunken und
deshalb sind es vor allem Kinder gewesen, die mir unter die Hufen gekommen sind.“
Monster. Vor allen anderen Wesen, die ihr begegnet waren, war dies das scheußlichste... Weil es sprach und dachte wie ein Mensch und dabei verdorben war wie die Nadelzähne und die Echsenköpfigen. Zethys würde den Riesen vernichten, wenn sie sich nur endlich zeigte... Das Haus gegenüber den Rathaustrümmern stand unversehrt, aber die Flammen der Kaufmannsläden daneben sprangen schon auf das Dach über.
„Für jedes Leben, das du ausgelöscht hast, wird sich eine Pfeilspitze in dein Herz bohren!“, rief sie. „Zethys wird kommen und dir dein Grinsen aus dem Gesicht stoßen.“
Der Ziegenkoloss strich sich mit den Händen über die Hörner und trabte um den Brunnenplatz.
„Seltsam. Ich hatte gehört, dass euch Menschen im Alter auch die Kraft in den Armen abhanden kommt. Wird Zethys die nicht brauchen, um mir ihre Pfeile zu schenken?“
Jilis stutzte. Die Legende kannte keine Jahreszahlen... Doch die Wirklichkeit sehr wohl.
So alt konnte Zethys nicht sein. Sie durfte es nicht.
„Dann werde ich es tun“, sagte sie. „An ihrer Stelle.“
„Was soll dich dazu befähigen? Der Stempel des Auges auf deiner Stirn, den du mit Zethys gemeinsam hast? Du bist sterblich, kleine Puppe.“
Aus seiner Kehle drang ein grausames Gelächter, ein Gemisch aus dem Gelächter eines Irren und dem Meckern einer Ziege.
„Und du ebenso“, zischte Jilis. Der Pfeil zitterte in ihren Fingern. Wohin sollte sie ihn lenken? Das winzige Geschoss würde schon im Fell des Dämons hängen bleiben.
„Wenn du das glaubst. Wo du doch so an den Legenden hängst, sieh es als einen Trost, dass die meisten Legenden aus Toten gemacht werden. Ich gebe dir die Gelegenheit, eine zu werden – du zehrst an meiner Zeit schon zu lange.“
Der Dämon ließ seinen Speer über dem Kopf kreisen. Über dem Wirbel aus Metall stand noch immer Maros Sonne.
Ein letztes Geschenk, das hatte er gesagt.
Im Licht dieses Geschenks würde sie noch deutlicher mitansehen können, wie der Gigant sie zerriss.
Sie zielte auf den Kopf. Der verwundbarste Punkt der meisten Kreaturen. Der Pfeil flog von der Sehne, und der Riese nahm eine Hand von seiner Waffe und wischte das Geschoss beiseite wie ein lästiges Insekt.
Versucht hatte sie es...
Eine Pranke schoss durch die Luft zu ihr und breitete die Finger aus, um sie zu umschließen.
Plötzlich fehlte Maros Sonne. Sie stand nicht mehr. Sie fiel. Ein Ball aus Feuer, der in die Flanke des Ziegenmannes stürzte. Der Dämon heulte auf und sprang zur Seite, seine Schulter riss den Giebel eines Hauses fort. Wo der Feuerball getroffen hatte, glomm das Fell hell über dunkel verbranntem Fleisch. Die Flammen tropften auf die Erde und liefen ineinander. Im nächsten Augenblick loderten sie wieder hoch, doch nicht in einer einzigen Flamme, sondern in vielen verzweigten. Sie formten eine Gestalt – Oram, den Riesen, der Maro gedient hatte.
Der Ziegendämon hob einen Huf und ließ ihn auf den Golem niedergehen – die Kreatur des Nekromanten hob beide Arme und stemmte sich gegen den Huf. Flammenschlangen wanden sich über das Horn und krochen das Bein des Giganten hinauf. Wieder heulte er auf und schlug mit dem Speer um sich, zerriss mit dem stumpfen Ende des Schafts eine Fensterfront.
Hatte sich der Diener des Totenbeschwörers von ihm losgerissen und nach seinem Verrat auf ihre Seite geschlagen? Oder...
Sie schnallte den Bogen auf den Rücken und wandte sich um. Keine Zeit für Hirngespinste. Akaras Befehl stand noch – Zethys wartete auf sie. Die Feuer tasteten sich schon über den Dachfirst des Hauses.
Sie klopfte gegen die Holztür und lauschte eine halbe Sekunde lang. Sinnlos, zu warten. In einer Stunde würde die Tür zusammen mit dem gesamten Haus, mit dem gesamten Dorf, zu Asche geworden sein. Jilis warf sich gegen das Holz und riss die Pforte aus den Angeln, die untere Hälfte brach in der Mitte entzwei.
Eine Woge aus kühler Luft strich über sie, dann wallte die Hitze an ihr vorbei in das Haus hinein. Sie verharrte. Konnte sie den Namen so einfach aussprechen? Nach der Legende rufen wie nach einem Waschweib? Nun, immerhin hatte sie sich schon selbst als die alte Jägerin ausgegeben. Sie holte Luft.
„Zethys? Seid Ihr hier?“
Auch Legenden mussten sich in der Nacht zudecken.
In der Küche fand sie eine Schale mit den Resten von Haferbrei und Fruchtgelee, im Zimmer daneben ein Bett mit zerknitterter Decke. Über all dem lag der Geruch, den sie aus den Krankenlagern kannte, in denen nicht die Wunden des Kampfes, sondern die des Alters versorgt wurden.
„Zethys“, rief sie noch einmal und nahm die Treppe ins obere Stockwerk. Auf den letzten Stufen verlangsamte sie ihre Schritte. Durch ein einziges Fenster fiel der Flammenschein von draußen herein, tanzte in den Falten eines Gesichts. Die Haut schien wie Pergament, gezeichnet von Wetter und Sonne. Auf der Stirn verzerrten Runzeln das eingebrannte Abbild des verborgenen Auges.
Jilis nahm die beiden letzten Stufen mit einem Satz und ging auf die Knie.
„Verzeiht mir, Zethys.“
Die alte Frau saß in ihrem Korbstuhl, eine Decke über den Knien. In ihrem Auge flackerte der Feuerschein und gab ihren Händen die Farbe von glühendem Vulkangestein.
Sie war alt, bei den Göttern.
Bei der Herrin. Ihre letzte Schlacht mochte sie geschlagen haben, als Jilis noch in der Wiege gelegen hatte.
Zethys bewegte den Mund, als würde sie sprechen, unsagbar leise.
Jilis erhob sich langsam und kniete auf dem Teppich neben dem Stuhl nieder, das Ohr fast an den Lippen der Alten.
Der Legende.
“Ich habe Euch nicht verstanden“, sagte sie. Wie ein dummes Kind, für das die Worte der Mutter die ganze Welt waren.
„Niemand versteht die Ziege, und die Ziege versteht niemanden“, flüsterte Zethys. Sie wiegte sich langsam vor und zurück.
Ziege? Den Riesen vor dem Fenster meinte sie nicht...
„Die Ziege? Ihr?“
„In diesem Zimmer gibt es nur eine alte Ziege und ein junges Mädchen.“
Der Dämon hatte mehr als nur Recht behalten. Nicht nur die Kraft der Arme, sondern auch die des Geistes begann schon, aus Zethys zu weichen. Wenn diese alte Frau tatsächlich Zethys war. Und natürlich war sie es
nicht, nicht die Dämonenbezwingerin aus den Legenden.
„Aber es gibt etwas außerhalb des Zimmers“, begann sie, und in ihrem Magen fühlte es sich an, als würden sich Karpfen darin wälzen.
Sie sprach mit der Legende wie mit einem Kind, musste es tun. „Könnt Ihr es sehen?“
Statt einer Antwort fiel die Alte in einen Singsang.
„Glutgeboren lustig tanze,
auf der Welten dürrer Lanze,
sieh nur deinen Feuerreigen,
alle andern müssen schweigen...“
Wieder wiegte sie sich hin und her, und die Flammen machten ihr graues Haar schimmern wie Gold.
„Zethys, Ihr erkennt zumindest mich. Seht Ihr das Auge?“
Keine Antwort, aber die Frau streckte ihre Hand aus und fuhr mit rauen Fingern über Jilis Stirn. Berührt von einer Legende... oder einer alten Frau. Zethys berührte ihre eigene Stirn und legte die Hand wieder ab. Ihre Augen starrten so trübe an die Wand wie zuvor.
„Ein junges Mädchen“, sagte sie.
Jilis schüttelte den Kopf.
„Die Welt besteht nicht nur aus diesem Zimmer. Was ist dort draußen?“
Mit einem Mal spiegelte sich Sorge und Furcht in ihrem Blick. Sie beugte sich tiefer zu Jilis hinunter.
„Der Teufel sagt, ich darf nicht sprechen, sonst schlägt er mich tot. Baphometbaphometbaphometbaphomet.“
„Das ist sein Name?“
„Nein, die alte Ziege darf nicht sprechen“, sagte Zethys hastig. „Schweige, Mädchen, auch dich schlägt er tot.“
Auf dem Brunnenplatz tobte der Zweikampf. Bis zu den Knien stand der Dämon in den Trümmern einer Häuserreihe, schob gebrochene Schornsteine vor sich her. Die Aura des Golems ließ die Luft stärker flimmern als jedes Feuer und begleitete den Körper, der sich dem Bock in die Kniekehlen warf.
„Ich bin kein Mädchen. Ich bin eine Jägerin der Schwesternschaft des verborgenen Auges. Und Ihr?“
Zethys rang die Hände über der Decke und klopfte sich auf die Oberschenkel.
„Es ist so kalt hier. Du musst frieren.“
Jilis schloss die Augen. Mit dem Verstand war ihr nicht beizukommen. Wie es bei allen Legenden war.
„Niemand friert hier, nicht einmal Ihr. Es ist heiß wie auf einer Feuerstelle. Draußen brennt es, und bald brennt das ganze Zimmer und die alte Ziege brennt...“
„Die alte Ziege wartet schon viele Stunden lang, und sie wird brennen oder frieren, es ist dasselbe, solange sie nicht mehr warten muss.“
Jilis baute sich vor ihr auf und verstellte ihr die Sicht aus dem Fenster.
„Für Akara ist es nicht dasselbe, sie will die alte Ziege an ihrem Feuer sehen. Akara. Ihr versteht?“
„Akara hat viel Sand und Staub gebracht. Akara... Akara will die alte Ziege in ihrem Feuer sehen.“
„Nein, bei den Himmeln! Nicht
darin!“
„Akara. Staub. Nein. Aber das junge Mädchen ist schön, nur ein Auge zuviel hat es. Die alte Ziege hätte gern seine Haare.“
Wie stur die Menschen im Alter wurden. In Sturheit konnte Zethys sich mit der Oberin messen. Einfach auf die Schultern laden und sie durch die Flammen hinaustragen konnte sie Zethys jedenfalls leider nicht.
„Das junge Mädchen will der alten Ziege helfen...“, sagte sie, weil ihr sonst nichts einfiel.
„Dann verschwendet es seine Stunden. Es soll tanzen und lebendig sein, wie ein junges Zicklein. Es soll jetzt gehen, denn die alte Ziege liebt es sehr.“
Jilis stöhnte auf. Wäre es nicht besser gewesen, unter den Fäusten des Dämons, der sich Baphomet nannte, zerdrückt zu werden? Besser, als hier langsam dem Wahnsinn zu erliegen, den die Legende in ihrem Zimmer wie ein Spinnennetz ausgebreitet hatte...
Von der Schlacht auf dem Hof drang ein Tosen und Krachen herein, als stürme ein Unwetter über das Land.
Plötzlich blitzte eine Idee in ihr auf.
„Die alte Ziege liebt das Mädchen?“, fragte sie.
„Haare aus Seide wie das Mädchen hat sie auch einmal gehabt, und Haut glatt wie Kristall. Das Mädchen soll nicht so böse schauen, dann faltet sich die Haut zusammen und es wird älter, viel älter.“
„So...“, begann Jiis. Die Bresche für den letzten Stoß war geschlagen. „Weiß die alte Ziege, was geschieht, wenn das Feuer kommt? Seidenhaar und Kristallhaut schützen nicht davor. Das Zimmer wird brennen, die alte Ziege wird brennen. Und das junge Mädchen wird brennen – lichterloh.“
„Oh“, machte Zethys und schloss den Mund nicht mehr.
„Es wird ein schöner Haufen aus Seiden- und Kristallasche übrig bleiben, denn das Mädchen kann nicht fort – es hat sich den Arm verletzt.“ Jilis krempelte den Ärmel ihres Hemds hoch und zeigte ihren vergifteten Arm, der noch um Zentimeter dürrer war als der der Schwester. „Kann die alte Ziege ihm nicht helfen, von hier fortzukommen?“
Zethys öffnete ihre Augen. Als sähe sie die List, mit der Jilis sie bezwingen wollte. Sie erhob sich aus ihrem Sessel, die Decke rutschte ihr über die Knie. Sofort legte Jilis ihr einen Arm um die Taille, aber Zethys drückte gegen ihre Hand.
„Nein, nein“, flüsterte sie, „gehen kann die Ziege noch. Wenn das Mädchen es aber nicht mehr kann, wird sie ihm helfen.“
Sie spazierte aus Jilis Griff und zog die Schublade einer Kommode heraus, in der Papyrusrollen sich stapelte. Als Zethys die Hände hineinsteckte, purzelten die Rollen zu allen Seiten aus der Schublade. Nur um eine einzige schloss sie die Finger und zog den Siegelring ab.
„Was tut Ihr?“, fragte Jilis.
„Ihr?
Ich?“ Zethys strich die Schriftrolle glatt. „Es ist niemand hier als ein junges Mädchen und eine alte Ziege. Die alte Ziege schreibt nun einen Brief an Akara.“
Jilis wollte widersprechen, da breiteten sich Symbole auf dem Papyrus aus. Reihen aus Gebilden, die mal mit Buchstaben verschmolzene Zahlen waren, mal geometrische Formen, mal verschlungene Schlangennester. Zethys setzte ihren Finger an das erste Symbol und zeichnete seine Form nach. Dort, wo ihr Finger die Oberfläche berührte, leuchteten die Linien des Zeichens. Dann ging Zethys zum nächsten über, und zum nächsten.
„Es wird eine Weile der Zeit des Mädchens stehlen. So viel hat es noch?“
Einige Minuten, nicht länger würde Zethys brauchen, bis sie am Ende des Blatts angekommen war. Was auch immer dann geschehen würde. Ein Brief an Akara jedenfalls war
das nicht.
„Die alte Ziege kann soviel Zeit haben, wie sie braucht.“
In diesem Moment erschütterte etwas den Boden unter ihren Füßen, und auf den Wandregalen klapperten Tassen, stürzten auf Schreibtische und zerbrachen zu Scherben. Ein Windstoß stob durch das Fenster in das Zimmer. Wind, der nach Aas und Schwefel roch.
Ein Paar gewaltiger Nüstern erschien draußen und sog bebend die Luft ein.
„Ah“, donnerte die Stimme Baphomets, „Sogar am Geruch erkennt man bei euch Menschenwesen, wenn Ihr bald unter der Erde liegen werdet.“
Für einen Moment war das Fenster wieder frei, dann verstellte ein riesenhaftes Auge die Aussicht nach draußen.
Jilis zog das Messer. Drei oder vier Minuten, länger musste sie den Dämon nicht aufhalten.
„Deinen Geruch brauche ich erst gar nicht zu riechen, um festzustellen, dass du bald nichts anderes mehr sein wirst als ein Haufen Schlamm und Kehricht!“
„Oh? Ein Zustand, den ich dir zu verdanken haben werde, wie du meinst?“
Erneut stimmte Zethys ihren Singsang an, während sie weiter die Symbole auf dem Papyrus nachzeichnete.
„Dass dort all die Träume lagen,
keinen Krieger, es zu wagen,
Trümmer in der Wirklichkeit,
kein’ Frau, kein Manne ist bereit...“
Alles, was der Dämon damals von ihr gelassen hatte, war diese Hülle, die ihren eigenen Namen nicht mehr sprechen wollte und die Dichtsprüche aus der Kindheit wiederkäute.
„vorn der Glanz von Ewigem,
fortgespült von weiß nicht wem,
lass es nicht zu...“
Jilis sprang über die Kante des Schreibtisches auf das Fenster zu und setzte zu einem Messerhieb an.
Nein, ich lasse es nicht zu. Sorgt Euch nicht.
Die Klinge drang bis zum dritten Zacken in die Pupille ein. Ein Ruck durchfuhr das Monster, und ein Schrei röhrte über den Platz. Jilis grub ihre Finger in das obere Augenlid und zog sich hinauf. Der Schädel bog sich nach hinten und schüttelte sich. Die Hand rutschte ihr ab, aber sie bekam ein Ohr zu packen und zerrte ihr Messer weiter durch den Augapfel hindurch, bis hoch in das Weiße hinein. Eine Linie aus Blut zog sich über das halbe Auge, und flüssiges Rot strömte hinaus. Jilis zog das Messer zurück und schlug es in das Fell des Schädels, hielt sich mit den Widerhaken der Klinge im Fleisch fest. Der Körper unter ihr bog und wand sich, schüttelte sie herum wie ein winziges Ungeziefer. Es gab kein oben mehr, kein unten, nur die Richtung, in die Baphomet sich warf und ihr Magen mit ihm. Die Häuser verwischten zu einer einzigen unscharfen Gestalt, und das Feuer zu einem Fluss aus heller Farbe.
„Ich bin die Zecke in deinem Pelz, die du bis zu deinem Ende nicht loswirst!“, rief sie in das Ohr hinein und packte noch härter zu. Die Höllenfahrt endete mit einem Mal, Baphomet verharrte.
Die Pupille des unverletzten Auges zuckte in ihre Richtung, suchte sie. Ein Schatten legte sich über sie. Mit einem Hechtsprung warf sie sich an den Hörnern vorbei und rutschte den Nacken hinab. Seine gewaltige Hand griff an Baphomets Hinterkopf und tastete vergeblich nach ihr. Die zweite Hand raste ihr von den Schultern her entgegen. Jilis setzte einen Fuß auf den Handballen und stieß sich ab. Die Pranke schloss sich dicht unter ihrem Stiefel, während sie auf dem Rücken des Riesen landete. An seiner Flanke waren mehr kahle, verbrannte Stellen als unversehrte. Wo war das
Geschenk von Maro? Sie hätte nichts dagegen gehabt, wenn es ihr noch etwas Freude gemacht hätte.
Zwanzig Schritt rannte sie, bis sie das Hinterteil des Dämons erreicht hatte. Zwischen brennenden Markisen ragte etwas auf, das ein Wappenmast hätte sein können. Doch am unteren Ende drang die Speerspitze der Riesenwaffe in den Boden – durch eine Gestalt hindurch, die aus flüssigem Feuer bestand und die Arme gegen die Waffe reckte, die sie an den Boden fesselte.
Der Rücken des Giganten erbebte, seine Hufe donnerten auf den Boden. Jilis streckte die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten. Das Messer zwischen die Zähne geklemmt, lief sie zu dem Schwanz, der um sich peitschte. Wenn sie den Speer erreichen konnte... Und wenn
nicht, würde sie ohnehin in den Tod stürzen. Sie quälte die letzte Kraft aus sich heraus und sprang vom Hinterteil des Bocks ab.
Die Speerstange kam näher, Jilis schlang beide Arme darum. Sie rutschte das Holz hinunter, bis ihre Füße auf der breiten Seite der Spitze Halt fanden. Der Feuermann, den die Waffe festhielt, konnte als Einziger in diesem Dorf dem Dämon trotzen. Sie rammte mit ihrem magischen Arm das Messer in den hölzernen Schaft und zerriss das Material mit der gezackten Klinge. Ein Mal, zwei Mal, und kaum eine Kerbe. Die Holzspäne flogen um sie.
„Was treibst du, kleiner Schädling?“, donnerte Baphomets Stimme, als er sich umwandte und auf sie zu trabte.
Sie stieß das Messer in das Holz, Mal um Mal. Die Fasern brachen, und der Speerschaft neigte sich zu einer Seite. Sie setzte die Hiebe auf der anderen fort.
Baphomet legte eine Hand um den Schaft, die Finger schlossen sich. Jilis führte einen letzten Streich und riss einen ganzen Brocken aus dem Holz. Baphomet zog den Speerschaft nach oben. Die Holzfasern an der Stelle, die Jilis bearbeitet hatte, brachen entzwei. Der Dämon hielt eine hölzerne Stange in die Höhe, und nur der Keil der Spitze steckte noch in der verbrannten Erde. Jilis legte die Arme um das letzte Stück Schaft und sprang. Die Speerspitze senkte sich zur Seite, herausgehebelt von Jilis Gewicht. Sie landete neben der Kreatur aus Flammen, aber nicht ein Hauch des Feuers verbrannte ihr die Haut. Als könnten die Flammen entscheiden, von wessen Fleisch sie sich nährten.
Der Golem warf die Speerspitze beiseite und bäumte sich auf. Baphomet stieß ein Brüllen aus und schwang den hölzernen Rest seiner Waffe wie eine Keule, die Stein und Holz zermalmte. Jilis warf sich in die Deckung eines Zackens des Brunnenbeckens, und der Golem stoppte den Schwung der Waffe mit seinen Händen aus Glut. Sein Gesicht verriet keine Regung, aber Baphomet fletschte seine Zähne und stöhnte. Aus dem rechten Auge rann ein Bach aus Blut in seinen Mundwinkel.
Sie hatte getan, was sie konnte. Jetzt mussten diese beiden Gewalten gegeneinander antreten.
„Du kommst nicht davon“, heulte der Dämon, während er mit dem Diener des Nekromanten rang. „Für mein Auge zahlst du, und nicht nur mit
einem von deinen!“
Jilis verlor keine Zeit. Mit einem einzigen Finger konnte der Gigant sie vom Antlitz der Welt fegen.
Sie sprang auf und hielt auf das Haus von Zethys zu.
Gebe die Herrin, dass sie ihren Brief vollendet hat...
Das Heulen des Dämons begleitete sie, als sie durch die zerschmetterte Tür eintrat. Ein brennender Balken polterte ihr vor die Füße. Auch ohne Zutun Baphomets würde es sehr bald sein, wie sie gesagt hatte.
Die alte Ziege und das Mädchen brennen.
Im Zimmer des Obergeschosses legte Zethys die Finger auf die letzten Symbole des Briefs.
„Nebel, du hängst an den Tannen,
wo die Tropfen Tau zerrannen...“
„Eilt Euch! Baphomet will nicht länger nur
Euer Blut.“
Zethys nickte leicht und vollendete das letzte Zeichen. Das Leuchten durchzitterte das gesamte Schriftstück und wurde zu einer blauen Flamme, die den Papyrus verzehrte und sich an Zethys Fingerspitzen niederließ.
„Das Mädchen wird mich jetzt verlassen“, sagte sie.
Ihre Finger zeichneten auf die hölzerne Wand ein Oval, das einen menschlichen Körper fassen konnte. Die Flammenlinien schlossen sich zusammen, und das Holz in der Mitte des Ovals verschwand. An seine Stelle trat eine glatte Oberfläche, wie die eines Spiegels. Dann aber erschien ein Bild auf der Oberfläche. Palisaden hinter einem Fluss, Zelte und ein Planwagen... Jilis stockte der Atem.
„Es kann eintreten. Akara wartet.“
Zethys faltete die Hände zusammen und lehnte sich auf das Fensterbrett. Baphomet musste sich losgerissen haben. Seine Speerstange trug er nicht mehr, aber er steuerte in vollem Galopp auf das Haus zu. Den Kopf hielt er gesenkt, sodass die Hörner geradewegs in das Obergeschoss dringen würden, und sein Auge funkelte sie an.
Das Bild des Lagers waberte. Jilis streckte eine Hand hinein, und sie verschwand mitten zwischen den Zelten.
„Akara wartet nicht nur auf mich“, sagte sie und packte Zethys an der Schulter, riss sie mit sich.
Die Spitze des gewellten Horns drang in die Fensteröffnung, schlitzte die Decke auf und schlug den Schreibtisch in zwei Stücke.
Dann verschluckte eine warme Flüssigkeit Jilis, verschluckte ihren Körper und ihre Gedanken.