So, die Hausarbeit ist fertig, jetzt hab ich wieder Zeit für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens
Edit: Juhu, ich bin ein Skeleton Mage...
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10 Laurane; 1084 Laurane nachts
„Wohin gehen wir?“, fragte Ludger außer Atem, während er von Khalid erbarmungslos weiter vorwärts gezogen wurde.
„Ich erkläre es dir später“, gab dieser ungeduldig zurück. „Bitte vertraue mir, wir haben wirklich keine Zeit.“
Ludger war mit dieser Antwort sichtlich unzufrieden, doch er hatte für den Moment keine andere Wahl, als seinem Bruder zu folgen.
Noch konnte er nicht recht begreifen, was geschehen war und warum Khalid plötzlich äußerst lebendig mitten im Kloster aufgetaucht war. Schlussendlich passte das zu den Worten der Stimme und er wollte auch gerne glauben, dass Khalid lebte. Tatsächlich schrie Alles in ihm danach, diesen Fakt zu akzeptieren, doch ein letzter Rest von Zweifel blieb.
Überhaupt war jetzt nicht der richtige Moment, darüber nachzudenken. Links neben ihnen im Kloster war der Lärm plötzlich verschwunden, aber sie hatten sich dennoch ein Stück von den Gebäuden entfernt, um außer Reichweite dieser mordenden Wurzeln zu gelangen. Dann hatte Khalid eine andere Richtung eingeschlagen und führte sie nun an der Westmauer des Klosters vorbei nach Norden. Ein gutes Stück weiter rechts erblickte er undeutlich eine große Gruppe von Menschen, die sich nach Süden bewegte.
„Khalid!“, rief er aufgeregt. „Ich glaube, dort sind Flüchtlinge. Wir sollten mit ihnen sprechen. Vielleicht ist der Abt bei ihnen.“
Doch sein Bruder schüttelte vor ihm nur den Kopf.
„Wir müssen uns beeilen.“
Ergeben seufzte Ludger auf.
„Gut. Wie du meinst.“
„Bleibt nicht stehen! Lasst euch von nichts aufhalten! Wir haben keine Zeit zu verlieren.“
Rebeccas Stimme hallte weit in die Nacht und Alef beschlich Angst bei dem Gedanken, die Raggar könnten sie hören.
Überall um ihn herum waren Menschen jeden Alters und beider Geschlechter, Dorfbewohner wie auch Geistliche. Sie alle schluchzten, stöhnten oder weinten leise.
Alef fühlte sich schuldig, dass er nicht, wie die Meisten hier, jemanden verloren hatte. Aber er konnte doch nichts dafür, er war eben schon vorher alleine gewesen. Er hatte doch überhaupt niemanden verlieren können.
Der Junge wollte es den Leuten sagen, wollte sich entschuldigen dafür, dass er ihren Schmerz nicht teilen und nicht verstehen konnte, jedoch achtete niemand auf ihn. Sie alle waren mit sich selbst und ihrer Trauer zu beschäftigt, selbst Rebecca hielt nicht mehr seine Hand, sondern führte stattdessen ihren kleinen Trupp an.
Alef selbst spürte keinen Schmerz, nur Angst. Dass diese schmerzte, zählte dabei nicht, genauso wie die brennenden Schrammen. Er hatte sich das Recht auf den richtigen, echten Schmerz, den all diese Leute empfinden mussten, nicht verdient. Er würde bald nach Hause zurückkehren und Alles würde wieder seinen gewohnten Gang gehen.
Also kein Schmerz. Alef hatte daher auch beschlossen, nicht mehr zu weinen. Auch wenn es schwer fiel, das Weinen war den Anderen vorbehalten, so viel war klar. Er musste zu denjenigen gehören, die, wie man sagte, tapfer waren und darauf achteten, dass es allen gut ging, während die Anderen durch den Schmerz ganz verwirrt waren.
Rebecca gehörte auch dazu. Sie trieb die Leute an und zeigte ihnen den Weg, was eigentlich merkwürdig war, da sie doch so viel verloren hatte. Vielleicht war sie anders, vielleicht wusste sie, dass es im Moment für sie nicht die richtige Zeit für Schmerz war. Oder sie konnte einfach trotzdem klar denken.
Er wusste es nicht und er würde es wohl auch nicht herausfinden, denn im Moment war für Fragen keine Zeit. Sie mussten fort von hier und hoffen, dass die Barbaren ihnen nicht folgen würden. Noch immer verstand er nicht, warum diese Menschen sie töten wollten, aber offensichtlich war es ihnen sehr ernst damit. In der Dunkelheit und aus seiner Perspektive konnte er es nicht genau erkennen, aber es waren nicht viel mehr als hundert Menschen bei ihnen. Alef mochte nicht darüber nachdenken, wo die Anderen waren.
Nur vorwärts, immer weiter vorwärts, das war im Augenblick das Wichtigste.
Erst als sie die Bäume erreichten, ließ der Druck nach.
Es war eine Sache, die Kontrolle dem Tyr zu übergeben, sie wieder an sich zu nehmen war etwas ganz anderes. Selbst als er Ludger befreit hatte, trieb ihn das Tyr unerbittlich weiter.
Nur kurz musste Khalid sich umblicken, bis er Hilda sah, die ihm ungeduldig an einen Baumstamm gelehnt entgegen blickte. Selbst in dieser Finsternis konnte er den Zorn in ihren Augen lodern sehen.
„Du hast ihn entkommen lassen“, warf sie ihm entgegen.
„Du weißt ja nicht, wie es dort drinnen aussieht“, entgegnete Khalid ebenso erregt. „Dort herrscht der Tod. Wie können froh sein, überhaupt entkommen zu sein.“
„Meinst du, ich habe es nicht gesehen?“, rief die Raggar mit wutverzerrte Miene und ballte die Fäuste. „Das war die größte Abartigkeit, die ich je zu Gesicht bekommen habe. Dieser Bastard!“ Wie eine flammende Aura zuckte der Zorn um Hilda und such nach einem Ventil, sich zu entladen.
„Er entkam nach Westen“, fuhr sie schließlich fort. „Ich spüre die Anwesenheit des Pak dort. Komm, vielleicht erreichen wir ihn noch!“
„Was ist mit dem Kloster?“, erwiderte Khalid, aber die Raggar machte nur eine wegwerfende Handbewegung.
„Dein Kloster ist zerstört, Khalid. Seine Bewohner sind tot oder geflohen. Hier gibt es nichts mehr für dich.“
Doch der Halbraggar schüttelte vehement den Kopf.
„Wir können nicht weiter. Ludger braucht eine Rast und auch wir müssen bald eine Pause machen. Außerdem besitzt Daved das Pak. Er kann gewiss viel schneller reisen als wir. Sei vernünftig, Hilda. Auf diese Weise erreichen wir ihn nicht, wir schinden uns nur zu Tode. Aber er wird nicht ewig davonlaufen können. Mit etwas Geduld werden wir ihn finden.“
Hilda schien etwas entgegnen zu wollen, ließ es dann aber sein. Khalid sah, wie es hinter ihren Augen arbeitete und dass sie insgeheim wusste, dass er Recht hatte, sich es aber noch nicht eingestehen konnte. Er verstand sie. Auch er hätte in diesem Moment Daved mit Vergnügen die Haut vom Leibe gezogen, doch sie durften nicht unvernünftig werden. Daved würde sich bestimmt nicht kampflos ergeben und sie musste für diesen Kampf bereit sein.
Hilda schien das ähnlich zu sehen, denn nach einiger Zeit lenkte sie schließlich ein.
„Gut, wir rasten zunächst. Aber nicht hier“, beeilte sie sich, hinzuzufügen. „Hier ist es noch immer zu gefährlich. Wir werden ein Stück weit in den Wald hineingehen und nach einem geeigneten Ort suchen.“
Khalid nickte und ließ der Raggar den Vortritt, die sich daraufhin in gewohnt strammem Marschtempo in Bewegung setzte.
Unterdessen wandte der Halbraggar sich seinem verwirrt und äußerst misstrauisch zwischen ihm und Hilda hin- und herblickenden Bruder zu, der von der gesamten Unterhaltung, abgesehen von den zwei Namen, kein Wort verstanden hatte.
„Komm!“, sagte Khalid sanft und nahm Ludger bei der Hand. „Wir müssen nur noch ein wenig weiter, dann können wir uns ausruhen. Unterwegs erkläre ich dir alles.“
„Das will ich auch hoffen!“, entgegnete dieser leicht gereizt aber sichtlich erschöpft. „Ich würde nur zu gerne wissen, warum du dich mit einer fremden Frau, die aussieht wie eine Barbarin, in einer fremden Sprache unterhältst und wohin sie vorhat, uns zu führen.“
Alef konnte nicht sicher sagen, wie viel Zeit vergangen war. Jedenfalls war es noch immer dunkel, als die Ersten zu Boden fielen und nicht mehr weitergehen konnten.
Es schien Rebecca nicht sehr zu gefallen, doch sie ließ die Gruppe anhalten. Die Meisten ließen sich dort, wo sie standen, fallen und blieben erschöpft liegen.
Die Äbtissin – Alef war nicht sicher, ob sie diesen Titel noch tragen durfte, jetzt, da das Kloster nicht mehr stand – wartete einige Momente und bat dann mit einer Handbewegung um Ruhe.
„Mein lieben Freunde“, hob sie an. „Diese Nacht war für viele von uns, wenn nicht alle, die Schlimmste unseres Lebens. Uns alle plagen große Sorgen um die, die wir zurückgelassen haben…“
„Mein Mann ist noch dort!“, wurde sie von einer Person unterbrochen, die Alef in der Dunkelheit nicht erkennen konnte.
„Mein Sohn und seine Frau auch. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch leben!“, hallte die Stimme eines alten Mannes von irgendwo her.
Damit war der Damm gebrochen. Überall brachen Schreie, Heulen und Wehklagen aus, jeder wollte den Anderen sein Elend mitteilen. Rebecca brauchte mehrere Anläufe, um wieder Ruhe zu schaffen.
„Ich verstehe euch doch“, sagte sie schließlich. „Auch mein Mann ist noch dort. Ich bin mir aber sich, dass wir nicht die Einzigen sind, die fliehen konnten. Daher blicke ich hoffnungsvoll in die Zukunft und warte ab. Doch im Moment ist unser Leben dasjenige, das wir zu beschützen haben. Und wir haben eine äußerst wichtige Pflicht. Morgen werden wir Kyntos erreichen. Die Menschen dort müssen vor dem Ansturm der Raggar gewarnt werden, Boten müssen ausgeschickt werden in ganz Smatis, am besten gleich in allen nördlichen Kleinstaaten Sareis’. Die Raggar werden sich nicht mit dem Angriff auf unser Kloster begnügen, das ganze Land ist in Gefahr. Wenn wir erst einmal in Kyntos sind, werde ich versuchen, Notlager für uns zu beschaffen. Wer Verwandte oder Freunde in der Umgebung hat, kann natürlich dort Unterkunft suchen. Dann werden wir uns überlegen, wie wir die Streitmacht der Raggar besiegen und Eibenbach zurückgewinnen können.“
Erschöpft schloss Rebecca für einen Moment die Augen. Alef vermutete, dass sie das tat, um vor den Anderen zu verbergen, dass auch sie Schmerz empfand.
„Jetzt ruht euch erst einmal aus“, schloss sie. „In ein paar Stunden wird die Sonne wieder aufgehen.“
Alef war erstaunt, wie schnell das Stöhnen und Klagen nach diesen Worten endete. Er selbst wusste bereits, dass er keinen Schlaf finden würde, aber er musste es schließlich zumindest versuchen.
„Dir ist schon klar, dass das alles ziemlich…merkwürdig klingt?“
Khalid nickte. Ludger hatte ja Recht mit dem, was er sagte, aber es war nun einmal die Wahrheit.
„Wir haben viel Merkwürdiges gesehen in den letzten Wochen“, antwortete er und blickte seinen Bruder an. Ludgers Gesicht war eine ausdruckslose und undurchdringliche Maske. Seit wann war er so verschlossen?
„Also…sind wir Raggar…“ Es klang so, als würde Ludger sich vor diesem Gedanken ekeln.
„Zumindest zur Hälfte, ja.“ Khalid sah verwirrt zu, wie sein Bruder das Gesicht in den Händen verbarg.
„Ich kann es kaum glauben, dass sie…dass unser eigenes Volk…“ Die Stimme des jungen Novizen war nicht mehr als ein Krächzen, schließlich erstarb sie. Für einen Moment war es still und Khalid überlegte unschlüssig, was er tun sollte, dann hob sein Bruder das Gesicht und blickte ihn an und der Halbraggar schrak zurück ob des ziellosen und unbändigen Hasses, der gnadenlosen Wut und der endlosen Trauer, die er in diesem Blick sah.
„Marie“, flüsterte Ludger, „ist tot.“ Khalid stockte das Herz bei diesen Worten. „Sie griffen uns an, ein paar Tage, nachdem du fort warst. Es waren Bären. Ich…ich habe sie nicht aufhalten können. Es war meine Schuld.“
Ludgers Mauer brach in sich zusammen und hinterließ ihn schutzlos und nackt. Unsicher nahm Khalid die Hand seines Bruders und hielt sie fest. Er war solche Ausbrüche von Ludger nicht gewohnt und wusste nicht, was er tun sollte. Doch der günstige Moment, etwas zu sagen, verstrich so oder so recht schnell und der größere der beiden Brüder richtete sich schnell wieder auf. Es schien, als bereue er, seinen Gefühlen ihren Lauf gelassen zu haben.
„Das ist noch nicht alles“, sagte er, während seine Mauer sich nach und nach wieder selbst aufbaute. „Sie haben auch behauptet, du wärst tot. Ich habe ihnen geglaubt. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Sie haben eine Leiche hergebracht und bei den Heiligen sie sah aus wie du.“
Khalid hatte plötzlich ein Bild vor Augen, einen Traum, den er vor einigen Tagen gehabt hatte. Ludger an zwei Gräbern…er und Maria…es war ein erschreckender Gedanke.
„Eine Leiche?“ Die Stimme des Halbraggar zitterte etwas. „Von mir? Das kann doch nicht…wie haben sie das gemacht?“
Ludgers Gesicht war wieder zur Maske erstarrt. Er zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht. Vermutlich mit Hilfe von diesem Pak.“
Bei diesem Wort blickte Hilda, die ein Stück entfernt auf der anderen Seite des kleinen Feuers saß und gedankenverloren in die Nacht blickte, auf. Khalid signalisierte ihr mit einem Handzeichen, dass er ihr später alles erklären würde, was sie mit einem Schnauben quittierte.
Sie waren tatsächlich nicht mehr weit gereist. Khalid hatte Hilda schließlich davon überzeugen können, auf einer kleinen Lichtung Halt zu machen. Der Morgen war so oder so nicht mehr fern und sie alle brauchten etwas Rast und eine Mahlzeit. Zumindest hatte er das gedacht, Ludger hatte allerdings seine Portion des Hasen, den Weißdorn gerissen hatte, kaum angerührt.
„Ich sehe immer noch nicht, warum wir ihr helfen sollten“, sagte dieser schließlich ausdruckslos.
„Wir sind Raggar“, gab Khalid überrascht zurück. „Zumindest zum Teil. Es ist damit unser Volk, das in Schwierigkeiten ist. Und nicht nur das, Daved spielt mit dem Gleichgewicht der ganzen Welt.“
„Und was geht uns das an?“
„Du siehst doch, wie sich das Wetter verändert. Es wird schlimmer werden, wenn wir nichts unternehmen, verstehst du das nicht?“
„Nein, du verstehst nicht“, antwortete Ludger und sein schrecklich leerer Blick heftete sich nun auf Khalid. „Du siehst es als deine Pflicht an, Daved zu finden und aufzuhalten. Aber es sind die Raggar, die ihr Buch an ihn verloren haben, also sollten sie ihn finden und umbringen, dann ist das Problem gelöst. Sie sind doch sonst so gut im Töten.“
„Ich…“ Khalids Stimme versagte für einen Augenblick. Die Worte seines Bruders hatten ihn schockiert. „Ich weiß nicht, wieso ich mir so sicher bin, aber wir müssen ihn finden. Vermutlich ist es das Tyr, dass mir das sagt.“
Ein leichtes, spöttisches Lächeln legte sich auf Ludgers Lippen.
„Oh, das Tyr…natürlich…“
Mit einem wütenden Schnauben wandte Khalid sich um. Sollte sein Bruder doch denken, was er wollte. Was war nur in ihn gefahren? Natürlich musste Maries Tod und die Vortäuschung seines eigenen Ablebens ihn schwer getroffen haben, doch warum verhielt Ludger sich ausgerechnet ihm gegenüber nun so?
Zu stolz, um noch einmal selbst das Wort zu erheben, wartete Khalid auf eine Erklärung seines Bruders, doch vergeblich. Für den Rest der Nacht wurde kein Wort mehr gesprochen.
Er fühlte keine Erschöpfung. Vielleicht hätte er ewig weitergehen können, doch sein Kopf sagte ihm, dass er ermüdet sein musste, auch wenn er nichts spürte und so machte Daved schließlich Rast.
Der Morgen schien nicht mehr fern. Er würde nicht lange schlafen können, aber das hätte er so oder so nicht gewagt. Er war schneller als sie, viel schneller, aber wer wusste schon, ob sie nicht so unvernünftig waren und ihm ohne Pause folgten? Es war besser, vorsichtig zu sein.
Daved wusste schon seit einiger Zeit nicht mehr, wo er war. Allerdings machte er sich keine Sorgen darüber, den richtigen Weg zu finden. Er war nach Westen aufgebrochen, soviel war sicher. Doch wohin er nun gehen sollte, war eine Frage, die er nicht recht beantworten konnte. Vermutlich konnte er bei Dijen und Mira Unterschlupf finden, aber bei dem Gedanken, sie in seine Probleme hineinzuziehen, war ihm nicht gerade wohl.
Der Mönch setzte sich ins Gras und überlegte. Wer mochte ihm folgen? Dass er verfolgt wurde, bezweifelte er nicht. Vermutlich war es eine kleine Schar von Raggar mit einigen Druiden, die ihn aufstöbern konnten. Der Rest des Heeres würde unterdessen weiter das Land plündern.
Daved vergrub das schmerzverzerrte Gesicht in die offenen Handflächen. Warum war er nur geflohen? Warum hatte er es ihnen nicht zurückgegeben oder zumindest dagelassen, damit sie es fänden? Gedankenverloren strich er über das Leder des Einbands. Es war so weich. Und warm. Wie ein Kissen, ja, ein warmes weiches Kissen.
Vorsichtig legte Daved seinen Umhang auf das Gras und darauf das Pak, dann bettete er seinen Kopf auf dem Buch.
Er hatte keinen Proviant, keine Ausrüstung, hatte verursacht, dass das Kloster zerstört wurde und war für den Tod Hunderter verantwortlich, doch er musste sich keine Sorgen machen. Alles würde wieder gut werden, er war in Sicherheit.
Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief Daved ein.
Schließlich hatte Alef doch noch geschlafen, aber nicht für lange. Das Feuer, das Blut, die vielen Barbaren, die Panik, der Lärm, die verkohlte Leiche, sie hatten Wege in seine Träume gefunden, so dass der Junge immer wieder mit einem erstickten Schrei aufschrak und sich erst davon überzeugen musste, dass wirklich alles vorbei war.
Schließlich gab er es auf und beobachtete stattdessen die tief orangene Sonne dabei, wie sie sich einen Weg vom Horizont zu ihrem angestammten Platz über allen Dingen bahnte.
Es gab noch mehr Menschen, die nicht schlafen konnten, einige liefen umher, unterhielten sich leise oder weinten vor sich hin. Dies erinnerte Alef an seine Aufgabe, Acht zu geben auf die Trauernden. Er musste körperlich gestärkt sein für diese Aufgabe, aber wenn er doch nicht schlafen konnte…er würde ja. Jedenfalls war es am Besten, sich nicht anmerken zu lassen, dass er nicht schlief. Möglicherweise verließ sich Rebecca auf ihn und er durfte sie nicht enttäuschen.
Wie unpassend, dass gerade jetzt sein Magen knurrte. Instinktiv legte Alef die Hand darauf um das Geräusch zu unterdrücken. Sie würden nichts zum Essen bekommen, bevor sie in Kyntos waren, aber das mussten sie eben hinnehmen. Hoffentlich konnten die Anderen das auch ertragen, hoffentlich machte der Schmerz sie nicht zu schwach.
Die orangene Königin hatte bereits ein helleres Gewand angelegt, als sich das Lager schließlich zum Aufbruch bereit machte. Dabei gab es nicht viel zu tun, da niemand größere Mengen von Gepäck bei sich trug. Schließlich stellte sich Rebecca an die Spitze des Zuges und wartete, bis das respekt- und erwartungsvolle Schweigen eingetreten war.
„Meine lieben Freunde“, rief sie dann. „Noch einmal steht eine schwere Prüfung vor uns. Wir alle sind hungrig und durstig, erschöpft und ängstlich. Doch wir müssen standhaft bleiben und dürfen nicht zögern im Voranschreiten. Heute Abend sind wir in Kyntos, dann bekommt jeder von uns einen warmen Platz zum schlafen und eine Mahlzeit.“
Nur Schweigen antwortete ihr, doch all die ernsten Mienen nickten und so setzte der Zug sich schließlich langsam in Bewegung.
Sie waren erst einige Minuten gelaufen, als Rebecca nach ein paar knappen Worten mit einigen, Alef unbekannten, Nonnen ihren Platz verließ und sich zu dem Jungen gesellte. Das Lächeln, das sie ihm schenkte, wirkte etwas bemüht, war dabei aber nicht weniger warm und herzlich.
„Alef“, begann sie sanft. „Wie geht es dir, mein Junge?“
„Mir geht es gut, Mutter Rebecca!“, rief dieser ohne zu Zögern aus vollem Herzen und mit dem zuversichtlichsten Gesichtsausdruck, zu dem er in der Lage war. Er wusste, dass Lügen schlecht war, aber er wusste auch, dass er der Äbtissin eine Freude mit dieser Antwort machte und das war es wert.
Und tatsächlich, die Gesichtszüge der älteren Frau entspannten sich etwas, als sie weitersprach.
„Du bist ein tapferer Junge. Möchtest du mir vielleicht helfen?“
„Ich helfe euch immer gern, Mutter Rebecca!“, antwortete Alef vor Stolz strahlend.
„Sehr gut. Kennst du die kleine Yasemina?“
Der Junge überlegte, musste aber schließlich verneinen.
„Sie ist noch ein kleines Mädchen“, erläuterte die Äbtissin. „Ihre Eltern leben weit weg in Rah-Aleb und sie fühlt sich so allein und traurig. Kannst du vielleicht ein wenig Zeit mit ihr verbringen und ihr die düsteren Gedanken vertreiben?“
Pflichtbewusst, wenn auch wenig begeistert über die Art der Aufgabe, nickte Alef. Er hatte sich etwas Verantwortungsvolleres gewünscht, aber wenn die Äbtissin ihn um etwas bat, konnte er nicht ablehnen.
Auf deren Gesicht zeigte sich nun ein zufriedenes Lächeln.
„Ich danke dir, Alef. Komm mit!“, sagte sie, nahm den Jungen bei der Hand und führte ihn zu einem kleinen Mädchen mit langen, glatten und tiefschwarzen Haaren. Sie mochte vielleicht fünf oder sechs Jahre zählen. Sie lief an der Hand einer greisen Nonne und blickte sich dabei immer wieder ängstlich um. Ihre großen dunklen Augen suchten die Umgebung ab, wohl nach Verfolgern oder anderen Gefahren. Als sie Rebecca erblickte, lächelte sie und ein helles Leuchten trat in ihre Augen. Yasemina gehörte zu der Sorte Menschen, deren Lächeln stets auch alle Anderen erfreute und so konnte Alef sich ein leises Grinsen nicht verkneifen.
„Yasemina, das ist Alef“, stellte Rebecca schließlich vor, als sie bei ihr waren. „Ich dachte mir, ihr möchtet vielleicht miteinander spielen.“
Das Mädchen musterte ihren Gegenüber misstrauisch von oben bis unten, zuckte aber schließlich mit den Schultern und nickte dabei. Rebecca entfernte sich daraufhin und nahm wieder ihren Platz an der Spitze ein.
„Sind deine Eltern auch nicht hier?“, fragte sie geradeheraus. Ihre Stimmte war hell und klar, hatte aber eine Spur von Traurigkeit in sich. Alef schüttelte den Kopf.
„Und hast du unter den anderen Kindern auch keine Freunde?“, fragte Yasemina weiter, worauf Alef erneut mit einem Kopfschütteln antwortete. Er kannte wohl einige der anderen Kinder, aber auch nicht viel besser als die Erwachsenen. Außerdem hatten sich viele dieser Kinder den Trauernden angeschlossen, obwohl sie kein Recht dazu besaßen und damit hatten sie sich seine Verachtung verdient.
„Soll ich…ein wenig auf dich aufpassen?“, fragte er schüchtern, woraufhin Yasemina ihn wieder mit einem abschätzenden Blick bedachte.
„Du?“, fragte sie zweifelnd. „Aber du bist doch noch ein Kind. Vielleicht sollte ich besser auf dich aufpassen.“
„Aber du bist doch auch noch ein Kind“, gab Alef lachend zurück. Das Mädchen nickte nachdenklich, überlegte eine kurze Weile und zuckte dann noch einmal mit den Schultern.
„Dann passen wir eben beide aufeinander auf.“
„Euer Gespräch gestern Nacht scheint nicht sehr friedlich verlaufen zu sein.“
Khalid wusste sich nicht zu helfen, er hatte irgendwie das Gefühl, dass Hilda diese Tatsache amüsierte.
„Er hat vieles erlitten in der letzten Zeit“, antwortete er. „Es ist ihm nicht zu verdenken, dass er so reagiert.“
Vermutlich war ihm anzusehen, dass er von dieser Antwort selbst nicht überzeugt war.
„Erlitten? Der Ärmste“, gab die Raggar höhnisch zurück. „Tut mir leid, dass ich das nicht ganz nachvollziehen kann, aber mein Volk stirbt.“ Ein verächtliches Schnauben entfloh ihrer Kehle.
Sie waren seit etwa einer Stunde wieder unterwegs. Trotz der kurzen Nachtruhe fühlte Khalid sich durchaus bei Kräften. Das viele Wandern war seiner Konstitution gut bekommen und die Jagd nach Daved regte ihn an. Er wollte ihn finden, um jeden Preis, obwohl er selbst die Dringlichkeit, mit der das Tyr ihn vorantrieb, nicht ganz nachvollziehen konnte. Daher verstand er auch Ludgers Zweifel. Sie waren, zumindest im Augenblick, in keiner unmittelbaren Gefahr. Dennoch wusste er, dass es für ihr Überleben notwendig war, Daved zu finden. Mit der Zeit würde er auch Ludger davon überzeugen können.
„Was hat er überhaupt erzählt?“, fragte Hilda plötzlich und riss Khalid damit aus seinen Gedanken.
„Seine Geliebte ist gestorben“, antwortete er. „Sie wurde von einem Bären getötet.“ Er konnte es selbst noch nicht recht fassen. Die Tatsache, dass Maria tot war, war schon schlimm genug, aber dann noch die Umstände ihres Todes…
Auch Hilda schien überrascht.
„Von einem Bären? Seit wann gibt es Bären in dieser Gegend?“
„Noch nie“, gab Khalid zur Antwort. „Er sagt, es war ein Angriff der Druiden.“
„Was?“ Hilda lachte laut auf. „Das ist der größte Unsinn, den ich je gehört habe.“
Der Halbraggar warf ihr nur einen verwirrten Blick zu.
„Seit jeher“, fuhr sie fort, „gab es vielleicht ein Dutzend Druiden, die sich als Gefährten einen Bären gewählt haben. Das sind äußerst eigenwillige Tiere und sie sind nicht leicht zu überzeugen. Außerdem würde ein Druide nie seinen Gefährten allein in den Kampf schicken. Es ist möglich, mit Hilfe des Pak fremde Tiere um Untersützung zu bitten, doch ohne es, nur mit den eigenen Kräften von Druiden…damit kann man solche große Tiere nicht überzeugen. Kleinere Tiere, ja, aber keine Bären.“
Khalid nickte. Er hatte etwas in dieser Art erwartet. Schon weil Haldir keinen solchen Angriff erwähnt hatte.
„Ludger sagte, sie hätten wie toll gewirkt“, murmelte er nachdenklich.
„Es musst Daved gewesen sein“, entgegnete Hilda mit tiefer Überzeugung in der Stimme. „Er hat keine Kontrolle über das Pak. Er muss einen Ruf ausgesandt haben, dem die Bären folgen sollten, doch statt sie sanft zu locken muss er sie irr gemacht haben. Warum er das getan hat, kann ich dir nicht sagen, aber es kann nur er gewesen sein.“
Khalid war sich da nicht so sicher. Es machte einfach keinen Sinn.
„Er hat bestimmt nicht das Kloster angegriffen, das er später versuchte zu verteidigen“, erwiderte er, doch die Raggar zeigte sich wenig beeindruckt.
„Er ist wahnsinnig. Wer weiß, was in seinem Geist vorgeht. Vielleicht wollte er die Bären zur Verteidigung des Klosters anlocken. Ich glaube auch nicht, dass er diesen Angriff bewusst ausgelöst hat, das war eher eine Folge seiner fehlenden Kontrolle über das Pak.“
Khalid war nicht überzeugt, doch er beließ es vorerst dabei.
„Sie haben auch eine Leiche von mir gefunden“, sagte er stattdessen leise.
„Wie meinst du das?“
„Irgendwann brachte jemand eine Leiche mit ins Kloster und…sie sah aus wie ich. Sie muss mir wirklich sehr ähnlich gewesen sein, denn selbst Ludger hat es geglaubt.“
„Vielleicht hat er sich geirrt. Er macht nicht gerade einen sehr intelligenten Eindruck auf mich.“
Khalid warf der Raggar einen verärgerten Blick zu.
„Er hat sich nicht geirrt. Wir sind Zwillingsbrüder, Ludger hätte jeden Unterschied sofort bemerkt. Jemand muss sich die Mühe gemacht haben, die Leiche sehr sorgfältig zu fälschen.“
Hilda zog die Stirn in Falten. „Es ist natürlich denkbar…das wäre ja…“ Wut glomm in ihren Augen. „Wenn er das getan hat…Hör mir zu, das Äußere eines Lebewesens wird von der Natur geschaffen und ist durch die elementaren Säfte beeinflusst. Kann man die Natur beeinflussen, was mit Hilfe des Pak nicht schwer ist, kann man auch das äußere jedes Lebewesens verändern. Für gewöhnlich kann das natürlich niemand überleben, aber da er so oder so eine Leiche benötigte…er brauchte nur…Material.“
Khalid schluckte. Konnte das sein? Und wozu bei allen Heiligen sollte er das tun? Welchen Sinn hatte es, eine Leiche von ihm zu fälschen? Er verstand immer weniger, was Daveds Motive sein mochten. Er musste mit Ludger darüber reden. Aber er würde nichts von dem glauben, was Hilda gesagt hatte. Khalid war sich nicht einmal mehr sicher, ob sein Bruder überhaupt auf ihn hören würde. Ein kalter Schauer lief über sein Herz. Diese kühle Ablehnung Ludgers war kaum zu ertragen. Und das Schlimmste war, dass er es ihm nicht einmal verdenken konnte bei allem, was geschehen war.
„Wohin gehen wir überhaupt?“, fragte Hilda und unterbrach erneut sein Grübeln. „Was liegt vor uns?“
Khalid überlegte. Er war nie in diese Richtung gereist, hatte aber schon Karten gesehen.
„Im Augenblick sind wir noch in Smatis, aber in ein paar Tagen können wir Kynos erreichen, wenn wir die Richtung einhalten. Weiter im Westen befindet sich der Fluss Dohn und dahinter liegt das Burdenreich. Halt, warte!“, rief er plötzlich. „Natürlich, Daved muss schon einmal dort gewesen sein, bei seiner zweiten Pilgerfahrt. Vielleicht ist er deswegen in dieser Richtung unterwegs.“
Hildas Gesicht verzog sich zu einem grimmigen Lächeln.
„Nun, dann haben wir jetzt zumindest ein Ziel.“