Hallo Ihr Lieben,
die Nacht über Tristram ist vorüber... und es ist an der Zeit, ein Geheimnis zu lüften
Kapitel 17: Eine seltsame Begegnung
Durch Schicksal oder Fügung blieb Cains Entkommen dem dämonischen Geist Andariels tatsächlich verborgen. Tief in den Kellern ihres Versteckes wütete sie einen halben Tag lang als sie die Nachricht des verpatzten Angriffs auf das letzte verbliebene Lager der verhassten Jägerinnen erhielt.
Der Unglückliche, der ihr die Botschaft überbrachte, hatte nicht einmal genug Zeit, um Entsetzten zu empfinden. Ihr tödlicher Atem fällte ihn auf der Stelle, doch sie schlug noch lange mit ihren spitzen Klauen auf seine Leiche ein, so dass es letztlich kaum Reste zu bergen gab.
Khalid erwachte durch ein leichtes Rütteln an seiner rechten Schulter. Als er sich aufrichten wollte, durchfuhr ein gemeiner Schmerz seinen Schildarm und er sank stöhnend zurück. Doch er öffnete schnell die Augen und sah in Jaellas blasses Gesicht, auf dem sich rosig die ersten Strahlen der Morgensonne spiegelten.
„Schscht!“, machte sie hastig. „Noch sind wir unentdeckt geblieben, aber das wird kaum lange so bleiben. Reichen Deine Fähigkeiten aus, um Deinen Arm zu heilen?“
Bedauernd schüttelte der Paladin den Kopf. „Nein, den Knochen muss ein Heiler wieder einrenken, aber den Schmerz kann ich vielleicht unterdrücken, so dass ich dann wenigstens mit der Rechten kämpfen kann. Nur den Schild kann ich nicht halten.“
„Dann beeil Dich. Ich werde den Schutz für Dich tragen, denn den Bogen werde ich nicht spannen können.“ Sie wies auf ihre linke Schulter.
Khalid lehnte seinen Oberkörper entspannt gegen die Hauswand und versank in tiefe Meditation. Die leichteren Verletzungen heilten im Nu, doch den Schmerz konnte er nicht verdrängen. Es blieb ihm nur, es so zu versuchen.
Lächelnd wandet er sich der jungen Amazone zu.
„So, jetzt ist es schon viel besser.“
Doch ihren kritischen Augen entging das Zucken in seinem Gesicht nicht, als sie behelfsmäßig mit seinem Umhang den Arm an den Oberkörper band, so dass die Knochen nicht noch mehr verrutschten. Als sie fertig war, stand ihm der kalte Schweiß auf der fahlen Stirn.
Sie reichte ihm noch einen Riegel der Wegzehrung, zerkochtes Getreide und Fruchtstücke mit Honig. Es war geradezu ekelhaft süß, doch es gab die dringend benötigte Kraft zurück.
Als sie aufgegessen hatten, stand Jaella mühsam auf und humpelte mit schmerzverzerrtem Gesicht zum Eingang, den schweren Schild mit beiden Händen vor sich haltend. Mit einem Satz war er neben ihr.
„Jaella, bitte!“ Flehend streckte er die unversehrte Hand aus. „Lass mich Dir helfen.“
Doch sie wich zögernd seinem drängendem Blick aus. Die Erinnerung an die Heilung, an den Schock vom Vortag war noch immer gegenwärtig und auch die gemeinsame Schlacht hatte nur wenig an der Entfremdung geändert.
Jedoch wusste sie nicht, ob sie in ihrem schlechten Zustand wirklich den Weg bis ins Lager fand. In ihrer Schulter pochte es abscheulich, eine beginnende Infektion löste bereits ein leichtes Fieber aus, das mit Sicherheit gegen Mittag seinen Höhepunkt erreichen würde. Zudem hatte sie sich beim Sturz über den verletzten Gargantua den Knöchel verdreht, so dass sie nur unter Qualen laufen konnte.
Den Schmerz konnte sie vielleicht aushalten, die Infektion mochte nicht so schlimm werden, viel schwerer wog jedoch der Gedanke, dass sie bei einem erneuten Gefecht, ihrem Kameraden nicht würde beistehen können.
Schließlich hob sie ihren Blick und sah in seine stahlgrauen Augen. Keine Hinterlist war in ihnen zu erkennen, nur echte Sorge und tiefe Zuneigung. Scheu kam ihre kleine Hand hinter dem mächtigen Schild hervor und langsam aber bestimmt griff der Paladin nach ihr. Sanft schloss er seine Finger um ihre zarten Knochen, zog das Mädchen auf den Boden und schloss die Augen. So vorsichtig wie möglich streckte er seinen mentalen Tastsinn nach ihr aus und spürte die sinkende Blockade. Zunächst sandte er ihr ein wenig Wärme, dann drang er tiefer in sie ein und griff nach der Verletzung in der Schulter.
Mit einem verlorenen, kleinen Seufzen öffnete sie schließlich ihren Geist und gab sich ihm ganz hin.
Wenige Momente später zog sich der Paladin behutsam aus Jaellas Körper zurück, überprüfte schnell noch Atem und Kreislauf und verließ sie dann ganz. Sanft beendete er die Verbindung, um den Schock des Auseinanderreißens zu vermeiden. Die Schulter hatte er nicht heilen können, die Wunden waren zu tief und mussten genäht werden, doch hatte er die beginnende Infektion zurücktreiben können. Der verstauchte Knöchel war eine neue Herausforderung gewesen. Sorgfältig hatte er zerrissene Muskelfasern sortiert und den Blutstau aufgelöst. Ruhe und Kühle würden nun ihr übriges tun, damit die Verletzung ausheilte, doch beides waren so weit entfernt wie die aufgehende Sonne.
Jaella öffnete die Augen, forschend blickte er sie an und war erleichtert, dass er nur Ruhe und Gelassenheit in ihnen fand, kein Entsetzten über sein erneutes Eindringen.
„Das war... angenehmer“, erwiderte sie seine ungestellte Frage. „Ich fühle mich wesentlich besser.“
„Ich konnte Deine Verwundungen an Schulter und Knöchel nicht vollständig heilen“, entgegnete Khalid. „Doch beides wird Dich auf dem Weg ins Lager zurück nicht mehr so stark behindern. Allerdings bezweifle ich, dass Du den Bogen führen kannst. Mit Glück treffen wir nur auf wenige Gegner, dann kannst Du uns mit dem Schild decken und ich versuche, sie auszuschalten.“
Die Amazone nickte und sah hinunter auf ihre beiden Hände, die noch immer verschränkt waren.
Seltsam berührt löste sie ihren harten Griff, flüchtige Lippen streiften ihre Stirn. Dann standen sie auf und schlichen sich durch die langsam heller werdenden Strahlen der herbstlichen Morgensonne durch die einsamen Straßen und Gassen Tristrams.
Trotz ihrer Befürchtungen trafen sie auf keinerlei Gegenwehr, sie huschten von Ecke zu Ecke und nutzten jeden Schatten als Deckung und erreichten schließlich den Hinterhof, an dem das geheime Portal zu erzeugen war.
Auf dieser Seite gab es keine Monolithen, sondern nur einige unauffällig mit Runen verzierte Steine in der groben Mauer. Wieder zog Jaella sorgfältig das mittlerweile zerfetzte Stück Pergament zu Rate, bevor sie die Steine aktivierte. Unter dumpfem Grollen und gleißenden Blitzen öffnete sich abermals das flammend rote Portal und die beiden schlüpften hindurch.
Sie waren nur einige Augenblicke gelaufen, als hinter einer Wegbiegung eine Gruppe Zombies erschien. Seufzend blickten sie sich an, ihnen blieb auch nichts erspart.
Khalid half Jaella, den schweren Schild an ihrem rechten Arm zu befestigen, denn mit ihrem linken hätte sie ihn nicht lange halten können, und stellte sich dicht hinter sie. Zur Probe schwang er sein Langschwert einige Male. Durch den am Körper festgebundenen linken Arm war seine Balance ein wenig gestört, aber es würde schon gehen.
Auch die Amazone zückte ihren Dolch, sie war zwar im Nahkampf nicht sonderlich erfahren und schon gar nicht mit dem falschen Arm, aber bevor diese Unwesen sie töteten, würde sie einige von denen mitnehmen.
Auf einmal wurde Khalids Aufmerksamkeit von einer unbestimmten Bewegung aus dem nahen Waldrand abgelenkt. Es war eher ein Gefühl, dass sich dort etwas regte, als dass er wirklich eine Gestalt gesehen hätte. Doch dann wurde die Ahnung zur Gewissheit.
Aus den dunklen Schatten unter den stummen Bäumen schnürte ein Wolf auf sie zu. Es war ein riesiges Tier, gut genährt und anscheinend bei bester Gesundheit. Er lief rasch und ohne jegliche Scheu in ihre Richtung, sein dichter, beinahe schwarzer Pelz glänzte in der Sonne und im Näherkommen erkannten die beiden Menschen die in einer bösartigen Grimasse verzerrte Schnauze und die vielen spitzen Zähne, die die hochgezogenen Lefzen freigaben.
Ihre Zuversicht, diesen Tag zu überleben, schwand. Dieses Tier war schon alleine ein ernst zu nehmender Gegner. Es unter den jetzigen Umständen abzuwehren, während sie gleichzeitig von einer Horde Zombies bedrängt wurden, war ein Ding der Unmöglichkeit.
Die Untoten kamen als erstes heran. Mit schnellen Schwüngen versuchte Khalid möglichst viele Gegner in den ersten Augenblicken zu fällen, doch die Absprache der gemeinsamen Bewegungen mit seiner Schildträgerin hinderte ihn sehr. Jaella hatte ihrerseits zu viel damit zu tun, die Bewegungen des Paladins vorherzusehen und den Schild vor ihm zu halten, um wenigstens die meisten Attacken abfangen zu können. Sie selber kam gar nicht dazu, einen Streich anzusetzen und nach einem unglücklichen Treffer eines der Angreifer an ihrem linken Arm lag ihr Dolch nutzlos am Boden.
In diesem Moment war der Wolf in Angriffsdistanz. Mit einem grollenden Knurren setzte er federnd zum Sprung an. In dem hastigen Bemühen, sich in die Richtung zu drehen, aus der der neue Feind kam, stolperten die beiden unkontrolliert und stürzten gemeinsam zu Boden.
Khalid verbiss sich mühsam einen Wehlaut, als Jaella den metallenen Schild auf seinen gebrochenen Arm fallen ließ. Für einen Moment verschwamm seine Sicht, doch er drängte den Schmerz energisch zurück und schnellte eilends wieder auf die Füße. Wo war der Wolf?
Das riesige Tier war an ihnen vorbei in die Meute der verbliebenen Zombies gefallen und hatte durch die Wucht seines Sprunges einige von ihnen zu Boden gerissen. Die Restlichen hatten sich dem neuen Feind in ihrer Mitte zugewandt und versuchten ihn mit ihren ungeschickten Schlägen zu treffen. Doch schlangengleich wand sich der Wolf, beißend und schnappend, zwischen den Untoten und wich den meisten Attacken mit Leichtigkeit aus. Traf ihn dennoch ein Streich, schien es lediglich seine Angriffslust zu steigern. Die beiden Menschen schienen vergessen.
Trotz dem Jaella wusste, dass sich dieses herrliche Tier anschließend wohl gegen sie selbst wenden würde, war sie beeindruckt von seiner Geschmeidigkeit und der tödlichen Präzision seiner Bisse.
Die beiden Menschen tauschten kurz einen Blick und rissen sich dann aus der Erstarrung. Gemeinsam griffen sie zwei etwas abseits stehende Zombies an, die sie rasch fällten.
Dann war auch der mächtige Wolf mit seinen Gegnern fertig, keiner der Untoten rührte sich noch. Er selber war nahezu unverletzt, nur sein rechtes Ohr hing in Fetzen herab, was die unverhohlene Wildheit in seinem Blick noch betonte.
Er stand in den Überresten der Zombies und starrte die Menschen an, die hinter dem Schild halb verborgen auf seinen Angriff warteten. Der Wolf schlich geduckt näher, bereit zum Sprung, seine mächtigen Kiefer waren in einem boshaften Grinsen entblößt.
Wenn Khalids erster Streich das Tier nicht gleich in der Luft traf, hätten sie, verletzt wie sie waren, keine Chance. Jaella bohrte die Fersen fest in den Boden, die Beine ein wenig gespreizt und packte den Schild mit beiden Händen.
„Holla!“, rief es hinter ihnen. Der Wolf spitzte sein gesundes Ohr und legte den Kopf schief. Dann fuhr er in einer eleganten Drehung herum und rannte, wie zurückbefohlen, zu den dunklen Tiefen des Waldes, die ihn rasch in sich aufnahmen.
Jaella wurde schwach vor Erleichterung. Als sie sich nach dem Rufen umdrehte, sah sie zwei ältere Speerkämpferinnen, die sie aus dem Lager kannte, winkend auf sich zulaufen. Wendy und Isolde kamen rasch näher und strahlten die beiden Helden an.
„Wie gut, dass wir rechtzeitig kamen“, riefen sie. „Das Biest war ja riesig!“
Khalid nickte schwach und mit brennenden Wangen. Jetzt hatten auch noch zwei fremde Jägerinnen sein Versagen beobachtet.
Doch die Neuankömmlinge schienen seine Schmach nicht zu bemerken. Freudig plappernd berichteten sie, dass Deckard Cain am vorigen Abend in der Mitte des Lagers aufgetaucht war.
„Die Aufregung war groß!“, lachte Wendy. „Als er so plötzlich in unserer Mitte auftauchte, wäre Belinda beinahe auf ihn losgegangen, bevor Akara hinzukam und sie aufhielt und...“
„Ist das Lager wohlauf?“, unterbrach Jaella die Amazone, die gerade zu einer langatmigen Erzählung ausholen wollte.
„Wir konnten das Lager halten“, berichtete Isolde bedächtig. „Aber es hat schwere Verluste gegeben. Einige unserer Schwestern sind gefallen, viele sind zum Teil erheblich verwundet.“
„Akara?“, fragte Jaella leise.
„Sie ist wohlauf, ebenso wie Kaschya.
Diana war uns in ihrer unendlichen Güte gewogen. Die beiden bilden Seele und Rückgrat unserer Gemeinschaft. Ohne sie wären alle Hoffnungen vergebens.“
„Wo kommt ihr eigentlich so plötzlich her?“, fragte Khalid misstrauisch. „Es ist mehr als ein halber Tagesmarsch von der Kalten Ebene hierher. Ihr müsst die Nacht durchgelaufen sein.“
„Oh, ganz im Gegenteil“, erwiderte Wendy vergnügt. „Wir haben alle Augenblicke mal zu den Monolithen geschaut, um Euch abzufangen. Aber dann seid ihr uns doch beinahe ´entkommen`.“
Auf Khalids wenig intelligenten Gesichtsausdruck hin, beeilten sich die beiden Amazonen zu erklären:
„Es gibt hier ganz in der Nähe einen alten Wegpunkt. Selbst Akara hatte ihn beinahe vergessen. Wir beide sind mit ihr die einzigen, die ihn nutzen können, daher wurden wir geschickt, Euch abzuholen und zurück zu bringen. Es sei denn, Ihr möchtet lieber noch ein wenig spazieren gehen.“
Jaella lachte. „Nein, danach steht mir der Sinn zur Zeit nicht. Eher nach einem kühlen Umschlag für meinen Knöchel und jemanden, der mich mit Weidenrindentee versorgt. Die Wunde in meiner Schulter ist eben wieder aufgebrochen und wenn ich ehrlich bin, tut es scheußlich weh. Aber bitte, erzählt Kaschya nicht, dass ich gejammert habe“, schloss sie mit verlegenem Blick.
Wendy und Isolde wechselten einen bedeutsamen Blick.
„Kaschya selbst hat uns losgeschickt. Sie hat uns beiden mit Enthauptung gedroht, wenn wir Dich nicht in einem Stück wiederbringen und wir waren uns nicht sicher, ob das ein Scherz war.“
Jetzt war Jaella dran, einen höchst tumben Ausdruck auf ihr Gesicht zu zaubern.
„Hör mal, Mädchen“, begann Wendy. „Ihr seid Helden, alle Beide! Ihr habt den mächtigsten der Horadrim vor dem sicheren Tod gerettet und damit mehr als nur unser Volk vor dem Untergang bewahrt. Es würde mich nicht wundern, wenn Kaschya vorschlägt, Dich zu unserer Königin zu ernennen.“ Den letzten Satz versah sie mit einem scherzenden Unterton, das allerdings von Isolde mit wütendem Zischen erwidert wurde.
Eilig mischte sich Khalid ein. „Jetzt sollten wir aber zusehen, dass wir ins Lager zurückkehren.“
Beflissentlich nahmen die beiden Speerkämpferinnen den Helden die schwere Ausrüstung ab und führten sie, wieder an den Monolithen vorbei, zu dem versteckt liegenden, halb überwucherten Wegpunkt.
Im Lager überließ Khalid seiner Gefährtin den Vortritt bei dem Heiler und zog sich entschuldigend zurück. Ihn plagen zunächst nicht seine Verwundungen, sondern eine alte Sorge, die sich nach Wendys unbedachten Worten zurückgemeldet hatte.
So ließ er sich bei Akara anmelden und betrat einen kurzen Moment später ihr rauchiges Zelt.
Mit einem breiten Lächeln ging die Hohepriesterin auf den Paladin zu.
„Khalid, wie schön Euch wiederzusehen, wenn auch nicht ganz unversehrt, wie ich sehe. Ich hätte Euch selber noch aufgesucht, hatte aber gedacht, Ihr würdet zunächst zu unserem Heiler gehen wollen.“
„Das hat Zeit!“, entgegnete Khalid. „Ich muss Euch sprechen!“
Das Lächeln schwand aus Akaras Gesicht. „Was beschäftigt Euch?“
Der Paladin begann ohne Umschweife: „Wer ist Jaella?“
„Wie meint ihr das?“, versuchte Akara Zeit zu gewinnen.
„Ich meine es, wie ich es sage. Wer ist Jaella? Wessen Tochter ist sie? Und was hat Kaschya damit zu tun?“
Eiseskälte überzog den Blick, mit dem Akara den Paladin bedachte. „Dies sind interne Angelegenheiten und nicht für Eure Ohren bestimmt, Krieger! Haltet Euch aus Dingen raus, die Euch nichts angehen.“ Mit diesen Worten wandte sie sich von ihm ab und begann auf dem Tisch liegende Schriftrollen zu sortieren.
Khalid packte sie grob am Arm und riss sie zurück. „Ich denke doch, dass mich das etwas angeht, Zauberin!“
„Nehmt Eure Hände von mir!“, forderte die zornesbleiche Frau. Eine Wolke glitzernden Staubs umgab sie, und plötzlich entlud sich entlang ihres Armes ein Energieschlag.
Khalid sprang aufschreiend zurück. Er ahnte, dass dies nur eine Warnung gewesen war, dass er keineswegs die ganze Wucht ihrer Fähigkeiten zu spüren bekommen hatte.
Durch die lauten Worte und seinen Schrei alarmiert, stürmten die beiden Wächterinnen in das Zelt und richteten drohend ihre Speere auf Khalids Gesicht.
„Ich kann sie auch selber fragen, was es mit der Geschichte einer Amazone auf sich hat, die in Lut Gholein starb, und die man sich in Kurast ein wenig anders erzählt als hier“, knurrte der wütende Paladin. „Ich denke, meine Sicht der Dinge könnte sie interessieren.“
Auf einen Wink der Hohepriesterin senkten die Wachen ihre Waffen und zogen sich wieder vor den Eingang des Zeltes zurück.
„Das war sehr knapp, mein junger Held“, spie Akara aus. „Ich verschone Euch, weil Ihr Cain gerettet habt, und weil meine Nichte Euch anscheinend mag. Ihr werdet jetzt gehen und dies niemals vor Jaella erwähnen.“
Khalid zwang sich zu Ruhe. „Gebt mir einen Grund dafür und ich werde Jaella nichts berichten, aber ich lasse mich von Euch nicht so abspeisen.“
Lange starrten sich die beiden an, keiner wollte auch nur ein Jota zurückweichen.
Schließlich überwand sich die Hohepriesterin, die es immer verstanden hatte, ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse hinter den Belangen ihres Volkes zurückzustellen. Der Mann vor ihr war ein beachtlicher Krieger und umso wertvoller für ihre kleine Gemeinschaft, da sie über ein Dutzend Kämpferinnen im letzten Gefecht verloren hatten. Sie konnten ihn nicht entbehren. Ebenso wichtig war, dass Jaella die freie Wahl hatte. Wenn sie ihm das begreiflich machen konnte, wäre er ein wichtiger Verbündeter.
„Also gut, Khalid. Verzeiht meine harschen Worte, doch dies ist wichtiger als Ihr oder ich. Es ist wichtiger als das Leben jedes einzelnen hier, es geht um das Fortbestehen unseres Volkes.“
Akara schwieg einen Moment um sich zu sammeln. Sie schöpfte sich einen Becher Tee aus dem großen Kessel über dem Feuer und bot dann dem Paladin auch einen an.
Schweigend akzeptierte er das Friedensangebot, nahm einen Schluck und setzte sich auf ihren Wink hin zu ihr an den Holztisch.
„Jaella ist ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, daher erkannte ich sie sofort, als Ihr beide in meinem Zelt standet“, begann Akara ihre Erzählung. „Rexina war reiselustig. Auf einer ihrer Fahrten lernte sie einen jungen Kaufmann aus dem Osten kennen... und lieben. Er war ein charmanter junger Bursche und hat uns alle bezaubert.
Sie waren ein hinreißendes Paar, man hätte kaum glauben können, welch falsches Spiel er mit ihr trieb.
Er war es, der die Aufnahme von Handelsbeziehungen zu seiner Heimatstadt förderte. Wir waren ein einfaches, naturbezogenes Volk, doch er brachte uns die Annehmlichkeiten feiner Stoffe, Gewürze und edler Weine. Als Tauschobjekt lieferten wir ihm Felle und ausgesuchte Pelze. Die Ebenen waren einst gefüllt von Rotwild, Füchsen und Wölfen. Sogar Bären konnte man in den entlegeneren Gebieten jagen. Unsere Gier vertrieb allmählich das Wild, doch ihn machten die Geschäfte schnell sehr wohlhabend.
Seine Karawanen wurden immer stärker bewacht, seine Kleidung und Schmuck immer aufwendiger, und seine Aufenthalte bei Rexina immer kürzer.
Sie hoffte, er würde eines Tages ganz bei ihr bleiben, denn sie wollte ihr Volk nicht verlassen, aber notfalls wäre sie mit ihm in die Stadt gegangen. Er jedoch hatte andere Pläne. Er hatte sich mit dem Reichtum, den er durch uns erwarb, in Lut Gholein ein ansehnliches Haus bauen lassen, und wurde dann auch rasch in den Stadtrat berufen. Er wurde ein geachteter und respektierter Mann.
Da konnte es natürlich nicht angehen, dass er dort mit einer hergelaufenen Wilden hinzog. Er suchte sich also stattdessen in der Stadt eine respektablere Frau und heiratete sie.
Rexina wusste nichts davon. Den ganzen Winter über wartete sie vergeblich auf ein Zeichen ihres Geliebten. Schnee und Eis machen die Querung des Passes beinahe unmöglich, daher war es nichts Ungewöhnliches, dass sie keine Nachricht erreichte, doch als er sich nach der Schneeschmelze immer noch nicht sehen ließ, obgleich er sich doch genauso nach ihr verzehren musste, wie sie nach ihm, machte sie sich Sorgen.
Sie legte das Lager und seine Belange Kaschya und mir in die Hände und machte sich auf den langen Weg nach Lut Gholein, um ihm zu erzählen, dass sie schwanger von ihm sei.
Sie kehrte nie zurück.
Fahrende Spielleute berichteten uns schließlich von der großen Tragödie, die sich dort abgespielt hatte.
Als Rexina erfuhr, wie übel ihr mitgespielt worden war, dass sie nur benutzt und niemals geliebt worden war, packte sie der Wahn einer verschmähten Frau. Ohne Rücksicht auf sich selber, ihren Stand oder die Verpflichtungen gegenüber ihrem Volk, schwor sie Rache. Er hatte ihr das Herz gebrochen, sie würde ihm seins aus der Brust reißen. Doch gegen die gesamte Stadtwache hatte auch eine begnadete Kämpferin wie sie keine Chance. Ohne ihr Ziel zu erreichen, wurde sie gefasst und von der Stadtbevölkerung gerichtet, wie eine einfache Frau.“
Akara seufzte schwer und wischte sich mit dem Handgelenk über die Augen.
Sanft unterbrach Khalid ihre Erzählung: „Sie war Eure Königin, nicht wahr?“
„Hatte ich es nicht erwähnt? Ja, das war sie. Unsere geistige Anführerin und die Oberbefehlshaberin über die Jägerinnen. Ich führte nur den Orden im nahen Kloster an und war ihr ein Ratgeber, doch auch ich sah nicht die Fratze des Bösen hinter dem hübschen Gesicht des Kaufmannes. Dass er es wagen konnte, sie töten zu lassen!
Wir wussten nicht einmal, dass sie das Kind am Leben gelassen hatten, bis Ihr Jaella auf einmal in unsere Mitte zurückbrachtet.
Doch damit begannen neue Probleme, die unser Volk entzweien.
Durch ihr Geburtsrecht ist es Jaella bestimmt, Rexinas Platz einzunehmen und das Volk der Amazonen zu regieren. Doch zum einen ist sie die Tochter des Mörders unserer einstigen Königin, zum anderen wuchs sie außerhalb unseres Volkes auf. Sie hat keine Kenntnisse unserer Werte und unserer Geschichte. Sie ist nicht einmal zur Kämpferin erzogen worden, sondern nur ein verweichlichtes Stadtkind!“, brach es ärgerlich aus Akara hervor.
„Ich denke, jetzt tut Ihr Jaella Unrecht“, begehrte Khalid auf. „Sie mag nicht ausgebildet sein, doch sie trägt das Herz am rechten Fleck und stellt sich jeder Herausforderung. Ohne sie wäre es mir niemals gelungen, Cain zu befreien und zurückzukehren.“
Akara richtete ihre Augen fest auf Khalids Gesicht. „Da mögt ihr Recht haben, doch wird diese eine Heldentat den meisten Amazonen nicht genügen.“
„Den meisten? Oder Kaschya?“
Die Hohepriesterin lächelte freudlos. „Ihr habt es erkannt. Doch sie ist nicht die einzige. Das Lager ist gespalten. Jeder, der bisher Kenntnis um Jaellas Herkunft hatte, wurde gehört und alle anderen sollen es erfahren, sobald wir unser Land zurückerobert haben, denn vorher brauchen wir keine Königin. Das Volk soll abstimmen, ob Jaella geeignet ist, uns anzuführen, oder nicht. Doch ich wünsche mir vorher noch etwas anderes.“
In Khalids Kopf rauschte es bereits vor neuen Informationen doch er legte neugierig seinen Kopf schief.
Akara rang einen Moment nach Worten und fuhr dann fort. „Ich glaube selber, dass Jaella im Moment nicht geeignet ist, sich eine solche Last aufzubürden. Versteht mich nicht falsch!“, rief sie rasch, als hätte der Paladin etwas eingewandt. „Ich denke, sie sollte uns eines Tages führen, doch noch ist sie nicht soweit. Sie ist so voller Selbstzweifel und noch so jung. Ich würde ihr gerne die Wahl überlassen, ob sie bei uns bleiben will, oder nicht. Doch diese Wahl kann sie nur treffen, wenn sie nichts von unserem Gespräch erfährt, versteht ihr?“
Er nickte langsam. Jetzt fügte sich alles zu einem Bild zusammen.
„Aber irgendetwas ahnt sie doch, oder?“
Akara hielt es nicht mehr auf ihrem Stuhl. Sie sprang auf und lief im Zelt auf und ab.
„Ja, sie hat Kaschya und mich versehentlich streiten gehört. Sie hat nicht alles mitbekommen, denkt aber, Kaschya würde sie ablehnen, weil Rexina unser Volk verraten habe. Ich habe diesen Irrtum nicht aufgeklärt, da ich dachte, es würde als Erklärung erst einmal angehen. Sie weiß nicht, wer ihre Mutter war.“
Dann sah sie auf den Hünen mit seinem vor Schmerzen blassen Gesicht und es war, als bemerkte sie zum ersten Mal seinen verwundeten Arm.
„Ich glaube, Ihr habt genug, über das Ihr nachdenken müsst. Ich bitte Euch, tut nichts Unüberlegtes. Lasst Jaella ihre eigene Wahl treffen, um
Dianas Willen!“
Khalid erhob sich. „Ihr habt mein Wort als Paladin. Ich werde zunächst Stillschweigen bewahren, jedoch nicht für immer. Mehr kann ich Euch nicht versprechen.“
„Das reicht mir schon. Kommt, ich bringe Euch nun zu unserem Heiler. Der Arm muss eingerenkt werden und dann werde ich mal sehen, was ich anschließend für Euch tun kann. Außerdem möchte ich gerne meine Nichte begrüßen.“
Einhellig verließen sie das Zelt, das beinahe zu klein schien, für die vielen Sorgen und Nöte, die es beherbergte.
Der Medikus war soeben dabei, Jaellas Knöchel zu bandagieren. „Und ich würde Euch ja raten zu ruhen und nicht umherzulaufen, oder was Mädchen Eures Alters auch sonst so immer machen, aber Ihr werdet wohl doch tun, was Ihr wollt. Mir egal, aber kommt nicht in zwei Tagen wieder an und beschwert Euch, dass der Knöchel dick wie eine Melone... Oh Akara, ich grüße Euch!“
„Seid gegrüßt“, nickte sie mit hochgezogener Augenbraue. „Jaella meine Liebe, geht es Dir gut?“
„Es geht schon wieder, Tante“, erwiderte sie, bemüht keinerlei Schwäche zu zeigen.
„Dann ist ja gut. Ich erwarte Euch beide heute Abend zum Essen, Cain wird auch dabei sein und dann will ich alles hören, was ihr erlebt habt!“
Während sich Akara Jaellas Verletzungen ansah und die beiden ein wenig plauderten, kümmerte sich der Heiler bereits um Khalids Arm. Er entfernte vorsichtig die provisorische Schlinge und gab dem mittlerweile sehr blassen Helden ein starkes Betäubungsmittel zu trinken. Als die Wirkung des Sudes begann, zogen der Heiler und sein Helfer den Knochen wieder in die korrekte Lage und schienten den Arm. Anschließend konnte Jaella die Heilungsfähigkeiten ihrer Tante aus der Nähe beobachten. Sie legte ihre Hände auf Khalids Schultern und schloss die Augen. Ein schwacher Lichtschein schien sie zu umgeben.
Einen Moment später öffnete sie wieder die Augen und ließ den Paladin los. „Schont den Arm ein-zwei Tage, und dann könnt ihr ihn wieder gefahrlos einsetzen.“ Sie streckte schwach den Arm nach ihrer stets anwesenden Wächterin aus. „Die Heilungen strengen mich doch immer mehr an. Jaella, Liebes, lass Dich von unserem Paladin versorgen, wenn der Medikus Deine Schulter genäht hat, ja?“
Und ohne eine Antwort abzuwarten schlurfte sie mit ihrer Wache ins Freie, wo sie dann ohne weitere Stütze in ihr Zelt zurückeilte.
Sie würde alles in ihrer Macht stehende tun, damit sich die zarten Bande zwischen den beiden zu einer starken Freundschaft entwickelten. Vielleicht war es Jaella möglich, den Krieger bei den Amazonen zu halten. Diese wertvolle Unterstützung galt es zu sichern.
Nach ihrer Behandlung erklärte Jaella, dass sie nun zunächst die Kameradinnen aus der Ausbildungsgruppe besuchen wolle, um zu erfahren, wie es ihnen während des Angriffes ergangen sein.
Der Heiler hielt sie auf. „Ihr solltet jetzt wirklich erst einmal ruhen.“
„Ja, aber ich will Amplisa besuchen“, begehrte Jaella auf. „Dort kann ich meinen Fuß auch hoch legen und mich schonen. Es sind doch nur ein paar Schritte.“
Sichtlich amüsiert beobachtete Khalid das Schauspiel. Es schloss insgeheim eine Wette mit sich selber ab, wer das Gefecht wohl gewinnen würde, da öffnete sich die Zeltplane und wieder trat ein Besucher ein. Es war Kaschya.
Auf ihren Wink hin zog sich der Heiler augenblicklich zurück.
Es war ihrem Gesicht deutlich anzusehen, dass sie wohl auch den fremden Krieger gern fortgeschickt hätte, doch der lehnte sich entspannt auf seiner Pritsche zurück und lächelte sie freundlich an. „Seid gegrüßt, Kaschya!“
„Khalid.“ Höflich, doch wenig herzlich nickte sie in seine Richtung. Stumm sah Jaella ihrer Ausbilderin entgegen, als sie sich zu ihr auf die Pritsche setzte.
Sichtlich mühsam suchte die rothaarige Kriegerin nach einem Anfang.
„Ich freue mich, dass ihr beide wohlbehalten zurückgekehrt seid.“
„Und ich danke Euch, dass Ihr Wendy und Isolde zu uns geschickt habt, so dass wir den Rückweg abkürzen konnten“, sprach Jaella in die Pause.
„Wir haben das Lager vor dem Angriff schützen können, doch nur unter schweren Verlusten. Ich wollte es Dir selber mitteilen.“
„Was mitteilen?“, rief Jaella alarmiert aus.
„Ich weiß, dass Du Dich mit Amplisa angefreundet hattest. Deine Freundin ist in der Schlacht um unsere Heimat gefallen. Es tut mir leid.“
Sie streckte unsicher sie Hand aus, als wolle sie die Jüngere berühren, doch dann stand sie abrupt auf und eilte aus dem Lazarett.
Übergangslos stand Khalid neben seiner Gefährtin. „Sie war Deine Freundin, ja?“ Scheu hockte er sich neben sie. Mit harten Augen starrte Jaella auf die Wand.
In ihrem Geist vermischten sich die Tragödien. Amplisa, Bredon, Alton. Alle, die ihr nahe standen wurden von dem Dunkel, das die Welt unterjochte, vernichtet. Das Böse trug viele Gesichter. Eines davon, eine Schreckensgestalt aus dem Sagenland, hatte ihr Vater und Bruder genommen. Und nun trat Andariel aus den Tiefen der Hölle hervor und nahm ihr einen Teil ihrer neu gewonnenen Familie. Nicht nur die stupsnasige Amplisa, die so ohne Arg und Hintergedanken die Neue als Freundin willkommen geheißen hatte, sondern auch all die anderen Jägerinnen, die in der letzten Schlacht ihr Leben für die anderen gaben. All der Schrecken, all die unverarbeitete Trauer um den Verlust von Vater und Bruder kamen würgend wieder in ihr hoch.
„Dafür wird sie bezahlen“, fauchte sie. „Ich werde Andariel finden und ich werde sie töten...töten...töten...!“ Mit jedem Schrei hieb die Amazone mit der Faust auf ihren Schenkel, bis Khalid die Hand einfing und in seiner barg. Dann zog er sie an seine Brust, wo sie sich wild schluchzend an ihn klammerte.
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Insidias