LVIII. Zeitenwandel
Über dem Meer begann der Himmel heller zu werden.
Ein neuer Morgen dämmerte herauf.
Lut Gholein rauchte nur noch an wenigen Stellen, dort zumeist, wo man auf hastig errichteten Scheiterhaufen Gefallene dem Feuer überantwortete. Die Angst vor Seuchen ging um. Die Brände aber waren gelöscht, die von Feuerbällen verheerten Häuser kohlfarbene Überreste im Gelbweiß der Stadt.
Soldaten wachten auf den Mauern. Erschüttert von den Stunden der Schlacht, nahmen sie den Mann, der zwischen ihnen an der Brüstung lehnte und in die Ebene hinausstarrte, kaum wahr. Es geschah wohl, dass sie ihn murmelnd grüßten, war er doch ein Kämpfer wie sie. Aber die Meisten hatten genug damit zu tun, über Verwundung und Schrecken hinweg ihre Wachsamkeit aufrecht zu erhalten.
Sie glichen einander jetzt. Sie alle trugen blutige Verbände und tiefe Furchen der Sorge in den dunklen Gesichtern. Die Befehlshaber ordneten die verbliebenen Stadttruppen nur locker, ließen zu, dass weit mehr Männer auf Wache standen als gewöhnlich. Die Rangunterschiede, und ob sie Palastwächter, Stadtsoldaten oder Söldner waren, zählte nicht mehr.
Der Krieg hat eine harte Hand und ein grobes Schleifmesser darin. Menrad verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein. Seine Hüftwunde brannte wie Feuer. Alles, was uns vorher verschieden gemacht hat, ist weggehauen, abgeschliffen.
Er verstand die Männer ringsum.
Ein neuer Morgen mit allen zaghaften Verheißungen des Tagesanbruchs, und noch immer keine Erlösung und keine Nachricht von einer Rückkehr des Feindes.
Es war schwer, der Ruhe zu trauen. Die Schlacht, die Verluste, die bezeugten Zerstörungen begannen erst, im Herzen nachzuzittern, schnappten gierig nach Resten aufgebrachter Kraft.
Die Leere der Wüste schien der Stadt zu spotten, all den Menschen, die sich mühselig aufrappelten und misstrauisch nach dem Licht der Dämmerung blinzelten. Zwei Morgen über hatte das Licht nur Entsetzen gebracht. Ja, er verstand die Männer gut. Auch, weil die Ebene nun wieder sichtbar wurde, nachdem die Finsternis so rücksichtsvoll gewesen war mit ihrem alles überdeckenden Mantel.
Die verbrannte Erde reichte Lut Gholein bis zu den Türschwellen. Flecken und absonderliche Bänke aus Schwarz auf grauen Aschefeldern, das war, was das Auge erblicken musste, richtete es sich nach Westen. Selbst die unverrückbaren Hügel hatten den sanften Schwung ihrer gefalteten Hänge eingebüßt, lagen gesplittert und geduckt im Zwielicht.
Ein Gott ist über sie hinweggestiegen. Kein Wunder also.
Der Paladin wandte sich ab.
Weiter draußen, wusste er, gab es noch andere Flecke von Schwarz, von erstarrter Asche und Hügeln dunkler Substanz, die weder Stein noch Fleisch war. Die von Streifzügen zurückkehrenden Barbaren hatten davon berichtet, und vielleicht erinnerte sich seine Seele auch an Bilder, die seinem inneren Auge verschlossen blieben. Noch. Weiter draußen hatte der wandelnde Gott Spuren hinterlassen.
Kommende Generationen würden diese Spuren womöglich mit Legenden behängen und den wahren Ursprung verschleiern. Menrad aber war er allgegenwärtig. Ihm und den verwundeten Menschen hier, im Ring der halb zerstörten Mauern.
Er hatte nicht viele Stunden geruht, unfähig fast, sich überhaupt zum Schlafen zu überwinden.
Glücklich, von Träumen verschont geblieben zu sein, war er erwacht – nicht unten in den Gassen der Stadt, sondern hier oben auf den Mauern, so wie vor Beginn der ersten Schlacht. Das Aufstehen war eine Qual gewesen.
Abgesehen von der Hüftwunde waren da Schnitte und Quetschungen unter dem pundarischen Kettenhemd, getrocknetes Blut, aufgescheuerte Haut. Gleichviel. Nichts, was nicht wieder heilen würde. Nichts, über das er sich beklagen durfte oder wollte angesichts der Scharen von Verstümmelten, Verbrannten, siech Daniederliegenden.
Die Wogen des schwarzen Gegnerheers hatten ihn wieder ausgespuckt. Zu welchem Zweck, dachte er wie in der Stunde nach der ersten Attacke, würde er noch herausfinden.
Unten in den Gassen brannten Fackeln und viele kleine Wachfeuer. Dichtes Menschengedränge, Gemurmel, satte Essensdünste, Gestank nach Wunden und Urin.
Der Paladin schaute hinab, reglos kurz. Da schwang sich, zaghaft zuerst, dann fester, eine Männerstimme über die Dächer der Stadt. Ein Gebetsrufer.
Es war bereits, so hatte Menrads Aufenthalt ihn gelehrt, zu spät für das Frühmorgengebet. Vielleicht hatten die Geistlichen Lut Gholeins gezögert, mit sich uneins, ob man solch einen Tag überhaupt durch alte, schön geformte Verse adeln durfte, ob es nicht verfehlt war, von Dankbarkeit und Herzenstreue zu singen.
Nach einem letzten Blick auf die Mauerwachen stieg der Paladin langsam, behindert durch die Hüftverletzung, die Wehrtreppe hinunter. Jeder Knochen tat ihm weh. Sein Hammer hing ihm schwer an der Seite.
Unten gewahrte er einige seiner Brüder und verhielt. Adrian Benedict Evren, der Anführer der Schar, die aus Fadraîs zur Hilfe hergeeilt war, hatte überlebt, doch ernstlich verwundet. Seit der Rückkehr nach Lut Gholein lag er im Wundfieber, schließlich in ein Haus der verworren dankbaren Stadtbevölkerung gebracht. Knapp fünfzig Lichtkrieger waren dem Wahnsinn der Schlacht entronnen.
Und nun kniete ein halbes Dutzend von ihnen unweit des Haupttors da, tief im Gebet, während die Stimme der Wüste den Glauben eines anderen Weltteils pries.
Menrad merkte, dass er sie mit schmerzlich zusammengezogenen Brauen musterte: Ihre knienden, gerüsteten Gestalten im Fackelschein, ihre Schwertgehänge, die matt funkelten, ihre in Kontemplation gesenkten Häupter. Das Volk in den Gassen hielt respektvollen Abstand.
Der Drang, zu ihnen hinüberzugehen und sich ihrem Gebet anzuschließen, war für die Dauer einiger Atemzüge übermächtig. Doch Menrad tat den Schritt nicht. Er war schon im Begriff, sich abzuwenden.
Da trat einer der Paladine, ein Unterkommandant, zu ihm. Der Fackelschein zeigte die in nur zwei Tagen hohl gewordenen Wangen und die Bartstoppeln mit einem Nachdruck, als wolle er sagen: Schau, auch hier siehst du nur müde Männer, die sich in alte Verse flüchten. Doch es tröstet und pflegt sie. Warum gesellst du dich nicht zu ihnen?
„Bruder Menrad“, sprach ihn der andere Paladin an.
Natürlich, sein Name war ihnen bekannt. Ihn umgab nicht länger die Einsamkeit des Missionars, der, aus dem Osten geflohen, nur einer unter Tausenden in den Weiten eines kriegsgeschüttelten Kontinents war. Jeder Paladin in Lut Gholein wusste, dass er den Vertreter ihres Ordens in jener Gruppe gestellt hatte, die zuerst hier aufgelaufen war.
Sie behandelten ihn, als sei er zu Ehren gekommen. Hauptsächlich vor dem Bild der verschreckten Stadt erschien ihm das falsch, und kaum weniger unangenehm war ihm die Nennung seines Namens.
Abwartend schaute der andere Paladin ihn an. Es mochte sein, dass er Menrads Schweigen richtig deutete, doch er ließ es nicht dabei bewenden. „Wollt Ihr nicht mit uns beten?“, fragte er freundlich.
„Nein“, gab Menrad zurück – schroff, wie das besorgte Stirnrunzeln seines Gegenübers zeigte.
Plötzlich tat es ihm Leid.
„Nein, Bruder“, wiederholte er leiser. „Denkt nicht falsch von mir, aber ich vermag die rechte Ruhe nicht zu finden.“ Da ist vor wenigen Stunden die leibhaftige Verkörperung eines Gottes, dessen Dasein wir stets verneint haben, durch unsere Welt gegangen. Wie könnt ihr da beten?
„Die Ruhe“, sagte der Andere geduldig, „mag sich einstellen, wenn Ihr Euch dem Licht zuwendet.“ Er wies auf die knienden Krieger. „Wir haben alle viel gelitten. Kommt hinzu. Ihr werdet Trost finden. Das Licht hat für jeden Mann Trost.“
„Das ist es eben.“ Menrad wunderte sich, dass er gerade vor einem anderen Paladin so offen sprach. Ich habe Zweifel, seit Wochen bereits. Ich habe einen Engel erschlagen. Ich habe gesehen, dass das Licht uns nicht zur Hilfe kam. „Meine Zweifel an der Gegenwart des Lichts sind es, die mir das Gebet derzeit verleiden“, sagte er bedrückt.
Er erwartete eine Zurechtweisung, einen Tadel. Selbst ein Gefühlsausbruch seitens des mitgenommenen Ordensbruders hätte ihn schwerlich erstaunt.
Aber sein Gegenüber fuhr lediglich darin fort, ihn ruhig zu mustern. „Ihr habt hundert Schlachten geschlagen“, sagte der andere Paladin dann, „wenn auch nur die Hälfte von dem wahr ist, was wir über Euren Weg in diesen Landen vermuten. Denkt Ihr nicht mehr an die letzte?“ Kaum merklich schüttelte er sich, wie übergraust. „Ihr seid noch am Leben. Wie sollte das wohl geschehen sein, wenn nicht, indem das Licht seine Hand über Euch hielt?“
Ich bin ein guter Kämpfer!, wollte Menrad auffahren. Doch er bezwang sich.
Der Andere nickte ihm zu und ging zu den Betenden zurück, und er sah ihm nach.
Vielleicht hatte dieser da Recht. Es war beachtlich, dass er noch auf beiden Beinen stand und atmete. Und vielleicht würde das alte Glücksgefühl des Gebets zu ihm zurückfinden. Ein andermal.
Erst wollte er nach den Gefährten sehen.
Die kleine Gruppe hatte ihr Lager am Rand des zentralen Marktplatzes aufgeschlagen, etwas weiter fort vom Haupttor nun, nah an den Lagern weiterer Ruhebedürftiger. Da in diesen Tagen niemand handelte, störten sie dort niemanden.
Ein Feuer beleuchtete die vertrauten Gestalten. Marej, die Druidin, hatte sich in eine Decke eingerollt und atmete tief. Ifrah fehlte, doch ihre Tochter saß mit unterschlagenen Beinen dicht bei den Flammen und schaute hinein, mit einem fettbeschmierten Stück Brot beschäftigt. Sie wirkte winzig und zerbrechlich neben den zwei Männern, die hier lagen, beide mit den Stiefeln zum Feuer und den Köpfen gegen eine nahe Hauswand. Der eine davon war ein Krieger aus Herlacs Schar, dem die letzte Schlacht eine Schulter und ein Knie zerschmettert hatte. Er schlief. Sein Schnarchen war bis zur anderen Straßenseite zu vernehmen.
Der andere Mann regte sich ebenfalls nicht, lag wie leblos, aber Menrad wusste, dass Hadan weder tot noch eingenickt war. Neben ihm hockte Eya, das Gesicht seitlich auf die über den angezogenen Knien verschränkten Arme gestützt.
Sie betrachtete ihren Gefährten, und Menrad hatte Zeit, das seltsame Paar seinerseits zu betrachten.
Hadan hatte nach seiner Rückkehr, die den Säbelkatzen zu verdanken war, Stunden um Stunden kein Zeichen gegeben, einen der Anderen zu erkennen. Menrad erinnerte sich an die Besorgnis der Frauen angesichts von Schüttelfrost, Schweiß, der die herbeigeschafften Kleidungsstücke zu rasch für einen Wechsel durchtränkt hatte, angesichts von blutigem Erbrochenem und von gemurmelten Worten, die keiner der Anwesenden hatte entziffern können.
Aber was immer den Leib des Nekromanten geplagt hatte, war vergangen, und sein altes Selbst schien zuallererst in seiner Eigenart, nicht zu schlafen, wo Andere es taten, zurückzufinden. Jetzt lag er da, ohne die Lippen zu öffnen. Mit Maysan hatte er gesprochen, aber seitdem nicht wieder, und Menrad fühlte unwillkürlich mit der jungen Assassine, die auf ein Zeichen wartete, dass das Schicksal nicht Teile ihres Gemahls einbehalten hatte.
Was hast du gesehen?, richtete er eine stumme Frage an das bleiche Gesicht, das sich vor der schattigen Wand noch bleicher ausnahm. Welchen Handel hast du mit deinem grauenhaften Gott abgeschlossen, als Bezahlung für sein Eingreifen in der gestrigen Schlacht?
Wenn Hadan zu sich kam, würde er, Menrad, das schon aus ihm herausbringen. Notfalls, schwor er sich, mit Gewalt, und der Gedanke war trotz seiner Entschlossenheit von einer merkwürdigen Milde, wie man sie einem starrsinnigen Vertrauten oder Schutzbefohlenen gegenüber empfindet.
Sacht, um die Ruhenden nicht zu stören, gesellte er sich zu ihnen ans Feuer. Er war sich nicht sicher, aber für einen Augenblick meinte er, ein Funkeln unter den Lidern Hadans zu sehen. Es war weg, als er richtig hinschaute.
Da erst ging Menrad auf, dass aller Hass zwischen ihren Klassen, der ihn und Hadan so oft drohende und umständliche Worte hatte wechseln lassen, verraucht war. Mitten in ihm, aus ihm, genau mit dem Kommen dieses Morgens.
Sie betrachtete ihn lange. Lange und sehr gründlich.
Das Herz schlug ihr nicht mehr bis zum Hals. Hadan würde leben. Soweit vertraute sie Marejs und Ifrahs Urteil, und auch der Widerstandskraft dieses Körpers, den sie lange begehrt und in besseren Nächten umarmt hatte. Die Angst machte keine wilden Bocksprünge mehr, sie hatte sich in einen steten Druck verwandelt.
Es gab mehr als einen Weg, jemanden zu verlieren.
Sie entsann sich eines Morgens vor Harrogath. Da waren sie und die verbliebenen Gefährten, unmittelbar nach Malenas Tod, zu der Hohen Stadt der Arreat-Barbaren zurückgekehrt. Das Tor hatte sich geöffnet und die Menschen der von Baals Armee belagerten Siedlung auf das schreckliche Schlachtfeld entlassen, lauter um ihre Vertrauten Beraubte. Ein greises Weiblein war an ihr und Hadan und Urel vorbeigerannt, barfuss, mit wirrem Haar, schrill und dünn schreiend. Hadan hatte nach ihrer, Eyas, Hand gegriffen – ein wortloser Pakt vor dem Bezeugen solchen Elends, eine erste Berührung im Bannkreis einer Trauer, die die Stricke des Verstandes kappte.
Ja, es gab Dinge, die den Geist zerstörten. Eya selbst hatten sie gestreift, mehrere Male schon. Immer war sie ihren Verheerungen knapp entronnen.
Was aber, wenn es Hadan nicht geglückt war, zu entkommen? Was, wenn der Mann an ihrer Seite, mit vier Jahrzehnten der Erfahrung behängt und mit Wissen und Waffen wie kaum ein Zweiter, seinen Verstand und seine Erinnerungen nicht vor der Begegnung mit seinem Gott hatte retten können?
Sie wusste nicht, was hinter der breiten Stirn vorging, die sie ausdauernd abtupfte. Seine Haut fühlte sich jetzt kühler an. Das Gesicht, das nicht mehr ausgemergelt und schmal war wie einst, wirkte ruhig, aber grenzenlos erschöpft.
Als eine Hand nach der ihren langte, schrak Eya zusammen.
Sie war so in die Betrachtung seines Gesichts versunken gewesen, dass sie nicht bemerkt hatte, wie Hadan sich bewegte.
Er schlug die Augen auf. Es waren noch dieselben – ein wenig unstet, aber ihr durchdringender Perlmuttblick klärte sich rasch.
„Shatryindjah“, sagte er heiser.
Sie hätte sich über ihn werfen mögen, weinend vor Dankbarkeit. Doch sie blieb sitzen und unterdrückte das Zittern in ihren Gliedern. Es gelang ihr nicht ganz, sie las es an der verstehenden Art ab, mit der sich Hadans Hand um ihre Finger schloss.
„Da bist du“, flüsterte sie. Dann brach es leise aus ihr heraus, der ganze Klumpen aus Not und Verzweiflung, der sie seit seinem Fortgang gefangen gehalten hatte: „Ich dachte, du... du seiest tot. Ich glaubte, du würdest... diesmal nicht zurückkommen.“
Er hatte sie nicht in falschen Hoffnungen gewiegt. Und auch jetzt, sah sie mit seltsamer Erleichterung, war keine Lüge in seinen Augen. Sie ließen sich Zeit, ihr Gesicht zu erforschen. Schließlich verzog Hadan matt die Lippen. „Es tut mir Leid, Schwarzer Vogel“, kam es rau. „Es war notwendig.“
Notwendig. Ja, sie begriff. Er würde nie ein Mann sein, der seiner Vertrauten wegen zurückblieb. Aber sie begriff auch: Es geschah nicht aus mangelnder Liebe. Er liebte sie aufrichtig, mit dem besten Teil, der sich zu ihr hindurchgedrängt hatte.
„Ich weiß“, antwortete sie tränenerstickt. Ihre Hand gab den festen Griff wieder. „Trotzdem... mach das noch einmal, noch ein einziges Mal, und ich versohle dir den Hintern, wenn du zurückkommst.“
Woher das Bedürfnis zu einem Scherz kam, wusste sie nicht. Es schien einfach richtig, gerade in dieser Stunde.
Hadan lachte schütter. Schnell aber wurde er wieder ernst und langte mühsam mit der anderen Hand herüber und herauf, um ihr Kinn zu berühren, an dem Tropfen hingen. „Verzeih mir, Shatryindjah. Bitte verzeih mir.“ So hatte er sie in Lhabarna zum ersten Mal angesehen. „Auf diese Weise sollte es nicht enden. Aber ich konnte mir keine andere Möglichkeit mehr denken.“
Noch waren sie allein. Fragen würden folgen, Fragen aus den Mündern ihrer Gefährten und vielleicht auch Fragen seitens all des Volkes, das das Ungeheuerliche hatte bezeugen müssen.
„Wie lange?“, brachte Eya nach einer raschen Versicherung, dass weder Marej noch Maysan noch Menrad ihr Gespräch belauschen konnten, hervor. „Wie lange“, sie schluckte, „hattest du das geplant?“ Die bleichen Augen hielten ihre fest. „Ich habe dich oft an unseren Lagerfeuern gesehen. Du warst nicht mehr... allein. Schon seit Kurast nicht mehr, nicht wahr?“
Der Nekromant bewegte sich mit einem Ächzen. Es gelang ihm, sich halb aufzusetzen. Seine Kraft kehrte erstaunlich rasch zurück, bedachte man – nun, Eya wollte sich lieber nicht ausmalen, wie sich seine einsamen Stunden in der Wüste gestaltet hatten. Blut fleckte das Hemd, das sie ihm zuletzt übergezogen hatten, an Kragen und Brust, aber es war dunkel, getrocknet, und seine Lippen zeigten keine Spur mehr davon.
„Der Engel.“ Hadan schoss ein weißes Blinzeln nach den anderen Gestalten jenseits des Lagerfeuers. „Der Engel war der Wendepunkt.“ Er lächelte wieder, aber jetzt war es ein Lächeln wie aus den Zeiten ihrer Jagd nach den Erzübeln, unfreundlich, düster und mit einem großen Hass auf die Umstände der belebten Welt darin. „Das Zeitalter, in dem wir noch auf Hilfe aus anderen Gefilden hoffen durften, ist vorbei. Es sei denn, man ginge hin und erkaufte sich diese Hilfe, so wie ich es getan habe.“
Wie?, formte sich die Frage in Eyas Kopf. Hiervor im Besonderen war ihr Denken bislang zurückgeschreckt. Die ganze absonderliche, undurchschaubare Welt des Ostens fiel ihr wieder ein, die gewaltigen Tempel Pundars, das dunkle Wandbild im Schatten.
Sie stellte die Frage nicht, aber es schein, dass Hadan sie ohnehin in ihren Zügen lesen konnte.
„Ich werde euch berichten, was geschehen ist“, sagte er leise. „Sofern meine Worte hinreichen und sobald wir alle beisammen sind. Alle – auch Herlac und vor allem Ifrah müssen zugegen sein.“
Eya nickte stumm. Eine wichtige Zusammenkunft wartete auf die Gefährten.
Erst jetzt spürte die Assassine, wie schmutzig sie war. Mehr als ein Schöpfen von Wasser über Kopf und Hände hatte es bislang nicht gegeben.
Sie folgte Hadans Blick auf die andere Seite des Lagerfeuers.
Marej schlief, endlich, nach Tagen fortgesetzten Leidens. Maysan saß da und schaute her, das blassbraune Gesicht ungewöhnlich gelöst, vielleicht, weil sie grobes, mit Kamelfett vermischtes Brot hinunterwürgte, wie üblich ohne ein Wort der Klage. Menrad hob die Augen zu ihnen. Er war müde, abgerissen, die unrasierten Wangen mit Staub gestreift, das Haar starr von Schweiß, aber da saß eine Wachsamkeit in seinem Antlitz, die Eya beeindruckte. Er wartete.
Sobald Ifrah gefunden war und Herlac herbeigeholt, konnte die Aussprache beginnen.
Es war an diesem Morgen kein Leichtes, einen geschützten Platz innerhalb der Mauern von Lut Gholein zu finden, bei all den Überlebenden, die sich hier zusammendrängten. Andererseits jedoch achtete kaum jemand auf einen zusammengewürfelten Haufen wie den ihren. Anführer und Beteiligte der Verteidigungsschlachten oder nicht – vorerst fielen sie unter den Soldaten, Bürgern und Nomaden, unter den Frauen, verbliebenen Barbaren und Westmarschenern schwerlich auf.
Dennoch konnte er nicht anders, als im angespannten Treiben ringsum nur einen, wenn man es so nennen durfte, erzwungenen Alltagseinschub zu sehen, und er spürte einen Anflug schlechten Gewissens, weil er dies auf die Lage der Gruppe bezog.
Wie lange, bis sich die geschundene Stadt an die Anwesenheit der unbequemen Gäste erinnerte und man ihnen entweder mit Verhören und Ehrungen zusetzte oder sie mit Schimpf und Schande davonjagte? Nun übertreibst du, wies er sich zurecht. Das einfache Volk war dankbar. Es wird nicht zu einem völligen Umschlagen der Stimmung kommen. Sie werden uns, nun da Jerhyn tot ist, einen weiteren Palastbeauftragten schicken und uns höflich bitten, zu gehen. Sofern sie unsere Hilfe, ein heiseres Lachen kratzte in seiner Kehle, nicht länger wünschen.
Hadan lehnte den Kopf zurück an die Mauer, an der er sich abstützte. Er machte die Augen schmal und musterte die vorbeigehenden Menschen. Eigentlich hatte er kein Bedürfnis danach, auf der Lauer zu liegen. Ein Teil, der beständig größer in ihm wurde – ganz gleich was der Nekromant, der Zwilling dieses Teils, anstellte – sehnte sich danach, sich in irgendeinem Winkel niederzusetzen und die Welt mit anderen Augen zu betrachten.
Nun, vielleicht nicht mehr in diesem Leben.
Er bewegte die Schultern in der neuen Kleidung. Von ihr, vor allem aber von der ungeheuren Mattigkeit in seinen Gliedern aus, führte ein viel zu kurzer Gedankenweg in den vorigen Tag zurück. Sein Blick streifte Eya und Menrad, die nahebei am behelfsmäßigen Lagerfeuer hockten.
Zeit, Rede und Antwort zu stehen, alter Mann.
Mit dem Stehen war es allerdings noch nicht weit her. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Er verbiss sich ein neuerliches grimmiges Auflachen.
Im selben Augenblick entdeckte er vertraute Gestalten in der Menge.
Ifrah kam quer über den Platz heran, und sie brachte Herlac mit.
Die Magierin trug unverändert ihre goldene, silbergeströmte Rüstung. Das Metall war gesäubert, ebenso das dunkle Gesicht darüber. Ihr Haar hing ihr offen und glatt bis über die Hüfte hinunter. Ihr Lendenschurz aber war zerrissen, das Metall, das seine Trägerin schützte, weit abgenutzter als vor einem Jahr, zerkratzt, eingedellt.
Hadan versenkte sich für ein paar Atemzüge in die Betrachtung der Magierin.
Sie Beide hatte seit Anbeginn weniger getrennt als die Anderen. Nach Jahren führten sie die Gruppe an, und ihr Platz war – zumindest auf den Pfaden der Großen Übel – in der zweiten Reihe gewesen. Magiekundige sie Beide, wenn auch aus ganz verschiedenen Schulen. Rückendeckung der Nahkämpfer.
Es war kein Zufall, dass er selbst zuletzt tatsächlich ein Kurzschwert in die Hand genommen hatte, dass Ifrahs Rüstung beredt davon sprach, wie vielen Hieben, Feuerstößen, Elementen sie ausgesetzt gewesen war. Sie hatten sich in die erste Reihe gedrängt.
Kommt jetzt unsere Zeit, Ifrah?, begrüßte er sie in Gedanken. Er wusste, sie ahnte es längst. Aber was für eine Zeit wird das sein.
Nicht die der Schriften und der Schulen, denke ich. Sie wird Menschen wie Eya und Menrad, Urel, Bostac und Herlac in Scharen niedermähen. Junge, starke Menschen, die den Krieg nicht fürchten oder Gründe für einen Auszug zu den schwarzen Schlachtfeldern haben.
Gründe gab es genug. Ein einziger Blick auf die Wüstenstadt mit ihren engstehenden, niedrigen Häusern und dem bunten Menschengewimmel davor offenbarte Dutzende.
Der Nekromant musterte Herlac. ‚Der Große’ nannten seine Krieger ihn, und der Zuname passte, sowohl wegen seiner Statur als auch wegen der unerschütterlichen Ruhe, die den Hünen auszeichnete. Hadan fiel gegen seinen Willen ein, dass er auch Urel oft mit dem Gedanken Du wirst einst ein großer Krieger sein angeschaut hatte, und bei dieser Erinnerung gab sein Inneres ein schmerzhaftes Zucken von sich.
Die Ankunft Ifrahs und Herlacs erlöste ihn ein wenig.
Eya und Menrad standen auf, die abgespannten Gesichter plötzlich gestrafft.
Die fünf Gefährten grüßten einander mit einem Nicken.
„Neuigkeiten aus dem Palast“, berichtete Ifrah rundheraus. Sie schaute sich um, sich eine Strähne aus den Augen streichend. „Wo steckt Maysan?“
„Marej hat sie zum Hafen mitgenommen“, antwortete Hadan. „Sie wollen sich nur ein wenig die Beine vertreten. Sei unbesorgt.“
Die Magierin nickte, aber er sah die überstarken Bedenken derer an ihr, die sich schuldig wähnen, nicht allen Aufgaben gleichzeitig gerecht geworden zu sein. Um sie abzulenken – und um sich selbst einen letzten Rest Zeit für Überlegungen zu verschaffen – hakte er nach: „Was für Neuigkeiten gibt es? Ist der Thron immer noch verwaist, oder haben sie ein Gesäß gefunden, das auf den Marmorsitz passt?“
Herlac verzog sacht die bärtigen Lippen, und Menrad sah kurz aus, als wolle er offen auflachen. Eine kleine Welle der Heiterkeit flog über die Gruppe hin, vielleicht ein wenig bitter, hatten sie doch den Aufstieg und Fall mehrerer Herrscherhäuser bezeugt.
Ifrah ging indes nicht auf Hadans Tonfall ein und antwortete ernst: „Einer von Jerhyns kleinen Söhnen sitzt jetzt auf dem Thron. Es kann nicht mehr lange dauern, bis sie Feierlichkeiten anberaumen.“ Ihre Bernsteinaugen begegneten seinen. Auf dem Thron einer Stadt, die mir sehr viel bedeutet, las der Nekromant darin.
„Verzeih, Ifrah“, sagte er in den schnell wieder eingekehrten Ernst hinein. „Ich wollte mich nicht über das Schicksal Lut Gholeins lustig machen. Es ist nur... es erinnert an Kurast, nicht wahr?“
Fast unbemerkt von den Anderen zuckte Eya leicht zusammen. Alle Mienen bis auf die Herlacs, der bei der Schlacht um Travincal nicht zugegen gewesen war, hatten sich verdüstert.
„Ein Kind“, ließ sich Menrad vernehmen. Er schüttelte verächtlich den Kopf. „Schon wieder ein Kind.“ Der Paladin, der inzwischen nahezu so frei vor der Gruppe sprach wie alle Anderen, setzte hinzu: „Das scheint mir ein Merkmal dieser Zeit zu sein – Entscheidungen, die in anderen Jahren kein Stadtrat und kein Oberhaupt zugelassen hätte, aus Angst, sich der Lächerlichkeit preiszugeben.“
„Wahr“, warf Herlac brummend ein. „Dieses Kind kann doch nur ein Symbol sein.“
„So ist es.“ Ifrah schenkte Hadan ein schwaches Lächeln zum Zeichen, dass sie seine Entschuldigung annahm. „Im Hintergrund wirken die Berater Jerhyns. Man kann nur beten, dass sie sein Angedenken durch kluge Ratschlüsse ehren.“
Kurzes Schweigen trat ein, Schweigen, in dem sie alle womöglich an ganz unterschiedliche Dinge dachten – ein jeder an die Region, aus der er stammte und die ihm am Herzen lag. Sanktuario war seit Jahrhunderten ein Gebilde lose oder überhaupt nicht zusammenhängender Herrschaftsgebiete. Nun drohte es unter der gnadenlosen Einwirkung des Krieges vollends zu zerfallen.
„Aber“, Ifrahs Brust hob sich mit einem lautlosen Aufseufzen, „darum sind wir nicht hier zusammengekommen.“ Erneut begegnete ihr Blick Hadan, doch diesmal erkannte er etwas darin, das die erprobte Vertrautheit der Gruppe bislang leidlich verwischt hatte. Scheu, beinahe Furcht.
„Nein“, sagte er. „Darum sind wir nicht zusammengekommen.“
Eine Stimme klang aus seinem Inneren auf, und er wusste nicht, ob es seine eigene oder, mitten im hellen Morgen, mitten unter Hunderten von Menschen, die hohle, entkörperte eines Gottes war. Bereust du, mich gerufen zu haben? Wünschst du, du hättest es nicht getan, Nekromant?
Er hatte keinen Mantel, um die Regung darunter zu verstecken, und so ballte er die Fäuste nicht. Die Hauswand drückte sich deutlich in seinen Rücken. Ich habe keine Ahnung.
Pakhras Gang hatte Dutzende von Verbündeten – Menschen und Säbelkatzen gleichermaßen – mit in den Tod gerissen. Die Erinnerung wog umso schwerer, als sie nicht vollends die seine war, nicht vollends eine Tat, an der er sich aufreiben, die er beklagen konnte. Er allein, ganz gewiss, hätte Schuld gefühlt und nichts anderes, Schlächter unter Seinesgleichen oder nicht. Doch die Empfindungen des Vortags waren unrein, verschmutzt. Da half es auch nicht viel, die Begriffe für sie hartnäckig auszusperren.
Befriedigung. Lust an der Zerstörung. Und, ungleich schlimmer, Gleichgültigkeit.
Wie aus einem Wachtraum gerissen, sah Hadan auf. Vier Gesichter waren ihm zugekehrt. Sie hatten ihn mit keinem Wort gedrängt, aber sie warteten.
Er begann auf gut Glück dort, wo sich in allem kaum zu Erklärenden Tatsachen versteckten. Die Fragen würden die Unterredung ohnehin bald von selbst lenken.
„Pakhra“, sagte er, „ist in die Ebene der Götter zurückgekehrt.“ Allein der Name schon verdichtete das Schweigen. Er lockte aus den Mienen Derer, die ihr Glaube am weitesten von der Welt des Ostens entfernte, stumme, neu aufbrechende Fassungslosigkeit hervor – Fassungslosigkeit, die sich nicht darum schert, mit der Nase voran in eine größere Wahrheit gestoßen worden zu sein.
„Pakhra“, wiederholte der Nekromant, „ist fort. Wir haben gesehen, dass er das Dämonenheer vernichtet hat, und hernach hat er Sanktuario wieder verlassen.“
Jemand ganz anderes schien aus ihm zu sprechen, ein fast unbeteiligter Beobachter, ein mit Pergament und Schreibrohr bewaffneter Händler, der Warenbestände festhält.
Doch Sanktuario war tatsächlich eine Ware geworden – oder vielmehr, war es auf anderen Ebenen spätestens seit dem Erscheinen der Erzübel bereits gewesen: Ein Zankapfel, ein Stück Land, um dessen Besitz Mächtigere streiten, unbekümmert um die Pächter, deren Belange nicht interessieren.
Herlac bewegte sich. Er schaute Hadan geradeheraus an, und den Nekromanten überraschte es kaum, dass er der Erste war, der den Mund öffnete. „Das ist schwer zu begreifen“, brummte der Hüne. „Hätten meine Augen es nicht selbst gesehen, würde ich denken, du sprichst im Wahn, Nekromant, oder wie ein Mann, der die Unwissenheit Anderer verwendet, um Legenden zu erschaffen.“ Seine Stirn furchte sich im Nachdenken. „Legenden, die unterstützen sollen, dass die Menschen neue Mächtige eher dulden.“
„Ich weiß“, gab Hadan zurück. „Aber es ist die Wahrheit.“ Er schaute zu Eya und Ifrah hinüber.
Eya erwiderte den Blick stumm, und er mühte sich, die Angst darin nicht zu beachten. Ifrah jedoch kam seiner wortlosen Bitte um Unterstützung nach, sie, einer der drei noch lebenden Menschen, die auf dem Gipfel des Arreat gewesen waren.
Ihre braune Haut war blass. „Der Fall des Weltensteins“, sagte sie leise, und ihre Augen huschten einmal über den Kreis hin. „Er ist... Wir haben dieses Zeugnis damals nur den Obersten Harrogaths anvertraut und dann im Schweigen verschlossen.“ Es klang fast wie eine Rechtfertigung, auch wenn Menrad und Herlac, die hierin Außenstehenden, keinen Vorwurf zeigten und mit ernsten, aufmerksamen Gesichtern zuhörten. „Es gab nicht viel zu sagen“, fuhr sie fort. „Alles war unsicher. Aber der Engel...“ Sie endete abrupt.
Menrads Gesicht sah grau aus. Es war zu erraten, dass er an die Begegnung – für ihn die erste – mit einem der Himmelswesen zurückdachte. Schuld, die seine Fassung nicht ganz verbergen konnte, ließ den Paladin älter wirken. Aber Hadan, der ihn musterte, entdeckte auch etwas wie Zorn in den grauen Augen. Und Trotz.
„Die Offenbarung“, sagte der Nekromant. Die folgenden Dinge musste er seinen Gefährten nicht erläutern, sie dienten nur einer Einleitung. „Es war nicht Tyrael, der uns dort begegnete.“ Es war ein Anderer seiner Art, und niemand weiß, welche Ratschlüsse die Wesen ihrer Sphäre jetzt lenken, geschweige denn, ob alle von ihnen sie begrüßen und was wir fortan von ihnen zu erwarten haben. „Tyrael verkündete uns, die Vernichtung des Weltensteins werde unabsehbare Folgen haben. Ob gute oder schlechte, sei nicht bekannt.“ Er widerstand der Versuchung, eine alles umfassende Geste zu der Zerstörung und dem Elend ringsum zu machen. „Nun, wir stehen mitten in diesen Folgen. Die Grenzen sind gefallen. Ein Zeitenwandel.“
Auf den Gesichtern der Gruppe spiegelte sich die Bezeugung der verschiedenen Auswirkungen dieses Wandels wider, so beredt, als habe Jeder den Mund geöffnet und wahllos eine davon in die Runde geworfen.
Die Unrast der Menschen, gewachsen über ein Jahr hinweg. Die Abkehr von losen Bündnissen und die Hinwendung zu Verblendung, Wahn und Krieg. Fadraîs und sein Banner, mit neuem, eiligem Hochmut und vielen Waffen in angrenzende Gebiete getragen, höchstwahrscheinlich auf direkte Anweisung der Engel hin. Kurast, der Kindgott, das Amulett, sprechendes Zeichen einer versuchten Verbrüderung mit den Dämonen. Das Tor, der Spalt in der Wüste.
Wenn es noch irgendeinen Beweis brauchte, um selbst den ganz Blinden die Augen zu öffnen, so lieferte ihn dieses Tor.
Ifrahs Stimme ertönte erneut, ungewohnt zurückhaltend jetzt. Sie schaute Hadan an, und ihre Brauen waren leicht zusammengezogen. Er wusste, was sie sagen würde, noch bevor sie es tat. „Kurast. Bevor du... gegangen bist, sagtest du, ich solle an Kurast denken.“ Sie lächelte schwach. „Ich habe eine gute Weile gebraucht, um dahinter zu kommen.“
„Alte Narren reden gern in Rätseln“, gab er ihr Lächeln zurück.
Unerwartet meldete sich Eya zu Wort. Sie sprach leise, und es war nur ein einziger Satz. „Ihr seid mächtiger geworden.“
Hadan streifte ihre herabhängende Rechte kurz mit der Hand. Eyas Finger zuckten. Sie ließ die Berührung zu, verschränkte dann aber die Arme vor dem Leib, als fröre sie. Es war nur ihrer Zuwendung der vergangenen Stunden zu verdanken, dass das Herz des Nekromanten die Regung nicht missverstand und ruhig weiterschlagen durfte.
Aller Augen wechselten nun zwischen ihm und Ifrah hin und her.
„Zweifelsohne“, hörte er sich sagen. Vor dem Hintergrund der gestrigen Ereignisse klang es beinahe drollig.
Ifrah nickte nach einem Zögern.
„Auch die Männer haben es bemerkt“, warf Herlac ein, der sie Beide mit einem zwischen Misstrauen und unfreiwilliger Hochachtung schwankenden Ausdruck beobachtete. „Von dir, Magierin, sagt man bereits, du seiest das Leuchtfeuer eines Aufstiegs deiner Klasse in den Westlanden.“
„Das bin ich nicht“, entgegnete Ifrah fast furchtsam. „Und das will ich auch nicht sein.“ Ihre umherirrenden Augen blieben an Menrad haften, der sie reglos und unverwandt musterte, und kein Außenstehender konnte mit Sicherheit sagen, ob es die Missbilligung seines Ordens gegenüber Magiekundigen war, die er ausstrahlte, oder eine Nachdenklichkeit, die mit den vergangenen Vorfällen, namentlich den Schlachten im Osten, zu tun hatte.
Der Blickkontakt war auch den Anderen aufgefallen. Der Paladin schien dies zu spüren, denn er regte sich plötzlich. Seine Worte kamen langsam, widerstrebend. „Ich erinnere mich an Kurast“, sagte er. „Ich habe lange nicht mehr an den Kampf um Travincal gedacht, oder vielmehr, ich habe es vermieden, daran zu denken.“ Seine blitzenden, grauen Augen verrieten erhebliche innere Anspannung.
Schau an, dachte Hadan mit einem Anflug alter, ein wenig spöttischer Belustigung. Wo ist der stolze Paladin geblieben, der sich anfangs zu gut dafür war, auch nur Wasser von uns anzunehmen?
„Wenn wir aber von gefallenen Grenzen sprechen“, fuhr Menrad fort, „und gewachsener Macht und Göttern, die...“ Er stockte, straffte sich dann würdevoll. „Es ist einem Bruder des Lichtordens untersagt, zu lügen. Daher also, auch wenn mir der Gedanke widerstrebt, sollte ich zugeben, vor einem der Kuraster Tempel etwas gespürt zu haben. Es war fast... eine Art Vision.“
„Im Verlauf der Schlacht?“, versicherte sich Ifrah, und Menrad nickte. Er sagte nicht, was er wahrgenommen hatte, doch die Magierin nahm ihm die Last, das Fremde in Worte fassen zu müssen, ohnedies ab.
Sie blickte Hadan an. Er wartete, und als sie schließlich sprach, war er verwundert, angesichts dieses Eingeständnisses keine Befriedigung zu verspüren – verwundert, aber ebenso erleichtert.
„Die Götter“, sagte Ifrah. „Beim Fall der Tempel... Ich habe ihren Zorn gefühlt.“
Die Worte blieben stehen, nachklingend. Darin, dass niemand aus ihrer Runde mehr einen Zweifel äußerte oder auch nur ein Stirnrunzeln zeigte, offenbarte sich das endgültige Begreifen und auch die endgültige Einwilligung.
Hadan, der es bedauerte, wie stark Ifrah in den Mittelpunkt der Erwägungen über den Machtzuwachs der Magie gerückt war, atmete tief ein. Nicht sie sollte sich rechtfertigen und erklären müssen.
Die Erwähnung der Götter erleichterte es ihm gewissermaßen, die Rede wieder auf das zu lenken, was doch eigentlich nicht erleichtert werden konnte.
„Die Götter, ja“, sagte er.
Augenblicklich verließ die Nachdenklichkeit alle vier Gesichter vor ihm und machte jenem gehetzten Ausdruck Platz, den er fürchtete – selbst bei Herlac. Wie konnte er ihnen seine Entscheidung erklären? Wie konnte er hoffen, dass die unterschiedslose Grausamkeit und das Groteske der beschworenen Erscheinung sich für sie nicht bis ans Ende aller Tage mit ihm, Hadan, verband, der dem Gott über die letzte Schwelle geholfen hatte?
„Der Fall der Grenzen“, fuhr er fort, „das wissen wir jetzt, schlägt sich in vielen Dingen nieder. Auch in einer naheren Gegenwart der Kräfte, die der Osten seine Götter nennt. Nur aufgrund -”
Menrad unterbrach ihn. „Kräfte, sagt Ihr.“ An dem Paladin die Schatten des nachhallenden Entsetzens zu sehen, war beinahe noch unangenehmer als an den Anderen. „Das war keine Kraft, die da in der Wüste umhergelaufen ist.“ Menrads Stimme schwankte, wenn auch nur um eine Winzigkeit. „Das war ein Monster.“
Das Schweigen fühlte sich plötzlich eisern an. Der Paladin machte noch eine Bewegung, als wolle er, der Tatsache eingedenk, dass er vor einem Jünger dieses Gottes stand, rasch ein abmilderndes Wort nachschieben, aber er unterließ es und starrte Hadan nur an.
„Ihr habt Recht, Menrad.“ Der Nekromant bedachte ihn mit einem schwachen Lächeln, dann auch die Anderen. Niemand wich seinen Augen aus – diesen Augen, die herzugeben er sich geweigert hatte. Ich will, dass du dich zeitlebens hieran zurückerinnern kannst, flüsterte der Nâkyshat von Linqqva aus der Vergangenheit herüber. Auch Eya wich ihnen nicht aus. „Pakhra steht nicht für Güte oder Weisheit. Er ist in der Tat ein Monster – nicht einmal der höchste Nekromant in Pundar würde dies bestreiten, auch wenn er andere Worte wählen müsste, um seinen Kopf auf den Schultern zu behalten. Wie immer man ihn nennt, Pakhra bleibt eine furchtbare Kreatur. Darin ähnelt er unseren Gegnern, und darum habe ich ihn gerufen.“
Stille folgte seinen Worten.
Jedem der Anwesenden war ersichtlich, dass es einer gewaltigen Macht bedurft hatte, um Lut Gholein vor dem Untergang zu bewahren. So zeigten ihre Gesichter auch keine scharfe Anklage, nur die Betäubung der Einsicht.
Herlac warf die Starre am raschesten ab. „Es bleibt schwer zu begreifen“, murmelte der Hüne. „Unsere Ahnen -”
„Die Ahnen deines Volkes“, unterbrach Hadan ihn mit einer entschuldigenden Geste, „sind kaum weniger Fleisch und Bein, als Pakhra es auf dieser Welt vorübergehend war. Wir haben sie gesehen. Wir haben sie auf dem Gipfel der Welt bekämpft.“
„Gewiss.“ Wiederum stahl sich Hochachtung in Herlacs Blick. „Doch die Ahnen verharren, so Bul-Kathos es will, auf ihren Plätzen. Was aber ist mit deinen Göttern, Nekromant? Werden da nicht andere deiner Art kommen und versuchen, sie herbeizurufen?“
Herlac hatte somit angesprochen, was viele Menschen in Lut Gholein, die Pakhras Gang bezeugt hatten und Eins und Eins zusammenzählen konnten, sich fragen mochten.
Hadan nahm sich Zeit für die Antwort. Die vergangenen Wochen ließen sich nicht länger meiden. Hier sind wir also. „Kaum“, entgegnete er dann. „Die Vorbereitungen waren... schwierig. Schwierig, zeitraubend und unbeständig. Zudem, wenn ich so sagen darf, wären schwerlich viele Nekromanten in der Lage zu solch einer Beschwörung. Ich erwähne dies nicht aus reiner Eitelkeit“ – er spürte seine Lippen zucken, und selbst Ifrahs und Menrads Gesichter hellten sich flüchtig erheitert auf – „sondern weil ich hoffe, dass diese Gabe in den Wenigen verschlossen bleibt, die sie vielleicht besitzen.“
„Ich weiß nicht, ob ich denken soll: Zum Glück“, warf die Magierin vorsichtig ein. Ihre Augen suchten seine. Das Schmunzeln war wie weggewischt. „Könntest du es ein zweites Mal tun?“
Rede und Antwort. Keine Lügen. „Ich weiß es nicht“, antwortete Hadan. Ungerufen war die unsaubere, weltenumspannende Stimme da, das Organ eines leibhaftigen, in seiner Ruhe gestörten Gottes. „Ich weiß es nicht“, wiederholte er. „Und ebenso wenig, ob er ein zweites Mal einwilligen würde.“ Es war nicht leicht, seinen Vertrauten von dem Zwiegespräch zu berichten. Es war, als falle er ihnen dadurch mit Legenden zur Last, die wenig mit dem Hoffen und Leben der einzig wichtigen Ebene des Daseins gemein hatten. „Unsere Welt liegt den Göttern ohnehin zu Füßen, oder zumindest“ – er lächelte, vielleicht gegen jede Vernunft – „erscheint es ihnen so. Von der hohen Warte ihrer Göttlichkeit aus betrachtet bedeuten die Geschicke Sanktuarios kaum mehr als Gezeiten eines Meers oder Kreisläufe der Ewigkeit.“
Schweigen antwortete.
„Pakhra ist meinem Ruf gefolgt“, fuhr Hadan fort. Hartnäckig sperrte er die Bilder, Laute, Gerüche blutigen Sands und rauchender Glieder aus. „Er kam, weil er den Fall der ersten Bastion, Lut Gholein, nicht wünschte.“ Es hatte keinen Sinn, ihnen den Wortwechsel über Wert und Wohl der Menschheit auseinander zu setzen. „Er kam vielleicht auch aus Neugier. Und ganz sicher“, er nickte, „wegen eines Besitzanspruchs. Sanktuario ist sein Lehengebiet. Für ein paar Augenblicke, um einer Warnung an unsere Gegner willen, war er bereit, die Grenzen zu verteidigen.“
Herlac warf einen Blick auf die Mauer der Stadt, die von hier aus nur als schwache Linie über dem Dächergewirr zu sehen war. „Werden sie zurückkommen?“, knurrte er. Es war ihm anzumerken, wie viel an dieser Frage hing. Die Entscheidung, mit seinen verbliebenen Kriegern in Lut Gholein auszuharren, zuvorderst.
„Das kann ich nicht sagen“, schüttelte Hadan langsam den Kopf. Mattigkeit kroch in seinen Gliedern umher wie eine launische Krankheit. Die Gefährten beobachteten ihn, vielleicht erwartend, seine Verschmelzung mit Pakhra habe ihm Wissen über die Absichten der Dämonen eingegeben. Indes musste er sie hierin enttäuschen.
Die Herbeirufung des Gottes, das Zurückschlagen des zweiten Angriffs, waren eine einzige, machtvolle Geste gewesen, mit Glück eine Warnung, die ein wenig vorhielt – nicht mehr.
„Auch, was das Dämonentor anbetrifft“, nahm er die nächste wahrscheinliche Frage vorweg, „gibt es keinen sicheren Anlass zur Hoffnung.“
„Es ist also noch da“, sagte Ifrah mit einem leichten Zittern, das an ihren Schultern ruckte und sich bis in ihre samtige Stimme fortpflanzte. „Pakhra konnte es nicht schließen.“
„Nein.“ Die Mauer hinter ihm stützte ihn noch, aber der Nekromant spürte, dass die Nachwirkungen seiner Tat zurückkehrten, nun da sie ihn ein wenig hier hatten herumstehen und nach Worten suchen lassen. Und vielleicht war es auch die Befürchtung, die an ihm nagte: Vergeblicher Aufwand.
Verflucht. Er straffte sich mit Mühe, kalten Schweiß auf der Haut. Eya langte besorgt nach seinem Arm. Es darf nicht umsonst gewesen sein.
Er ließ zu, dass sich alle Zweifel und alle Zerrüttung auf seinem Gesicht zeigte. Ich bin es müde, mich zu verstellen.
„Das wäre auch ein wenig zuviel des Guten gewesen“, meldete sich Menrad überraschend zu Wort. Ihm schien nicht aufzufallen, dass sich der Begriff ‚das Gute’ mit dem Vorgefallenen schlecht vertrug. Der Ausdruck seiner grauen Augen blieb ernst, forschend, aber seine Stimme war milder geworden. „So das Licht will, ist dies erst der Anfang von allem, und wir dürfen noch hoffen.“
„Ja.“ Hadan sah ihn an. „Der Anfang. Nicht das Ende.“
„Eines noch.“ Der Paladin musterte ihn unter dem Schweigen der Anderen, und es geschah auf eine bislang kaum gekannte Art: Wie einen Gleichrangigen. „Was musstet Ihr geben, um Euren Gott auf unsere Welt zu befehlen?“ Die Stille verdichtete sich noch. Eya hatte aufgehört, zu atmen. „Es hat sich doch gewiss um einen Pakt gehandelt?“
„In der Tat.“ Hadan neigte leicht den Kopf und blickte in die Runde. „Ich sehe Angst in euren Augen“, sprach er sie alle an – die Gefährten, die Seelen, derentwegen er, bewusst oder unbewusst, mit einer an Verzweiflung grenzenden Dringlichkeit in dieses Leben hatte zurückkehren wollen. Wollen und können, und das machte sie, wie sie dastanden, die wunden Hände auf den Gürteln oder auf den Griffen ihrer Waffen, zu nicht weniger als seinen Rettern. „Aber trotz der Dinge, die ich euch über Pakhra gesagt habe oder die ihr euch selber auszumalen imstande seid, war es kein Handel mit Leben oder Blut oder sonst einem Ding, das einem Verrat an unserer Gemeinschaft gleichgekommen wäre.“
„Und was sollst du tun?“, fragte Ifrah heiser, fast flüsternd.
„Ich werde Lut Gholein gemeinsam mit euch verlassen“, gab er zurück. „Sobald wir uns dazu entschließen können oder es sich aus anderen Gründen so fügt. Aber ich werde zurückkommen.“ Er schaute Eya nicht an. „Wenigstens ein Mal noch. Ich werde es müssen, ob es mir behagt oder nicht, denn Pakhra ist nicht gewillt, mich freizugeben. Ich werde zurückkommen und Arbeiter mitbringen, des Weiteren Magier, die mir behilflich sein wollen. Pakhra verlangt einen Tempel.“
Für eine kurze Weile sagte niemand etwas.
Dann fragte Menrad mit gerunzelter Stirn: „Ein Tempel? Ist das alles?“
„Ja.“ Hadan entschloss sich dazu, das Schweigen zu nutzen – entgegen seines Wunsches, alles, was mit Pakhra verbunden war, endlich ruhen zu lassen. „Aber denkt nicht, dass es einfach sein wird, Paladin. Lut Gholein wird sich kaum blind gegenüber einem Hexer stellen, der irgendwo in der Wüste damit anfängt, Steine abbauen zu lassen.“ Er stieß einen unhörbaren Seufzer aus. „Darüber hinaus bedeutet dieses Unterfangen einen Brückenschlag zwischen der Wüste und dem Osten, und das in einer kriegerischen Zeit. Friedlicher wird es dann schwerlich zugehen.“
Der Nekromant zögerte, bevor er fortfuhr. „Die Gestaltwerdung eines Gottes wird durch einen Tempelbau noch eher in den Köpfen der Menschen haften bleiben. Und das“, er bedachte Menrad mit einem bedeutungsvollen Blick, „ganz gewiss nicht zum Guten.“
Ifrah sah nachdenklich drein. Dankbar dafür, dass sie als Kind der Wüste in diesem Augenblick nicht empört gegen ein solches Vorhaben aufbegehrte, ahnte Hadan, was sie beschäftigte.
Eine neue Zeit.
Erfahren die Menschen einmal wirklich von den Kräften einer Frau, wie du es bist, mögen sich viele Mächtige fragen, ob sich eine solche Begabung nicht zweckdienlich verwenden lässt. Er hatte sie teleportieren sehen – über ungeheure Entfernungen hinweg, und nicht nur, wie es in den alten Schriften der Magierschulen als Gesetz festgehalten war, allein. Und werden die bedrängten Fürsten und Städte erst neu auf Männer mit meinen Fähigkeiten aufmerksam, wird sich die Zahl der Nekromanten in den Kriegen, auch in den kleinsten, vervielfachen – überall dort, wo die Not oder Gier oder Willkür der Herrschenden sich einen Gott herbeisehnt, der das Blatt zu ihren Gunsten wendet.
Er dachte an Maysan.
Das Mädchen fürchtete die Magie, so sehr, dass es bereits jetzt eine Mauer um sich errichtet hatte. Doch sie war bei weitem nicht stark oder hoch genug, um zu verbergen, dass die Kleine Begabung absonderte wie andere Kinder Wärme oder Tränen.
Eine Zeit der Magie. Aber Magie sollte eine freiwillige Berufung bleiben, zumindest in größerem Maße, als meine eigene Kindheit mich gelehrt hat.
Pakhras Gang über das stöhnende Land mochte eines der Wunder bleiben, von dem die Zeugen eines Zeitalters raunend sprachen, das sie durch Legenden verzerrten und verfälschten, das sie vergessen durften, wenn es abends am Herdfeuer Lohnenderes zu erzählen gab.
Doch er mochte sich auch in etwas ganz anderes verwandeln: In eine immerwährende Ankündigung, in ein Mahnmal für den Anbruch einer Ära der Versklavung und der Fehlentscheidungen.
Lange vermochte keiner von ihnen stillzusitzen an diesem Tag. Das Licht über der Stadt und der Wüste wandelte sich allmählich, noch verdreckt vom Dunst der großen Schlacht, aber es bewirkte nur, dass die Menschen immer misstrauischer gegen das Schweigen der Ebene wurden.
Herlac war zu seinen Kriegern und Menrad zu seinen Brüdern oder auf die Mauer zurückgekehrt, beide zweifellos, um die Wachsamkeit, zu der sie sich noch aufraffen konnten, nicht einzubüßen. Marej, wenn sie wie die Anderen nicht zurückhaltend bei der Pflege Verwundeter half, hütete das Lagerfeuer der Gruppe und wechselte ab und zu ein paar Worte mit Eya, die ihrerseits Hadan nicht von der Seite wich. Der Nekromant wehrte sich mit altbekanntem Grimm gegen seine Schwäche, war aber gezwungen, lange Stunden auf einem Fleck zu verharren, wo er brütend saß oder die Gespräche vorbeigehender Lut Gholeiner mitverfolgte. Sie selbst, Ifrah, war froh, dass Maysan trotz der bedrückenden Umgebung viel schlief, erschöpft, aber mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck. So konnte sie bei den Anderen bleiben.
Es verlangte die Magierin nicht mehr danach, Streifzüge durch die Stadt zu unternehmen. Gänge zu den Mauern brachten keine Neuigkeiten. Das Land schien geisterhaft ruhig, verlassen. Gelegentlich tauchten Kundschafter – Stadtsoldaten, Nomaden, aber auch Säbelkatzen – aus der Weite auf, doch stets mit denselben Nachrichten.
Bis weit in die Ebene jenseits der Hügelkette hinaus regte sich nichts. Was sich in der Nähe der Steinernen Flammen tat, wo der Einlass zum Reich von Harebnashs Volk lag, blieb ein Geheimnis, denn bis dorthin waren es zwei Tagesreisen, selbst für die flinken und leichtfüßigen Halbtiere.
Eines immerhin hat der jüngste Schrecken bewirkt, dachte Ifrah, die fremdartigen Gesichter vor dem geistigen Auge. Man duldete die Säbelkatzen jetzt.
Es würde kaum mehr daraus entstehen als eine erzwungene Nachbarschaft, und die erste ungünstige Wendung mochte beide Seiten wieder vergessen lassen, dass Beistand und nicht uralter Hass die vergangenen Tage geprägt hatte. Doch wenigstens richteten sich nicht mehr Dutzende von Speeren und Pfeilspitzen auf die schlanken Sandläufer, wenn sie vor den Toren erschienen.
Die Säbelkatzen fürchteten die Stadt, die sonnenüberglühte Dichte der Häuser, die enggedrängten Menschenmassen. Sie vermieden es, Lut Gholein zu betreten, so es ihnen möglich war. Und sie sprachen ausschließlich zu den Gefährten, und dies war, wenn auch eine Auszeichnung, ein schwieriger Umstand. Denn es zog die Aufmerksamkeit der Stadtbevölkerung auf sich.
Nicht einmal die Not konnte dauerhaft von ihnen ablenken, von der Gruppe, die maßgeblich in die den Schlachten vorangegangenen Ereignisse verwickelt gewesen war, die man mit Jerhyn hatte sprechen sehen, die einen Mann unter sich hatte, der einer dunklen Magierkaste angehörte und der unter den Augen des Heers vor Schlachtbeginn ganz allein in die Wüste hinausgegangen war.
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie Hadan mit der Erscheinung Pakhras zusammenbringen. Ifrah warf dem Nekromanten einen verstohlenen Blick zu. Sie sah deutlich das Stechen seiner weißlichen Augen, das Lauern, mit dem er nahebei stehende Menschen beobachtete, so scheinbar entspannt seine Rechte auch auf Eyas Hüfte lag. Und was wird dann geschehen?
Sie zweifelte nicht daran, dass die Barbaren unter Herlacs Führung für die Gefährten einstehen würden, auch wenn sie düster von dem Gott sprachen, der eher einem Dämon geglichen hatte. Die drei Dutzend Paladine, die von ihrer Schar noch übrig waren, blieben unter sich. Es war schwer zu erraten, was in ihren Köpfen vorging, und Menrad, ohnedies in einer ungefestigten Vermittlerrolle, hatte nur ein paar Male und sehr vorsichtig versucht, der Gesamtgesinnung seiner Brüder auf den Grund zu gehen.
Es ist besser, wenn wir Lut Gholein bald verlassen. Auch ich, zusammen mit Maysan. Sobald sich abzeichnet, dass in naher Zukunft kein Angriff zu erwarten ist, werden wir weiterziehen. Wohin, würden sie zuletzt entscheiden.
Doch noch warten wir.
Ifrah schaute erneut zu ihren Gefährten. Sie hatten die Unterredung nach Hadans Offenbarung des Handels mit Pakhra nicht weitergeführt. Sie erleichterten dem Nekromanten die Verwindung seiner Tat nur durch einfache Handreichungen. So war es in Harrogath gewesen, und damit hielten sie es nun wieder.
Mit den Folgen unserer Entscheidungen sind wir zuletzt oft allein.
Eine kleine Hand fasste schlaftrunken nach Ifrahs Haar, das, da sie saß, bis auf den Boden hinabfloss.
Sie schaute nach unten, und Wärme breitete sich in ihr aus. Maysan drehte sich murmelnd auf die andere Seite, ohne wirklich aufzuwachen.
Ifrah strich ihr mit einem Finger behutsam über die Wange. Müde von der Reise und vom Beschauen der kriegswunden Stadt, in der sie gelandet war, wich Maysan ihr nicht mehr aus, wenn sie beisammen waren. Noch blieb abzuwarten, ob dies nur eine Begleiterscheinung der ersten Wiedersehensfreude war, doch Ifrah ertappte sich bei dem Gedanken: Solltest du mir tatsächlich ein wenig verziehen haben, kleiner Stern?
Ist es, weil nicht einmal einem Kind der Krieg und die Notwendigkeiten verborgen bleiben und ich darauf hoffen darf, dass du meine Entscheidung verstehst?
Ist es wegen des Gottes?
Denn Maysan hatte, ebenso wie der Kaufmann und seine Kameltreiber, die Erscheinung vor Lut Gholein gesehen. Allein schon der Blick, mit dem sie Hadan gelegentlich folgte, bewies das – und auch, dass das Mädchen, vielleicht aufgrund seines Aufenthalts in Pundar, erraten hatte, wer für Pakhras Gang verantwortlich war. Doch sie schien sich nicht vor Hadan zu ängstigen. Ob die Wochen im Osten eine Art Band zwischen ihnen hatten entstehen lassen oder ob es auch abseits davon etwas gab, das der große, gespenstische Mann und das schweigsame kleine Mädchen unausgesprochen miteinander teilten, erriet Ifrah nicht.
Es war auch nicht notwendig.
„Du sollst deine Geheimnisse ruhig haben“, flüsterte sie und fuhr ihrer Tochter durch das lange, braune Haar.