@UndeadPoet: Thx, ich korrigiere das sofort
Ganz habe ich es nicht mehr geschafft, aber hier kommt es als verspätetes Päckchen unterm Baum.
Euch allen noch eine schöne (nach-)Weihnachtszeit und einen guten Rutsch ins neue Jahr!
Gruß, Reeba
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LVI. Der wandelnde Gott
’Die großen Krieger werden denken, du habest dich aus Angst aus dem Kampfe zurückgezogen. Jene, die dich hochschätzten, werden ihren Respekt vor dir verlieren.
Deine Feinde werden viele unsagbare Worte über dich sprechen und über deine Fähigkeiten spotten. Was könnte schmerzlicher für dich sein als dies?
Du wirst den Himmel erreichen, wirst du in der Erfüllung deiner Pflicht getötet, oder du wirst, so du siegreich bist, des Königreichs auf Erden teilhaftig werden. Darum also erhebe dich in Entschlossenheit, zu kämpfen, o Arjuna.’
(The Bhagavad Gita)
Jenseits der Stadt, aber nicht weitab vom Schlachtfeld oder vom Weg der Dämonen zur Ebene, stieg eine Säule aus Rauch empor.
Sie besaß zunächst keine klare Farbe, nur eine Dunkelheit, die rasch dichter wurde. Sie stieg zu grade auf, unbeeinflusst von Bewegungen und Gesetzen der Luft. Über die Felsen, die ihre Entstehung zuerst bezeugten, hinausgekommen, erreichte sie bald die Höhe eines Hauses, dann eines Turms, doch sie hörte nicht auf zu wachsen.
Dünne Schwaden wanden sich um die Säulenmitte wie tastende Arme, zahlreicher, je gewaltiger das Gebilde wurde. Stumm schaute die menschenverlassene Wüste zu. Ein Schatten fiel auf Sand und Felsen. Zunächst war es der Schatten der Säule, aber als das Gebilde aufhörte, einer Säule zu ähneln, sich wölbte und blähte, verlor auch er seine anfängliche Form.
Der Wind hatte lange geschwiegen. Nun kam er aus dem Nirgendwo auf. Sand wurde mitgerissen, als er sich zurückzog und erneut anhob. Der Vorgang wiederholte sich spielerisch, bald regelmäßiger und stärker, bis schließlich Steine mit über den Boden rollten.
Sie schlugen gegen eine verlassene Rüstung. Sand kroch an dem schwarzsilbernen Metall vorbei.
Der nächste Windstoß erfasste die Rüstung, und gemeinsam mit den Steinen wehte sie eine Weile über den unruhigen Sand. Erst ein Spalt zu Füßen eines großen Felsens hielt sie auf, und hier blieb sie, damit der hinterdrein geblasene Staub beginnen konnte, sie zuzudecken.
Von weit oben aus gesehen musste sie einem winzigen, starken Leuchtfeuer an der Spitze eines Keils gleichen, der sich in die schwarze Übermacht hineinfraß.
Neben ihm aber war sie nur eine kleine Frau. Trotz der entfesselten Lichthölle, die ihre menschliche Quelle einmal ganz umfasste, sich dann wieder zu einzelnen Blitzen bündelte und die Gegner zurückschleuderte, war sie nur eine kleine Frau. Zwischen Hieb und Ducken erhaschte Menrad einen Blick auf ihr Gesicht. Es war fast unkenntlich vor Asche, Schweiß und Staub, doch der Widerschein, der darauf fiel, wann immer Ifrah ihre Arme gen Himmel reckte, ließ es scharf hervortreten.
Der Paladin wusste, so deutlich sah man Dinge nur am Rand einer Bedrohung für das eigene Leben. Auch wusste er, dass Ifrah, die mit ihm den Kopf des Verteidigervorstoßes bildete, nur noch stand, weil sie sich verausgabte und keinen Atemzug lang innehielt.
Die Dämonen standen dicht an dicht. Zwischen ihnen hatte kein Körper mehr Platz. Endlose Reihen, die mit zorndumpfen Augen auf ihn und seine Mitstreiter starrten und sich nur dank der mitgekommenen Barbaren und Lichtkrieger noch nicht wieder ganz hinter ihnen geschlossen hatten.
Welcher Teufel hat uns bloß geritten?
In seinem Rücken tobte Metall gegen Metall, keuchten und schrieen die Männer, und es waren seltener und seltener Befehle, die da geschrieen wurden. Viele starben. Er brauchte sich nicht umzudrehen, selbst wenn er es hätte wagen dürfen. Die Verschiebungen des feindlichen Heers, seine zähe, brutale Bewegung, der Klang, das Gefühl in seiner eigenen Brust verrieten es ihm.
Lut Gholein musste schon gute tausend Schritte entfernt sein. Wie viele Verteidiger sich dem Vorstoß nicht angeschlossen hatten und noch vor den Mauern kämpften, entzog sich seiner Einschätzung. Es gab Menrad einen kalten Stich ins Herz. Hatten sie, wie eine Herde einem irrwitzigen Ruf hinterherlaufend, die Stadt aufgegeben?
Das Warum war nirgends zu finden.
Mit zusammengebissenen Zähnen wich der Paladin einer dämonischen Schneide aus. Sie zischte so nah an seinem Gesicht vorbei, dass er den Luftzug spürte und auch die plötzliche Feuchtigkeit, die ihm in schweren Tropfen auf Wange und Schläfe klatschte.
Blut eines Menschen.
Keine Zeit, es abzuwischen. Die aschefarbene Klinge kam zurück, scharf und so schwer, dass ihr Besitzer die Balance für den kreisenden Hieb mit einem ausgestreckten schwarzen Arm hielt, der wie alle schwarzen Arme in dieser Ebene in einer Klaue endete.
Menrad duckte sich unter der Klinge hinweg. Kaum war sie eine Handbreit entfernt, richtete er sich wieder auf, die Axt eines toten Barbaren in der Linken, den Kampfhammer rechts. Noch war der Boden nicht zu übersät mit Leichen für den sicheren Stand der eigenen Stiefel.
Der Paladin drehte sich – nicht schnell, aber mit aller Kraft seiner Erfahrung. Der Hammer traf die dunkle Bestie in der Deckungslücke des gegnerischen Schlags. Menrad spürte den Treffer anhand des ekelerregend vertraut gewordenen Widerstandes von hornig gepanzertem Fleisch. Zu hören war nichts mehr in diesem Moloch aus Lärm und Gewalt.
Er wandte fluchend das Gesicht ab, als das Abschiedsgeschenk des fallenden Dämons, eine Stichflamme aus bereits erstarrenden Kiefern, an ihm hinaufleckte. Hitze, verschmortes Haar, doch die Lichtaura, die ihn, er wusste nicht wie, immer noch begleitete, fing die größte Verheerungskraft des Feuers ab. Rauch, ein Ascheregen, dann war die Sicht wieder frei – auf die Brüder des eben Überwundenen, einander so schrecklich gleich.
Sie hatten nie über diese da nachgesonnen, woher sie wirklich kamen, welcher Geist hinter ihren Fratzen hauste, ob sie sich voneinander doch unterschieden durch Alter, Geschlecht oder Rang.
Es war ein Krieg zwischen sich zutiefst Fremden, zwischen Feinden vom ersten Atemzug an, ein Krieg ohne ein einziges vorausgegangenes Wort der Verhandlung, ja nicht einmal des Hasses. Der beiderseitige Hass benötigte keine Worte.
Und er, Menrad, hatte keine Zeit, zu denken, wie furchtbar dies war. Er musste zusehen, nicht einfach niedergewalzt und zu Asche verbrannt zu werden, so lange zu überleben, wie es ging.
Seine Herkunft, sein Werdegang, die Mission, sein Weg durch den Osten, all das gehörte zu einem Mann, den er irgendwo am letzten Wachfeuer zurückgelassen hatte, abgestreift wie eine zu eng gewordene Haut oder abgestellt wie den Schild, der zu Füßen der Stadtmauer verwaiste, ausgetauscht gegen eine zweite Waffe. Nur der Kämpfer war noch übrig. Der Paladin desgleichen?
Ich weiß es nicht. Ich gehe, ohne mich wieder mit mir selbst vertraut gemacht zu haben.
Ein Blitz erleuchtete die nähere Umgebung gleißend hell.
Jemand stolperte und fiel gegen Menrads Rücken, und ohne hinzuschauen, den nächsten Gegner bereits ins Auge fassend, streckte der Paladin die Axt nach hinten. Jemand packte zu und zog sich daran hinauf, jemand, der nur halb so viel wog wie die Männer, die sich ringsum erbittert auf den Beinen hielten. Eya. Sie war noch da.
Sie hechtete vor, eben als ein Dämon ihr seine Seite zukehrte, um einem Paladin, der ein paar Schritte entfernt focht, zuzusetzen. Ein spitzer, vogelartiger Schrei. Menrad sah aus dem Augenwinkel Klingen blitzen.
Verzweifelt musste sie sein – ohne Hadan, den Wahnsinn oder der Himmel wusste was in die offene Wüste hatte hinausgehen lassen. Mutig war sie auch, mutig jenseits von Vernunft.
Aber die Zeit der Vernunft hatte sie alle ohnedies bereits ausgestoßen. Sie fochten vor der Stadt wie vor der verschlossenen Tür all dessen, aus dem sie einst gekommen waren, darauf vertrauend, es werde sich niemals ändern und niemals enden.
Der attackierte Dämon heulte auf, als die Klingen ihm den hornigen Arm zerschnitten. Gewiss hatte er dieses Wesen kaum als Bedrohung wahrgenommen. Eya bewegte sich rücksichtslos, wild, bis ein Schlenkern des feindlichen Arms sie umriss. Sie fiel mit großem Glück nach hinten in eine Lücke der Verteidigerformation, nicht nach vorne, wo Kreaturen warteten, die sie einfach zertreten konnten.
Doch ihre Attacke hatte den Dämon kurzzeitig von seinem eigentlichen Opfer abgelenkt. Der fremde Paladin stieg über die Assassine hinweg, halb wie über ein Hindernis, halb, um vor sie zu treten und sie zu schützen. Er schlug die schwarze Bestie mit einer Ruhe nieder, die an diesem Punkt der Schlacht nur noch der steifen Würde entspringen konnte, für die Menrad seine Brüder angesichts ihrer aller Lage widerwillig bewunderte.
Mit neuerlicher Kraftanstrengung wandte er sich selbst dem nächsten Dämon zu.
Unweit ging eine Gestalt, die einmal ein Mensch gewesen war, schreiend in Flammen auf. Hiebe atemberaubender Gewalt schmetterten einen anderen Mann nieder. Säbelkatzen sprinteten durch das Chaos, fauchend, zerbrechlich, gelbes, verwischtes Fell.
Feuergeschosse zu Häuptern, hielt die Schar ihre Stellung inmitten eines Mahlstroms aus kupfergeströmtem Schwarz, und alle paar Augenblicke fiel einer der Ihren, um nicht wieder aufzustehen.
Die Ränder der Schar waren längst zerfetzt.
Menrad wagte nicht sich vorzustellen, wie viele der anfangs achthundert Verteidiger noch lebten.
Wir werden es nicht schaffen. Die Übermacht ist zu groß.
Himmel, es sind so viele. Warum hast du uns eine solche Zahl entgegengeschickt?
Der Tag war seit der ersten Stunde dem Untergang geweiht gewesen.
Dennoch, dennoch zog es ihn an, ihn und scheinbar auch die Anderen – dieses Ding, dieses Unaussprechliche jenseits der Hügel, auf die sie sich einen unsinnigen Pfad zubahnten. Männer gefährdend, die sie so dringend brauchten, die Stadt zurücklassend, der sie Treue geschworen hatten, schauten sie immer wieder dort hinüber – warum?
Als habe jemand oder etwas dort seine Verwirrung und die verzweifelte Frage gespürt, kam es wieder, eine neue, unsichtbare Welle. Lautlos rauschte sie durch die Ebene, nicht unähnlich jener, die das Verschwinden des Dämonenheers am vorigen Tag begleitet hatte.
Doch sie gehörte nicht zum Feind.
Für ein paar Atemzüge stockten sie alle. Die Wucht der Schlacht erlahmte.
Es reichte nicht hin, dass der Strom des Dreinschlagens und Tötens abriss, doch zahlreiche Köpfe drehten sich, als besitze die Masse zweier Lager nur noch wenige Gesichter, wenige Geister, von denen mehr als die Hälfte sich ablenken ließ, selbst aus einer Bedrängnis wie dieser.
Und worauf die Menschen nicht hatten hoffen dürfen, geschah.
Das Heer ihrer Gegner brach auf. Pfade, freie Plätze erschienen. Gewaltige Bewegungen gingen über die Ebene, von denen die Verteidiger nur sahen, was sich in ihrer unmittelbaren Umgebung abspielte. Doch sie spürten es mit der Erfahrung des Kriegers oder dem Instinkt der Säbelkatze.
Über Scharen versprengter Menschen hinweg hörte Menrad Herlac brüllen. Er verstand die Worte nicht. Aber was an Barbaren und Paladinen noch auf den Beinen stand, zweihundert Krieger vielleicht, floss zusammen, ballte sich, die Gesichter nach außen gegen die unruhigen Gegner, die Waffen erhoben.
Die Gefährten hasteten Seite an Seite vor. Ohne sich abzusprechen, ließen sie die Schar der Verteidiger hinter sich, wanden sich durch Zurückrennende, die Augen auf den schwarzen Feinden. Menrad erschlug zwei, die mit einem allein stehenden Paladin kämpften, und ein Knacken und Weißfeuer sagten ihm, dass Ifrah zaudernde Gegner attackierte, Eya im Gefolge.
„Was tun sie?“, schrie die Magierin, den Stab noch hoch in den Fäusten. Sie starrte auf die Dämonen.
Versengt von Blitzen waren sie immer noch furchtbare Gegner, doch jetzt, wider Erwarten, griffen sie die goldgepanzerte Frau nicht an.
Menrad schleuderte Blut von seinem Hammer, doch es geschah unwillkürlich. Er stand und schaute sich um. Ungeheure Verwunderung ergriff ihn.
„Sie fliehen“, flüsterte er. Dann schrie er es: „Sie fliehen!“
Gütiges Licht, ja.
Was geht hier vor?
Nicht alle zogen sich zurück, bei weitem nicht. Der Wall aus Schwarz jedoch war dahin.
Das vordem lückenlose Meer glich jetzt jeder anderen Schlacht mit dem Bild aus Gruppen und Zügen und Einzelnen, das es bot. Platz war wieder da, Platz zum Ausholen, Platz zum Laufen und Atmen.
Die Luft, die der Paladin sich in die Lungen riss, schmeckte nach Rauch und heißer Asche.
Die Sonne hatte sich hinter grauen Schleiern verborgen. Feuer standen im Dunst wie Irrlichter, brennende Leichen, schwelende Steine, doch die Sicht war besser als am vorigen Tag.
Menrad konnte den nahen Fuß der Hügel sehen, den Kamm ihrer Felsen und den Himmel darüber.
Hier waren die Hügel niedriger. Vereinzelt lieferten sich Säbelkatzen zwischen den Felsen erbitterte Gefechte mit Dämonen – Nachgerückte von Harebnashs Volk gegen Versprengte des riesigen Heers. Die Kämpfe hatten jedoch etwas sonderbar Wirres. Auch hier schienen die Dämonen plötzlich unschlüssig, ob sie zur Mitte der Ebene ziehen oder sich irgendwo jenseits von ihr sammeln sollten.
Weit und breit sah man keinen Puls mehr, der den Feind leitete. Innerhalb weniger Augenblicke war es wie eine zerstreuende Hand unter die Schlacht gefahren.
Ifrah tauchte an Menrads Seite auf, weitgeöffnete Bernsteinaugen, ein von Schweiß und Schmutz verschmiertes Gesicht mit unfreiwilliger Kriegsbemalung aus Blut und Asche. Eyas helle Haut war dunkelgrau. Nur unter den Augen schimmerte es fleckig – Spuren von Tränen?
Die Gefährten blinzelten den Hang hinauf, unter dem sie innegehalten hatten.
„Die Schlacht ist hinter uns“, keuchte Ifrah. „Ich weiß nicht, was...“ Sie brach ab.
Menrad verstand. Er sah es auch am Gesicht der Assassine, aus dem unter aller Asche das Blut floh.
Da war es wieder.
Es kroch wie Nebel über den Hügelkamm. Es kam zu ihnen in die Ebene, und Menrad, dem sich die Nackenhaare aufstellten, wollte zurückweichen, wollte sich umdrehen und laufen, fort von dieser unsichtbaren Quelle dort oben.
Aber er konnte sich nicht rühren, um nichts in der Welt.
Gelbe Gestalten auf den Hügeln, Säbelkatzen. Versuchten sie, wegzurennen?
Der kränkliche Schein der Sonne, so mutete es an, jagte Dämonen zwischen den Felsen hindurch. Richtungslos liefen sie auf ihren wuchtigen Gliedern hierhin und dorthin.
Menrad wusste plötzlich, dass er sich nicht geirrt hatte mit seiner Ahnung von einer dritten Macht. Sie steckte hinter der sonderbaren Verlockung, zu den Hügeln zu hasten. Sie war nicht von freundlicher Art. Niemand würde ihr entkommen.
Niemand.
Wir sind hier nicht sicher.
Er empfand es, aber sein Leib, ganz und gar ins Stehen und Starren ergeben, antwortete nicht. Mit Mühe wandte er den Kopf nach den Frauen.
Ihre Münder waren geöffnet, die Augen groß.
Ifrah sagte etwas. Kein Laut verließ ihre Lippen. Nach einer halben Ewigkeit hob sie stattdessen die Hand, um zu deuten.
Eyas Gesicht zeigte einen Ausdruck reinsten Entsetzens, unverfälschter Erschütterung. Es machte sie, ging es dem Paladin närrisch durch den Kopf, eigenartig schön.
Er drehte sich um.
Wenn in freiem Land Gehöfte brannten, heimgesucht von Banditen oder erzürnten Steuereintreibern, sah man Ähnliches: Eine dicke, dunkle Rauchsäule, die sich in den Himmel schraubte, Fanal für lichterloh entflammtes Holz, umrundet von kläffenden Hunden und händeringenden Bauern.
Aber es gab hier nichts, das so brennen konnte. Die Rauchsäule hatte keine Quelle, doch sie war da, und noch während Menrad schaute, hörte sie auf, einer Rauchsäule zu gleichen.
Nicht allein ihre Form wandelte sich.
Zu Seiten des Gebildes begann die Luft zu tanzen, zu wabern wie unter immenser Hitze. Der Rauch zerfaserte, trat zurück hinter einen Umriss, zuerst aus durchsichtigem Stoff, vielleicht Gallert, vielleicht die Essenz der Visionen von Männern, die heiliger oder verrückter waren als er, Menrad, der nur stand und starrte. Nichts weiter tat er, hilflos, auch gegen die Empfindungen, die ihm eingegeben wurden, von außen, ohne sein Zutun.
Nackte Angst. Ergebenheit. Ungeistige und entfleischte Lust, Zeuge zu sein. Gier womöglich. Verwandtschaft mit allem, was lebendig auf der Erde umherkroch. Und, wieder, Angst.
„Was ist das?“, fragte er, einfach nur, um überhaupt eine menschliche Stimme zu hören.
Ifrah schüttelte den Kopf. Dann mit einem Mal, den Warnungen zum Trotz, die mit den Strömungen der fremden Gegenwart den Hang hinunterflossen, lief sie weiter, wie entseelt.
Wir sollten dort nicht hingehen.
Menrad folgte ihr.
An den ersten Ausläufern der zu großen, runden Blöcken zersplitterten Felsenmassen vorbei hasteten sie den Hügel hinauf, knietief, dann brusttief verloren im Sog, der sie lockte und gleichzeitig fortstieß. Sie wussten nicht, was sie finden würden.
Es zählte nicht länger, nicht, wenn der Ursprung des Rauchs und der Angst ins Diesseits gekommen war, um den Feinden dieser Welt entgegenzutreten.
Ich weiß nicht mehr, wer ich war.
Das Fleisch, der Leib, es sind Trugbilder einer kurzen Lebensspanne zwischen dem Wurf ins Licht und dem Aushauchen des letzten Atems. Sie lösen sich auf.
Der Verlust schmerzt immer. Aber Schmerz ist nur ein Preis für das Geschenk des Lebens.
Ich habe euch nicht vergessen. Auch wenn ich eure Namen nicht mehr kenne.
Geht mir weg mit Worten wie Selbstlosigkeit und Treue. Für meinesgleichen bedeuten sie wenig.
Meinesgleichen? Ach, die Erinnerung.
Soll ich lachen oder weinen? Soll ich uns bedauern, uns Wenige, die wir noch weniger zählen im Vergleich zu den Städten und den Völkern, oder soll ich, muss ich nicht froh sein, dass er aufgegangen ist, der Plan.
Nicht wahr, er ist es doch.
Nicht wahr, Shatryindjah?
Ich kenne dich nicht mehr. Mein Ein und Alles.
Es tut mir Leid, dich zu verlieren, mehr als Worte sagen können, aber schau, der Pfad, auf den du hernach deine Stiefel stellen kannst, wiegt so viel schwerer als die kurze Geschichte zweier Seelen.
Sein Haupt streifte den Himmel.
Weit unter ihm, seinen brennenden, gierig starrenden Augen, lag fester Boden. Er setzte den Fuß darauf, und der Boden trug. Er atmete die Luft ein, mit einem langen, rollenden, neugeborenen Atemzug, und sie erwies sich als ausreichend.
Freudlos verzückt schwenkte er die breite Stirn, die vielfach gedrehten Hörner, ausladend genug jedes davon, um die tagblinden Sterne vom Himmel zu schaben. Nein, nicht ganz. So groß ließ ihn der geliehene Leib nicht werden, und er lachte, tief in einer zerfetzten, sich erst formenden Kehle, die Blut über seine dichter werdende Brust versprühte.
Die ersten Augenblicke, in denen der braune Rauch aus dem scheinbaren Nichts Fleisch an sich zog, um Fleisch zu werden, waren aus der Handvoll Mensch, seinem Jünger, gut bedient. Das freiwillige Opfer tat, was nötig war. Nicht einmal eine Anstrengung des Willens brauchte es, denn auch der fremde Wille bediente ihn noch, ein geringerer Gefährte, ein blindes kleines Seelenlicht im Sturm zu seinen Füßen. Bis es ein letztes Mal aufflackerte und verging, hatte er Zeit, um sie zu kosten, diese ganz neue Speise.
Hingabe im Fleisch. Das Werden, das seinesgleichen nicht kannte.
Jenseits des Vorhangs war er. Der Stoff, aus dem die Welt ihre Kreaturen formte und an den sie ihre göttliche Hand mit anlegten, war er. Die Wucht des Werdens und Seins, ihr Schmerz, ihre Verzückung, ließen ihn erzittern. Der Boden erzitterte mit ihm.
Der Rauch hatte den Umriss vorgelegt, jetzt gebar er purpurnen, nassen Nebel und alle nur erdenklichen, im Sturm umherwirbelnden Formen, große und kleine, Abertausende: Fetzen von Fleisch, Fasern und Stränge von Fleisch, in Blut wie in kostbare Schleier gehüllt.
Sie kreisten und wirbelten nur zum Schein, sie reihten sich in einen Sog ein und strebten einem Ziel zu.
Was jedem Leben dieses unendlich lang gehüteten Nachbarlandes schreienden Schmerz bereitet hätte, bedeutete ihm keinen Schmerz. Was jedem Leben, das nicht nur schaute, sondern auch verstand, mit einem Anblick wie diesem den Geist geraubt hätte, bedeutete ihm nichts Schreckliches.
Er kam zur Welt. Kaum für lange, aber es war einerlei.
Er würde mit einem einzigen Schritt jenseits der Schwelle, über die er sich bequemt hatte, in den Osten zurückkehren, wenn alles getan war, sehr bald schon. Zu den dampfenden, mit Singsang bekränzten Tempelbauten würde er zurückkehren, zu dem grünen Wasser, das an ihren in die Flüsse gebauten Stufen leckte.
Der breite, noch knöchern nackte Schädel, über den Fasern und Sehnen und Horn erst hinkrochen, wandte sich nach Osten, grollend, düster, mitleidlos und sehnsüchtig.
Der Osten – ein Atem, ein Lied. Das Lied - ungezählte Stimmen. Die Stimmen – Münder derer, die ihn gerufen hatten durch einen von ihnen.
Bis zu den gebogenen Schenkeln hinauf in Rauch gehüllt, die Brust mit den knarrenden Rippenbögen ein Blasebalg, ließ er einen langsamen, langen Blick umhergehen.
Immer noch wuchs er, doch die Ströme von Fleisch, zu roh, zu sehr aus dem rasch zerfallenden Stoff der Erscheinungen und Visionen gefertigt, wirkten nun an seiner endgültigen Form, nicht mehr an seiner Höhe oder Masse. Er war wahrlich groß genug. Unter dem Boden dieses Landes krachten tiefliegende Höhlen schon, dicht davor, unter seinem Gewicht einzustürzen.
Die See, die ihn auf dieser Welt vom Osten trennte, glich einer blassblauen Seidenbahn, sacht gebogen am Horizont. Klein lag die Menschenstadt vor ihr, und bis zu ihren Mauern reichte das andere Meer – die Fremden, derentwegen er gerufen worden war. Mit einem flüchtigen Gedanken erfasste er sie.
Sie waren stark, grausam, mächtig, auf geistlose und ungestüme Weise lebendig. Sie ähnelten ihm.
Er hätte sie zu seinen Kindern machen können, in einem anderen möglichen Lauf der Dinge. Winzig wie waffenstarrende Ameisen bedeckten sie den flachen Talkessel, zu seiner Linken, nun da er sich umgewandt hatte.
Wahrlich, sie hätten Kinder eines neuen, rücksichtslosen Triumphs sein können, Diener, Handlanger des Blutes, von dem er sich neben weiteren Dingen nährte. Eine Weile schaute er auf sie herab und auch auf die verzweifelten Ströme, die sich ihnen entgegendrückten. Tod sprang wie Flammen aus dem Wimmeln dort unten. Es schrie und zappelte, für ihn sehr leise, sehr erheiternd.
Versuchshalber brüllte er, finster erfreut von dem Ton, der hervorkam. Die Wüstenluft dehnte sich und bebte. Lang würde sie ihn nicht hinnehmen müssen, doch ein ums andere Mal sollte sie ihn hören – das, was keinem Ohr, ob menschlich oder fremder, vertraut und eine Kampfansage war.
Ich verkünde den Krieg.
Durch mich wird er vollkommen.
Euch verkünde ich ihn, die ihr hergekommen seid. Ihr müsst mich nicht kennen. Ihr werdet lernen, mich zu kennen.
Dies dort sind meine und unsere Kinder, ältere Kinder. Ihrer ist das ältere Recht. Euer ist nur die Schwere des Fehlers, euch gegen sie gewandt zu haben.
Die erste wirkliche Schritt ließ Felsen fortrollen. Andere zerkrachten zu Staub, während die Welt sich in einen Pulsschlag verwandelte, den er von nun an beherrschte.
Er hob sich in voller Größe über den Hügelkamm, angenehm behängt mit dem Gewicht des neuen Leibes, und sah die Macht seiner Erscheinung sich gleich Wellen ausbreiten. Weit dort unten blies sie Steine fort, Sand, Luft, selbst die Ursprungshitze dieser Lande, und mit all dem auch das Leben, das töricht genug gewesen war, nicht zu fliehen.
Er machte keinen Unterschied zwischen Haut und Fell und Horn. Längs seines Weges mussten sie selber sehen, ihm nicht in die Quere zu kommen. Aber er richtete seine nässenden Augen unbarmherzig auf das schwarze Gewimmel in der Ebene, ganz einerlei, ob es mit Silber oder Kupfer durchmischt war oder fleckenlos stand und bald hierhin und dorthin stürmte, betäubt, schließlich rasend in namenlosem Entsetzen.
Seelenlichter zerflackerten unter seinem Auftreten. Den Hügelkamm zwischen den Beinen, rauchend, mit wimmelnden Flanken, ragte er über der Ebene auf, ein wandelnder Gott, Fliehende zu Füßen wie ein Ehrengeleit. Selbst im Osten, wo man ihn verehrte, vergaß niemand, dass er zur selben Zeit Herr des Guten wie des Bösen, ein Segen und zugleich eine Plage war, und wie eine Plage kam er über die Gegner der Kinder dieser Welt.
Einige Klafter weit kamen sie nur.
Ifrah lief, was ihre Beine hergaben, den von Schweiß und Staub getrübten Blick auf die Bewegungen zwischen den Felsen geheftet. Sie wollte laufen und wachsam sein, doch ihr verfluchter Körper wog mit einem Mal so viel, und sie sah nichts als vorbeiziehende, rostrote Steinbuckel und gelegentlich einen schwarzen Schatten. Sie sah bei weitem nicht genug.
Man spürte die Gegenwart der Dämonen ringsum, hörte das Hasten wuchtiger Leiber, wie sie über den Sand rannten und sich im Lauf an Felsen rieben, auch sattere Geräusche, wo Schweres auf Schweres prallte.
Sie fliehen, doch warum treten sie nicht aus unserer Sphäre, wie sie es schon früher taten?
Ungeheure Hast war auf allen Seiten, in diesem Labyrinth auf einem ansteigenden Hang, aber seltsam und beängstigend stumm, ohne Worte, ohne mehr als ein eiliges Zischen und das seltenere Grollen der Säbelkatzen, die ihre Gegner verfolgten.
Irgendetwas treibt die Dämonen fort. Ifrah maß den vor ihr liegenden Teil des Hanges mit einem flüchtigen Blick, den Stab abwehrbereit erhoben.
Von hier aus sah sie die Erscheinung nicht mehr.
Doch sie war noch da, spürte die Magierin, und dachte sie an die Vorfälle in Kurast, wuchs ihre Angst rascher als ihre Hast. Es war nicht nur Kurasts wegen.
Es ging um Hadan.
Er hatte sie vollbracht oder zumindest begonnen, die Tat, auf die er sich – Ifrah begriff es, als habe nie der geringste Zweifel daran bestanden – vorbereitet hatte, heimlich, zwar nicht unter Lügen, aber in seiner ihm eigenen einzelgängerischen, starrsinnigen Art.
Aber warum ohne uns? Warum so weit fort von Lut Gholein? Haben wir nicht oft genug bezeugt, was deine Fähigkeiten aus dir machen? Und vor den Menschen der Stadt hätten wir dich doch beschützt. Selbst die Barbaren Herlacs hätten dir mittlerweile den Rücken freigehalten und dich verteidigt.
Als sie eben dies zuende gedacht hatte, streifte sie ein furchtbarer Verdacht.
Doch es kam nicht dazu, dass sie stehen bleiben und ihre zwei Gefährten rufen konnte.
Über ihnen, irgendwo auf der anderen Seite des Hanges, dort, wo er zur endlosen Fläche der Wüste wurde, zerbrach die Stille so plötzlich, dass sie taumelten.
Menrad, zwei Schritte entfernt, hielt mit Mühe sein Gleichgewicht. Eyas schwarze Silhouette gefror, und die leichtfüßige Assassine strauchelte. Sie rollte sich ab, kam dann hoch, als habe man sie mit einer Nadel gestochen. Ifrah selbst prallte seitlich gegen einen Felsen.
Der Laut, den sie hörte, verschluckte den dumpfen Schmerz.
Unsichtbar brüllte eine Kreatur, dass die ganze weite Luft zu ihren Köpfen mit dem Ton erzitterte, dass man meinte, die Felsen müssten bersten, gleich nach dem eigenen Herz. Es war ein Laut, wie sie ihn fürchten gelernt hatten – keine Stimme und kein Tier, das schrie, sondern ein Wesen von anderer Art.
Ihr gütigen Gestirne.
Das Brüllen dauerte an. Drei, vier Atemzüge lang.
Dann verrollte es wie Donner, und Stille folgte. Doch es war nur der Gegensatz, die Stille nach dem Sturm, und keine wirkliche.
Wind seufzte. Weit über ihnen zischte die Luft, und der Boden bebte ein weiteres Mal.
Noch bevor ihr bewusst wurde, dass es Atemzüge waren, die sie hörte, begriff Ifrah die Erschütterungen.
Unweit von ihr und den Gefährten bewegte sich etwas. Es musste ungeheuer groß sein.
Mit sich überschlagenden Gedanken suchte Ifrah in den Gesichtern der beiden Anderen nach einem Funken der Entschlossenheit, ganz gleich zu welchem nächsten Schritt, Weitergehen oder Flucht. Aber auch ihre Vertrauten, sah sie, nagelte die Entgeisterung dort fest, wo sie standen. Und da hauste in dem Fremden und Grausigen des Pulsschlages, den die neue Macht über die Wüste geworfen hatte, immer noch das Flüstern einer vertrauten Seele.
Ifrah erkannte den Widerschein dieser Seele in Eyas Augen.
Sie hingen fragend an ihr und wandten sich dann dem Kamm des Hügels zu.
Auch Menrad musste ihren Ausdruck bemerkt haben, der von Angst zu Besessenheit, fast zu Wahnsinn, wechselte. Der Paladin fiel der jungen Assassine in den Arm, als sie weitereilen wollte – blind den Hang hinauf.
Sie wand sich, aber Menrad, ihr mühelos überlegen, wenn es um reine Körperkraft ging, hielt sie fest. Ifrah sprang hinzu.
„Eya, nein!“
Das Grollen und den entsetzlichen Atem in den Ohren, griff sie nach dem schlanken Arm ihrer Freundin und erschrak ein zweites Mal über Eyas Augen.
„Eya, nein“, wiederholte sie, abwesend erstaunt darüber, dass es wie ein Aufschluchzen klang. „Das ist nicht Hadan, Liebes.“
Das weißt du nicht!, tobte es in den schwarzen Pupillen. Ihrer aller Atem pfiff.
Doch als schwanke auch sie im Innersten, ließ sich Eya mit zurückziehen. Menrad sicherte die Umgebung, spähte umher und zurück, ohne verbergen zu können, wie verstört er war.
Plötzlich glitt seine Hand, die Eyas Oberarm gehalten hatte, ab.
„Beim Himmel“, flüsterte er.
Ifrah folgte seinem Blick.
Und da war es, der Ursprung alles Fremden, all des Fliehsandes unter ihren Stiefeln, er, der Verursacher dieser lebendigen Angst, höher als irgendein Turm auf Sanktuario, obwohl er sich nicht voll aufgerichtet hatte und gesenkten Hauptes über der Wüste aufragte.
Die Luft um den gewaltigen Leib schimmerte, Brandluft, durchsetzt mit Asche, die von ihm abfiel wie von bröckelnder Glut. Rauchschwaden stiegen auf. Der Himmel hatte sich zur Feier seiner Ankunft nicht verdunkelt, doch seine Farbe stimmte nicht mehr, ebenso wenig wie am vorigen Tag. Da war sie schwefelgelb gewesen, nun ähnelte sie einem blassen Fleischton, kupfern an den Felsenrändern. Das helle Blau war beinahe erstickt, und der Koloss hielt unbekümmert seinen Schädel hinein, ein Reisender, der erstmalig Geruch und Farben eines unbekannten Morgens an sich zieht.
Die schiere Größe der Kreatur hielt nicht Schritt mit ihrer Erscheinung.
Ifrah war sie nur aus rankenüberschatteten Winkeln und altehrwürdigen Gewölben nicht selten verbotener Heiligtümer eines anderen Weltteils vertraut. Sie hatten ihn gut eingefangen, musste sie den Handwerkern vergangener Jahrhunderte zugestehen. Der Gedanke allein schrumpfte vor dem, was geschah, zu einem irren kleinen Lachen.
Woher hatten sie ihn gekannt, diesen Zwitter aus Mensch- und Ziegengestalt, woher, wenn nicht aus den murmelnden Worten der nekromantischen Welt? Denn halb Riese, halb Ziegenbock war er, der Koloss über der westlichen Wüste, zweite Offenbarung des blutjungen Zeitalters.
Ob ihn eine Macht nur unvollständig hatte erstehen lassen oder ob dies seine endgültige Erscheinung auf dieser Welt war, blieb ein Mysterium. Ifrahs Augen sahen, dass der Leib, der sich auftürmte wie ein aufrecht hingestellter Landrücken, an Verwesung und Wunden litt. Nein, vielleicht litt er nicht, doch dunkles Fell und graurote Haut, räudig, unregelmäßig gewachsen, zeigten Löcher, aus denen es hervorglomm, zahllose Risse, aus denen es blutig troff, und wo Rippenbögen eine knochige Brust aufspannten, war die Haut kaum mehr als ein Kettenhemd, straff gespannt über qualmendem Rot, halb Fleisch, halb Feuer gewiss.
Er besaß den Schädel einer Ziege ohne Lippen und Nase. An ihrer Stelle bleckte ein schwarzer Zaun aus Zähnen unter einem zerklüfteten Feld, das kein wirkliches Riechorgan erkennen ließ, nur flache, tiefe Löcher. Sie blähten sich.
Die Kreatur atmete. Sie lebte, sie entstammte keinem übergroß gewordenen Alptraum. Sie gehörte der Wirklichkeit an, und nun spürte Ifrah auch die Hitze, die zwischen den Felsen herankam. Der Gestank des Todes begleitete sie.
Mit Augenkugeln unbestimmter Farbe, von Brauen überwölbt, die ihnen gemeinsam mit der fehlenden Iris oder Pupille einen grausig starren, nackten Blick verliehen, spähte die Erscheinung umher.
Sie schaute nicht herab, wo weit unter ihren gebogenen Flanken, weit unterhalb ihrer unförmigen Klauenhände, die Wüste und alles Leben in Schrecken erstarrte. Sie schaute auf die Ebene vor Lut Gholein.
Obgleich Ifrahs Verstand vor dem, was sie sah und vor jedem Versuch, es zu begreifen, zurückschreckte, schien ihr mit einem Mal, in dem gewaltigen Antlitz dort oben blitze Hass auf, und sie könne erraten, wem er galt.
Der Stab lag fühllos in ihrer Hand. Eyas Bewegungen waren erlahmt. Sie stand neben Menrad, der sie losgelassen hatte und wie sie hinaufstarrte.
Wir alle wissen, wen wir sehen.
Pakhra.
Auch Menrad wusste es. Sein erblasstes Gesicht mit den fiebrigen, leeren Augen war nicht schlimmer anzuschauen als das Eyas. Dennoch bemitleidete ihn Ifrah in dieser Stunde auf besondere Weise, tief unter Hast und Not.
Die Wüste und der Osten waren nicht verbrüdert.
Der Handel und die ungeordneten, weniger im Ideal als in den Leidenschaften wurzelnden Hintergründe des Glaubens aber hatten sie einander stets nahe gehalten. Die Einen verehrten die Gestirne, die Anderen, was sie in Landschaft, Witterung, Leben und Tod, in Tieren und Träumen zu erblicken meinten. Da konnte man sich gegenseitig nicht lange als Narren beschimpfen, ohne dass einem die Begründungen ausgingen, und Gelegenheit, sich zu hassen und über den Glauben der Nachbarn, die ein Meer von der eigenen Türschwelle trennte, erschüttert zu sein, ergab sich oft genug im Krieg.
So führten die Wüstenvölker die Götter des Ostens als wunderliche Legenden durchaus im Munde, und die Verse von Badr und Junah fanden sich in den Schriften wieder, die Generationen gelehrter Männer vor der Fäulnis des feuchten Urwalds zu bewahren versucht hatten.
Für Menrad aber musste ein Weltbild zusammenstürzen, eine in Fleisch und Blut übergegangene Sicht der Dinge, die sich mit einem Schlag als nichtig und irrig erwies.
Es zeigte sich in seiner ganzen Gestalt. Um kein Jota verrückt, wirkte der Paladin auf einmal entkräftet, ausgehöhlt, und vielleicht war es nur die Unmöglichkeit, zu verstehen, die ihn langsam und hilflos den Kopf schütteln ließ.
Das kann nicht wahr sein.
Doch das war es. Sie spürten es ja. Alle Säbelkatzen waren geflohen, weiser als sie oder die Dämonen, ausgestattet mit einem älteren Sinn für Chaos und Wunder.
Auch für Gefahr. Die Magierin zuckte.
Schweiß lief ihr über die wundgescheuerte Haut. Ihr Körper antwortete, wo ihr zu menschlicher Verstand noch zögerte, selbst im Angesicht eines leibhaftigen Gottes.
Pakhra. Hadan hatte seinen Gott gerufen, und er war gekommen.
Es handelte sich nicht um einen Gott der Güte und der Rücksicht. Wie viel von dem Nekromanten in die Kreatur dort über ihnen hineingeflossen war, wussten sie nicht, und ebenso wenig, ob er überhaupt noch lebte.
In Menrads und Eyas Gesichtern dämmerten dieselben Gedanken herauf.
Als der Boden erneut erzitterte, regten sie sich endlich.
„Wir müssen weg von hier“, hörte Ifrah sich krächzen. Sie bereitete sich darauf vor, gegen Eya anzutreten, die womöglich versuchen würde, dorthin zu gelangen, wo ihr verlorener Gefährte in der Wüste verschwunden war. Doch die Seelenqual auf dem zarten Gesicht schaute kaum noch unter grenzenlosem Entsetzen hervor, und als die beiden Anderen von dem turmhohen Dunst, der die Beine und Füße des Gottes umkleidete, zurückwichen, folgte sie.
Wie sie in die umkämpfte Ebene fanden, erinnerte Ifrah später nicht mehr.
Sie flohen, weg von dem wenigen Vertrauten, was sie vielleicht in die Nähe des Hügelkamms gelockt hatte. Es mochte sein, dass dieses Vertraute in ihnen starb, denn sie schauten sich nicht mehr um.
Sie rannten wie besinnungslos, bald von den Staubschleiern eingeholt, rannten keuchend, mit aufgepeitschtem Herzschlag und auf immer wieder bebendem Boden.
Neben ihnen und ringsum floh alles. Menschen, Dämonen, letzte Säbelkatzenwächter von ferneren Hügeln.
Schwarze Ungetüme, die sie vor wenigen Augenblicken noch um jeden Preis niedergehauen hätten, bildeten Züge, Ströme aus Fliehenden, und es war nur eine geringe Befriedigung, dass die Eindringlinge endlich begriffen hatten – spät, so wie sie selbst.
Vor der Wut und der Gier hinter ihnen gab es keine Nachsicht und keine Unterschiede.
Pakhra folgte ihnen. Sie lasen es an den Erschütterungen ab, stürzten in die Ebene hinunter, wo die Schlacht noch in zähen Zuckungen lag, durcheinandergeraten, aber mit ihnen, als seien sie Boten einer Wende, endete auch das.
Ifrah erhaschte Blicke auf von Rauch halb unkenntlich gemachten Massen von Gegnern und Verbündeten. Sie alle sahen, was die Ebene betrat. Das Geschrei, in das die Gefährten wieder eintauchten, veränderte sich zu einem einzigen Ton sinnlos herausgeheulten Entsetzens.
Sie, die drei Gefährten, waren die Einzigen, die die riesige Schreckgestalt einordnen konnten, die den Barbaren und Paladinen hätten zurufen können, dass sie die fürchterliche Verbrämung einer dritten Kraft war, die sich zu ihren Gunsten einmischte. Aber was hätte diese Nachricht bedeutet?
Bleibt stehen und habt Vertrauen? Hofft, dass ihr nicht mit hinweggerafft werdet, hofft, dass von dem Mann, der dies getan hat, noch genug übrig ist, damit dieses göttliche Monstrum euch nicht zu Asche verbrennt?
Denn Pakhra, wusste Ifrah, während sie lief, ohne zu wissen wohin und mit der tränenüberströmten Eya an ihrer Seite, war gekommen, um zu vernichten.
Einzig und allein aus diesem Grund war er hier. Es musste etwas geben, das ihn gelockt hatte – eine Beute, Wert genug, die Mühe der Gestaltwerdung auszugleichen.
Die Menschen vor und in Lut Gholein kämpften nach dem Verklingen der ersten, verzehrenden Furcht mit verzweifelter Ausdauer. Sie hatten mitangesehen, wie das zusammengewürfelte Heer der Verteidiger, das zu zwei Dritteln aus Landesfremden bestand, zerrieben und in die Ebene hinausgezogen worden war, doch als es dazu kam, hatten die Hauptleute das Tor bereits öffnen lassen und die in der Stadt verbliebenen Soldaten hinausgeführt, schreiend, mit gezückten Säbeln.
Mochte das Tor offen stehen. Es würde ohnedies nicht halten.
Die Mauern, dahinter die Häuser, die Gassen, der verwaiste Palast – sie waren, was sie verteidigen würden, einerlei, wie schlecht es stand, und niemand gab sich mehr Hoffnungen hin.
Lut Gholeins letzter Tag war in Gestalt dieses wimmelnden schwarzen Heers gekommen, das ihr geliebtes Land überrannte. Doch sie fielen, schrie es aus bärtigen Gesichtern – und unter ihnen waren viele Nomaden und einige zurückgekommene Fremdlinge – lieber mit dem Schamschir in der Hand, als in der Enge der Gassen von Verfolgern niedergetrampelt oder von Feuerbällen zerschmettert zu werden.
Unermüdlich beschossen die Männer auf den Mauern die dichteste Schwärze unter ihnen mit Pfeilen und Bolzen. Sie verfolgten, wie die Katapulte seltene Breschen in die Masse der Gegner schlugen, und die Hügel oder der Horizont waren nichts, was in ihren Herzen noch Platz hatte. Dann und wann jedoch spähte einer der wenigen Hauptleute, die noch auf dem Wall standen, zu den Rändern der geschwärzten Ebene hinüber, um einen weiteren Blick auf die Übermacht oder die Bewegung der Feinde zu werfen.
Sie waren somit die Ersten, die die Erscheinung sahen.
Zunächst glich es nur dem Auswurf eines großen Brandes, und dies war, seltsam oder nicht dort draußen, schwerlich genug, um sie von Geschrei und Kampf und Tod abzulenken. Doch der Himmel färbte sich gelblich, dann kränklich rosa über der Rauchsäule, und als diese Veränderung über die gesamte Länge der Hügel kroch, war sie nicht länger auszusparen.
Ein sonderbares, schleieriges Licht beschien die Ebene jetzt.
Kurz darauf erschien der Gott auf den südwestlichen Hügeln.
Während eine neue Angst Lut Gholein überfiel und das Gellen auf den Mauern und in den Gassen anhob, wo die Leute einander zeigten, was sie erspäht hatten, während sich Gebete unter das Gebrüll mischten und Viele wie erstarrt auf den Dächern standen, wandte sich der Gott der Ebene zu.
Das kleine Gemenge von Häusern am Ufer kümmerte ihn nicht.
Ihn kümmerte einzig, was zu seinen Füßen rannte und kroch, wild hin- und herlaufend, kopflos, blind in rasender Panik, denn kein Geschöpf auf Meilen hinaus übersah ihn länger. Selbst jene, die am dichtesten im Schlachtengedränge steckten, mussten durch das Dröhnen seines Auftretens stutzig werden, und sobald sie sich umwandten, ließen sie ihre Waffen und Gegner fahren. Manchen raubte der Anblick den Verstand. Andere beteten mit tauben Lippen. Die Meisten versuchten zu fliehen.
Das Dämonenheer, das seiner Ankunft bereits früher als viele Menschen gewahr geworden war und sich darüber zerstreut hatte, unternahm eine große Anstrengung, sich zu sammeln und vereint in die Hügel zu entkommen. Ein Grollen, das in Wahrheit ein Lachen war, fuhr über ihre schwarzen Wellen hin. Nichts auf diesem kargen Boden hatte die Macht, ihm zu entgehen.
Da mochten sie rennen, soviel sie wollten. Da mochten sie versuchen, sich in die Nachbarebene davonzustehlen, wie sie es zuvor getan hatten, nicht ahnend, dass seine Macht sie zurückhielt. Der Boden, nach dem es sie so sehr verlangt hatte, geriet zu ihrem Untergang.
Lässig, gelangweilt beinahe, senkte der Gott seinen Huf in die Ausläufer des schwarzen Heers. Wo er aufsetzte, verkohlte die Erde. Felsen zerbarsten wie Geschosse. Die Hitze erfasste alles im Umkreis vieler Dutzend Schritte, alles im Schatten seiner turmhohen Hinterläufe.
Immer noch rannten sie, und sie vergingen, ein kleiner Aufschrei von Seelen. Mehr starben mit seinem nächsten Schritt, wo das Schicksal sie dichter aufeinandergehäuft hatte.
Der stöhnende Boden zog die fallenden Leiber gnadenlos an sich. Glut und herabrinnendes, dunkles Nass fielen in Brocken und schweren Tropfen längs des Weges, den der wandelnde Gott beschritt.
Nicht nur schwarzes Gewimmel verendete, auch Silber und Bronze, Braun und Gelb verendeten, wo es mit dem gegnerischen Schatten vermischt und nicht rasch genug geflohen war.
In der Mitte der Ebene blieb der Gott stehen und brüllte, der Stadt, die sich hinter und vor den Mauern duckte, und den Kreaturen zu seinen Füßen zum Entsetzen.
Vernichtung brach sich Bahn und war für ihn nur ein Blinzeln. Was an Dämonen zurück Richtung Westen flüchtete, zurück zu dem Tor, das niemand, nicht Mensch, nicht Dämon, nicht Gott, zu schließen vermochte, zerstäubte zu grellen Schreien und Blut. Einmal auch, um mit den Kräften in dieser Welt zu spielen, beugte sich der gewaltige Leib sacht zur Erde, öffnete den Rachen, der weiter aufklaffte als ein Dorf groß war, und spie Feuer über die Ebene.
Niemand dort unten konnte wissen, an welchem Punkt der Geist in dieser ungeheuerlichen Erscheinung sein Eingreifen als ausreichend ansah. Es mochte auch sein, dass der Stoff, aus dem er gemacht war, und die Macht des Paktes ihn nicht länger hielten. Oder es war möglich, dass ihm die Lust am Töten verging, dass er ebenso launisch war, wie seine Jünger ihn sich stets gedacht und ihn seit jeher erfahren hatten.
Niemand dort unten verschwendete einen Gedanken an den Grund.
Sie waren zu eifrig damit beschäftigt, zu rennen, zu bluten, zu sterben, ihrer entflohenen Sinne wieder Herr zu werden oder einfach nur dazustehen und zu starren.
Der Gott wandte sich ab.
Die Stadt und das Meer im Rücken, tat er noch einige Schritte. Der letzte endete hinter dem Hügelkamm, der Ort seiner Geburt geworden war.
Hier begann er zu zerfallen, Horn in Horn, Panzerplatten wie rutschende Dachschindeln, Fleisch in verkohlenden Fetzen, unter denen bald blanke, fahle Knochen hervorsahen und zersprangen, Blut und Fellstücke, alles herabtaumelnd und zu Asche zerstäubend, bevor es den Sand berührte. Die riesige Gestalt sank in sich zusammen.
Doch es geschah langsam. Im Inneren des Schädels erlosch das Brennen der Augen, aber es glomm noch, Wachfeuer einer wieder aufgenommenen Unterhaltung.
Es zählte nicht, dass das Gegenüber nicht sprechen konnte.
Es hörte zu. Es musste zuhören, ohne Wahl, ohne Form, Funken in einer lose geballten Klauenfaust.
Das Zeichen im Sand war zertrampelt und gab den gerufenen Gott frei.
Es ist getan.
Du besitzt keine Stimme mehr, doch ich weiß, du dankst mir.
Danke mir nicht zu früh, Sohn des Pakhra. Ein Heer habe ich abgewendet und vernichtet, und seine Seelen waren mir in der Tat ein Wald aus Lichtern und ein Festmahl, doch ihr Tor, das das ihre genannt werden wird, solange ihr es nicht zu eurem macht, verbleibt in diesem Land als ewige Drohung.
Wir sind nun eins, du und ich. Was du warst, ist vergangen.
Ein Leichtes wäre es mir, es dabei zu belassen. Immerhin aber hast du einen Weg geöffnet, wie er auf dieser Welt nie zuvor begangen wurde, und aus diesem Grunde und auch, weil ein kleines Geschöpf dem Herrn eines Tempels auf dessen Stufen lieber sein kann als in den Bildersammlungen, sollst du gehen. Als mein Geschöpf, ganz und gar.
Ich erwarte deine Demut.
Zeigst du sie nicht, werde ich dich bestrafen. Vergiss das niemals.
Doch ich gewähre dir, mein Jünger, bevor du meine Bedingungen hörst, einen Wunsch.
Was du in der Brust trägst, kann dir nicht genommen werden. Täte ich es, du gingest zugrunde.
Deine Augen kann ich dir nehmen, dies allerdings. Diese Augen, die dich so sehr von deinesgleichen unterscheiden und dich auf ewig hässlich machen.
Da du dies aber nicht wünschst, wird es dies andere sein.
Wohlan. Solange sie leben, werde ich mich ihnen nicht nähern.
Du indes wirst mein Jünger bleiben, und höre, was du tun sollst als Entgelt für meine Mühen und zur Vermehrung meines Ruhmes, als Beweis meiner Großmut gegen dich und deine Art und als Warnung für kommende Geschlechter, die so leicht vergessen.
Bau mir einen Tempel, Hadan Sakudhra.
Bau den größten Tempel, den diese Welt je trug, und bau ihn hier, auf diesem Land, auf dieser Seite des Meeres. Tu es gut, und tu es bald.
Der Leib zerfiel in Asche.
Er sank in einer Wolke, als schraube sich die Rauchsäule, aus der er entstanden war, zurück in die Erde.
Nichts als Sand blieb, durcheinandergeworfen in einem verebbenden Sturm. Er war voller Gestank und einer Gewalt, die ihren Ursprung, der sich eben erst abgewandt hatte, in jedem Luftwirbel und jedem Korn trug.
Doch auch dies zerfiel zu Asche und verwehte.
An der Stelle, an der ein Zeichen und ein wenig Blut noch schwach im Sand erkennbar waren, blies der Staub über einen einsamen Körper. Bevor er ihn zudecken konnte, kamen die Gestalten aus der Wüste heran.