LX. Getrennte Wege
Mutet Eurem Licht keine Herabwürdigung zu. Macht nicht diesen Fehler.
Die Worte klangen nach. Sooft Menrad sie auch wiederkäute, sooft er aus Gründen des Zweifels und der eigenen Zerrissenheit auch den Haken an ihnen suchte, sie blieben haften.
Der Paladin kratzte sich abwesend den Bart und spähte über die Dächer, die von seinem luftigen Sitz aus zu überschauen waren. Seit den ersten Vorboten der Abenddämmerung hockte er hier auf der Wehrtreppe. Über ihm, längs der Stadtmauer, hielten die Lut Gholeiner Soldaten Wache, aber die Anspannung schien im selben Maße von ihren buntgewandeten Gestalten abzufallen, wie der schwarzgestreifte Himmel von Gelb in sattes Orange wechselte.
Und es war auch keine Wachsamkeit gewesen, die Menrad die Treppe hatte erklimmen lassen. Sein Auge hungerte nach einem Blick auf die Dächer der Wüstensiedlung, das war alles.
Er wusste, es würde der letzte Blick sein.
Die Entscheidung hatte sich in ihm geformt. Am selben Morgen, da Lut Gholein die Thronbesteigung durch Jerhyns Spross feierte, würden die Westmarschener zurück nach Fadraîs ziehen, und er mit ihnen. Gewiss, es gab zu besetzende Posten hier, Paladine, die Lut Gholein zum Bleiben eingeladen hatte – als Mittelsmänner einer neu versuchten Partnerschaft zwischen Süden und Westen. Solch ein Posten war Menrad angeboten worden, da Ihr diese Gegend nun besser kennt als jeder Lichtkrieger sonst.
Das hatte Adrian Benedict Evren, der wieder halbwegs genesene Anführer der Paladine, liegend zu ihm gesagt.
Doch Menrad war es unmöglich gewesen, anzunehmen. Seit dem Niedergang der Missionen im Osten rief Fadraîs nach ihm, Fadraîs mit seinen schattigen, feuchten Gassen und der Borte aus Kornfeldern rings im Land – und nun auch mit der Frage, wie die Stadt sich nach dem Sturz Armon Celestins in der unruhigen Zeit bewähren würde.
Er musste hin. Der Drang war nahezu ein körperlicher.
Menrad seufzte und fuhr sich durch das kurze Haar. Vor Tagen noch hatte er sich gefragt, wie die alte Königsstadt den Heimkehrenden wohl begrüßen werde, ihn, mit seinem pundarischen Kettenhemd, dem zerfetzten Ordensbrusttuch und dem Stigma des wohl einzigen noch lebenden Kommandanten der östlichen Missionen. Doch inzwischen dachte er ohne Angst an seine Rückkehr. Nicht wegen der umgestürzten Machtverhältnisse in Fadraîs, sondern weil ein Mann wie er, fühlte er ohne Eitelkeit, schlicht nichts zu fürchten hatte.
Was waren mögliche Verhöre und eine entstandene Kluft zwischen ihm und der Heimat schon gegen den Wahnsinn, den er bezeugt hatte? Wie konnte Fadraîs ihn Angst lehren, wenn er aus der vernichtenden Angst im Angesicht von Göttern und Dämonen hervorgegangen war und noch frei atmete?
Er schlief wieder besser. Seltsam war das.
Er schlief jetzt hinlänglich fest, zwischen den Gefährten, im Pulk ihrer schicksalsgebeutelten kleinen Gemeinschaft. Heute Abend hatte er sogar Lust, zu beten.
Ob der Himmel unser Eigen bleibt, hängt nicht von der Gnade der Geschöpfe ab, die irgendwo dort oben in ihren unergründlichen Sphären schalten und walten. Wir müssen unseres inneren Himmels eigene Meister sein.
In Menrads auf die Straße gerichtete Augen wanderte eine Gestalt.
Sie näherte sich so selbstverständlich, bereitete ihm so wenig Kopfzerbrechen mehr, dass er ruhigen Gemüts auf sie schaute und sie beinahe gar nicht richtig wahrnahm, bis sie den Fuß der Wehrtreppe erreicht hatte und den linken Stiefel auf die unterste Stufe setzte, zögernd.
„Betet Ihr?“, fragte Ifrah. „Ich möchte Euch nicht stören.“
„Nein.“ Der Paladin schüttelte den Kopf. Ein Lächeln stellte sich von selbst ein. Sie war eine Freundin geworden, er begrüßte ihr Auftauchen als das einer solchen. „Kommt nur herauf, so Ihr wollt.“
Sie tat es und ließ sich, da für zwei Sitzende nebeneinander auf der schmalen Treppe kein Platz war, auf den Stufen unter ihm nieder. Ihr Haar schimmert samtig im Licht der städtischen, längst entzündeten Lampen. Das dunkle Gesicht bildete die Krönung ihrer goldgepanzerten, gefälligen Gestalt.
„Ihr seid wohl“, sprach sie Menrad an, „zu einem Entschluss gelangt, nicht wahr?“
„Das könnt Ihr sehen?“, fragte er zurück, die Hände aneinandergelegt.
Die Magierin setzte ihn einem Blick aus, in dem fast etwas wie Schalk auffunkelte. „Gewiss. Wenn Ihr grübelt, pflegt Ihr dazuhocken und eine bitterernste Miene zu machen, oder Ihr geht rastlos umher.“
„So ist das.“ Der Paladin fühlte seine Mundwinkel zucken. Er besaß keine engeren Familienangehörigen mehr, doch Ifrah behandelte ihn in diesem Moment, wie eine ältere Schwester, so stellte er sich vor, es getan hätte. „Ihr habt Recht“, gab er zu. „Ich bin in der Tat fertig mit allen Grübeleien. Ich werde mit Adrian Evren und seinen verbliebenen Männern morgen nach Fadraîs aufbrechen.“
Zu seinem ehrlichen Erstaunen zog die Magierin kurz die Brauen zusammen, als bekümmere sie das. Doch sie sagte: „Ich freue mich für Euch.“ Nach einem Atemzug des Schweigens fragte sie: „Also lockt Euch die Mission im Osten nicht mehr? Was ist mit den dortigen Posten Eures Ordens?“
Der Paladin atmete tief ein. „Nein. Ich will nicht in den Osten zurückgehen. Das Schicksal seiner Städte bedeutet mir etwas, aber...“ Er zögerte, bemerkend, dass er unwillkürlich die Straße entlang schaute. „Nun, ich liebe den Osten nicht sonderlich.“
Weder die erdrückende Schwüle noch die undurchdringlichen Wälder, und erst recht nicht das Getümmel seiner unaufgeräumten Siedlungen, fügte er in Gedanken hinzu, vorsichtig, als könne ein Gott oder ein Mensch der Weltgegend, über die er so urteilte, ihn belauschen.
Ifrah lachte. „Warum so behutsam, Menrad?“, zwinkerte sie ihn an. „Hadan ist nicht zugegen. Er kann Euch den Kopf nicht von den Schultern holen für diese schlimme Schmähung seiner Heimat.“
Sie hatte es scherzend gesagt, aber Menrad fühlte sich plötzlich außerstande, auf ihren heiteren Tonfall einzugehen.
Dies offenbar begreifend, bezwang die Magierin ihr Lachen. „Ihr macht Euch doch noch um etwas Gedanken“, sagte sie nickend. Sie schaute offen und ohne sichtbare Verärgerung in Menrads halb betretenes, halb entschlossenes Gesicht. „Um Hadan. Ihr misstraut ihm – immer noch.“
„Ihr nicht?“, erkundigte er sich ernst.
In ihrer Miene stritten Gefühle, nach denen der Paladin hätte fragen müssen, um ihnen vollends auf den Grund zu gehen. „Ich habe mich dazu durchgerungen, das Urteil über diese Sache der Zukunft zu überlassen“, antwortete sie dann langsam. Ihr Blick wurde eindringlicher. „Er ist ein Gefäß, Menrad. Er ist trotz allem nur ein Mann.“
„Mit einem sehr eigenen Willen“, gab der Paladin zu bedenken. Wohl verspürte er ein leichtes Unbehagen darüber, ausgerechnet mit einer engen Vertrauten des Nekromanten über diesen zu sprechen, aber er wartete vergebens auf eine innere Warnung.
„So wie Ihr.“ Ifrah lächelte schwach. „So wie wir alle. Jeder von uns hat seinen eigenen Willen. Glaubt mir, ich habe mit eigenen Augen bereits vor einem Jahr bezeugt, wozu er fähig ist. Doch er hat uns nie verraten... nicht einmal auf dem Arreat, wo Baal jeden von uns zu verführen versuchte.“ Die Bernsteinaugen musterten Menrad, plötzlich ausdruckslos, wie bei einem Menschen, der weit in Verliese der Vergangenheit zurückdenkt. „Macht wird es wohl gewesen sein, was Baal ihm anbot. Vergebens.“
Fast ohne Übergang lächelte sie wieder und fuhr fort: „Hadan sagte uns doch, er plane keine neuerliche Begegnung mit seinem Gott. Misstraut ihm, wenn er schweigt, Menrad – nicht, wenn er den Mund aufmacht.“
Der Paladin, der es für besser hielt, die Frage von Hadans Vertrauenswürdigkeit wirklich dem Urteil kommender Zeiten zu überlassen, nickte versöhnlich. „Ihr kennt ihn besser“, erwiderte er das Lächeln zwei Stufen unter ihm. „Vielleicht vergiftet mir auch nur die Ungewissheit den Geist. Es wurde so viel gewagt und so erbärmlich wenig gewonnen, ganz gleich, ob ich für diese Stunde meinen Frieden damit machen kann oder nicht.“
„Setzt Ihr keine Hoffnung in Fadraîs?“ Ifrah strich sich das Haar ein Stück weiter aus dem Gesicht.
„Ich weiß es nicht“, gestand der Paladin. „Ich bin zu lange fern von Fadraîs gewesen, von dem Misstrauen ganz zu schweigen, das ich selbst gegen die alte Stadt hege – wegen ihrer Verbündung mit den Engeln und ihrer Kriegstreiberei gegen den Norden. Ob die Zügel nun in den Händen Klügerer und Weitsichtigerer liegen, vermag ich nicht zu beurteilen.“ Er schlug die Augen nieder. „Und ob sich der Wandel als so hoffnungsvoll erweist, wie er klingt, kann ein Mann wie ich nicht beeinflussen.“
Die Magierin setzte sich derart nachdrücklich gerader hin, dass Menrad sie überrascht ansah.
„Oh doch“, sagte sie mit Bestimmtheit. „Das könnt Ihr. Wenn jemand für Fadraîs von Bedeutung sein sollte in den kommenden Jahren, dann Ihr.“
Eben vor dem Hintergrund der Übergriffe auf die westlichen Magier, deren Einer nun hier zu seinen Füßen hockte, fand Menrad es schwer, das Vertrauen nachzuvollziehen, das Ifrah in ihn setzte.
Er hätte der älteren Frau verraten können, dass es für einen Ordensbruder mit seinem verzweigten Werdegang schwerlich einen hohen Rang unter den fadraîschen Paladinen geben würde, und dass er würde dankbar sein müssen, seiner eigenmächtigen Handlungen wegen nicht in ein unbedeutendes Gebiet strafversetzt zu werden. Doch vor Ifrahs herzlicher Art gelang ihm keine nüchterne Abwehr.
„Wie Ihr meint“, sagte er nicht ohne Verlegenheit. „Ich werde sehen, was ich tun kann.“
Sie erwähnten nicht, was dieses ‚Tun’ beinhalten würde – Worte einzulegen für ein gemäßigteres Miteinander der Völker, warnende Stimme zu sein, wann immer es in den Ratssälen der Stadt um Engel und Dämonen ging, oder sich für festere Verträge mit dem Osten auszusprechen.
Sie erwähnten all dies nicht, weil es unnötig war, darüber zu sprechen. Das Bewusstsein dieser Notwendigkeiten hatte sich den Gefährten auf ihren gemeinsam beschrittenen Pfaden eingebrannt.
In wortlosem Einvernehmen ließen sie beide den Blick über Lut Gholein schweifen, die weiße Stadt im einstmals weißen Sandhof der Wüste, die nun den versteinerten Fluch der neuen Zeit vor ihren Mauern ertragen musste.
„Die Menschen hier dauern mich“, hörte Menrad seine eigene Stimme.
„Mich auch.“ Ifrah nickte schwach. „Aber sie werden mit ihrem Schicksal nicht allein bleiben. Ja“, griff sie Menrads Frage vor, „ich bin davon überzeugt, dass die Dämonen zurückkommen. Vielleicht nicht morgen, vielleicht nicht in den Monaten dieses Sommers, doch irgendwann mit Sicherheit.“
Hernach lastete Schweigen auf ihnen.
Da klang unverhofft Musik aus dem Häusergewirr auf. Jemand zupfte die Saiten einer Laute, und nach ein paar Tönen begann eine Frauenstimme, das Spiel zu begleiten – vorsichtig, als seien Lautenspieler und Sängerin verzagt, weil Musik in diese Abende nicht recht passen wollte.
„Sie üben“, sagte Ifrah leise. „Für das Fest morgen.“
In den Gassen nahe des Palastes und auf dem zentralen Marktplatz hatte Lut Gholein in der Tat bereits damit begonnen, Lampen aufzuhängen und die Häuser zu schmücken. Der junge Fürst sollte seinen Thron nicht ohne Feierlichkeiten besteigen.
Menrad dachte an Jerhyns armen, zerschundenen Leib, den die Palastwachen vom Schlachtfeld geborgen hatten, an die vielen Gefallenen und an das immer noch drohende Schweigen der Wüste, in der nur ein Haufen vernunftbegabter Tiere den Spalt zwischen zwei Welten bewachte.
„Ein Fest“, sagte er schleppend. „Wie ist das möglich?“ Er begegnete Ifrahs Augen. „Wie können sie feiern wollen, gerade hier und jetzt?“
Unter der Oberfläche des dunklen Gesichts arbeitete es. Doch bevor der Paladin, den diese mitangesehene innere Auseinandersetzung plötzlich bekümmerte, etwas hinzufügen konnte, öffnete Ifrah den Mund.
„Fragt mich nicht nach den Pfaden der menschlichen Seele“, gab sie zurück, und da waren ein Lächeln und eine bezwungene Sorge an ihr, die sich Menrad tief einprägten. „Vielleicht liegt es in unserer Natur. Die Zeit zwingt uns zur Schlacht und holt geliebte Menschen aus unseren Reihen fort. Da können wir alle trauern – Gründe zur Trauer sind vorhanden, und sie werden für Jahre reichen. Aber ebenso gut können wir uns auch unserer Vorzüge entsinnen, meint Ihr nicht?“ Ein Schatten verdunkelte ihre schönen Augen. „Wenn ein Fest die Leute auch nur für eine Stunde von der Vorstellung des ewigen Untergangs ablenkt, dann –”
„ – dann ist es das, was zählt“, vollendete Menrad den Satz. Er spannte sich. Das Gerüst seiner Knochen war müde, müde wie das größere Gerüst der Welt, aber eben vor diesem Eindruck fand er, dass die Magierin die Wahrheit sprach. Er sagte es ihr.
„Lasst uns also hier sitzen und zusehen, wie sie sich vorbereiten“, schlug Ifrah vor.
„Nein.“ Menrad griff nach ihrer Schulter. „Kommt, lasst uns besser hinuntergehen. Ihr erinnert Euch an Shanghar? Dort haben wir bezeugt, wie die Soldaten tanzten.“ Und wir sind einander näher gekommen, Ihr und ich.
„Gewiss erinnere ich mich.“ Ifrah stand mit ihm auf.
Sie wanderten durch die Gasse, in der die Menschen leise, aber mit nicht mehr ganz so verzweifelten Mienen ihre Wohnstätten säuberten. Kinder, auf die Arme ihrer Eltern oder älteren Geschwister gehoben, hängten Lampen auf. Verwundete, die noch nicht aus eigener Kraft laufen konnten, hatte man zu Fenstern oder auf Terrassen hinausgetragen, damit auch sie Gelegenheit bekamen, die abendliche Geschäftigkeit zu verfolgen.
Hoffnung.
In diesen kleinen Handreichungen war sie noch da. Menrad sah es mit gelösteren Gedanken.
Das Recht, die Dämonen, die Engel und die Götter für eine Weile in den Kerker der Nichtigkeit zu verbannen, durften sich die Menschen Sanktuarios nicht nehmen lassen.
Und wie in den Wochen zuvor schon wurde Menrad deutlich: In Fadraîs, in Kurast, im Hochland hätte man nicht anders getan als hier.
Unweit des Torbereichs stießen er und Ifrah auf die alten Gefährten.
Eya war da, Marej, die von dem Druiden ihres Stammes begleitet wurde und schweigend auf die Festvorbereitungen der Wüstenstadt schaute, und Hadan, der Maysan auf dem Arm trug.
Letzteres überraschte den Paladin. Das Mädchen zeigte wiederum keinerlei Scheu vor dem Nekromanten. Ohne viele Worte zu wechseln waren, so schien es, der große Mann und die Magiertochter Freunde geworden.
Als Maysan allerdings Ifrah entdeckte, sprang sie von ihrem bequem erhöhten Sitz herab und lief zu ihrer Mutter. Die Gefährten kamen zusammen.
„Sie wird allmählich zu schwer, um sie lange herumzutragen“, sagte Hadan zu Ifrah, und wie alle Umstehenden lächelte er, als Maysan ein Schmollen nachahmte und das Gesicht in Ifrahs Arm drückte.
Gemeinsam setzte die Gruppe ihren Weg fort. Unausgesprochen hing über ihnen, dass dies der letzte Abend war, den sie miteinander verbringen würden. Unausgesprochen blieb es, weil keine Abschiedsworte fielen – dafür würde der nächste Morgen herhalten müssen. Doch im Dahinschlendern stimmten sie sich leise über ihre Pläne ab.
Menrads Entschluss war allgemein bekannt. Niemand zweifelte ihn an oder befragte ihn mehr dazu, aber er meinte, gelegentlich nachdenkliche Blicke in seine Richtung zu spüren.
Marej und ihr druidischer Begleiter würden sich dem Barbarenheer anschließen. Wie die fadraîsche Schar wollten die Barbaren diese Nacht nutzen, um Kraft zu sammeln, und nach Tagesanbruch nach Norden aufbrechen.
Mit fragendem Gesicht wandte sich Menrad an Eya und Hadan. „Und Ihr?“, erkundigte er sich.
„Ebenfalls nach Norden“, antwortete Ifrah mit einem Blick auf die Assassine und den Nekromanten. „Doch wir werden an der Küste entlang ziehen.“
„Von Santére aus fahren Schiffe nach Osten“, schaltete sich Hadan ein. „Desgleichen von Lut Gholein, doch...“ Gegen seine Art verstummte er.
Menrad musste nicht in den Mienen der Frauen lesen, um nachzuempfinden, was die letzten drei Baalsbezwinger dazu bewog, den Küstenstreifen bis nach Santére einem früheren Abschied in der Wüste vorzuziehen. Sie wollten sich noch nicht trennen.
Der Paladin verstand. Stets waren in den vergangenen Wochen Kriegsüberlegungen, nahende Feinde und Fragen zum Wandel der Welt Gegenstand des knappen Austausches in der Gruppe gewesen. Zu wenig Zeit für alte Waffengefährten, um sich über Anderes zu unterhalten.
So befragte er sie auch nicht weiter zu Einzelheiten ihrer Wege, sondern schritt schweigend, vollkommen zufrieden damit, neben ihnen her.
Die Gruppe suchte kurz den greisen Gelehrten Drognan auf, der die Schlachten und namentlich die Verheerungen der Stadt überdauert hatte. Doch sie fanden ihn mürrisch vor, nicht aufgelegt zu vielen Worten. Mehr als der Angriff auf seine Heimat schien den alten Mann der endgültige Wegfall der Gültigkeit von Weisungen und Schriften zu belasten, und sie verließen ihn nach ernsten Segenswünschen recht bald.
Wie so viele würde Drognan seinen eigenen Kampf mit dem neuen Zeitalter auszufechten haben, darin nur unterstützt von seinem Wissen und seinen Ahnungen, und also letztlich allein – so wie jeder Mensch in Sanktuario.
Mit dem Anbruch der Nacht mäßigten sich die Vorbereitungen in den Straßen.
Die Gefährten kehrten zu ihrem Schlafplatz zurück. Eine Weile saßen sie noch beisammen und beobachteten, wie Maysan entschlummerte, den Kopf in Ifrahs Schoß, und wie Marej und der Druide sich in ihre Decken einrollten.
Menrad hockte lange da, die Stirn in Falten gelegt, die Augen auf den vertraut gewordenen Gestalten der Kämpfer, die ihm das Schicksal im Osten zur Seite gestellt hatte.
Welche Bilder ihn in einem nicht abreißenden Reigen durchwanderten und am Einnicken hinderten, wusste er nicht klar zu sagen – nur, dass es zu viele waren und er Jahre benötigen würde, um sie geruhsam beiseite legen zu können. Und plötzlich war ihm, als sei er dem Rätsel von Hadans Schlaflosigkeit ein wenig auf die Schliche gekommen.
Womöglich waren es nicht einzig die Zwiesprache mit Pakhra und die nekromantischen Versenkungen gewesen, die den Anderen hatten wachen lassen, Nacht um Nacht, sondern diese Heerscharen von Bildern im Raum hinter der umwölkten Stirn.
Es war nicht leicht, die schwarzen Wellen der Dämonen, die grellen Feuerblumen der kurastischen Explosionen, das luftschnappende Schlachtgetümmel und die endlosen Stunden der Wanderung voneinander zu trennen. Wohl stachen einzelne Bilder heraus – der Silberglast der Engelsoffenbarung, der getötete Pundarfürst, aufgespießt von einem Speer seiner Landsleute, das Schweigen der steinernen Insel von Travincal im Wüten der Schlacht, und vor allem die Gesichter und Worte und Handlungen der Menschen, die den eigenen Pfad durch all das begleitet hatten. Aber mehr tun, als dieser Übermacht, dieser ungeheuren Vorwärtsbewegung der Welt, ein paar Verbindungen abzutrotzen, konnte wohl niemand.
Meine Herkunft hat mich zu Maß und Ordnung erzogen. Menrad schloss die Augen. Zu urteilen, zu führen und zu beten, das hat sie mich gelehrt – aber diese Lehre, so wie jede Lehre landauf, landab, war nicht vorbereitet auf die Dinge, die uns nun entgegenstehen.
Wir müssen die Belange und Grundsätze aller Völker neu abwägen und erkunden. Unmöglich ist es nicht, und es hängt an uns, es zu wagen.
Für ihn hatte es so harmlos begonnen, beinahe harmlos: Mit dem unverständlichen Aufbegehren eines paladinischen Jünglings damals in Shanghar, und mit dem Tod eines alten Freundes.
Die Gedanken bei Cedric, schlief Menrad schließlich ein, ohne es zu bemerken.
Als er erwachte, saß er noch.
Die Stadt erhob sich aus der Nachtruhe, um zu feiern, mochte man das nun begreifen oder nicht. Allerorts wuchteten die Leute an Wasserkübeln, trugen Wein herbei und die wenigen Vorräte, die einem solchen Ereignis angemessen waren.
Am Lagerplatz fand Menrad keinen der Gefährten mehr vor, nur ein Häuflein Paladine in der Nähe, die soeben einem Händler Wasserschläuche abkauften.
„Eure Mitstreiter warten vor dem Tor“, klärte einer der Lichtkrieger Menrad auf. „Sie wünschten, dass Ihr möglichst lange ruhen solltet, Bruder. Eilt Euch. Auch wir verlassen Lut Gholein binnen der nächsten Stunde.“
Menrad murmelte einen Dank, suchte seine Habseligkeiten zusammen und schritt rasch stadtauswärts.
Er schaute weder zum Palast zurück noch zu den Mauern hinauf. Es war leichter, all dies sich selbst zu überlassen, wenn er sich einredete, dass es ihn vorerst nichts mehr anging.
Vor dem Tor, zwischen den Mauerschatten und der geschwärzten Ebene, herrschte wieder lebhafterer Betrieb, wie in den Tagen vor dem ersten Angriff. Doch es handelte sich überwiegend um Fremde, die der Schwelle Lut Gholeins nun den Anschein eines belebten Stadteingangs verliehen.
Die knappen fünfzig Mann aus Fadraîs standen schon abmarschbereit, in voller Rüstung und mit zwei, drei Packtieren da. Unweit von ihnen, ungeordneter, aber zahlreicher, warteten die Barbaren, die wuchtigen Waffen geschultert.
Zwischen beiden Gruppen nahm sich die Schar der Gefährten klein aus.
Mutmaßend, dass das paladinische und das Barbarenheer kaum gemeinsam nach Norden ziehen würden, ließ Menrad einen langen Blick über die nordischen Hünen gehen.
Er hatte keine Zeit mehr, sich Mann für Mann von ihnen zu verabschieden, so sehr ihm das seine Hochachtung vor ihrer Tapferkeit auch gebot. Sie waren die Stärke des oberen Westkontinents. Ohne sich dem Licht untertan gemacht zu haben, bildeten sie den kräftigen Arm der Städtelosen, der Hochländer, auf den die alte Königsstadt sich verlassen würde, handelte sie klug.
Auf steifen Beinen ging Menrad zu den Gefährten.
Ifrah kam ihm entgegen, Maysan an der Hand, und es war ihm Recht, sich von ihr zuerst verabschieden zu dürfen.
Mit im sachten Morgenwind bewegten Haar standen sie voreinander. Die Magierin schließlich tat den letzten Schritt und holte den Paladin in eine Umarmung, die er von ganzem Herzen erwiderte.
Es gab Vieles, das er ihr hätte sagen mögen – dass er blind und falsch geurteilt hatte über sie, erfüllt von der Verachtung seines Ordens für die männerlosen Magierinnen ihrer Schulen, dass sie eine mutige, kluge Begleiterin war und dass er ihr und ihrem kleinen Mädchen fortan ein friedliches Dasein wünschte, der unruhigen Zeit zum Trotz.
All das, stellte er jedoch fest, kam ihm nicht über die Lippen und musste sich daher in dieser Umarmung ausdrücken.
Als er sich betreten von ihr löste, fand sein Blick Maysan, und da fiel ihm ein, dass er etwas versäumt hatte.
„Binjawl, Maysan“, sprach er das Mädchen an, während Ifrah mit aufgelöster Miene danebenstand. „Leider habe ich keine Zuckerdatteln erstehen können. Ist es arg schlimm?“
„Nein“, kam es gelassen zurück. „Ich glaube nicht, dass du Zeit hattest, um Datteln zu suchen, Herr Paladin.“
Sie lachten schütter.
„Noch etwas habe ich versäumt“, sagte Menrad zu Ifrah. „Und das ist, Euch zu fragen, wohin Ihr letztlich gehen wollt.“
„Ich besitze eine Karawanserei in Sadr Hammath“, antwortete die Magierin. „Sobald ich mit Maysan nach der Lage der Gegend um Selthe geschaut habe, werde ich dorthin weiterreisen und in Erfahrung bringen, was aus dem Handel und dem Mann, der mir als Verwalter gedient hat, geworden ist. Auch Andere werden Sadr Hammath aufsuchen.“ Sie wies mit dem Kopf auf eine weitere, kleine Gruppe, die dem Paladin vorher nicht aufgefallen war, da sie dicht bei der Mauer lagerte.
Menrad erkannte den Kaufmann wieder, der Lut Gholein vor zwei Tagen mit seiner Karawane erreicht hatte, Maysan mit sich führend.
„Gut“, nickte er. „Ich wünsche Euch alles Glück dieser Welt, Ifrah. Seid vorsichtig. Solltet Ihr in den Grenzgebieten zur Marsch in Schwierigkeiten geraten, sendet mir Botschaft nach Fadraîs. Dort wird man etwas mit meinem Namen anfangen können – so oder so.“
„Das werde ich.“ Die Magierin schaute ihm fest in die Augen, ein missglücktes Lächeln auf den Lippen. „Ich danke Euch, Menrad. Geht mit dem Licht.“
„Ihr desgleichen.“ Er verbeugte sich leicht, einen rasch wachsenden Klumpen in der Kehle.
Danach trat er zu den anderen Gefährten. Marej winkte ihm von ferner zu, und er beließ es im Falle der Druidin bei einer gehobenen Hand. Herlac entbot ihm Abschiedsgrüße, indem er seine breite Stirn berührte. Dann tauchte der Barbarenführer zurück in die Menge seiner Krieger.
Menrad wandte sich Eya und Hadan zu, die wartend dagestanden hatten.
„Alsdann...“ Er hatte nicht gedacht, es könne ihm so schwer fallen.
Die Assassine legte die schmale Faust vor die Brust. Ihr Gesicht war blass, aber sie lächelte.
Von ihr nahm Menrad wortlos Abschied, und als Letztes blieb ihm der Eindruck, wie klein und zart sie wirkte und wie viel kleiner sie gewirkt haben musste vor den ungeheuerlichen Kreaturen der überwundenen Erzübel.
Eya würde überleben. Er zweifelte nicht daran. Sie war aus solchem Stoff gemacht.
Da die Assassine die beiden Männer allein ließ, sei es, weil sie sich wirklich zu Ifrah und Maysan gesellen, sei es, weil sie ihnen einen Augenblick der Ungestörtheit einräumen wollte, stand Menrad schließlich vor Hadan.
„Nun, Paladin“, lud ihn der Nekromant dazu ein, ein paar Schritte zu tun. „Also sagen wir einander als Letzte Lebwohl.“
„Offenbar.“ Menrads Beine trugen ihn wie von selbst neben dem großen Mann her.
Mit einem Mal kam er sich vor wie ein Kommandant in Begleitung eines anderen, zwei Krieger, die zusammentrafen, um vernünftige Dinge, Aufstellungen, Pläne zu besprechen. Aber er wusste, solche Dinge würden nicht Gegenstand der letzten Worte sein, die sie wechselten.
Hadan sprach eine Weile nicht, und der Paladin hatte Zeit, ihn von der Seite zu mustern: Das bleiche Gesicht mit den stechenden Augen, die überraschend klaren Züge, das schneeige Haar, das ihm lang auf den breiten Rücken hinabfiel. Obwohl die Rüstung sie verbarg, erinnerte sich Menrad unwillkürlich an die fürchterlich rohen, roten Narben, die er auf der Überfahrt nach Westen an dem Anderen gesehen hatte.
Würden sie Hadan bis an sein Lebensende stets rechtzeitig daran gemahnen, dass eine weitere Begegnung mit Dämonen oder leibhaftigen Göttern nicht zu überdauern und daher vielleicht besser zu meiden war? Menrad dachte, dass er dies hoffte – für die Menschheit ebenso wie für den Nekromanten selbst. Ehrlich aber glaubte er es nicht.
Hadan war noch nicht allzu alt und würde wieder im Geschehen der Welt auftauchen, als Erbauer eines Tempels und somit als Vertreter seines Glaubens im Westen, und womöglich auch als Teilnehmer weiterer Schlachten.
Wir werden sehen. Es mag sein, dass ich seine Sehnsucht nach Frieden und Rückzug unterschätze.
Schließlich, als hätten sie sich abgesprochen, blieben die Männer stehen, einige hundert Schritte von den Menschengruppen vor dem Tor entfernt.
Der Morgenwind war noch lau, würde sich aber rasch erhitzen. Bereits zu dieser frühen Stunde bewirkte die klare, trockene Luft der Wüste, dass Stadt, Umgebung und Gestalten sich zu einem klar umrissenen Bild fügten, unwirklich fast unter dem blauen Himmel.
Nebeneinander schauten sie hin.
„Seltsam“, hörte Menrad Hadans Stimme. Sie klang gedankenversunken. „Denkt man sich die Ebene weg, könnte man meinen, es sei nichts weiter geschehen.“
Der Paladin, der nur vermuten konnte, welche Empfindungen den Nekromanten zu dieser Äußerung bewogen hatten, wusste darauf keine Erwiderung. Sie berührte ihn, diese Offenheit, bedachte man, wie lange sie einander versteckt und doch erbittert bekriegt hatten.
„Lut Gholein wird ganz gewiss überleben“, fühlte er sich dann doch zu einem Wort verpflichtet. „Meint Ihr nicht?“
„Ich hoffe es.“ Hadan wandte ihm die weißen Augen zu. „Vor dem Hintergrund der so weit über Sanktuario verstreuten Städte erscheint es sinnvoll, sich zu trennen. Als Gruppe waren wir stark, doch nun können wir verteilt vielleicht mehr bewirken.“
„Möglich.“ Menrad gab den prüfenden Blick mit Festigkeit zurück. „Werdet Ihr nach Kurast zurückkehren?“
„Nicht dauerhaft“, sagte Hadan. Ein Schatten kroch über seine Züge. „Kurast wird vom Bau des Tempels unterrichtet werden müssen, aber ich setze kein großes Vertrauen mehr in diese Stadt. Außerdem“, er spähte zu den Menschen vor dem Tor hinüber, „hat Eya als meine Gefährtin noch ein Wort mitzureden, was unseren weiteren Weg anbetrifft. Und mehr als nur ein Wort.“
Menrad nickte. Wieder schwiegen sie eine Weile.
Es war eine merkliche Bewegung in den Mengen dort drüben, die ihnen endlich auferlegte, sich zu verabschieden, denn die Heere der Barbaren und Paladine wollten aufbrechen. Man hörte Befehle in der dünnen Luft.
Ohne Groll spürte Menrad die Eindringlichkeit, mit der Hadan und er sich noch einmal musterten.
Der Nekromant sprach zuerst. „Ich bin froh zu sehen, dass Ihr nicht länger plant, mich umzubringen, Menrad“, sagte er.
Dem Paladin wurde es kalt und glühend heiß zugleich in der verengten Brust. Er starrte sein Gegenüber an.
War es möglich, dass Hadan auf verborgenen Wegen von seinen, Menrads, Gedanken Kunde erhalten hatte, den Nekromanten tatsächlich zu töten, um einen gefährlichen Mann vom Angesicht der Erde zu tilgen, den gefährlichsten überhaupt vielleicht? Aber wie?
Nein, das dürft Ihr nicht glauben. Nicht mehr.
Das war damals, in Travincal.
Doch zu Menrads Überraschung und großer Erleichterung huschte ein Lächeln über Hadans ihm voll zugewendetes Gesicht. „Nun, Ihr habt mich in den vergangenen Monaten ein paar Mal angesehen, als sei es überaus verlockend und sehr ratsam, mich zu erschlagen, Paladin.“
Menrad bekam seine Zunge in seine Gewalt. „Das... Ja.“ Die Anspannung rann wie Wasser aus ihm heraus. „Das ist vergangen. Ich hege keine bösen Absichten gegen Euch.“
„Erfreulich.“ Hadans Gesicht wurde ernst. „Ich weiß nicht, ob wir uns jemals wieder begegnen werden. Daher lebt wohl, Menrad Victorin Callist.“
Der Nekromant streifte den Handschuh ab und streckte die Rechte aus.
Erst zögernd, dann entschlossen, ergriff Menrad sie.
Sie sahen sich in die Augen.
Freunde? Nein, wohl kaum. Aber Gefährten, bis zu deinem oder meinem Tod, Nekromant.
„Ich danke Euch“, sagte Hadan unvermutet. „Ihr habt Euer Leben manches Mal für das unsere eingesetzt.“
„Und Ihr das Eure für meines“, gab Menrad leiser zurück.
Sie neigten die Köpfe voreinander, und obwohl der Paladin an anderer Stelle über diese artige Weise, in der sie sich hier verabschiedeten, geschmunzelt hätte, konnte er jetzt nichts Lachhaftes daran finden.
Sie trennten sich schweigend ein paar Dutzend Schritte vor den Menschengruppen.
Halb meinend, durch einen Wachtraum zu gehen, stieß Menrad zu der fadraîschen Schar.
Ferner zogen die Barbaren bereits ab. Marej und die Gefährten, wusste Menrad, gingen mit ihnen. Aber er schaute der Hundertschaft nicht nach.
Er legte alle Aufmerksamkeit in die Wahrnehmung der Vorbereitungen seines eigenen Zuges – eines Zuges, der langsamer vorankommen würde wegen der schwerer Verwundeten, von denen man ein halbes Dutzend auf Maultiere geladen hatte. Beinahe ohne Übergang fand sich der Paladin unter Männern wieder, die trotz ihrer Verletzungen und ihrer mitgenommenen Rüstungen immer noch einen bewegenden Anblick boten und ihn respektvoll grüßten. Abwesend gab er die Grüße zurück, lächelte nur dann und wann.
Die Gesichter seiner Heimat waren rings um ihn. Nun, er musste herausfinden, ob die Heimat für ihn wirklich wiederzuerlangen war.
Es schien zunächst, als wolle Lut Gholein die Helfer aus der alten Königsstadt ohne Ehrbezeugung davonziehen lassen. Sperrte man die Ohren auf, wurde darüber auch unterdrückt gemurrt.
In dem Augenblick aber, da Adrian Evren mit schwacher Stimme den Abzugsbefehl rief, ertönte von den Mauern der Wüstensiedlung her der Ton einer Trompete.
Die Paladine, bereits im Gehen begriffen, wandten die Köpfe. Ja, da waren mehr Leute auf den Wällen als üblich oder nötig, und gewiss nicht nur Soldaten. Es war eine Geleitwache aus dankbaren Menschen, und Einige winkten.
Nach kurzem Zögern setzte sich die Schar in Bewegung.
Der Weg nach Fadraîs war weit. Drei oder vier Wochen, wanderten sie ohne Unterbrechung, würden die Paladine benötigen, bis die alte Königsstadt am Horizont hinter Kornfeldern und Obstbäumen auftauchen würde. Drei oder vier Wochen, in denen viel geschehen konnte.
Menrad fasste nach dem Griff seines Kampfhammers und rückte sein Bündel mit einer Schulterbewegung zurecht. Er plante für die nächsten Stunden keinesfalls, den Blick zum Himmel aufzuheben. Ihn als blaues Zelt über sich zu wissen, als möglichen Sitz der Geister höherer Wesen, reichte hin.
Sie verdienten keine Aufmerksamkeit, diese Mächte, hockten sie wahrhaft dort oben oder nicht. Ihre zu gewaltsam und zugleich zu wenig lenkende Hand hatte ihnen das Vertrauen der Menschen genommen, und hieran, ausnahmsweise, trug Sanktuario keine Schuld.
Gemessen, mit ein paar wenigen Bannern zu Häuptern, zog die Schar vom Ufer des Meeres fort, landeinwärts, und schlug einen Bogen nach Norden ein.
So langsam sie auch gingen, Lut Gholein fiel hinter ihnen zurück.
Die Stadt, in der sich alle Vorahnungen und Wege zu einem festen Knäuel verstrickt hatten, versank im grellen Dunst der Wüste, und mit ihr der große Befreiungsschlag für die Ungewissheit der Menschen und das verfluchte Tal hinter den Gräbern, die Gegend, die nun erneut als Hort des Schreckens gebrandmarkt war.
Ich gehe nicht zum ersten Mal fort von hier.
Eya blickte auf ihre Stiefel hinab, die bei jedem Schritt knöcheltief im Sand steckten. Vor über einem Jahr war sie mit der damaligen Gruppe hastig von hier fortgezogen, Diablo nachstürzend, dem Wanderer, der Sanktuario durchquert hatte, um seinen Herrn aus dem Gefängnis der Vergessenheit zu befreien.
Baal war in diesen Tagen nur ein Name gewesen, weit weniger gefürchtet als der seines Bruders.
Beide waren sie dahin.
Wir dachten, Gegner wie sie seien für immer besiegt. Die Assassine suchte die Gestalten Ifrahs und Hadans mit einem langen, festen Blick. Wir dachten, unsere Wunden, wie die zu einem Siegel verschmolzene Schuld unserer Welt, seien das Einzige, an dem wir noch zu tragen hätten.
Und es wäre genug gewesen. Es hätte uns um ein Haar vernichtet.
Aber das Siegel war aufgebrochen worden. Durch sie selbst vielleicht, krank vor Sehnsucht, unfähig, sich dem Danach allein anzuvertrauen, durch Ifrah, der es ähnlich ergangen war, und auch durch Hadan wohl. Vielleicht hatte er an jedem friedlichen Tag in Lhabarna, am Fluss, unter den Magnolienbäumen seiner Heimat, das Reißen und Brennen der Narbe gefühlt, weiterarbeitend, das Gesicht von der Erkenntnis abgewandt, störrisch und engstirnig, wie er sein konnte.
Ihr Entschluss von vor anderthalb Jahren, gestand die Attentäterin in Eya sich ein, hatte sie anderen Menschen ausgeliefert – Gefährten, die eine Viz-Jaq’Taar niemals haben durfte: Eine Magierin als Freundin, ein Kind als Teil einer verbotenen Gemeinschaft, und vor allem ein anfangs fremder Mann als Gemahl.
Eya zuckte im Dahingehen mit den schmalen Schultern, wie um das restliche Gewicht eines rückwärts betrachteten Wegs abzuschütteln. So hatte sie gewählt. So und nicht anders, abhängig, eingebunden, angreifbar, wollte sie ihr Leben weiterführen.
Sie hatte der Schrecken beschenkt – sie im Gegensatz zu Marej, deren lockiges, helles Haar gelegentlich zwischen den Köpfen der Barbaren herausragte, weil sie auf dem letzten der in Santére erstandenen Pferde ritt. Und das Herz wurde Eya schwer.
Marej schien entschlossen, allein, nur begleitet von ihrem schweigsamen Begleiter und dem ungeborenen Leben über ihrer Hüfte, in die nördlichen Wälder zurückzukehren.
Nichts konnte sie umstimmen, weder die zaghaften Angebote der Frauen, ihr zumindest bis zur Niederkunft zur Seite zu stehen, noch Hadans Vorschläge, ihr Wächter und Freund zu sein, bis sie sich irgendwo, ganz gleich wo, niederzulassen wünschte. Sogar den Osten hatte er erwähnt. Doch hierbei konnte Eya Marejs Ablehnung nachempfinden.
Es war gut gemeint, der häusliche Trost im noch friedlichen Becken von Linqqva, die Fürsorge Vertrauter, der mögliche Schutz durch einen Nekromanten, der sich im Bewusstsein des ungeheuren Verlustes bemühte, zu geben, was noch zu geben war.
Doch Marej kannte den Osten nicht. Dort zu gebären, fern vom Boden und Schicksal ihres Volkes, würde die Druidin auf eine für sie unerträgliche Weise ins Abseits stellen. Marej war mehr als eine werdende Mutter, und auch mehr als die Gefährtin eines gefallenen Barbaren. Sie musste und wollte ihre Leute führen. Wenn Eya je die Bestimmung einer anderen Frau begriffen hatte, so war es hier.
Herlacs Treue durfte Marej sich sicher sein. Eya wusste, dass der Hüne hierin ähnlich empfand wie Hadan. Beide Männer waren Urels Waffenbrüder gewesen, beide drückte der Vorwurf, ihn nicht gerettet zu haben, und beide verpflichtete die Freundschaft.
Sie versuchen, Urels Angedenken zu ehren, indem sie sich um seine Gefährtin kümmern.
Urels Helm und sein riesiges Schwert, jetzt gesplittert, reisten im Gepäck der Barbaren mit. Was mit diesen Dingen geschah, würde der Norden für sich entscheiden, abseits der Blicke der restlichen Welt.
Auch der Dämonenschädel ruhte noch in Herlacs Beutel. Eya hatte ihn seit jener grauenhaften Stunde vor den Toren Lut Gholeins nicht wieder zu Gesicht bekommen, aber sie erinnerte sich an Herlacs bedächtige, grimmige Worte – daran, dass der Schädel Unterpfand der Wahrheit sein sollte und Gegenstand der Überzeugung aller Zweifler.
Weiter waren die Gedanken der Assassine noch nicht vorangeschritten, da stieß Ifrah zu ihr.
Die Magierin war nach wie vor ins blasse Gold ihrer Rüstung gekleidet und wurde von Maysan begleitet, die ihrer Mutter, trotz der Trennung offenbar mit ihr versöhnt, folgte wie ein kleinerer Schatten.
Die Frauen gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Doch als Eya die Augen seitwärts wandte, fand sie an Ifrah dasselbe Lächeln vor, das ihr auf den Lippen saß.
„Ich bin froh und glücklich, dich kennen gelernt zu haben“, sagte die Magierin warm. „Ich erinnere mich noch genau an jenen Abend in Harrogath, an das gemeinsame Waschen.“
„Du redest, als stünde der Abschied unmittelbar bevor“, erwiderte die Assassine erschrocken. Sie war sich unsicher darüber, inwieweit sie die damaligen Ereignisse erwähnen durften – nun, da Maysan, eine schmerzlich Ausgeschlossene vor einem Jahr, neben ihnen herlief.
Denn Eya unterschätzte das Mädchen in keinem Fall. Maysans Schweigsamkeit brachte Erwachsene dazu, sie zu übersehen, doch das Kind verfolgte sehr wohl, welche Bruchstücke von Vergangenem die Großen unbedacht verstreuten, und reimte sich sicherlich vieles eigenständig zusammen.
Ifrah folgte Eyas flüchtigem Seitenblick zu ihrer Tochter. Sorge dich nicht, sagten die Bernsteinaugen. Es schadet nicht, wenn sie auf diesem Wege endlich ganz erfährt, wie wir zusammengehören und was uns widerfahren ist. Ich muss lernen, ihrer Stärke zu vertrauen.
„Aber der Abschied ist so nah“, sagte die Magierin dann. „Er sollte uns nicht zu sehr bekümmern. Selbst wenn bis zu unserem Wiedersehen Jahre vergehen und wir darüber alt und grau werden, werden du und Hadan tägliche Begleiter meiner Seele sein.“
Eya lächelte, nickte dann zu der wandernden Barbarenschar hinüber. „Wann, denkst du, verlassen wir sie?“
Doch nicht allzu bald?
Sie wusste nicht, was sie diesbezüglich wünschte. Mehr Tage in Begleitung der tapferen Nordmänner, in Herlacs und Marejs Begleitung, erschienen verlockend. Zu rar war, was sie bislang mit ihnen ausgetauscht hatten. Andererseits strebte der Zug nach Norden – jede Verzögerung würde ihm unlieb sein. Und Eya selbst sehnte sich auch danach, die wirklich letzten Tage einzig mit Ifrah, Maysan und Hadan zu teilen.
„Heute noch“, antwortete Ifrah. „Herlac sagte etwas davon, dass er rasch zur Landesmitte einschwenken will. Ich glaube, länger als bis zur Dämmerung wird er damit nicht warten.“
Eya blieb stumm.
Sie grübelte noch über ihre Empfindungen, als Hadan sich zu den Frauen gesellte. Er war eben aus den Reihen der Barbaren gekommen und bestätigte Ifrahs Vermutung.
„Und Marej?“, erkundigte sich Eya verzagt.
Die Druidin mied die Gefährten nicht, doch sie hielt sich nun andauernd unter den Barbaren und in Gesellschaft ihres Begleiters auf, sodass eingehendere Unterhaltungen erschwert wurden.
Hadans Miene war äußerlich unbewegt. „Nichts Neues“, sagte er. „Der Norden zieht sie an, und daran hält sie fest.“ Er bemerkte die Gesichter der Frauen offenbar, denn er fügte hinzu: „Sie geht uns nicht aus dem Weg, weil sie uns gering schätzt. Es scheint jedoch, dass wir sie an Urels Tod erinnern, und vielleicht ist das mehr, als sie im Augenblick ertragen kann. Wir sollten ihre Entschlüsse achten.“
„Ich möchte ungern so von ihr scheiden“, brachte Eya unglücklich hervor.
Der Nekromant lächelte. „Es ist nicht gesagt, dass das geschieht. Bis zum Abend haben wir noch einige Stunden vor uns.“
Ifrah seufzte hörbar und wich auf einen anderen Gesprächsgegenstand aus. Was sie ansprach, riss in Eya derart unvermutet den Schleier von verdrängten Dingen fort, dass sie trotz der wabernden Hitze fröstelte.
„Ich frage mich, wo unsere himmlischen Gegner stecken“, meinte die Magierin, ihren Stab fester fassend, die andere Hand auf Maysans Schulter. Ihre Augen fingen den plötzlichen Ernst der zwei Gefährten ein. „Wo sind sie jetzt? Werden sie erneut in die Geschicke des Westens eingreifen, womöglich sogar in Fadraîs – oder in Lut Gholein?“
Hadan schwieg. Eya dachte an Menrad, an die Schar der Paladine, die den Barbaren um wenige Stunden voraus waren und geradewegs auf die alte Königsstadt zumarschierten. Sorge ließ sie sagen: „Ich hoffe, sie belästigen die Marsch nicht – wenigstens so lange nicht, bis Fadraîs sich selbst wiederfinden kann.“ Grimm, spürte sie, machte ihr die Lippen dünn.
Fadraîs hatte ihr nie sonderlich am Herzen gelegen, aber nun war es Menrads Stadt. Sie hatte sie vor Jahren als ein Gewirr enger Gassen und hoher, rot gedeckter Häuser kennen gelernt. Fadraîs bedeutete blühendes Handwerk, Zünfte, sorgsam bestellte Felder, engstirnige, aber aufrechte Bürger. Es würde den Artgenossen Tyraels schlecht zu Gesicht stehen, versuchten sie, ihre silbernen Hände auf all das zu legen.
„Das hoffe ich ebenso“, ließ sich Hadan vernehmen. Der Nekromant streckte sich im Gehen zu seiner vollen Größe und blinzelte gen Himmel. „Aber ich glaube kaum, dass der paladinische Zug von den Engeln etwas zu befürchten hat.“
„Sie sind Abtrünnige“, gab Ifrah zu bedenken. „Ganz Fadraîs hat sich durch den Machtwechsel abtrünnig gemacht, wenn man so will.“
„Dennoch“, sagte Hadan. „Eine Stadt, die ihrer Macht gegenüber aufgeschlossener wäre, werden die Engel auf Sanktuario nirgends auftreiben. Wenn sie sich Fadraîs’ Wohlwollen zumindest teilweise bewahren wollen, sollten sie sich hüten, eine rein aus Lichtkriegern bestehende Einheit offen zu attackieren.“
„Also haben ihr Schleichen und ihre Einmischung letztlich doch ein Gutes.“ Ifrah klang verächtlich. „Sie verbieten ihnen, in der Marsch Pläne auszuführen, die ihnen das restliche Vertrauen der Menschen auch noch entziehen.“
„Gebe Pakhra, dass es so ist“, sagte Hadan undurchsichtig. Danach sprach er nicht mehr, und allgemein verliefen die folgenden Stunden eher schweigend.
Als die Sonne sank, hatte der Zug jene Gegenden erreicht, in denen die Gefährten vor Wochen den dämonenhörigen Nomaden über den Weg gelaufen waren.
Hier erstreckte sich die Wüste noch fleckenlos weiß und gelb ringsumher, aber man erahnte am nördlichen Horizont bereits die Grasnarbe der Marsch.
Mit schweren Herzen näherten sich die Gefährten den Barbaren.
Marej kam von ganz allein zu ihnen geritten. Sie zügelte den braunen Wallach, auf dem Hadan seine erbärmlichen Reitkünste offenbart hatte, und glitt vom sattellosen Rücken des Tiers.
Ihr Gesicht war gefasst, aber bekümmert. Froh gewahrte Eya, dass die Druidin nun, zum Abschied, doch die Nähe der Gefährten suchte.
Während Herlac im Hintergrund wartete, traten sie zu ihr.
„Die Sonne geht unter“, begann Marej leise, und da war ein zitterndes Aufatmen in ihrer Stimme, in dem sich vielleicht der Kampf zwischen Bewegung und Erleichterung über das erlösende Eintreten der letzten Stunde ausdrückte. „Wir ziehen nun landeinwärts, aber euer Weg...“
„...geht zur Küste“, vollendete Ifrah den Satz.
„Gewiss.“ Marej stand regungslos da, die glatten, nackten Arme an den Seiten. Mit einem Mal füllten sich ihre Augen mit Tränen. „Bitte verzeiht mir meine Verschlossenheit. Ich wünschte, wir wären einander unter besseren Vorzeichen begegnet.“
Sie schaute an Hadan hinauf, der auf sie zutrat, und schien kurz unsicher, was der große Mann von ihr wolle. Doch als er Halt machte, entspannten sich ihre Züge.
„Einmal noch“, sagte Hadan leise, „du bist ganz sicher, dass wir dich nicht begleiten sollen?“
„Ich bin sicher“, gab die Druidin zurück und lächelte. „Danke für dein Angebot, Nâkyshat. Du weißt, dass du in den Wäldern des Nordens nichts verloren hast, nicht wahr? Du wirst an anderen Orten gebraucht.“
„Ja.“ Hadan verneigte sich vor ihr, ergriff ihre Rechte und berührte sie mit den Lippen. „Das weiß ich.“
Marej umarmte Ifrah, dann Eya, und zauste Maysan, die mit großen Augen zusah, das braune Haar. „Lebt alle wohl. Möge die Erde immer fest unter euren Füßen sein.“
„Gib Acht auf dich“, brachte Eya heraus. Sie vermochte ihn nicht auszusperren – Urel war gegenwärtig, bezeugte, wie sie hier voneinander Abschied nahmen, und das, wenn es noch Gerechtigkeit auf dieser Welt gab, jetzt mit leichterer Seele. Ohne nachzudenken, schlang sie die Arme ein weiteres Mal um Marej, und die Druidin erwiderte die Umarmung.
„Sei nicht zu traurig“, flüsterte Eya in die widerspenstigen Locken.
„Das bin ich nicht“, kam es zurück. „Ich habe ein ganzes Volk, das auf mich wartet, dazu Lebensaufgaben, mehr als ich zählen kann. Die Bereiche des Rotwald- und des Kupferclans grenzen an unsere Wälder. Es sind gute Nachbarn, wir werden schon zu einer Einigung gelangen.“
Danach, rasch, als sei es so einfacher, wandte Marej sich ab und führte das Pferd zurück zur Schar der Barbaren.
Diese hatten sich in einer Doppelreihe aufgestellt und schlugen mit Schwertschneiden und Axtblättern gegen ihre Schilde – ein Salut für die vierköpfige Gruppe, die sie zurückließen.
Marejs um die Hüfte füllige, doch viel kleinere, ungerüstete und waffenlose Gestalt fügte sich, so kam es Eya vor, ohne eigenes Zutun fest in das Klopfen und Pochen und das Spalier der ehrfurchtgebietenden Hünen ein.
Herlac verlor nur wenige Worte.
„Jeder Barbar hier ist stolz, an eurer Seite gefochten zu haben“, sagte er. Anders als Marej lächelte er nicht. „Ihr habt unsere Ahnen bereits erblickt, darum kann ich euch nicht wünschen, dass ihr sie eines Tages seht. Frieden euch allen.“
Eya versagte die Stimme den Dienst. Ifrah murmelte eine Erwiderung.
„Friede deinen Leuten und eurem Land“, antwortete Hadan dem Barbarenführer. Er spähte an Herlac vorbei, griff dann in seinen Gürtel und zog eine schmale Pergamentrolle hervor. „Bitte gib dies Marej. Später, nicht heute. Noch würde sie es ablehnen.“ Auf den fragenden Blick Herlacs hin fügte er hinzu: „Es ist ein Schutzbrief. Er hat im Osten überall dort Gültigkeit, wo Tempel der alten Götter meiner Gemeinschaft stehen. Sollten sich die Dinge so unglücklich fügen, dass die nördlichen Wälder Hilfe benötigen oder verlassen werden müssen, wird der Träger dieses Briefs im Osten Unterkunft und Unterstützung finden.“
Herlac regte sich einen Augenblick lang nicht, und Eya glaubte erst, er werde Hadans Anliegen unsinnig finden. Doch dann nahm die harte Pranke des Barbaren das Röllchen entgegen. Er nickte Hadan zu, berührte seine Stirn und kehrte zu seinen Männern zurück.
Als er sie erreichte, stellten sie das Schlagen gegen ihre Schilde ein. Eya zitterte. Kaum neunzig Barbaren waren es noch, und sie kannte nur drei oder vier von ihnen mit Namen. Als die Schar sich abwandte, befiel die Assassine Angst vor den Verhältnissen, die dieses Volk im Norden antreffen mochte, und ihr war auch, als nähmen die Krieger Urel mit sich.
Urel, oder wenigstens einen Teil von ihm.
Die Gefährten schauten stumm zu, wie die Barbaren davonzogen.
Die Geräusche der Schar verklangen allmählich. Zugleich verwischte die Dämmerung ihre Umrisse. Irgendwo dort ritt Marej.
Dann schluckte die Wüste die Barbaren.
Sie waren allein.
Vielleicht geschah es in dieser Stunde, dass sie es vollends begriffen. Sie zerstreuten sich in alle Winde, und das Gute daran – der Umstand, dass jeder Kämpfer in seine Heimat zurückkehrte, um dort weiterzuwirken – besänftigte das Bewusstsein der neuerlichen, gleichzeitigen Entwurzelung nur bis zu einem gewissen Grad.
Der Abendwind strich der Assassine um die Wangen. Auf Camdra hatte ihr Weg begonnen, mit einem Verlust und einer kopflosen Flucht, aber ihre Füße hatten sie in die bestmögliche Richtung getragen. Einstmals unaussprechbare, unbekannte Dinge gehörten ihr jetzt. Sie durfte sich nicht beklagen.
Maysan schließlich erlöste die Erwachsenen aus ihrer Starre. Das Mädchen, zuvor eingeschüchtert von den Barbaren, wurde nun munter und begann, umherzustreifen.
„Nun also“, regte sich Hadan mit einem Räuspern, „brechen wir auf. Wir sollten bald ein Nachtlager aufschlagen, aber mir wäre wohler, wenn das dichter an der Küste geschähe.“
So schulterten sie ihre Bündel und wandten der weiten, sich zu tiefem Rot verfärbenden Wüste den Rücken zu.
Ifrah setzte sich nach einiger Zeit von dem Paar ab und begann eine leise Unterhaltung mit ihrer Tochter, in der es vermutlich um die folgenden Tage ging. Sie werden den Kaufmann in Sadr Hammath wiedertreffen. Das freute Eya. Mutter und Kind hatten ein Ziel – eines, das sogar über Selthe hinausführte, und sie würden endlich Zeit füreinander haben.
Sie lächelte in sich hinein.
„Woran denkst du, Shatryindjah?“
Abwesend sah sie auf. Weiße Augen forschten von der Seite her in ihrem Gesicht. Sie hatte nicht bemerkt, dass er sie beobachtete, und die Frage traf sie unvorbereitet. „Woran?“
Früher, erinnerte sie sich gut, hätte sie gestockt, gezögert. Die Begegnung. Die ständigen Prüfungen meiner Tauglichkeit, dann das erste Wort, das du zu mir sagtest. Es war ein Befehl. Aber das ist lange her.
„An Wege“, antwortete sie. „An Möglichkeiten. Ich habe Pläne, weißt du?“
„Tatsächlich?“ Hadan beobachtete sie weiter, schlechter verhohlen, als er glaubte. „Pläne mit mir?“ Ein dünnes Lächeln machte seine bleichen Züge zugänglicher.
„Auch das“, ging die Assassine auf den halb scherzhaften Tonfall ein. Plötzlich wurde es warm in ihrer Leibesmitte, und sie wusste nicht, ob man sich angesichts der Schwelle, auf der Sanktuario kauerte, so freuen durfte – wirklich freuen, wenn auch behutsam und zurückgenommen. Sie schenkte dem Mann neben ihr ein ehrliches und darum ebenso schmales Lächeln. „Vor allem enthalten diese Pläne, dass die Wanderung irgendwann zuende ist.“ Sie wurde ernst. „Ich laufe gern mit dir kreuz und quer durch die Lande. Das musst du mir glauben, Nâkyshat. Aber ich hege die Hoffnung, eines Tages auch an anderen Seiten des Daseins teilzuhaben.“
Mehr musste sie nicht sagen. Er verstand es schon.
„Dann hoffe ich meinerseits, dass du mir verzeihen kannst“, wich er ihren Augen aus, allerdings nur flüchtig. „Ich muss wenigstens noch ein Mal zurück in die Wüste, und besser früher als später.“
„Natürlich“, sagte sie munter. „Und ich werde dich begleiten.“
„Das würdest du auf dich nehmen?“ Hadan blieb stehen. Es half nicht länger, dass er mehr als einen Kopf größer war als sie, älter und härter – er bat. Sie las es selbst in dieser nur sacht verwandelten Miene.
„Ja.“
Vor ihnen erklang die helle Stimme Maysans, die mit Ifrah Sternbilder am dunkelnden Himmel auskundschaftete. Sie beeilten sich, Mutter und Kind einzuholen.
Noch hing an jedem Schritt die gewichtige Entscheidung, diesen Teil der Welt zu verlassen.
Vielleicht war es ungerecht, Lut Gholein sich selbst anzuvertrauen. Vielleicht war der Sog des Horizonts der Fehler in allen Menschen.
Seltsam, dachte die Assassine. Wir wandern in die Nacht wie Versprengte einer fröhlichen Gesellschaft, ganz, als gefalle es uns einfach so. Hadan griff nach ihrer Hand.
Über dem westlichen Horizont spann sich ein dünner Bogen reinsten Lichts und erstickte weiter oben in dunklem Blau, das einen vollkommen durchsichtigen Nachtschatten auf die Wüste warf.
Sie zogen mehrere Tage am Meeresufer entlang.
Ohne Eile, gemächlich fast, wanderten sie nordwärts und saßen nachts an früh entzündeten Lagerfeuern.
Ringsum war eine große Stille, als warte das Land – Stille wie vor einem Regen oder einem Wechsel der Jahreszeiten und Ereignisse.
Ifrah fühlte sich bei jeder bewältigten Meile an die Wüste, die hinter ihnen in den Bauch des Kontinents zurücksank, erinnert. Sie dachte weniger an die weiße Stadt, sondern eher an die dünnen Bänder von Leben, die sich seit jeher zäh durch Sandstürme und Gefahren vorangekämpft hatten – die Karawanen, die Nomaden und die Wächter. Einst hatten Felsspringer und Hörige der Erzübel diese Bänder bedroht, nun mussten sie sich vor einem neuen Gegner hüten. Doch der Gedanke an das punktartige, kleine Auftreten von störrisch an ihrer Heimat festhaltenden Bewohnern stimmte die Magierin trotz allem zuversichtlich. Sie war noch nicht bereit, dieses Bild des Alten herzugeben.
Einzig die allgegenwärtige Ruhe stimmte misstrauisch.
Wie trügerisch die Stille sein konnte, hatten sie und die Gefährten schmerzhaft lernen müssen.
Sie taten ihr Bestes, sich die Zeit davon nicht verleiden zu lassen. Tagsüber, beim Wandern, oder nachts in ihrem heimlich beleuchteten Viererkreis, unterhielten sie sich ausgiebig. Es fiel ihnen jedoch nicht leicht, Gespräche anzufangen, die Haken um das Vorgefallene schlugen.
Maysan lief unermüdlich und beinahe ausgelassen neben ihnen her, erst durch Sand, dann durch immer dichteres, gelbes Gras, planschte durch die flache Brandung und schenkte ihnen, ohne es zu ahnen, die Aufmunterung, die womöglich nur von der Gegenwart eines Kindes herrühren konnte.
Auch begann sie, mehr Fragen zu stellen. Fast als ahne sie, dass sie dazu nicht wieder so bald Gelegenheit in Gestalt gleich dreier Erwachsener bekommen würde, fragte sie ungeordnet nach Pundar, nach den ‚Schwarzen’, nach dem jungen Fürsten in Lut Gholein und nach Fadraîs.
Ifrah begrüßte diese Neugierde. Sie vertraute ihren zwei Weggefährten darin, dass sie die Kinderseele nicht mit düsteren Gemälden eines baldigen Untergangs erschreckten.
Sie glauben nicht an das Ende Sanktuarios. Daher kann ich ihnen Maysan mit ihren Fragen überlassen.
Und Maysan hat keine Furcht vor der Wahrheit. Was sie braucht, ist eine Erziehung zu wachem Sinn und Urteil, kein elterliches Knie, keine Stimme, die ihr erst erklärt, ‚schau, es gibt neue Feinde für unsere Welt.’
Sie ahnt es ja schon.
Dieses Vertrauens wegen durfte die Magierin, während ihre Tochter mal neben dem Nekromanten, mal neben der Assassine herlief, ihre Gedanken schweifen lassen, weit über die flache Küste und den möwenbetupften Spiegel des Meers hinaus. Selthe lag nun bereits seit Beginn des Sommers unbewacht zwischen der Marsch und der fast menschenleeren Küste. Gesagt war zwar nicht, dass die Dämonen unbedingt aus dem Westen kommen mussten, doch die Erinnerung an ihr Tor in der westlichen Wüste wog schwer.
Nein, der Weg war deutlich vor ihr abgesteckt. Selthe, dann Sadr Hammath, und dort das Überbleibsel aus ihrer Zeit als Kaufmannstochter – die Karawanserei.
Dann rissen sich Ifrahs Gedanken von der Wüste los und hasteten nach Norden. Ging Marej im Schutz der Barbaren wohlbehalten in ihre Heimat zurück?
Mögen Badr und Junah über dich wachen. In den Flammen der Lagerfeuer, im windüberstrichenen Gras, sah Ifrah das Gesicht der Druidin oft wieder. Manchmal trat dahinter Urels Gesicht hervor. Es begann bereits zu verblassen.
Aber nur vor dem inneren Auge. Unsere Herzen bleiben dir treu.
An Eyas und Hadans nachdenklichen Mienen las sie ab, dass auch sie im Geiste bei ihrem alten Mitstreiter weilten, oder vielleicht auch bei den Landen, die sie gemeinsam durchreist hatten.
„Wir werden nicht dauerhaft nach Kurast zurückgehen“, sagte Hadan eines Abends auf Ifrahs Frage, welchen Weg er und Eya in den kommenden Wochen einzuschlagen gedachten.
Der Nekromant starrte finster in die glimmende Kohle des Feuers, um das sie herumsaßen. Eya indes wirkte vorsichtig erleichtert.
„Ich verstehe deinen Groll“, wagte Ifrah sich vor. „Dennoch – Kurast braucht aufmerksame Augen, Menschen, die die Entwicklung der Stadt beobachten.“ Sie hob leicht die Schultern unter Hadans Blick. „Du warst immerhin derjenige, der die Spuren der Dämonen“ – sie erwähnte den geheimnisvollen Anhänger, der im Verlauf des Pakhra-Ritus verschwunden war, nicht – „bloßgelegt hat. Was, wenn ihr Einfluss auf die kurastischen Küster nur ein Vorgeschmack war... wenn sich dort ein zweites Tor öffnet, mitten in einer vieltausendköpfigen Stadt?“
„Pundar wird sicherlich darüber wachen“, warf Eya ein.
„Gewiss“, sagte Hadan, und Ifrah spürte das Unbehagen des Nekromanten, die Zerrissenheit zwischen seiner gewachsenen Abneigung gegen die Stadt und der Pflicht, die Vorgänge im Osten zu verfolgen. „Aber Ifrah hat Recht. Ich habe Kurast über Jahrzehnte für die Hoffnungsträgerin unter den Städten drüben gehalten. Ich darf der Stadt nicht ganz den Rücken kehren, nur weil sie dem Wankelmut ihrer Bürger zum Opfer gefallen ist.“
„Ich möchte auch nicht wieder dorthin gehen“, gestand Eya. „Es sei denn, Hadan hielte es für notwendig.“
„Also seid ihr euch noch nicht einig, wohin ihr ziehen wollt?“, hakte Ifrah nach. Ziehen, und euch dann niederlassen, fügte sie im Stillen hinzu.
Die Assassine und der Nekromant tauschten einen Blick.
Eya grub die schmalen Finger ihrer Rechten angespannt in das Gras zu ihren Knien. „Da ist noch der Orden“, sagte sie tastend. „Wir sind der Ansicht, dass er eine zu üble Gefahr darstellt. Vielleicht hat der Fall Travincals die Viz-Jaq’Taar vorerst aus Kurast vertrieben, aber wer kann sagen, für wie lange?“ Die schwarzen Augen flackerten. „Sie sind sehr hartnäckig. Camdra muss mit ihnen leben, und die angrenzenden Gebiete, auch der Osten, werden sie wieder locken. Sich mit der Landbrücke zufrieden zu geben, ist nicht ihre Art.“
Der Gegenstand des Gesagten senkte sich wie ein Stein in Ifrahs Magen. Über die vergangenen Wochen hatte sie die Viz-Jaq’Taar und auch den Grund für Eyas Aufbruch fast vergessen.
Sie wusste, dass es auf Camdra Menschen gab, die ihre Freundin Hals über Kopf hatte zurücklassen müssen. Vermutlich war dies keine geringe Last auf Eyas Schultern. Die Landbrücke mochte von Unruhe und Krieg weniger mitbekommen haben als andere Teile der Welt, doch wartete dort auf die Assassine ebenso kein sicherer Hafen mehr – des Einflusses ihrer eigenen Klasse wegen.
„Und was gedenkt ihr zu tun?“, erkundigte sich Ifrah bestürzt. Sie erahnte den Dorn, den der Orden für Eya auf immerdar bedeuten musste, und Hadans Ingrimm, wenn er eine Angelegenheit als noch nicht erledigt betrachtete.
Für Eya würde Hadan mit nach Camdra gehen und den Sitz des Ordens aufspüren, gewiss. Die Viz-Jaq’Taar würden gut daran tun, nicht zu warten, bis er durch ihre Vordertür hereinspazierte – ein Mann, der Menschen zu töten imstande war, ohne Hand an sie zu legen.
Die Magierin selbst hatte in Travincal zwei Attentäterinnen vernichtet, mit viel Glück, in wütender Entschlossenheit und dank ihrer stärker gewordenen Magie. Doch auf Camdra würden nicht nur zwei Assassinen auf Angreifer warten. Niemand hatte Kunde davon, wie viele es von ihnen wirklich gab. Es mochten Dutzende sein.
„Irgendjemand muss das Natternnest früher oder später ausheben“, antwortete Hadan auf Ifrahs Frage, während Eya zu Boden sah. „Sobald Eya sich zu dieser Tat durchringen kann, soll es so sein. Sei unbesorgt, Ifrah. Wir werden Vorsicht walten lassen. Zunächst wollen wir klären, was Eyas Bekannten in Kalamё widerfahren ist.“
„Das ist gut.“ Die Magierin warf der Assassine einen aufmunternden Blick zu. Maysan war inzwischen eingenickt, so sagte sie noch: „Wenn ihr meine Hilfe braucht, sendet mir Botschaft.“
Das Paar nickte.
Danach sprachen sie von Lhabarna, wo ein Niederlassen denkbar schien, und Ifrah wünschte es ihnen von Herzen. Hadan mochte der zäheste und mächtigste Nekromant seines Zeitalters sein, aber er brauchte Ruhe. Eya hatte ihm ihr geringeres Alter voraus, konnte aber ebenso wenig jahrelang rücksichtslos weiterkämpfen.
An diesem Abend saßen sie um das Feuer, bis der Mond hoch an den Himmel geklettert war.
Sie sparten weder Harrogath noch die jüngsten Ereignisse aus, weder alte noch neue Sorgen, doch bewegte sich ihr Austausch überwiegend weitab der Dinge, die sie unmittelbar betrafen.
Ifrah hätte die Nacht gern festgehalten. Es würde die letzte sein.
Tiefer im Land hatten sie bereits einige Male Weiler gesehen, Zeichen dafür, dass der Hoheitsbereich der Paladine näherrückte, und mit ihm Santére, die Hafenstadt.
Als sie sich schließlich zum Schlafen niederlegten, schaute die Magierin lang in die glühende Asche des Feuers und dachte an Lut Gholein. Die Entfernung zwischen seinen Städten war die Schwäche Sanktuarios. Während das Land hier hinreichend friedlich wirkte, konnten die Soldaten und die Nomaden Lut Gholeins bereits neue Anzeichen für Feindesbewegung bemerkt haben, ihrer Verbündeten nun ledig und mit einem Knaben auf dem Thron, der halb so alt war wie Maysan.
Man musste es den Städten begreiflich machen, wie sehr sie aufeinander angewiesen waren, dass Hochmut und hergebrachte Zwistigkeiten nun nicht mehr zählten. Man musste sie an die Bedeutung der Völker am Rand Sanktuarios gemahnen.
Am nächsten Morgen fiel Nieselregen. Die Luft war frischer, aber warm.
Nach wenigen Stunden ließ der feine Regen nach, und die Gefährten witterten eine erste Ahnung von Kohle, Dung und Teer in der Luft. Kurz darauf kamen sie an einem winzigen Fischerdorf vorbei. Maysan, die ein Stück vorausgelaufen war, gab aufgeregt an, Schiffe zu sichten.
Es waren viele.
Vor Santére lagen Dutzende kleinerer Boote und, weiter draußen im Meer, teils aber auch im Flachwasser, sechs oder sieben große Schiffe. Erstaunt erkannten die Gefährten an zweien die roten Segel und dunklen Rümpfe Pundars. Die Stadt hatte Angesandte geschickt. Des Weiteren waren kurastische Segler da und zwei oder drei der Schiffe, die Osten und Westen für Händler und Reisende regelmäßig miteinander verbanden.
„Was für ein Gedränge“, ließ sich Eya vernehmen.
Tatsächlich hielten sich in und um Santére mittlerweile noch mehr Menschen auf, als es vor Wochen der Fall gewesen war. Bis auf den Strand und weit in die Wiesen hinaus hatte man Buden und Zelte aufgebaut, sogar neue Hütten zu errichten begonnen. Alles war dicht umlagert von Wagen, Reit- und Lasttieren und buntem Volk.
Santére war die Flüchtlingsstadt des Westens. Doch Eyas Stimme hatte nicht bestürzt geklungen, und auch Ifrah fand, dass das ungeordnete Warten und Wimmeln der Siedlung sie nicht entmutigte.
Es sah nicht so aus, als sei Santére bisher von irgendeiner Seite angegriffen worden. Gewiss waren die Leute hier zu einem Gutteil Heimatlose. Aber wir hätten auch auf niedergebrannte Häuser treffen können, auf Tote und auf leergefegte Straßen. .
Wüstenstämmige waren da, leicht zu erkennen an ihren farbenfrohen, wallenden Gewändern, Menschen aus nördlichen Gebieten mit ihren den Barbaren und Druiden so ähnelnden Gesichtern, und gleich am Ortseingang, nahe des Hafens, standen Paladine herum. Sie unterhielten sich mit einer Gruppe dunkelhäutiger Männer, die allzu bekannte rote Kleidung trugen – Pundarsoldaten und kurastische Stadtwachen.
Wie um das durchmischte Bild zu unterstreichen, hörte man Trommelmusik und Sackpfeifen. Der Osten hatte nicht nur seine Menschen mitgebracht.
„Bleibt zu hoffen, dass die Marsch diesen Ansturm anderer Gegenden verkraftet“, sagte Ifrah zu Hadan, der neben ihr ging. Maysan hielt sich an Eya, Mädchen und Assassine zeigten sich gegenseitig Auffälligkeiten im Getümmel.
„Sie wird es müssen“, gab der Nekromant zurück. „Aber ich gestehe, dass mich der Anblick von Menrads Brüdern an diesem Ort beruhigt. Es macht den Anschein, als stünden sie Wache, ohne die Leute dabei zu maßregeln.“
„Vielleicht eine ihrer ersten Taten nach dem Machtwechsel“, vermutete Ifrah. Sie wurde sich bewusst, dass sie weder Rüstung noch Stab verbarg. War Fadraîs auf dem Weg der Besserung, durfte eine Magierin sich hier vorerst frei bewegen.
Die Gefährten kamen überein, sich aufzuteilen.
Eya wollte zusammen mit Maysan nach einer Schiffspassage sehen, Hadan und Ifrah unterdessen einen Hauptmann der Westmarschener oder einen Magistrat der Stadt aufsuchen, um den Leuten hier Kunde von den Ereignissen bei Lut Gholein zu überbringen.
Man schickte sie in ein Zunfthaus nahe des Hafens, ein rettungslos mit Händlern und Bittstellern überfülltes Gebäude, in dem sich sowohl Oberste aus Santére als auch Lichtkrieger bemühten, Ordnung unter den erschöpften und aufgebrachten Menschen zu schaffen.
Hier erfuhren sie, dass ihre Nachrichten der Marsch nicht neu waren.
Ein blutjunger, übernächtigt aussehender Paladin unterbrach Hadans vorsichtige Erklärungen zum Ausgang einer Schlacht gegen schwarze Kreaturen, die ein Spalt ins Nichts in die Wüste ausgespieen hatte, nach ein paar Sätzen und teilte ihnen mit, dies sei bereits durch andere Teilnehmer derselben Schlacht bekannt geworden. Vor zwei Tagen seien erst Paladine und dann einige Barbaren in Santére erschienen, um nämliche Kunde zu überbringen.
„Menrads Truppe“, erriet Ifrah, nachdem sie und Hadan sich durch palavernde Händler, Fischer, hochbepackte Flüchtlinge und greinende Kinder hindurch wieder ins Freie gezwängt hatten. „Und Herlacs Krieger.“
Sie sahen sich an. Zumindest waren beide Gruppen unbeschadet bis hierher gelangt.
„Alsdann“, seufzte die Magierin. „Zum Hafen also.“
Dort trafen sie Eya und Maysan. Die Assassine wies mit bedrücktem Gesicht auf einen bauchigen Segler, der ein Stück außerhalb des Pulks der anderen Schiffe im Flachwasser ankerte. „Passagen finden sich immer am schnellsten, wenn ich mich von Einem von euch trennen muss, scheint es“, sagte sie leise.
Maysan, die den Ernst der Stunde spürte, war wieder in ihre Sprachlosigkeit verfallen und wirkte unsicher, ob sie sich an ihre Mutter oder, angesichts der drohenden Trennung, lieber an Eya oder Hadan halten sollte.
„Wann legt das Schiff ab?“, fragte der Nekromant und spähte zu dem Segler hinüber.
Ifrah sah, dass über die Laufplanken bereits Reisende einstiegen. Waren, sogar Tiere, wurden an Bord gebracht.
„Bald.“ Jedes Lächeln war aus Eyas Zügen geschwunden. „Sie wollen es in zehn Tagen bis Kurast machen.“
„Bald ist nicht sofort.“ Hadans Stimme klang aufmunternd. „Kommt, lasst uns sehen, ob man uns hier am Hafen etwas zu trinken verkaufen will.“
Tatsächlich erstanden sie in einer zum Meer hin offenen Taverne den für den Landstrich üblichen, dünnen Obstwein, der selbst Kindern kaum etwas antat, Ifrah jedoch auch daran erinnerte, dass der Herbst nahe war.
Der Wein schmeckte ihr nicht, aber sie schluckte und genoss ihn trotzdem auf sonderbare Weise, während ihr Herz heftiger zu pochen begann.
Schließlich, bevor sie den Landeplatz des Schiffes erreicht hatten, hielt sie an.
„Nehmen wir hier Abschied voneinander“, bemühte sie sich, den Knoten in ihrer Kehle zu überspielen. „Ich möchte nicht unter all dem Volk da herumstehen, bis ihr davonfahrt.“
Maysans wegen hatte sie sich geschworen, nicht zu weinen. Ihre Tochter sollte verstehen, dass sie das Lebwohl nur als ein vorübergehendes begriff, ganz gleich wie beharrlich die Vorahnung ihr zuflüsterte, dass sie ihre Freunde lange nicht wiedersehen würde.
Hadan nickte, einen seltenen Ausdruck der Betretenheit auf dem Gesicht. Eya biss sich auf die Lippen, machte aber keine Einwände.
Traurig prägte die Magierin sich die beiden Menschen vor ihr ein, wie sie dastanden, ihre Ausrüstung, ihre Haltung, ihre Züge.
Unten an der Treppe zu Malahs Lazarett habe ich euch zum ersten Mal gesehen. Es war ein kalter Tag. Diese junge Frau mit dem rabenschwarzen Haar kam vor den anderen zu mir, du, Liebes, und da wünschte ich bereits, dass wir Gefährtinnen würden, obwohl man meilenweit erkennen konnte, was du warst.
Ifrah umarmte Eya, die schluckte und die Nase hochzog. „Bis bald, Liebes“, zwang sie sich ein Lächeln ab. „Gib auf dich Acht.“
„Und du auf dich“, antwortete die Assassine erstickt. „Und auf Maysan.“ Ihre Augen schimmerten, aber erst als sie vor Maysan in die Hocke ging, liefen ihr Tränen über die Wangen.
Ifrah hörte sie mit dem Mädchen reden und unbeholfen scherzen, aber da hielt sie schon Hadans Rechte in der ihren. Es geht viel zu rasch. Dann sperrten viel Schwarz und Silber und ein Geruch nach Asche und Sumpfkräutern die Umgebung kurzzeitig aus, denn der Nekromant hatte sie, erneut beweisend, dass er fortan über seinen Schatten zu springen entschlossen war, in eine Umarmung geholt.
Sie überraschte Ifrah nicht weniger als die Menrads. Männer, dachte sie verschwommen mit dem Teil ihrer Selbst, der Kummer am hartnäckigsten widerstand. Meine Schulen haben seit Jahrhunderten gelehrt, dass wir uns von ihrer Kraft und Hilfe nicht abhängig machen dürfen, und doch tauchen sie plötzlich am Wegesrand auf, wie Brüder, die wir nicht hatten oder die wir verloren haben.
Sie schaute hoch. Hadan lächelte nicht, es sei denn, das mildere Weiß der geisterhaften Augen in diesem bleichen Gesicht bedeutete ein inneres Lächeln.
„Binjawl, Ifrah“, sagte er. „Ich habe deinen Brief nie erhalten. Du bist mir also noch einen schuldig.“
„Binjawl“, unterdrückte sie ein Auflachen – oder etwas anderes. „Ja, ich werde von mir hören lassen. Ich verspreche es.“
Der Nekromant zögerte, die Hände noch auf ihren Schultern. „Maysan liebt dich sehr“, sagte er dann, die tiefe Stimme gesenkt. „Zweifle niemals daran.“
„Das tue ich nicht“, gab sie mühsam beherrscht zurück. „Nicht mehr. Geh mit allen freundlichen Göttern, Hadan. Wenn du deinen Tempel baust, werde ich kommen und schauen, wie es vorangeht.“
Und nicht nur der Tempel. Euer Leben. Deine Genesung. Der Bauch deiner Frau. Er sollte irgendwann nicht mehr flach sein. Wartet nicht allzu lange mit Lhabarna.
Als habe er nicht nur den letzten, laut ausgesprochenen Satz vernommen, senkte Hadan leicht den Kopf. Es war ein anderes Nicken als früher, und als er sich von ihr löste und Maysan über das schmollende Gesicht strich, wurde der Magierin klar, dass dies die größte und kostbarste Errungenschaft für ihn bedeutete – sich den Menschen untertan gemacht zu haben.
Nach einem letzten Gruß wandten Eya und Hadan sich ab.
Ifrah sah sie nebeneinander über den harten, feuchten Sand des Ufers gehen, den großen Mann und die sehr viel kleinere Frau, auf das abseits des Hafens wartende Schiff zu, und mit der Menge verschmelzen, die sich davor aufhielt. Sie sah nicht mehr, wie sie die Planke betraten und der Wind Hadans Mantel blähte, oder welche Plätze an Deck sie sich suchten.
Sie stand einfach da, Maysans Kopf an der Brust, beide Arme um ihre Tochter geschlungen, die ebenfalls nicht weinte.
Der Wind schmeckte nach Salz und offener See. Der Segler würde gute Fahrt machen.
Lebt wohl.
Nach einer Weile, ohne etwas von den Fischern zu bemerken, die an ihr und Maysan vorbeikamen, gewahrte Ifrah, dass die Planken eingezogen wurden. Am Ufer wurde gerufen und gewinkt, denn noch andere Menschen verabschiedeten den Segler.
Langsam trieb er vom Ufer fort. Dann aber, dem Flachwasser entkommen, wurde er schneller.
„Madji.“ Maysan zupfte an Ifrahs Ärmel, wo dieser zwischen Schulterstück und Armschoner ihrer Rüstung hervorschaute. „Warten wir, bis das Schiff nicht mehr zu sehen ist?“
„Nein.“ Ifrah holte tief Luft. In diesem Augenblick hob sich ein ungeheures Gewicht von ihrer Seele. „Das dauert wohl doch zu lange, kleiner Stern..“ Sie drehte dem Meer den Rücken zu und streckte ihrer Tochter die Hand hin. „Komm. Lass uns gehen.“
Hand in Hand erreichten sie den wohltuend lebendigen Hafen, durchquerten die schmalen, sandigen Gassen von Santére und gelangten an das westliche Ende der Siedlung, wo Vieh und Packpferde zwischen Zelten grasten.
Vor ihnen erstreckte sich die südliche Marsch.
Ifrah hoffte, auf dem Weg nach Selthe Siedlern oder Paladinen zu begegnen, die ihr Auskunft über die Lage an der Westküste erteilen konnten. Die Reise war weit. Mindestens drei Wochen würden sie und Maysan brauchen, um Selthe zu erreichen.
Vielleicht war es ratsam, ein Pferd zu kaufen. Doch zunächst wollte die Magierin zu Fuß gehen – Meilen des Wanderns, um Zeit für Gedanken zu bekommen.
Aufseufzend zurrte sie den Trageriemen ihres Bündels fester.
Dann machten sie und Maysan sich auf, das Land zu durchqueren, das zwischen zwei unruhigen Gebieten lag.
Rechts des Pfades, den sie aufs Geratewohl durch die hohen Wiesen wählten, flogen Vögel auf. Sie kreisten zwitschernd, doch nachdem die zwei Gestalten sich ein Stück entfernt hatten, beschrieb ihre Schar eine letzte Schleife und tauchte zurück ins Gras.