Um den Jahreswechsel herum waren nacheinander Fiska, Salcia und Anna im unbekannten Land La-Amaris aufgetaucht. Niemand von ihnen wusste, wie oder warum sie hergekommen waren. Doch angesichts der brutalen Herrschaft der so genannten „Protektoren“ hatten sie sich einer Widerstandsbewegung angeschlossen.
Inzwischen ist Ende April in Al-Amaris. Die Stadt Majan ist von Remison, Feldherr des Protektors Aodhan, erobert worden. Batrast und Fiska, die sich zu den Rebellen zählen, hatten die kurze Belagerung beobachtet, und dabei Cein, ein Flüchtlingskind, aufgegriffen. Während Batrast weiterhin das Heer und die Vorgänge um Majan beobachtet, möchte Fiska das Kind in das Winterlager der Rebellen bringen. Dort befindet sich auch ihre Freundin Anna ...
Die Protektoren (9)
Darsi
Namensliste:
Anna: Eine Zauberin, die von den Barbaren abstammt.
Darsi: Eine strenge Amazone.
Fiska: Amazone und Freundin von Anna.
Cein: Ein Kind aus der Stadt Madjan, von Fiska aufgenommen.
Eachan: Der kurzsichtige Schmied der Rebellen
Barghan: Eachans Geselle
Geldor: Paladin und lokaler Anführer der Rebellen.
Baltram: Ein toter „Verhörspezialist“.
Majan: Eine Stadt im Land Al-Amaris, die kürzlich erobert wurde.
Al-Amaris: Das unbekannte Land, in das Anna und Fiska verschlagen wurden.
*
Etwa fünf Tage später im Winterlager der Rebellen
„Pling, pling, plank!“
Anna beobachtete, wie Eachan zweimal mit einem leichten Hammer auf das glühende Eisen und einmal auf den Amboss klopfte, dann blickte sie zu dem zweiten Mann.
„Bonk!“
Der Geselle ließ seinen schweren Schmiedehammer auf die markierte Stelle niedersausen. Niemand sagte ein Wort, denn der Lärm in der Schmiede war zu groß, und sie hatten sich deswegen kleine Stöpsel aus Baumwollfasern in die Ohren gesteckt. Anna sah den beiden gerne bei der Arbeit zu, wobei sie auch deren geheimnisvolle Zeichensprache reizte. Sie fragte sich manchmal, was ihr das besondere Privileg beschert hatte, zugegen sein zu dürfen. Eachan war weit mehr als ein Dorfschmied. Er war ein echter Meister des Waffenschmiedens, und Waffenschmieden war eine Kunst, deren Geheimnisse sonst sorgfältig gehütet wurden.
Barghan war ein dem Meister würdiger Geselle. Er verstand es nicht nur, einen Schmiedehammer zu schwingen, den sie kaum hätte heben können, er tat es vielmehr mit einer Eleganz, die seinem athletischen Körper nicht anzusehen war. Das Spiel seiner kräftigen Muskeln war gut zu sehen, er trug neben seiner Hose und den Schuhen nur noch eine Bauchschürze aus Leder, und Anna sah ihm gerne bei der Arbeit zu.
„Bonk!“
Anna zuckte zusammen und stöhnte unterdrückt auf. Ein kleiner Metallsplitter hatte sich gelöst und in ihren Körper gebrannt. Barghan drückte Anna ohne hinzusehen seine linke Hand gegen die Brust und schob sie schräg hinter sich.
„Vorsicht!“, rief er, dann hob er den Hammer erneut. Doch er zögerte und drehte den Kopf nach hinten, um Anna anzusehen. „Entschuldige Mädchen, ich ...“
„Nenn mich nicht so!“, schnitt ihm Anna leicht verärgert das Wort ab, „Und mach lieber weiter!“
Kurz huschte Verblüffung über sein Gesicht, dann verstand er und nickte. „Ja!“, rief er und wandte sich wieder ab, dem bereits etwas ungeduldig wirkenden Eachan zu. Während das Spiel zwischen dessen Anweisungen und des Gesellen Ausführung weiter ging, untersuchte Anna möglichst unauffällig ihren Bauch und zog schließlich mit den Fingerspitzen einen kleinen Splitter heraus.
Vor ihren Augen entstand ein Breitschwert, aber es war von seiner endgültigen Form noch weit entfernt. Eigentlich hatten die Rebellen genügend davon, und Eachan behauptete auch, es nur zum Zeitvertreib zu schmieden, doch Anna glaubte, er tat es, um ihr weiterhin seine Arbeit zeigen zu können. Seine Kurzsichtigkeit hatte ihm jegliche militärische Laufbahn verwehrt, so war er Schmied geworden. Das war weit mehr als nur ein Beruf für ihn, es war sein Leben, und Schwerter herzustellen war in seinen Augen die Krönung. Anna hatte das zuerst nicht verstanden und gemeint, er würde einfach den Einsatzzweck seiner Kunst verdrängen. Doch dann hatte er gemeint, er sei stolz aber nicht glücklich darüber, dass seine Waffen sich bewährten, und er tue es, um es irgendwann nicht mehr machen zu müssen.
Als sich die Arbeit für heute ihrem Ende näherte und Eachan das Werkstück in die glühenden Kohlen der Esse schob, um es über Nacht langsam ausglühen zu lassen, ging Anna in den Nebenraum. Hier war es angenehm kühl, tief atmete sie die frische Luft ein. Die Hitze in der Schmiede war für sie trotz ihrer leichten Kleidung fast unerträglich gewesen. Sie ging zum Arbeitstisch, auf dem sich die drei Gegenstände befanden, an denen sie in letzter Zeit gearbeitet hatte: Eine Assassinen-Kralle, ein Kettenhemd und ihr neues Schwert.
Sie empfand etwas Stolz bei ihrem Anblick, hatte sie doch ebenfalls einen Beitrag bei ihrer Herstellung geleistet. Etwas in Gedanken legte sie den Körperschutz an, er war aus Tausenden kleiner Metallringe zusammengesetzt worden, eine Arbeit, die überwiegend von den zahlreichen Ehefrauen der Paladine gemacht worden war. Offiziell waren er und das Schwert Geschenke Geldors, doch Anna sah es als Gaben aller an, mehr noch, als Anerkennung ihrer Mitmenschen.
Dann nahm sie das Schwert in die rechte Hand. Es war speziell nach ihren Bedürfnissen und Wünschen gefertigt. Mit seiner langen und schmalen Klinge war es mehr eine Stichwaffe, aber dennoch massiv genug zum Abblocken von Hieben. Zuhause hatte sie eine ähnlich Klinge, die Erinnerung an sie hatte ihr als Vorbild gedient.
Zuhause ... Ich weiß nicht einmal, wo ich hier bin.
„Stimmt etwas nicht?“
Barghans Stimme schreckte Anna aus ihrer Grübelei. Er stand in der Tür, die er mit seinem Körper benahe ausfüllte.
„Nein ... es ist alles in Ordnung, ich wollte nur noch einmal das Schwert prüfen, bevor Eachan es sieht.“
Er kam mit zwei seiner großen, raumgreifenden Schritte auf sie zu und streckte die rechte Hand aus. Anna starrte auf die vielen kleinen Brandnarben, die seinen Unterarm bedeckten. Sie hatte sie schon oft gesehen, dennoch war sie immer wieder fasziniert. Dazu kamen der Geruch nach Rauch und Schweiß, den sie jetzt deutlich wahrnahm.
„Kann ich es sehen?“, drang seine Stimme in ihre Gedanken.
„Ja ... gerne doch.“
Anna reichte ihm lächelnd das Schwert. Barghan betrachtete es genau.
„Der Griff ist ganz gut geworden. Für mich wäre er zu dünn, aber für dich ist er bestimmt richtig so.“ Er sah vom Schwert auf zu Anna. „Auch das Kettenhemd passt und steht dir.“ Er räusperte sich. „Verzeih, wenn ich dich vorhin beleidigt habe. Du musst eine gute Kriegerin sein, auch wenn du dich nicht mehr richtig daran erinnern kannst.“
Seine Worte trafen sie tief und ganz anders, als er es gewollt hatte. Sie fragte sich nun, warum sie das Kettenhemd angezogen und das Schwert genommen hatte. Mit einem Schlag fühlte Anna sich unsicher und kam sich albern vor. Sie wollte sich schnell das Kettenhemd über den Kopf streifen, doch in ihrer nervösen Hast gelang es nicht, irgendwie verklemmte sich die eingearbeitete Schulterverstärkung an ihrem Kopf.
„Warte, ich helfe dir“, sagte Barghan.
Er löste kurzerhand ihre Hände vom Ringpanzer, schob je zwei Finger von der Seite her unter die Rüstung und zog sie ihr spielerisch leicht über den Kopf.
„Das ist der Nachteil der Schulterbrücke, aber ihr Mädchen braucht das halt. Wir haben das Leder hart gekocht, damit es die Last nur auf deine Schultern verteilt und nicht...“
„Ich weiß das. Aber warum nennst du mich immer so?“
Wie schon zuvor, war Barghan kurz verblüfft, dann nickte er.
„Oh ja, es rutscht mir immer wieder raus. Bitte helfe mir, dass ich es mir abgewöhne, Dorothea ärgert das auch immer so sehr.“
„Wer ist Dorothea?“
Barghans Augen leuchteten auf. „Dorothea ist eine Amazone.“ Ein weiches Lächeln umspielte seinen Mund. „Ich habe sie vorgestern kennen gelernt. Ich finde sie ganz nett, nicht so abweisend wie die anderen Amazonen.“
Anna sah zu Boden. Nach einigen Atemzügen in der betroffenen Stille deutete Barghan auf die auf dem Tisch liegende Kralle. Sie hatten sie als erstes angefertigt, sie war für Salcia gedacht.
„Hast du heute morgen noch weitere Gravuren gemacht?“
Anna nickte stumm. Barghan nahm nun die Kralle in die Hand und betrachtete sie ebenfalls genau.
„Ja, das hast du auch schön gemacht, Anna. Die Symbole sind sehr detailreich und die Schrift ist gestochen scharf.“
Anna sah auf. „Die Sachen sind fertig. Wenn Eachan keine Einwände hat, werde ich sie noch heute mitnehmen, dann brauche ich morgen nicht wieder zu kommen. Salcia wird sich freuen, endlich wieder ihre gewohnte Waffe zu besitzen.“
„Du willst morgen nicht wieder kommen?“, fragte Barghan verwundert.
Anna wurde der Antwort enthoben, denn Eachan betrat den Raum.
„Ich muss Euch beide leider unterbrechen. Fiska wartet vor der Schmiede auf dich, Anna.“
Glücklich über die Störung floh Anna geradezu aus dem Raum. Erst als sie ihre Freundin sah, kehrte ihre nüchterne Überlegung zurück. Verwundert sah sie das Kind, das sich ängstlich hinter der Amazone zu verbergen versuchte.
Ein Kind! Was bedeutet das? Ich habe Fiska noch nie so ernst gesehen, seit ich in Al-Amaris bin.
„Kann ich dich unter vier Augen sprechen, Anna?“
„Sicher. Wir könne in unsere Hütte gehen, Salcia ist nicht da“, antwortete Anna. „Ist es wegen dem Jungen?“
„Das ist Cein“, die kleine Amazone streichelte beruhigend den Kopf des Jungen, „er ist von Majan weggelaufen. Er hat nur etwas Angst vor der Schmiede.“
Anna ging etwas in die Knie und sah den Jungen an, der sie unsicher anblickte. Als sie ihre Hand ausstreckte, wich er etwas zurück.
„Ich tue dir nichts, Cein.“
Sie erschrak über ihre Stimme, in der noch zu deutlich ihre Enttäuschung von vorhin schwang. Ärger über sich selbst kam hoch und verfinsterte ihre Miene zusätzlich.
„Er wird dir bestimmt nicht zur Last fallen, ich werde mich um ihn kümmern, außerdem soll er nicht lange bleiben“, meinte Fiska.
Anna richtete sich langsam wieder auf.
„Entschuldigt beide meine schlechte Laune, ihr könnt nichts dafür.“
„Zauberinnen sind für ihre starken Emotionen bekannt, daran habe ich mich gewöhnt“, versuchte Fiska zu beschwichtigen.
Anna seufzte, dann ging sie voran zu ihrer Hütte.
„Kommt mit, bei einer Tasse Tee können wir über unseren kleinen Gast reden.“
„Ja, doch zuerst müssen wir über Darsi sprechen.“ Ihre Stimme wirke angespannt.
„Was?“ Anna blieb überrascht stehen. „Was hat die damit zu tun?“
„Das darf niemand außer uns wissen“, antwortete Fiska flüsternd. „Bitte! In der Hütte erkläre ich es dir.“
*
Vor zwei Stunden im Wald
Darsi blinzelte in die Sonne. Es war ein schöner Frühlingstag, in der ihre Lieblingslichtung erstrahlte. Jetzt, am frühen Nachmittag, war es angenehm warm in der Sonne, der Platz lag abseits von allen Tierpfaden und, vor allem, von den Menschen. Darsi suchte und mochte die Stille und Einsamkeit, und bei ihrem Vorhaben wollte sie unbedingt ungestört bleiben.
Ich habe getan, was getan werden musste, und es ist mir gelungen. Was bleibt, das ist zu bezahlen, was es mich kostet.
Sie breitete eine schneeweiße Decke auf dem Boden aus. Sie war quadratisch und aus feiner Baumwolle gewirkt, so fein und zart, dass normalerweise niemand sie auf einer Wiese ausbreiten würde. Aber dies hier war kein normales Ereignis.
Bedächtig löste sie das Band aus ihrem schwarzen Haar und öffnete es mit einem leichten Kopfschwung, dann prüfte sie ihre Kleidung. Sie trug eine schwarze, eng anliegende Hose und eine Weste aus dunkelbraunem Leder, wie meistens. Alles war zu ihrer Zufriedenheit in makellosem Zustand. Dann zog sie, um die kostbare Decke nicht zu beschmutzen, ihre schwarzen Schnürstiefel aus und setzte sich im Schneidersitz auf sie. Kopf und Rücken bildeten dabei eine perfekt senkrecht ausgerichtete Linie.
Darsi zog ihren Dolch aus der Scheide und sah ihn kurz an. Er hatte eine relativ kleine Klinge, in die nur ein einzelnes Symbol eingraviert war: Das Wappen ihrer Familie. Sie sah es noch einmal an, dann schloss sie die Augen, um sich zu konzentrieren. Sie wollte sich noch einmal in Erinnerung rufen, was sie dazu gebracht hatte, Geldors Befehle zu missachten, ihre Gefährten und jene Neue zu gefährden, nur um ihm den Stillen Tod zu schicken.
Baltram! Dir hatte es nie genügt, deine Opfer nur von außen zu foltern. Du wolltest sie immer von innen her zerstören. Dass sie sich selbst zerfleischen und verfluchen, was sie einst liebten. Mag ich auch verloren sein, so ist es mir Befriedigung, dich in die Verdammnis geschickt zu haben. Mag dir dort widerfahren, was du den Menschen angetan hat!
Sie packte den Dolch fest mit beiden Händen, die Spitze auf ihren Hals gerichtet. Sie richtete ihre Konzentration nun darauf, sich von ihrer Umwelt abzukapseln.
*
Etwa eine Stunde zuvor
Fiska lief hinter Cein her. Der Junge hatte erstaunlich schnell Vertrauen in sie gefasst, und wenn er ausreichend abgelenkt war, um nicht an seine Eltern zu denken, dann war er ein lebhafter Bursche. Sie beide waren auf dem Weg in das Winterlager, während Batrast weiter die Vorgänge um die Stadt und vor allem den Zug des Heeres beobachten wollte.
Cein blieb außer Atem stehen. Fiska erreichte ihn und drückte ihn sanft gegen ihre Seite.
„Na, zu schnell gelaufen?“, fragte sie.
„Nein! Aber ich wollte dir nicht davon laufen“, stieß er mühselig zwischen tiefen Atemzügen hervor.
„Ach so. Schön, dass du auf mich wartest. Sollen wir eine kleine Pause machen? Ich möchte mich etwas ausruhen, und du könntest vielleicht einen Happen essen.“
„Hunger habe ich keinen, aber Durst.“
Unvermittelt fing er an zu weinen. Fiska drückte ihn stärker gegen sich.
„Schlimm? Du wirst bald nach Hause können und deine Mutter wiedersehen.“ Sie fühlte, wie er unter ihren Händen leicht bebte. „Sei tapfer, es ist nicht mehr weit bis zu meinem Zuhause.“
Langsam löste er sich aus ihrem Griff und blickte sie an. Fiska wischte ihm die Tränen aus dem Gesicht.
„Du erinnerst mich an meinen Sohn. Er ist jünger, aber nicht viel kleiner.“
„Du hast einen Sohn? Ich dachte immer, Krieger haben keine Kinder.“
Fiska nickte schwer. „Ja, mein Kleiner, das könnte man denken.“ Sie bemerkte seinen verwunderten Blick und reichte ihm ihre Trinkflasche. „Doch du bist noch zu klein, um das zu verstehen.“
„Ich bin nicht klein!“
Sie seufzte. „Na schön, du bist nicht klein.“
Er nahm die Flasche und trank mit kleinen, hastigen Schlucken.
Auf einem Hügel hielten sie wieder an. Hier wehte ein kräftiger Wind, der die Kuppe vom sonst so dichten Wald freihielt. Fiska sah sich um und suchte nach dem weiteren Weg. Sie waren jetzt seit über vier Tagen unterwegs, und der Weg durch die Wälder war anstrengend. Fiska wollte auf jeden Fall vermeiden, dass sie beide den üblichen Weg gingen, da auf ihm Wachen warteten, die sie beide ganze Abschnitte weit mit verbundenen Augen führen würden – Eine Prozedur, die Cein mit Sicherheit nicht ertragen würde und das Vertrauen in sie zerstören würde. Daher hatte Fiska beschlossen, das versteckte Winterlager zu suchen. Sie traute es sich zu, denn ein Lager von dieser Größe war unmöglich sicher zu verbergen, wenn man wusste, in welcher Umgebung es lag. Vielleicht konnte man es vor Paladinen verstecken, die nichts ohne Plan und Karte auch nur versuchten, aber nicht vor einer Amazone, die von Kindheit an in der freien Landschaft gelebt hatte.
Als sie glaubte, eine bekannte Formation – das Glitzern eines Baches zwischen zwei markanten Hügeln – erkannt zu haben, fiel ihr dennoch ein Stein vom Herzen. Fiska genoss jetzt den Wind, wie er kühlend um ihre bloßen Arme und Beine strich und frisch in das Gesicht blies.
„Herrlich!“
Für wenige Sekunden war sie glücklich, denn befreit von ihren Erinnerungen.
Eine halbe Stunde später näherten sie sich einer Lichtung.
„Ich glaube, ich kenne diese Gegend, Cein. Wenn ich mich nicht irre, dann sind wir in zwei Stunden da.“
Nur hundert Meter weiter streckte sie plötzlich ihren Arm zur Seite aus, um ihn zu stoppen.
„Psst, ich glaube, da ist jemand! Warte!“
Cein nickte. Fiska schlich sich vorsichtig weiter, bis sie die Lichtung erreichte.
Es bot sich ihr ein ungewohnter Anblick. In der Mitte der Lichtung saß im Schneidersitz eine Amazone auf einer makellos weißen Decke. Es war weniger die Kleidung sondern mehr die steife Ernsthaftigkeit, die Fiska sie auf Anhieb erkennen ließ.
„Typisch Darsi!“
„Kennst du sie?“
Fiska wandte sich dem Jungen zu. „Du solltest doch warten!“
„Wieso? Du bist doch da.“ Ehe Fiska antworten konnte, flüsterte er weiter. „Warum sitzt die so komisch da?“
„Das ist Darsi, sie ist manchmal etwas merkwürdig, aber ...“, brach ihr Flüstern ab. Jetzt merkte auch sie, dass etwas nicht stimmte. Die Szene vor ihren Augen strahlte eine unbehagliche Feierlichkeit aus, die sie sich zunächst nicht erklären konnte. Erst in dem Moment, als Darsi ihre Hände mit dem Dolch hob, begriff sie schlagartig: Die schneeweiße Decke, die makellose Kleidung, das frisch gewaschene Haar, all das war dieses Mal nicht nur der gewohnte Auftreten ihrer ordnungsliebenden Kollegin, es war weit mehr: Toltar, der letzte Ausweg.
„Nein!“
Der laute Ruf schreckte Darsi auf. Sie ließ den Dolch sinken und öffnete ihre Augen. Ihr Gesicht verhärtete sich, als sie erkannte, wer auf sie zueilte.
„Warum störst du mich?“, warf sie Fiska entgegen.
„Bei den heiligen Elementen, was hast du vor?“, fragte Fiska zurück, dann stand sie unmittelbar vor der im Schneidersitz verharrenden Amazone.
Darsi hob ihren Kopf und starrte Fiska an, ein tiefer Groll stieg in ihr hoch.
„Geh! Geh, und lasse mich in Würde den Toltar vollziehen.“
„Nein! Das kannst du nicht machen. Du kannst dich doch nicht vor den Augen eines Kindes selbst töten. Warum auch? Du hast doch nichts getan.“
„Dann geh doch endlich und nehme ihn mit. Ich will nicht, dass jemand mir zusieht, nicht einmal meine Mitkämpferinnen.“ Ihr kühler Blick traf Fiska. „Und jemand wie du schon gar nicht.“
„Aber...“, stotterte Fiska hilflos, doch ihr flehender Blick ließ nur Darsis Zorn über die Unterbrechung überkochen. Sie sprang übergangslos auf, ihre straffe Gestalt überragte Fiska deutlich.
„Du hast schon verstanden. Du bist nicht würdig, mit deinen Füßen mein Tuch zu beschmutzen. Ich weiß nicht, was und warum du deine Ehre verloren hast, doch Schuld und Scham dringen dir doch unübersehbar aus allen Poren.“ Sie packte Fiska an den Schultern und stieß sie zurück. „Du hast keine Ehre mehr, maße dir nicht an, über Menschen zu urteilen, die sie besitzen!“
Fiskas Beine verloren ihre Kraft, sie sank zu Boden und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Undeutlich drangen die Worte zwischen den Fingern hindurch.
„Ich kann doch nicht anders...“ Langsam zog sie die Hände weg. „Ich würde gerne deinen Weg gehen, aber ich kann nicht. Ich beneide dich darum, dass Geldor und Anna dir den Toltar gewähren.“
Darsi schüttelte ihren Kopf. „Versuche nicht, dich herauszureden. Geldor und Anna haben mit meiner Entscheidung nichts zu tun. Ich habe gehandelt wie eine richtige Amazone und handele weiter so, das ist alles. Das unterscheidet uns. Zwischen uns liegen Welten.“
Fiska antwortete zuerst nicht. Stattdessen drehte sie suchend ihren Kopf, bis sie Cein entdeckte. Der Junge stand in stummer Verunsicherung gefangen einige Schritte abseits. Sie sah ihn an, dann stand sie auf. Sie sah noch einmal zu dem Jungen, ihre Gestalt straffte sich dabei etwas, dann wandte sie sich erneut Darsi zu.
„Es stimmt, ich habe Schuld auf mich geladen und meine Ehre verloren. Doch eines Tages werde ich Anna um den Toltar bitten. Und das solltest du auch. Ich war einmal eine vollwertige Amazone, ich kenne die Bräuche. Den Toltar nimm man sich nicht einfach heimlich, man bittet die darum, in deren Schuld man steht.“
Darsi sah sie verblüfft an.
„Willst ausgerechnet du mir erzählen, was sittlich ist? Geldor und Anna, das sind doch nur Namas. Keine Amazone ist einem Nama Rechenschaft schuldig.“
„Sicher sind beide keine Amazonen, doch deine Abfälligkeit ist zumindestens Anna gegenüber fehl am Platz. Und ich bin mir sicher, du weißt das auch. Warum bist du denn sonst aus unserer Hütte ausgezogen, als sie einzog? Weil du dich ihr gegenüber schuldig fühltest, weil du ihr nicht mehr in die Augen blicken konntest. Wenn du wirklich Ehre hast, dann fliehst du jetzt nicht weiter, sondern gehst zu ihr und bittest sie um Verzeihung oder um den Toltar.“
Darsi schüttelte ihren Kopf. „Ich soll eine Nama um so etwas bitten?“ Sie starrte Fiska an, ihren Stolz schwinden und ihre Verzweiflung anwachsen fühlend. „Das ... das kann ich nicht.“
„Warum nicht?“, erwiderte Fiska. „Ich habe es bei ihrer Freundin Meri einst getan. Was ich schaffte, solltest du auch können.“
*
Zurück in die Gegenwart
Anna und Fiska gingen in ihre Hütte. Sie war leer, da Salcia schon seit einigen Tagen unterwegs war, und Darsi gleich wenige Tage nach Annas Ankunft ausgezogen war.
„Ich habe im Wald Darsi getroffen, wie sie gerade den Toltar vollziehen wollte. Davon konnte ich sie vorerst abbringen, doch jetzt wird sie gleich hierher kommen, und dann wird sie dich darum bitten.“
„Was ist ein Toltar?“, fragte Anna.
„Die einzige Methode für eine Amazone, ihre Ehre wiederzuerlangen.“ Fiska sah Annas fragenden Blick. „Sie stößt sich dazu einen Dolch in die Kehle“, sie lächelte, „oder bittet eine Freundin, es zu tun.“
„Was? Sie bringt sich selbst um? Das ist doch Wahnsinn!“
„Oh nein“, Fiskas Lächeln vertiefte sich, „das ist es nicht. Ein Toltar ist wunderbar. Aber nur, wenn er gerechtfertigt ist.“
Anna sah ihre Freundin zweifelnd an. „Das musst du mir schon genauer erklären.“
„Das mache ich gerne, denn du musst wissen, was ein Toltar ist.“
Fiskas Erklärung machte Anna sehr nachdenklich. Es war weniger der Inhalt, denn von rituellen Selbsttötungen in machen Kulturen hatte sie schon gehört, als vielmehr Fiskas Stimme und ihr immer verträumter wirkendes Lächeln, das sie erschreckte. Es schien ihr, als wenn ihre Freundin bei diesem Thema ihre Niedergeschlagenheit und Traurigkeit ablegen würde. Anna musste sich zwingen, ihre Gedanken auf die momentane Lage zu konzentrieren, um zusammen mit Fiska einen Plan zu entwickeln. Die Zeit drängte. Anna hastete kurz darauf mit einer Wolldecke auf ihren Hügel hinter der Hütte, einen Platz, an dem sie völlig unbeobachtet und ungestört sein würde. Fiska hingegen blieb mit Cein in der Hütte, um sich um das völlig übermüdete Kind zu kümmern, und um Darsi den Weg zeigen zu können.
Anna brauchte nicht lange zu warten. Scheinbar desinteressiert sah sie zu, wie die hagere Amazone den Hügel zu ihr hinaufstieg, Doch in Wahrheit verspürte sie mit einem Mal die Last der Verantwortung. All die Hast der Vorbereitung, all die Gedanken über das richtige Vorgehen, sie waren nun fort und hinterließen Raum für Zweifel.
Fiska, ich kann Darsi doch nicht so behandeln! Aber ich vertaue deiner Einschätzung, du bist eine Amazone, ich nicht.
Sie hockte sich auf ihre Decke und wollte sich konzentrieren. Dabei fiel ihr Blick auf ihre Rockborte, deren helles Rot sie anstarrte. Sie hatte extra dieses traditionelle Kleidungsstück angelegt, da sie es für diese Situation als passend empfand. Die rote Borte signalisierte das Vertrauen, das jenes Volk ihr entgegenbrachte, das sie nicht nur aufgenommen, sondern inzwischen auch angenommen hatte.
Möge ich die Kraft haben, das hier durchzuhalten. Ich habe diese Art von Verantwortung nie gewollt.
Dann stand auch schon Darsi vor ihr.
Darsi sah Anna auf einer bunten Decke sitzen. Die blonde Frau hatte ihre Knie leicht angezogen und ihre Hände locker in den Schoß gelegt. Es wäre für eine Amazone undenkbar gewesen, dermaßen unkultiviert dazusitzen. Anna schien ihr Kommen erst jetzt zu bemerken. Langsam hob sie ihren Kopf und sah sie aus ihren blauen Augen an, das Gesicht verkniffen ernst.
„Was wollt Ihr?“
„Euch bitten, mir den Toltar zu erlauben. Ich werde ihn selbst ausführen.“
Anna antwortete zunächst nicht, dann hob sie ihre linke Hand, machte eine seltsame Geste.
„Nein, das wollt Ihr nicht“, sagte sie und schüttelte dazu bekräftigend ihren Kopf.
Die große Amazone verzog unmerklich einen Mundwinkel. „Doch, ich meine es ernst. Wir Amazonen meinen immer, was wir sagen. Zumindestens wir richtigen Amazonen, die Ihr vielleicht nicht kennt.“
„Das meine ich nicht. Ihr bittest mich nicht, das meine ich.“
„Soll ich mich vielleicht vor Eure Füße werfen und darum anflehen?“
„Warum nicht? Ihr habt mit Eurem Verhalten während meiner Befreiung Alle gefährdet. Fiska, Salcia, Geldor, Largais und alle Anderen, sie hatten sich auf Euch verlassen, doch stattdessen seit Ihr nur Eurer eigenen Rache nachgegangen. Und jetzt kommt Ihr hier bei mir an, und behauptet wieder etwas, das nicht stimmt. In Wirklichkeit bittet Ihr nicht, Ihr fordert es.“
Anna stand in einer langsamen Bewegung auf. Darsi stand mit versteinertem Gesicht absolut regungslos vor ihr, es war unmöglich zu erraten, was in ihr vorging.
„Ich will keine Demütigung, aber eine aufrichtige Bitte. Dann würde ich Euch den Toltar gewähren.“
Ihre Stimme stockte.
Ich schaffe das nicht! So bringe ich sie doch nur um!
Anna schluckte, dann presste sie mühselig weitere Worte hervor.
„Allerdings fällt es mir schwer, Euren Toltar zu verstehen. Ich würde ihn vielleicht respektieren, aber eigentlich ... versteht, wenn in meinem Volk jemand Schaden anrichtet, dann erwarten wir Reue und Wiedergutmachung. Wer das verweigert wird jedoch ausgestoßen. Die aufrechte Einsicht, sie ist uns am wichtigsten.“
„Ihr glaubt im Ernst, ich würde mich davor drücken wollen?“, fragte Darsi sichtlich ersaunt.
„Ja. Sich einen Dolch in die Kehle zu rammen, das beeindruckt mich überhaupt nicht. Im Gegenteil, es würde mir wie eine Flucht vor der Verantwortung vorkommen. Gesteht Euren Fehler ein und helft wieder, diese Schreckensherrschaft der Protektoren zu beenden.“
„Das kann ich nicht“, erwiderte Darsi.
„Warum nicht? Seht es nicht als Demütigung an, denn so ist es nicht gedacht. Im Gegenteil, ich weiß, was dazugehört, einen Fehler offen einzugestehen. Nur Weniges achte ich mehr.“
„Nein, jetzt versteht Ihr nicht. Ich müsste mich selbst belügen, würde ich einen Fehler eingestehen. Ich musste Baltram erschießen, denn Geldor hätte ihn laufen lassen. Doch ich hatte es geschworen, denn ...“
Sie brach ab und hob abwehrend beide Hände.
„Ihr könnt mir ruhig erzählen, warum Ihr Baltram töten musstet. Ich werde es bestimmt für mich behalten, und ich bin hier niemandem Rechenschaft schuldig, auch nicht Geldor. Vielleicht verstehe ich Euch dann besser.“
Darsi schüttelte ihren Kopf.
„Schade, hier würde uns niemand sonst hören“, Anna schüttelte ebenfalls ihren Kopf. „Wie soll ich Eure Tat beurteilen können, wenn Ihr schweigt? Ich bitte Euch“, sie lächelte leicht, „denkt darüber nach. Ich werde morgen um dieselbe Zeit wieder hier sein.“
Darsi nickte knapp, dann drehte sie sich abrupt um und ging.
*
Als Anna am nächsten Tag Darsi beobachtete, wie sie den Hügel zu ihr hinauf ging, erkannte sie auf Anhieb, dass die Amazone einen Entschluss gefasst hatte. Ihre Hände wurden feucht und ein unangenehmes Gefühl breitete sich von ihrem Magen ausgehend in ihrem Bauch aus. Anna zwang sich dazu, sich ähnlich wie am Vortag scheinbar gelassen auf die Decke zu setzen. Das eine Bein hatte sie gerade ausgestreckt, das andere mit beiden Händen fest am Schienbein gepackt und mit der Ferse bis an den Leib gezogen.
So könnte Darsi wenigstens nicht sehen, wie sehr ihre Hände zitterten.
Durch das Hinhocken war Darsi kurz aus ihrem Sichtfeld verschwunden gewesen, dann wuchs sie mit nur wenigen Schritten vor ihr auf.
„Ich nehme Euer Angebot an“, sagte sie ebenso übergangslos wie am Vortag.
Anna sprang wie aus einem Katapult abgeschossen auf. Im selben Moment ärgerte sie sich über ihre Unbeherrschtheit und kämpfte dagegen an, sich ihre Erleichterung ansehen zu lassen. „Ihr seid also bereit, mir Eure Gründe zu nennen?“, fragte sie.
„Ja, aber Ihr müsst sie für Euch behalten.“ Darsi verschränkte ihre Arme vor der Brust. „Ich mache das nur, damit Ihr nicht weiterhin meint, ich würde mich drücken wollen. Danach werdet ihr einsehen müssen, dass der Toltar der einzig sinnvolle Abschluss ist.“
„Wir werden sehen“, meinte Anna und deutete auf eine zweite Decke.
Während Darsi sich im Schneidersitz auf dem angebotenen Platz niederließ, ging Anna zum Feuerplatz und hob das seit geraumer Zeit kochende Wasser herab. Aus einer Blechdose nahm sie mit den Fingerspitzen getrocknete Kräuter, warf sie in zwei Becher und schüttete das Wasser drauf. Ein seltsamer, leicht herber Geruch breitete sich aus. Sie reichte den einen Becher der Amazone und setzte sich mit dem anderen in der Hand auf ihre Decke.
„Das ist Tee, Ihr könnt ihn beruhigt trinken“, sagte Anna zu der etwas misstrauisch wirkenden Amazone und nippte vorsichtig am Becher. „Er ist nur etwas heiß.“
„Danke.“ Darsi schnüffelte am Dampf und stellte den Becher sorgfältig ab. Ihre dunklen Augen erfassten Anna. „Wisst Ihr, aus welchem Grund die meisten von uns zu Rebellen geworden sind?“
Anna machte eine verneinende Geste mit den Händen. „Ich weiß nicht einmal, warum ich es geworden bin.“
Darsi nickte langsam. „Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Es ist seltsam, nicht wahr?“ Sie machte eine kurze Pause, sprach dann weiter. „Die Herrschaft der Protektoren gegenüber ihrem Volk fußt auf Angst und Auslöschung. Wer auch nur in den Verdacht der Opposition gerät, der verschwindet, und mit ihm seine ganze Familie.“
„Ihr meint wirklich die ganze Familie?“
„Ja, Frau, Mann, Kinder. Manchmal auch noch Eltern und Freunde. Sie alle verschwinden aus der Bevölkerung, einfach so. Doch sie sind nicht gleich tot.“
Anna wurde der Becher in der Hand schwer.
„Was geschieht dann mit ihnen?“
„Ich dachte, du hättest das am eigenen Leib erfahren. Sie werden meistens verhört, um so genannte ‚Mitverschwörer’ zu erfahren.“
„Verstehe, Baltram hat deine Familie auf dem Gewissen.“
„Oh nein! Wäre es so gewesen, ich hätte nicht das Recht gehabt, mich über Geldors Befehle hinweg zu setzen. Schließlich ist es Hunderten von uns so ergangen, einzig eine rechtzeitige Flucht hatte sie gerettet. Doch ich und mein Mann sind damals in Baltrams Hände gefallen, und er hat nicht gefoltert, um irgend etwas zu erfahren. Er wusste genau, dass wir beide nichts wussten. Er tat es aus ... Interesse. Er wollte mich nicht von außen her zerstören, das langweilte ihn. Er wollte, dass ich mich selbst zerstöre, von innen her. Und ebenso mein Mann Dagian.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Wie soll das gehen?“
„Das dachte ich damals auch. Dann fing er an, mich zu foltern. Nach einer endlosen Stunde bot er mir an, entweder weiterzumachen, oder Dagian einen Fausthieb zu versetzen.“
Darsi sah Anna in die Augen. „Zuerst lehnte ich ab, aber irgendwann sagte ich ‚Ja’. Damit hatte ich den Pfad in die Verdammnis eingeschlagen.“
Anna benötigte etwas Zeit, um Darsis Worte zu begreifen.
„Du hast ihn sehr geliebt, nicht wahr?“
„Natürlich habe ich Dagian geliebt.“ Für einen Moment hatte ihre Stimme geschwankt, um dann wieder die gewohnte Kühle anzunehmen. „Wir Amazonen lieben unsere Männer. Baltram ließ mich diese Liebe verraten, und er ließ auch Dagian seine verraten. Als Dagian tot war, ließ Baltram mich laufen, ich habe nie erfahren, warum. Vielleicht war ich ihm nicht mehr von Interesse.“
„Weil er sein Ziel erreicht hatte“, rutschte es Anna heraus. „Entschuldige ... das alles tut mir Leid.“ Weder ihr noch Darsi schien aufzufallen, dass sie sich längst duzten. Sie berührte Darsi an der Schulter. Die Amazone reagierte erst nicht, dann entzog sie sich.
„Ich suche kein Mitleid“, flüsterte sie, „Und von einer Nama erst recht nicht."
Anna sah sie nachdenklich an, schien ihre Worte nicht gehört zu haben. „Du hast das immer für dich behalten?“
Darsi nickte knapp. „Natürlich, das geht niemandem etwas an. Ich muss mich auf dein Wort verlassen, es für dich zu behalten.“
Anna nickte. „Das hast du ganz sicher. Und weil du so offen zu mir warst, werde ich es auch zu dir sein: Mit dem Toltar willst du nicht die Schuld mir und den anderen gegenüber tilgen, sondern Dagian gegenüber. Doch glaubst du, er hätte das gewollt?“
Darsi war bei Annas Worten zunächst erstarrt, dann umspielte überraschenderweise ein weiches Lächern ihre Lippen.
„Nein, er hätte nie mein Leben gewollt. Er hätte seines gegeben, um meines zu retten.“
„Und das hat er dann auch“, erwiderte Anna sanft. „Sehe es so. Nicht du hast es so gewollt, sondern Baltram. Du und Dagian, ihr hattet doch überhaupt keine Wahl.“ Sie packte Darsi am Oberarm. „Ich bitte dich, bleibe bei uns! Wenn du deinen Hass ablegest, dann kannst du denen mehr schaden, die dich quälten, als wenn du dich selbst vernichtest.“
Darsi stand auf.
„Ich werde über deine Worte nachdenken.“ Sie reichte Anna ihren Becher zurück. Er war noch voll. „Vielleicht ein anderes Mal.“
Dann ging sie davon in Richtung ihrer Hütte. Anna blickte ihr lange nach.