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Die Protektoren

Very nice. Habe gerade das thread zum ersten mal gelesen... Gut, wenn ich die Zeit finde schau ich auch noch mal genau nach.

hmm - Du weist schon, das du da Stalin zitierst, in Teil 6?
Das mit der Tragödie und der Statistik ist orginal von Joseph Stalin...

Greetings
Aron
 
Das mit dem Zitat stimmt. Als kleinen Ausgleich zitiert Anna im zweitletzten Absatz von Kapitel 7 halbwegs Seneca.
Gedacht ist das als kleines Rätselspiel, ich wollte das sogar noch verstärken. Natürlich bedeutet die Verwendung eines Zitats nicht, dass ich den Author irgendwie huldige. Stalin ist für mich ein Protyp des absolut skrupellosen Machtmenschen.
 
Hallo,
danke für die Aufmunterung. :)
Zur Zeit bin ich beruflich recht stark ausgelastet, da fehlt dann die Ruhe zum Schreiben. Ich hoffe, über Weinachten weiterzukommen.
Gruss
Stalker
 
mach ma weiter hier :go: denk an die armen, storyhungrigen leser hier, die können net mehr lange warten! (muahaha :rolleyes: )
is toll die geschichte!
viele grüße
 
um diesen thread vor dem datennirvana zu bewahren ein kurzes "up" von mir. ich freue mich auf das nächste von stalker und verbleibe bis dahin mit einem herzlichen gruß an alle forengeister,

Helldog
 
Was bisher geschah:
Wir schreiben das Jahr 8 der 3. Dekade des 12. Rates der Paladine.
In einem bisher völlig unbekannten Land, Al-Amaris, war Anfang März Anna mitten in einem Schneesturm erwacht. Sie hatte Teile ihres Gedächtnisses verloren, das Wo und Warum waren ihr unbekannt, selbst ihre Identität war verloren gegangen.
Dennoch war sie von zwei Parteien erwartet worden. Nachdem sie zuerst von der lokalen Geheimpolizei abgefangen worden war, die sie verschleppte und misshandelte, um ihre Geheimnisse zu erfahren, hatte eine Rebellengruppe sie befreit. Zu deren Mitgliedern gehören auch Fiska, Salcia und Geldor. Fiska war bereits seit dem September und Salcia seit dem November in Al-Amaris, doch beide hatten ebenfalls keinerlei Erinnerung daran, wie und warum sie dort waren.
Die Begegnung mit Geldor, einem ehemaligen Weggefährten, gab Anna die Erinnerung an ihre Identität zurück. Auch konnten er, Fiska und Salcia ihr weitere Einblicke in die Welt von Al-Amaris geben. Sie wird beherrscht von Tyrannen, die sich Protektoren nennen. Anna schloss sich der Rebellengruppe an, deren Ziel die Beseitigung der Protektorenherrschaft ist, und die hauptsächlich von Paladinen, Amazonen und einigen Barbaren gebildet wird. Ein weiteres Mitglied ist Batrast, der sich selbst als Beobachter und Aufklärer bezeichnet. Ihnen gelang die Befreiung eines Bäckers aus der Gewalt der Geheimpolizei, doch dabei musste Anna feststellen, dass sie nicht mehr zaubern kann. Da sie die einzige Zauberkundige ist und Zauberei in Al-Amaris unbekannt ist, stößt sie nur auf Unverständnis und kann dem nicht weiter nachgehen.
Inzwischen ist Ende April in Al-Amaris. Der Schnee ist geschmolzen, und manche Menschen können nun ungehindert ihre Ziele verfolgen...

Die Protektoren (8)
Belagerung

Namensliste:
Remison: Feldherr des Protektors Aodhan und Belagerer der Stadt Madjan
Rodhlann: Legat des Protektors Aodhan
Lonn: Anführer der Verteidiger der Stadt Majan
Lughaidh: Bürgermeister von Madjan
Fiska (Samra): Amazone und Freundin von Anna. Sie wird von Batrast gelegentlich Samra genannt, wenn sie einen traurigen Eindruck macht.
Batrast: Er bezeichnet sich selbst als Beobachter und Aufklärer
Cein: Ein Kind aus der Stadt Madjan
Eachan: Feldherr des Protektors Aodhan
Barghan: Legat des Protektors Aodhan
Aodhan: einer der Protektoren von Al-Amaris
Creagan: einer der Protektoren von Al-Amaris

Majan: eine belagerte Stadt im Land Al-Amaris
Al-Amaris: ein unbekanntes Land

*
Im April, am frühen Vormittag vor den Toren der Stadt Majan

„Tssschaack!“

Remison verfolgte den Flug der steinernen Kugel. Es war für ihn ein erhebender Anblick, wie sie in scheinbarer Leichtigkeit durch die Luft glitt. Dennoch schweiften seine Gedanken ein wenig ab.
Wie oft habe ich das schon gesehen? Ich weiß es nicht. Ist es nicht egal? Habe ich überhaupt jemals etwas anderes gemacht?

Das schwere Geschoss schlug in die Stadtmauer ein. Sie war dafür nicht gebaut, wie Krümel rutschten Trümmer von der geschlagenen Bresche herab. Es dauerte merklich, bis der dumpfe Knall des Treffers und das Poltern Remison auf seinem Beobachtungshügel erreichten, ein Effekt, den er gut kannte, aber immer noch als gespenstisch empfand. Seine Gedanken kehrten zurück in die Realität. Der erste Treffer war immer noch am interessantesten.
Die Spione haben recht, die Mauer ist nur scheinbar aus großen Quadern gefügt. Es sind nur Platten, Blendwerk, dahinter ist sie aus Ziegeln und Lehm gebaut wie bei den anderen Städten auch.

Die zahlreichen kleineren Katapulte schossen jetzt ebenfalls. Sie schleuderten viel leichtere Geschosse, nicht gegen die Mauer, sondern über sie hinweg auf die Häuser und Menschen der belagerten Stadt. Militärisch waren sie ohne direkte Wirkung, doch der Glaube, sie würden Druck auf den Gegner ausüben, hob die Moral der Belagerer.

Einige Pfeile flogen von der Stadtmauer heran. Die meisten erreichten die Belagerungsmaschinen nicht, die zudem mit Schutzwänden umgeben waren. Vor allem der Starke Arm des Protektors, das gewaltige Hauptkatapult, dessen mehr als einhundert Pfund schwere Steinkugeln bisher noch jede Stadtmauer und Festungsmauer zertrümmert hatten, war gut geschützt. Hoch wie zehn Mann überragte es alles, das Produkt einer überlegenen Technik, der Garant des Sieges.

„Lächerlich! Armselig! Jetzt schmecken sie die Lektion des Lebens“, murmelte Remison.
„Und welche ist das?“, drang eine ihm nur zu bekannte Stimme in seine Überlegungen.
Remison wandte sich dem Sprecher zu, einem unscheinbar wirkenden Mann. Es war Rodhlann, der Legat des Protektors. „Wie meint Ihr das?“, fragte Remison den Legaten.
Rodhlann hob die rechte Hand und schüttelte sie leicht, als ob er einen imaginären Beutel abwiegen würde, dann fragte er: „Was meint Ihr mit ‚Lektion des Lebens’?“
„Dass der Kampf im Mittelpunkt steht. Viele glauben, man kämpfe, um zu leben, doch sie irren: Wir leben, um zu kämpfen. Alles andere ist Verschwendung.“ Er deutete auf die Stadt. „Was nützt denen nun alles andere?“

Rodhlann sagte nichts darauf, er sah den Männern zu, wie sie das große Katapult wieder schussbereit machten. Sie würden dazu etwa eine Stunde benötigen.
„Der Protektor erwartet einen Erfolg. Majan soll heimgeholt werden. Ich hoffe, das wird Euch bald gelingen.“
„Bestimmt! „Sie werden versuchen, das große Katapult zu zerstören. Die Majaner sind nicht in der Lage, eine Waffe zu bauen, die es von der Stadt aus gefährden könnte. Also werden sie einen Ausfall versuchen“, meinte Remison. „Dann werden sie in meine Falle laufen. Schon morgen, vielleicht sogar noch heute, werden sie es versuchen. Danach werden sie sich ergeben.“
„Oder Euren Sturm abwarten“, warf der Legat ein.
Remison schüttelte langsam den Kopf. „Nein, ich habe das hier schon oft gemacht. Es ist immer dasselbe. Sie werden wahrscheinlich am Ende der Nacht angreifen, um im Schutz der Dunkelheit in unseren Rücken zu gelangen und in der Morgendämmerung das Katapult umzureißen zu können. Menschen sind so berechenbar. Spätestens in fünf Tagen wird Majan aus Creagans Reich herausgebrochen sein.“

*

Der Morgen dämmerte heran, bald würden die ersten Sonnenstrahlen über dem Horizont erscheinen. Remison stand wieder auf dem kleinen Hügel schräg hinter dem großen Katapult. Es hatte gestern noch sechs weitere Schüsse abgegeben, die Standmauer war auf einer Breite von vier Schritten nur noch knapp mannshoch. Noch zwei, drei Tage, und sie würde kein Hindernis mehr darstellen. Man hatte ihn geweckt, als die Nachtwachen verdächtige Beobachtungen gemacht hatten. Er brauchte nicht lange zu warten, das Trampeln herbeieilender Pferde verkündete, dass die Entscheidung gleich fallen würde.

Die Stadt Majan hatte keine Garnison, nur knapp zwei Dutzend Reiter und fünfzig Fußsoldaten. Natürlich hatten sie eilig alle wehrfähigen Männer bewaffnet, doch Händler und Bauern waren vielleicht geeignet eine Mauer zu verteidigen, aber nicht für einen Ausfall, bei dem Geschwindigkeit und Koordination wesentlich waren. So stürmte nun die kleine majanische militärische Elite von hinten auf das Katapult zu, vorne die Reiterei, dahinter die Fußtruppen.

Unübersehbar hoch ragte ihr Ziel, der Schleuderarm des gefürchteten Katapults, in das Zwielicht. Nur eine Handvoll leichter Schwertkämpfer stand bei ihm.
„Schnell! Reitet sie nieder, aber haltet euch nicht auf! Werft die Haken in das Gebälk und reißt dieses Teufelsding um!“, hörte Remison den Anführer rufen, der an der Spitze vornweg eilte. Er konnte ihn trotz der Entfernung gut verstehen.
So würde ich auch handeln. Er macht alles richtig und wird genau deshalb scheitern. Kenne deinen Feind! Doch ich erkenne seinen Mut an. Anerkenne deinen Feind! Die Kunst des Krieges ist so einfach zu verstehen und doch so schwer auszuführen.

Das Ziel greifbar vor Augen, die Schwerter und Lanzen auf die wenigen Verteidiger gerichtet, galoppierten sie heran. Da riss es wie von Geisterhand das vorderste Pferd zu Boden, der Anführer stürzte schwer. Den nacheilenden Reitern erging es nicht viel besser. Im selben Augenblick tauchten zahlreiche neue Verteidiger aus ihren Verstecken auf. Die einen mit schweren Kriegshämmern, die anderen mit Schwertern. Die am Boden liegenden Reiter waren in ihren schweren Rüstungen kaum beweglich. Viele waren vom schweren Sturz benommen oder verletzt. Wie auf dem Rücken liegende Schildkröten waren sie ein leichtes Opfer der Hämmer. Die markanten Klänge aus durchschlagenen Metallplatten, zerschlagenen Rippen und Schädeln erklangen nun zu dem panischen Wiehern der Pferde.

Ehe das Fußvolk reagieren konnte, war Remison Reiterei bereits heran. Sie hatte sich in einem Hain verborgen und war beim Sturz des gegnerischen Anführers sofort losgaloppiert. Der Gegner stand, seiner Reiterei entblößt und ohne Pieken, nahezu wehrlos mitten im offenen Feld. Remisons Reiter griffen zuerst mit Wurfspießen an. Jeder schleuderte seinen Speer aus vollem Galopp und nur wenigen Metern Entfernung in den angsterstarrten Haufen und bog dann nach links oder rechts ab. Die Speere durchschlugen Schilde und Körperpanzer mit Leichtigkeit, fast die Hälfte der Soldaten fiel. Panik brach aus, der letzte Rest an organisierter Abwehr ging in Todesangst verloren. Hinter ihnen sammelten sich die Reiter wieder, um schließlich ungebremst durch die restlichen Soldaten hindurchzufegen, als wäre es lediglich Gras. Auch die Reiterei hatte Anweisung, keine Gefangenen zu machen.

Remison sah befriedigt zu, wie seine Taktik sich erneut bewährte. Er hatte den Feind nicht nur besiegt, er hatte ihn vernichtet. Wieder schweiften seine Gedanken kurz ab.
Was gibt es schöneres, als die Perfektion des eigenen Planes zu beobachten?
Der Feldherr nickte unmerklich, dann packte er die Zügel seines Pferdes, schwang sich in den Sattel und trabte zu der Stelle, an der er den gestürzten feindlichen Anführer vermutete. Er hatte Befehl gegeben, ihn als Einzigen nicht zu töten, weil Legat Rodhlann es so wollte.

Einer seiner Offiziere erwartete Remison. Er hielt das Pferd an den Zügeln fest, während der Feldherr elegant aus dem Sattel glitt. Remison gab ihm ein Zeichen, sich zu entfernen, dann ging er zum gegnerischen Anführer. Offensichtlich war ein zweiter Reiter über ihn gestürzt und sein Pferd hatte den Anführer überrollt. Die unnatürliche Stellungen eines Armes und eines Beines zeigten, dass sie ausgerenkt oder gebrochen waren. Er war bei Bewusstsein und hatte sein Helmvisier hochgeklappt.
„Wer seid Ihr?“, fragte der Feldherr ihn.
Der fremde Anführer hob den Kopf und blickte Remison an.
„Warum tut Ihr das? Warum greift Ihr uns an? Wir haben Euch nicht provoziert. Warum habt Ihr nicht einmal mit uns gesprochen und verhandelt?“, erwiderte er überraschend kräftig.
„Was habt Ihr denn gegen den Krieg? Etwa dass Menschen, die doch einmal sterben müssen, dabei umkommen? Was kümmern Euch meine Motive? Krieg ist nicht Fragen, Krieg ist Handeln. Ein einfacher Stolpergraben, nur eine Elle tief und mit Gras getarnt, ein einfaches Stolperseil, das ist die Antwort auf die Frage, die Ihr stellen solltet.“
Der Kopf des Verletzten sank ermattet auf den Boden.
„Ich bitte Euch, verschont die Bevölkerung. Krieg sollte eine Sache zwischen uns Kriegern bleiben.“
„Ich plane nicht, die Bevölkerung zu vernichten.“

Remison sah, wie auf seinem Hügel eine helle Gestalt erschien und sich suchend umsah. Das musste Rodhlann sein. Schnell drehte er sich zur Seite, um möglichst unauffällig zu sein. Der Legat sollte ruhig etwas nach ihm suchen.

„Was plant Ihr dann?“, fragte der Fremde.
„Das Schicksal der Bevölkerung liegt in den Händen des Protektors.“
Remison sah, wie Hass in den Augen aufloderte.
„Dort lag es schon immer“, stieß der Fremde hervor, und seine Stimme schien nun weit weniger beherrscht.

Rodhlann hatte die beiden entdeckt und näherte sich auf seine eigentümliche Weise. Einerseits hatte er es eilig, andererseits hielt er Eile für unwürdig, was ihm einen grotesk gezwungenen Gang aufzwang.

„Ich meinte natürlich meinen Protektor Aodhan, nicht den Euren, für den es schon zuviel an Ehre wäre, seinen Namen auszusprechen.“
„Natürlich ...“ Der Schatten des Verstehens huschte über das Gesicht des Verletzten. „Ihr kennt den Grund gar nicht ... Ihr könnt ihn nicht kennen, denn das Spiel kann nicht nur schwarze Steine haben.“
„Ihr solltet nicht dreist sein. Gleich kommt der Legat, und ihm fehlt der Respekt, den ich gegenüber einem feindlichen Offizier hege.“
„Ein Legat des Protektors? Dann bleibt mir nur noch eines.“

Der fremde Anführer hatte plötzlich einen kleinen Dolch in der Hand. Mühselig, aber zu überraschend um ihn aufzuhalten, wälzte er seinen Körper in die nach oben gehaltene Klinge. Mit einem Stöhnen fing sein Leib an zu erschlaffen. Remison kniete sich neben ihn und versuchte das Unvermeidliche zu stoppen.
„Ah“, stöhnte er mit letzter Kraft. „Der dreifache ...“

In dem Moment erreichte der Legat sie beide. Er sah die sich ausbreitende Blutlache, die unter dem toten Körper hervordrang.
„Konntet Ihr nicht besser aufpassen? Ich sagte doch lebend.“

Remison stand langsam auf und klopfte sich in Gedanken versunken die Erde von den Knien. Die Worte des Toten hatten ihn seltsam berührt. Er war schon oft beleidigt oder verflucht worden, das ließ ihn kalt. Doch jetzt hatte er das unangenehme Gefühl, etwas nicht zu verstehen, das er verstehen sollte. Ärger quoll hoch und schwappte kurz über.
„Soll ich mich dafür rechtfertigen, wenn sich ein guter Soldat selbst richtet?“
Rodhlann schien zu einer scharfen Entgegnung anzusetzen, beherrschte sich aber. Der Zorn in seinem Gesicht wurde ersetzt durch Misstrauen.
„Feldherr, was hat er alles zu Euch gesagt?“
„Nichts Besonderes. Er bat mich um Milde für die Stadt, doch darüber entscheidet unser Protektor Aodhan und nicht ich.“
„War das alles?“ Die Skepsis in Rodhlanns Stimme war unüberhörbar.
Remison zuckte mit den Schultern. „Was soll es mich stören, wenn er meinte, ich würde den Kriegsgrund nicht wissen.“
Der Legat hob einen Zeigefinger. „Ihr kennt ihn doch, oder?“
„Natürlich. Majan wurde uns geraubt, jetzt holen wir es zurück.“

*

Zwei Tage lang noch feuerten die Katapulte, dann war die Bresche in der Mauer so groß geworden, dass Remison mit Leichtigkeit hätte stürmen lassen können. Doch er wartete ab, wohl wissend, dass der Besiegte immer etwas Zeit benötigte, seine Niederlage einzusehen.

Am frühen Morgen des nächsten Tages war es dann so weit. Ein Mann mit einer Flagge erschien auf der Stadtmauer und signalisierte die Kapitulation. Das große Stadttor, vor dem das Heer lagerte, öffnete sich. Es war wieder eine der kühlen Frühlingsnächte gewesen, in denen sich Tau auf der Wiese gebildet hatte, das jetzt bei den ersten Sonnenstrahlen anfing zu glitzern.
„Seltsam, es passiert immer am frühen Morgen“, murmelte Remison, der sah, wie eine Menschengruppe langsam durch das Tor auf die freie Wiese ging.

Remison erkannte an der Spitze einen älteren Mann, vermutlich war er der Bürgermeister. Er führte eine Gruppe von Kindern an. Auf halbem Weg zu ihm hielt die Gruppe an, gleichzeitig schloss sich hinter ihnen das Stadttor. Kurz bevor die beiden schweren Flügel sich trafen, klangen Laute aus der Stadt, die selbst in dieser Entfernung noch zu vernehmen waren. Laute, an deren Klang sich ein Mensch solange gewöhnen muss, bis er ein Soldat geworden ist.

Remison sah Rodhlann fragend an.
„Ich bin bereit, ihre Kapitulation zu akzeptieren. Oder habt Ihr Einwände, Legat?“
„Nein“, Rodhlann schüttelte seinen Kopf. „Im Gegenteil, die Zivilbevölkerung soll geschont werden. Die Stadt darf nicht geplündert werden, und die Soldaten sollen sich ehrenhaft gegenüber den Frauen benehmen.“
„Aber Beute und Spaß waren neben dem Sold als Entlohnung für mein Heer eingeplant.“
Der Legat zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß, auch ich bekam diese neue Weisung vom Protektor erst gestern. Aber keine Sorge, für mehr Sold wird gesorgt werden. Ansonsten soll alles wie ursprünglich geschehen. Die Bewohner bleiben frei und dürfen Majan wieder aufbauen. Einzig ihre unbedingte Loyalität gegenüber dem Protektor wird gefordert.“
„Man munkelt, der Protektor strebe einen Frieden mit dem Gegner an. Ist das der Grund für diese große Milde?“
„Ihr solltet nicht auf Gerüchte hören. Macht einfach das, was der Protektor befiehlt und was wir Legaten übermitteln.“
Remison nickte, dann trabten sie auf die Gruppe zu.

„Seid Ihr der Bürgermeister Majans?“, fragte Remison den älteren Mann.
„Ja, ich bin Bürgermeister Lughaidh, und bitte Euch, unsere Kapitulation anzunehmen. Wir stellen keine Bedingungen und bieten unsere Kinder als Geiseln.“
Er deutete auf den zunehmend verängstigten Haufen Menschlein, der vor den beiden fremden Reitern etwas zurückgewichen war. Remison sah sie finster an.
„Sind das alle?“
„Alle zwischen sechs bis zwölf Jahren. Ich bitte Euch, mein Herr, auf die noch jüngeren zu verzichten. Der Winter war hart, sie sind schwach und ...“
„Redet nicht so viel herum!“, schnitt Remison ihm schroff das Wort ab.
Lughaidh warf sich erschrocken auf die Knie. Einige der Kinder fingen an zu weinen. Remison sprang vom Pferd und ging forsch zwei Schritte auf sie zu. Wie er die verwöhnten Bälger dieser verweichlichten Städter, vor allem der schmarotzenden Kaufleute, verabscheute! Er sah eines von ihnen an, einen kleineren Jungen, deutete mit dem Finger auf ihn. „Ruhe! Wer gleich noch rumflennt, kommt in die Bergwerke!“

Cein erschrak zutiefst. Die Bergwerke! Das war ein Schrecken, den er sich nur zu gut vorstellen und ausmalen konnte. In einem dunklen Stollen angekettet zu werden, von bösen Erwachsenen zur Arbeit gezwungen, für immer getrennt von seinen Eltern und Freunden. In Panik rannte er los, nur weg von diesem Mann.

Lughaidh erkannte den Ernst der Lage. Der Feldherr stand verblüfft da, der kleinste Fehler konnte jetzt zu einer Katastrophe führen. Er stand rasch auf, wandte sich den Kindern zu und breitete die Arme aus.
„Nicht weglaufen! Bleibt ruhig! Die Älteren sollen auf die Jüngeren Acht geben.“

Auch Rodhlann reagierte. Er stieg von seinem Pferd und sagte mit möglichst ruhiger und kräftiger Stimme: „Habt keine Angst, in unseren Bergwerken arbeiten nur Erwachsene. Seid brav, dann passiert euch nichts.“ Zu Remison flüsterte er: „Mäßigt Euch und denkt an den Befehl des Protektors. Fangt einfach den Balg wieder ein, aber tut den Kindern nichts.“ Er sah, wie der Feldherr mit den Kiefern mahlte. „Remison! Bleibt gelassen, das beeindruckt alle am meisten. Ich möchte Euch nicht öffentlich korrigieren müssen. Zeigt man Güte, so ist man fähig, die Menschen zu verwenden.“

Remison holte tief Luft, doch er beherrschte sich. Er gab einer kleinen Gruppe seiner Soldaten einen Wink, den Jungen zu suchen. Dann wandte er sich dem Bürgermeister zu.
„Gut, ich möchte nicht unmenschlich erscheinen, doch dafür verlange ich den absoluten Gehorsam aller. Niemand läuft weg. Die Kinder kommen in unser Winterquartier bei Lamonesium. Dort wird ihnen nichts geschehen.“
„Im Gegenteil, dort könnt ihr euch satt essen“, ergänzte Rodhlann und ließ seinen Blick über den ausgehungerten Haufen schweifen. „Wer weiß, vielleicht möchte am Ende sogar der eine oder andere bleiben, um in unseren Dienst zu treten?“
Remison sah ihn kurz skeptisch an, dann winkte er eine weitere Gruppe seiner Soldaten heran, um die Kinder wegbringen zu lassen. Schließlich wandte er sich an den Bürgermeister. „Ich möchte jetzt die Stadt mustern.“

*

Cein hatte sich von Busch zu Busch bis zu einem Hain nahe der Stadt gestohlen. Die Soldaten waren ihm gefolgt und hatten alles gründlich durchsucht. Sie hatten ihn gerufen, sie hatten gelockt und gedroht und mit ihren Speeren überall im dichten Unterholz herumgestochert. Starr vor Angst hatte er mit an den Leib gepressten Knien am Boden in einer dichten Dornenhecke gelegen, während sich immer wieder Schritte genähert und wieder entfernt hatten, Gebüsch geraschelt hatte und Äste unter schweren Schritten knackend zerbrochen waren.

Nur quälend langsam war die Zeit vergangen, das lange Liegen hatte seinen Körper mehr und mehr verkrampfen lassen. Entfernten sich einmal die Suchgeräusche, so kamen statt Erleichterung nur Hunger und Durst zu ihm. Aber nie für lange, denn immer wieder näherte sich irgend jemand, die Suche dauerte den ganzen Tag über an.

Dann, endlich, war es nach und nach dunkler und leiser geworden, bis schließlich sich entfernendes Hufgetrappel ihren Abzug verraten hatte. Er blieb noch eine Weile still liegen, sich nur langsam von den Schrecken erholend. Dann stand er vorsichtig auf, mühsam gegen die Steifheit seiner Glieder ankämpfend.

Er kannte den Hain, doch nur am Tag, während der Dunkelheit war er noch nie hier gewesen. Es war unheimlich, Hunger und Durst meldeten sich jetzt unbarmherzig, doch am schlimmsten war die Furcht, sie könnten ihm auflauern. Hinter jedem Busch, hinter jedem Baum könnten sie auf ihn warten. Sie würden ihn festhalten und zur Strafe in ein Bergwerk stecken. Seine Eltern und Freunde hatten ihm davon erzählt. Das waren enge Tunnel tief unter der Erde, in die man bevorzugt Kinder steckte, da sie sich dort am besten bewegen konnten. Sie wurden angekettet, damit sie nicht weglaufen konnten. Wenn sie nicht richtig arbeiteten, gab es statt Essen Schläge. Kinder, die nicht brav waren, steckte man dort für Wochen, Jahre oder auch für immer hinein. Manchmal stürzte einer dieser Tunnel ein. Denen, die für immer dort hin kamen, stach man die Augen aus, da sie ohnehin nie wieder benötigt würden. Das hatte ihm sein älterer Bruder erzählt.

Cein blieb stehen, fasste sich in sein Gesicht und tastete nach seinen Augen. Er erinnerte sich, wie er einmal heimlich beobachtet hatte, wie ein Bauer einen Esel geblendet hatte, um ihn an ein Mühlrad binden zu können. Er hatte nicht viel sehen können, doch der Esel hatte grauenhaft geschrien. Cein wusste, dass er ungehorsam gewesen war. Er hatte seinem Vater versprochen, alles zu tun, was der Bürgermeister sagte, den Mund zu halten und bei der Gruppe zu bleiben. Heute morgen hatte er es versprochen, als sein Vater ihn geweckt hatte, um ihn zu denen zu bringen, die die Stadt angriffen. Seine Mutter hatte er nicht mehr gesehen. Sie hatte noch geschlafen, und sein Vater wollte sie nicht wecken. Ob sie ihm wegen gestern böse war, als er im Freien spielen gewesen war, obwohl sie es ihm verboten hatte? Musste er deswegen gehen, weil er wieder einmal unartig gewesen war? Aber warum dann so viele andere Kinder auch? Er wollte zurück, aber wollten seine Eltern ihn wieder haben? Wie sollte er an den bösen Männern vorbeikommen?

Etwas knackte laut hinter ihm. Cein schrie unterdrückt auf und rannte er los. Er lief aus dem Hain heraus auf eine im leichten Mondlicht liegende Wiese und weiter auf die düstere Wand des großen Waldes zu und in ihn hinein. Plötzlich packte ihn eine Hand mitten im Lauf. Celin schrie wieder auf, dieses Mal laut, dann hielt ihm eine zweite Hand den Mund zu.

*

„Batrast, da passiert etwas“, sagte Fiska, als der Mann die Flagge auf der Stadtmauer schwenkte.
„Sie ergeben sich. Das ist auch das Beste, was sie noch machen können.“
Fiska erwiderte nichts. Batrast drehte seinen Kopf, um die neben ihm ebenfalls auf dem Bauch liegende Amazone anzusehen.

Nachdem Geldor von der Belagerung Majans gehört hatte, hatte er Batrast gebeten, die Lage zu erkunden und zu überwachen. Es bestand die Gefahr, dass das Heer mit all seinen Aufklärern und Spionen dem Winterlager zu nahe kam und es zufällig entdeckte, da Majan lediglich etwa zwei Tagesreisen entfernt lag. Batrast war sogleich zusammen mit Fiska aufgebrochen. Sie durften auf keinen Fall bemerkt werden, daher hatte Geldor ihnen jede Einmischung strikt untersagt. Was sollten sie zwei auch gegen ein Heer bewirken können?

Die so zierlich wirkende Amazone lag scheinbar ruhig da und sah geradeaus zur Stadt. Trotz der ernsten Situation verspürte er in ihrer Gegenwart wieder jene Faszination, die er bis heute nicht hatte einordnen können.
„Das Tor öffnet sich ... jetzt kommen Leute heraus ... aber, das sind doch Kinder!“, sprach sie und drehte ihren Kopf zu ihm. „Batrast, was bedeutet das?“
Ihr trauriger Blick traf ihn kurz. Batrast wollte sie berühren, wie er es oft bei Menschen tat, wollte sie beruhigen, doch seine Hand schaffte nur die halbe Distanz.
„Das bedeutet nichts Ungewöhnliches. Es ist nur ein Zeichen ihrer Unterwerfung. Der Sieger verwahrt die Kinder, bis er die Stadt unter völliger Kontrolle hat und wieder Frieden herrscht. Es geschieht ihnen nichts.“
Erneut traf ihn kurz ihr Blick. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen vor der Stadt.

Batrast und Fiska lagen auf einem größeren Hügel, dessen Kuppe mit dichtem Wald bedeckt war. Die Entfernung war so groß, dass Batrast Schwierigkeiten hatte, die einzelnen Personen vor der Stadt zu unterscheiden. Fiska schien bessere Augen zu haben, denn obwohl es unmöglich war, auch nur einen Laut von der Unterhaltung vor der Stadt zu hören, versteifte sich ihr Leib mehr und mehr. Als der Junge flüchtete und die Männer ihn verfolgten, stand sie unvermittelt auf.

Batrast sah überrascht auf. „Fiska, was hast du?“
Als sie nicht reagierte, stand er ebenfalls auf. „Wir dürfen uns auf keinen Fall einmischen“, fuhr er fort. Wir können sowieso nichts machen.“
Dieses Mal sah sie ihn an. Es war nicht nur ein kurzer Blick und er fuhr ihm bis in die Fußspitzen. „Ich hatte gehofft, du würdest mir helfen.“

Kurz stand Batrast stumm da, in seiner Miene spiegelte sich Schmerz.
„Ach Samra! So hatte ich es nicht gemeint“, sagte er schließlich.
Sie senkte ihren Blick und sah zu Boden. Batrast legte ihr eine Hand auf die Schulter, sanft streiften seine Finger über ihren Nacken. „Samra, bitte! Natürlich helfe ich dir. Aber wir müssen auch vernünftig bleiben. Jetzt können wir nichts machen. Man würde uns nur entdecken, und dann können wir niemandem mehr helfen.“
Fiska erfasste Batrasts Hand, hob sie vorsichtig von ihrer Schulter und ließ sie langsam los.
„Gut, wir warten, bis es dunkel wird. Dann holen wir das Kind da raus.“ Sie hob ihren Kopf leicht an. „Bis dahin werden die Soldaten bestimmt weg sein.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Sie dürfen ihn nicht finden!“
Batrast betrachtete seine Hand. „Einverstanden, dabei helfe ich dir gerne.“ Er versuchte, seine Zweifel nicht auszusprechen. Wie sollten ausgerechnet sie im Dunkeln finden, was eine ganze Truppe nicht im Hellen gefunden hatte?

*

Batrast zögerte, vom Waldrand aus zum Hain zu laufen, obwohl es schon länger dunkel war und die Soldaten verschwunden waren.
„Worauf wartest du noch?“, drängte Fiska in seinem Rücken.
„Habe noch Geduld! Möglicherweise wird die Wiese beobachtet. Es ist ein uralter Trick, scheinbar abzuziehen. Der Gesuchte kommt dann aus seinem Versteck und ‚Zack’.“ Er konnte die Ungeduld der kleinen Amazone regelrecht fühlen. „Noch eine halbe Stunde, Einverstanden?“
Sie nickte stumm.

„Da! Er läuft in den Wald!“
Batrast suchte gerade zum wiederholten Male das Gelände zwischen Hain und dem Heerlager mit seinen Augen ab, als er Fiskas Ausruf hörte. Er blickte nun ebenfalls auf die Lücke zwischen Hain und Wald und sah, wie ein kleiner Schatten über das offene Gelände huschte. Er würde in etwa einhundert Schritten Entfernung von ihnen auf den Waldrand treffen.
Fiska sprang auf, und ehe Batrast irgendwie reagieren konnte, lief sie los.

Um nicht entdeckt zu werden, rannte Fiska mitten zwischen den Bäumen hindurch. Die peitschenden Zweige und das dornige Unterholz rissen ihre bloßen Unterarme auf, die sie schützend vor ihr Gesicht hielt. Einmal strauchelte sie über eine Wurzel. Sie konnte einen Sturz nicht verhindern, aber dank ihrer Körperbeherrschung in eine Rolle umwandeln. Erst ein Dutzend Schritte vor dem Ziel verlangsamte sie ihren Lauf, um weniger Geräusche zu machen. Kaum hatte sie den Punkt erreicht, an dem sie schätzte, dass das Kind in den Wald eindringen würde, hörte sie auch schon seine kleinen und hastigen Schritte. Rasch duckte Fiska sich hinter einen Baum.

Sie packte schnell zu und riss das Kind aus dem Lauf. Fiska war keine große Frau, von schlanker und zierlicher Statur, doch als Amazone besaß sie mehr Kraft im Oberkörper als mancher Mann. Das Kind schrie auf, sie hielt ihm den Mund zu.
„Sei still!“

Doch das Kind sträubte sich in seiner Angst immer heftiger. Es biss und kratzte nach Kräften, strampelte und schlug verzweifelt mit Armen und Beinen. Fiska drückte es kurzerhand mit dem Rücken auf den Boden, setzte sich rittlings auf seinen Bauch und klemmte seine Arme unter ihren Schienenbeinen ein.
„Du brauchst keine Angst zu haben, ich will dir nichts anhaben.“
Langsam ließ der Widerstand nach, ob aus Einsicht oder aus Erschöpfung war nicht zu unterscheiden.
„Bitte sei vernünftig und schreie nicht, auch ich habe Angst vor diesen fremden Männern.“
Fiska nahm vorsichtig die Hand von seinem Mund weg. Das Kind blieb ruhig. Fiska stand vorsichtig auf und zog es mit einem Arm vom Boden hoch. Jetzt konnte sie zum ersten Mal seine schmächtige Silhouette sehen. Sie ging etwas in die Hocke und drehte sich so, dass sie es im schwachen Mondlicht besser sehen konnte.
„Aha, was haben wir denn da? Einen großen Jungen. Hast du einen Namen?“
Der Junge schwieg.

„Da bist du ja“, sagte Batrast, als er endlich Fiska gefunden hatte. „Ich sehe, du hast das Kind gefunden.“
„Habe keine Angst, das ist ein Freund“, flüsterte Fiska zum Jungen, dann wandte sie sich Batrast zu. „Der arme Junge ist völlig verängstigt. Ich habe ihn wohl fürchterlich erschreckt, als ich ihn packte.“
„Kommt, wir gehen besser hier weg“, erwiderte Batrast. „Mir ist es hier zu gefährlich, lasst uns zu unserem Lager zurückgehen.“
Fiska nickte, dann zog sie den Jungen mit sanfter Gewalt hinter sich her.

Sie hatten ihr Lager tiefer im Wald angelegt. Fiska wickelte den Jungen, der jetzt erschöpft, fast schon apathisch, wirkte, in ihre Decke und legte sich neben ihn. Als Batrast seine Decke über sie beide ausbreitete, wollte sie protestieren, doch er schnitt ihr das Wort ab.
„Bitte nimm es an und bleibe einfach ruhig liegen. Ich glaube, der Junge braucht jetzt Ruhe und etwas, an das er sich klammern kann. Ich dagegen kann sowieso nicht schlafen.“
Er stand auf und setzte sich mit dem Rücken an einen Baum, die beiden vor ihm im Mondlicht liegend.

Am nächsten Morgen berieten Batrast und Fiska gemeinsam das weitere Vorgehen und was mit dem Kind geschehen solle. Der Junge saß stumm und teilnahmslos auf dem Waldboden neben Fiska, die sich um ein rauchfreies Feuer bemühte, während Batrast unruhig auf und ab ging.
„Ich war heute Morgen kurz weg und habe nach der Stadt gesehen. Sie liegt noch genauso da wie gestern Abend. Keine Spur von Brandschatzung. Die Soldaten scheinen in ihrem Lager geblieben zu sein. Auch wenn ich nur wenig sehen konnte, so habe ich einiges in Erfahrung gebracht. Ich glaube nicht, dass Majan geplündert worden ist.“
Fiska sah von ihrer Tätigkeit auf. „Dann könnte der Junge also zurück zu seinen Eltern.“
Batrast hielt in seinem Gang inne und schüttelte den Kopf.
„Auch wenn die Eroberer Stadt und Bevölkerung schonen, wäre das dennoch sehr gefährlich.“
Er vergewisserte sich kurz, wie der Junge reagierte, doch der sah ihn nicht an, er schien nicht einmal zuzuhören.
„Ich kenne diesen Feldherren Remison nur zu gut. Was mit Gewalt erreicht wird, muss auch mit Gewalt gehalten werden, das ist sein Motto. Den zweiten Mann, der gestern bei ihm war, kenne ich allerdings nicht. Aber Remson würde zur Demonstration seiner Autorität jederzeit ... Nur Soldaten zählen für ihn.“

Fiska sah ihn erschrocken an, doch Batrast winkte ab.
„So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Remison ist ein Pragmatiker. Er kennt zwar keine Skrupel, aber er macht auch nichts, was seine Sache nicht voran bringt. Also wird er den anderen Kindern nichts antun, solange niemand gegen ihn aufbegehrt.“ Er ging zu einem Baumstamm und setzte sich. „Den Jungen nehmen wir am Besten erst einmal mit. Wenn etwas Zeit vergangen ist, kann er zurück.“
Fiska nickte und drehte sich zum Jungen. „Und du? Möchtest du mit uns kommen?“ Sie glaubte ihm anzusehen, dass er Batrast verstanden hatte. Sie streichelte ihm einmal über den Kopf. „Du brauchst keine Angst zu haben, ich passe auf dich auf.“
„Ihr bringt mich doch in kein Bergwerk?“
„Nein, bestimmt nicht“, antwortete Batrast an Stelle der verwirrten Amazone. „Wir stecken keine Kinder in Bergwerke. Das sind doch nur Geschichten, um kleine Kinder zu erschrecken. Sagst du mir nun auch, wie du heißt?“
Der Junge nickte erleichtert. „Mein Name ist Cein.“
 
Nach einer längeren Pause geht es weiter, schön.
Das Kapitel besticht durch sorgfältige Sprache, in der sich selbst die detaillierte Schilderung eines Belagerungsturms spannend liest. Die Belagerung selber hat es mir samt ihren Manövern angetan.
Weiter so!
Es gibt noch viele Seltsamkeiten und offene Fragen :read:
 
Hallo,

die Geschichte gefällt mir ausgesprochen gut. Es wird ja
anscheinend eine richtige "Sanktuario-Saga" entwickelt.

Diese begann offenbar schon mit "Lagerfeuer" und setzte
sich über "Die Bogenbande" Teil 1 bis 3 bis zu dieser
Geschichte hier fort.

Gruss

Xanter
 
Um den Jahreswechsel herum waren nacheinander Fiska, Salcia und Anna im unbekannten Land La-Amaris aufgetaucht. Niemand von ihnen wusste, wie oder warum sie hergekommen waren. Doch angesichts der brutalen Herrschaft der so genannten „Protektoren“ hatten sie sich einer Widerstandsbewegung angeschlossen.
Inzwischen ist Ende April in Al-Amaris. Die Stadt Majan ist von Remison, Feldherr des Protektors Aodhan, erobert worden. Batrast und Fiska, die sich zu den Rebellen zählen, hatten die kurze Belagerung beobachtet, und dabei Cein, ein Flüchtlingskind, aufgegriffen. Während Batrast weiterhin das Heer und die Vorgänge um Majan beobachtet, möchte Fiska das Kind in das Winterlager der Rebellen bringen. Dort befindet sich auch ihre Freundin Anna ...


Die Protektoren (9)
Darsi

Namensliste:
Anna: Eine Zauberin, die von den Barbaren abstammt.
Darsi: Eine strenge Amazone.
Fiska: Amazone und Freundin von Anna.
Cein: Ein Kind aus der Stadt Madjan, von Fiska aufgenommen.
Eachan: Der kurzsichtige Schmied der Rebellen
Barghan: Eachans Geselle
Geldor: Paladin und lokaler Anführer der Rebellen.
Baltram: Ein toter „Verhörspezialist“.

Majan: Eine Stadt im Land Al-Amaris, die kürzlich erobert wurde.
Al-Amaris: Das unbekannte Land, in das Anna und Fiska verschlagen wurden.

*

Etwa fünf Tage später im Winterlager der Rebellen
„Pling, pling, plank!“
Anna beobachtete, wie Eachan zweimal mit einem leichten Hammer auf das glühende Eisen und einmal auf den Amboss klopfte, dann blickte sie zu dem zweiten Mann.
„Bonk!“
Der Geselle ließ seinen schweren Schmiedehammer auf die markierte Stelle niedersausen. Niemand sagte ein Wort, denn der Lärm in der Schmiede war zu groß, und sie hatten sich deswegen kleine Stöpsel aus Baumwollfasern in die Ohren gesteckt. Anna sah den beiden gerne bei der Arbeit zu, wobei sie auch deren geheimnisvolle Zeichensprache reizte. Sie fragte sich manchmal, was ihr das besondere Privileg beschert hatte, zugegen sein zu dürfen. Eachan war weit mehr als ein Dorfschmied. Er war ein echter Meister des Waffenschmiedens, und Waffenschmieden war eine Kunst, deren Geheimnisse sonst sorgfältig gehütet wurden.

Barghan war ein dem Meister würdiger Geselle. Er verstand es nicht nur, einen Schmiedehammer zu schwingen, den sie kaum hätte heben können, er tat es vielmehr mit einer Eleganz, die seinem athletischen Körper nicht anzusehen war. Das Spiel seiner kräftigen Muskeln war gut zu sehen, er trug neben seiner Hose und den Schuhen nur noch eine Bauchschürze aus Leder, und Anna sah ihm gerne bei der Arbeit zu.

„Bonk!“
Anna zuckte zusammen und stöhnte unterdrückt auf. Ein kleiner Metallsplitter hatte sich gelöst und in ihren Körper gebrannt. Barghan drückte Anna ohne hinzusehen seine linke Hand gegen die Brust und schob sie schräg hinter sich.
„Vorsicht!“, rief er, dann hob er den Hammer erneut. Doch er zögerte und drehte den Kopf nach hinten, um Anna anzusehen. „Entschuldige Mädchen, ich ...“
„Nenn mich nicht so!“, schnitt ihm Anna leicht verärgert das Wort ab, „Und mach lieber weiter!“
Kurz huschte Verblüffung über sein Gesicht, dann verstand er und nickte. „Ja!“, rief er und wandte sich wieder ab, dem bereits etwas ungeduldig wirkenden Eachan zu. Während das Spiel zwischen dessen Anweisungen und des Gesellen Ausführung weiter ging, untersuchte Anna möglichst unauffällig ihren Bauch und zog schließlich mit den Fingerspitzen einen kleinen Splitter heraus.

Vor ihren Augen entstand ein Breitschwert, aber es war von seiner endgültigen Form noch weit entfernt. Eigentlich hatten die Rebellen genügend davon, und Eachan behauptete auch, es nur zum Zeitvertreib zu schmieden, doch Anna glaubte, er tat es, um ihr weiterhin seine Arbeit zeigen zu können. Seine Kurzsichtigkeit hatte ihm jegliche militärische Laufbahn verwehrt, so war er Schmied geworden. Das war weit mehr als nur ein Beruf für ihn, es war sein Leben, und Schwerter herzustellen war in seinen Augen die Krönung. Anna hatte das zuerst nicht verstanden und gemeint, er würde einfach den Einsatzzweck seiner Kunst verdrängen. Doch dann hatte er gemeint, er sei stolz aber nicht glücklich darüber, dass seine Waffen sich bewährten, und er tue es, um es irgendwann nicht mehr machen zu müssen.

Als sich die Arbeit für heute ihrem Ende näherte und Eachan das Werkstück in die glühenden Kohlen der Esse schob, um es über Nacht langsam ausglühen zu lassen, ging Anna in den Nebenraum. Hier war es angenehm kühl, tief atmete sie die frische Luft ein. Die Hitze in der Schmiede war für sie trotz ihrer leichten Kleidung fast unerträglich gewesen. Sie ging zum Arbeitstisch, auf dem sich die drei Gegenstände befanden, an denen sie in letzter Zeit gearbeitet hatte: Eine Assassinen-Kralle, ein Kettenhemd und ihr neues Schwert.

Sie empfand etwas Stolz bei ihrem Anblick, hatte sie doch ebenfalls einen Beitrag bei ihrer Herstellung geleistet. Etwas in Gedanken legte sie den Körperschutz an, er war aus Tausenden kleiner Metallringe zusammengesetzt worden, eine Arbeit, die überwiegend von den zahlreichen Ehefrauen der Paladine gemacht worden war. Offiziell waren er und das Schwert Geschenke Geldors, doch Anna sah es als Gaben aller an, mehr noch, als Anerkennung ihrer Mitmenschen.

Dann nahm sie das Schwert in die rechte Hand. Es war speziell nach ihren Bedürfnissen und Wünschen gefertigt. Mit seiner langen und schmalen Klinge war es mehr eine Stichwaffe, aber dennoch massiv genug zum Abblocken von Hieben. Zuhause hatte sie eine ähnlich Klinge, die Erinnerung an sie hatte ihr als Vorbild gedient.
Zuhause ... Ich weiß nicht einmal, wo ich hier bin.

„Stimmt etwas nicht?“
Barghans Stimme schreckte Anna aus ihrer Grübelei. Er stand in der Tür, die er mit seinem Körper benahe ausfüllte.
„Nein ... es ist alles in Ordnung, ich wollte nur noch einmal das Schwert prüfen, bevor Eachan es sieht.“
Er kam mit zwei seiner großen, raumgreifenden Schritte auf sie zu und streckte die rechte Hand aus. Anna starrte auf die vielen kleinen Brandnarben, die seinen Unterarm bedeckten. Sie hatte sie schon oft gesehen, dennoch war sie immer wieder fasziniert. Dazu kamen der Geruch nach Rauch und Schweiß, den sie jetzt deutlich wahrnahm.
„Kann ich es sehen?“, drang seine Stimme in ihre Gedanken.
„Ja ... gerne doch.“
Anna reichte ihm lächelnd das Schwert. Barghan betrachtete es genau.
„Der Griff ist ganz gut geworden. Für mich wäre er zu dünn, aber für dich ist er bestimmt richtig so.“ Er sah vom Schwert auf zu Anna. „Auch das Kettenhemd passt und steht dir.“ Er räusperte sich. „Verzeih, wenn ich dich vorhin beleidigt habe. Du musst eine gute Kriegerin sein, auch wenn du dich nicht mehr richtig daran erinnern kannst.“

Seine Worte trafen sie tief und ganz anders, als er es gewollt hatte. Sie fragte sich nun, warum sie das Kettenhemd angezogen und das Schwert genommen hatte. Mit einem Schlag fühlte Anna sich unsicher und kam sich albern vor. Sie wollte sich schnell das Kettenhemd über den Kopf streifen, doch in ihrer nervösen Hast gelang es nicht, irgendwie verklemmte sich die eingearbeitete Schulterverstärkung an ihrem Kopf.
„Warte, ich helfe dir“, sagte Barghan.
Er löste kurzerhand ihre Hände vom Ringpanzer, schob je zwei Finger von der Seite her unter die Rüstung und zog sie ihr spielerisch leicht über den Kopf.
„Das ist der Nachteil der Schulterbrücke, aber ihr Mädchen braucht das halt. Wir haben das Leder hart gekocht, damit es die Last nur auf deine Schultern verteilt und nicht...“
„Ich weiß das. Aber warum nennst du mich immer so?“

Wie schon zuvor, war Barghan kurz verblüfft, dann nickte er.
„Oh ja, es rutscht mir immer wieder raus. Bitte helfe mir, dass ich es mir abgewöhne, Dorothea ärgert das auch immer so sehr.“
„Wer ist Dorothea?“
Barghans Augen leuchteten auf. „Dorothea ist eine Amazone.“ Ein weiches Lächeln umspielte seinen Mund. „Ich habe sie vorgestern kennen gelernt. Ich finde sie ganz nett, nicht so abweisend wie die anderen Amazonen.“

Anna sah zu Boden. Nach einigen Atemzügen in der betroffenen Stille deutete Barghan auf die auf dem Tisch liegende Kralle. Sie hatten sie als erstes angefertigt, sie war für Salcia gedacht.
„Hast du heute morgen noch weitere Gravuren gemacht?“
Anna nickte stumm. Barghan nahm nun die Kralle in die Hand und betrachtete sie ebenfalls genau.
„Ja, das hast du auch schön gemacht, Anna. Die Symbole sind sehr detailreich und die Schrift ist gestochen scharf.“
Anna sah auf. „Die Sachen sind fertig. Wenn Eachan keine Einwände hat, werde ich sie noch heute mitnehmen, dann brauche ich morgen nicht wieder zu kommen. Salcia wird sich freuen, endlich wieder ihre gewohnte Waffe zu besitzen.“
„Du willst morgen nicht wieder kommen?“, fragte Barghan verwundert.

Anna wurde der Antwort enthoben, denn Eachan betrat den Raum.
„Ich muss Euch beide leider unterbrechen. Fiska wartet vor der Schmiede auf dich, Anna.“
Glücklich über die Störung floh Anna geradezu aus dem Raum. Erst als sie ihre Freundin sah, kehrte ihre nüchterne Überlegung zurück. Verwundert sah sie das Kind, das sich ängstlich hinter der Amazone zu verbergen versuchte.
Ein Kind! Was bedeutet das? Ich habe Fiska noch nie so ernst gesehen, seit ich in Al-Amaris bin.
„Kann ich dich unter vier Augen sprechen, Anna?“
„Sicher. Wir könne in unsere Hütte gehen, Salcia ist nicht da“, antwortete Anna. „Ist es wegen dem Jungen?“
„Das ist Cein“, die kleine Amazone streichelte beruhigend den Kopf des Jungen, „er ist von Majan weggelaufen. Er hat nur etwas Angst vor der Schmiede.“

Anna ging etwas in die Knie und sah den Jungen an, der sie unsicher anblickte. Als sie ihre Hand ausstreckte, wich er etwas zurück.
„Ich tue dir nichts, Cein.“
Sie erschrak über ihre Stimme, in der noch zu deutlich ihre Enttäuschung von vorhin schwang. Ärger über sich selbst kam hoch und verfinsterte ihre Miene zusätzlich.
„Er wird dir bestimmt nicht zur Last fallen, ich werde mich um ihn kümmern, außerdem soll er nicht lange bleiben“, meinte Fiska.

Anna richtete sich langsam wieder auf.
„Entschuldigt beide meine schlechte Laune, ihr könnt nichts dafür.“
„Zauberinnen sind für ihre starken Emotionen bekannt, daran habe ich mich gewöhnt“, versuchte Fiska zu beschwichtigen.
Anna seufzte, dann ging sie voran zu ihrer Hütte.
„Kommt mit, bei einer Tasse Tee können wir über unseren kleinen Gast reden.“
„Ja, doch zuerst müssen wir über Darsi sprechen.“ Ihre Stimme wirke angespannt.
„Was?“ Anna blieb überrascht stehen. „Was hat die damit zu tun?“
„Das darf niemand außer uns wissen“, antwortete Fiska flüsternd. „Bitte! In der Hütte erkläre ich es dir.“

*

Vor zwei Stunden im Wald
Darsi blinzelte in die Sonne. Es war ein schöner Frühlingstag, in der ihre Lieblingslichtung erstrahlte. Jetzt, am frühen Nachmittag, war es angenehm warm in der Sonne, der Platz lag abseits von allen Tierpfaden und, vor allem, von den Menschen. Darsi suchte und mochte die Stille und Einsamkeit, und bei ihrem Vorhaben wollte sie unbedingt ungestört bleiben.
Ich habe getan, was getan werden musste, und es ist mir gelungen. Was bleibt, das ist zu bezahlen, was es mich kostet.

Sie breitete eine schneeweiße Decke auf dem Boden aus. Sie war quadratisch und aus feiner Baumwolle gewirkt, so fein und zart, dass normalerweise niemand sie auf einer Wiese ausbreiten würde. Aber dies hier war kein normales Ereignis.

Bedächtig löste sie das Band aus ihrem schwarzen Haar und öffnete es mit einem leichten Kopfschwung, dann prüfte sie ihre Kleidung. Sie trug eine schwarze, eng anliegende Hose und eine Weste aus dunkelbraunem Leder, wie meistens. Alles war zu ihrer Zufriedenheit in makellosem Zustand. Dann zog sie, um die kostbare Decke nicht zu beschmutzen, ihre schwarzen Schnürstiefel aus und setzte sich im Schneidersitz auf sie. Kopf und Rücken bildeten dabei eine perfekt senkrecht ausgerichtete Linie.

Darsi zog ihren Dolch aus der Scheide und sah ihn kurz an. Er hatte eine relativ kleine Klinge, in die nur ein einzelnes Symbol eingraviert war: Das Wappen ihrer Familie. Sie sah es noch einmal an, dann schloss sie die Augen, um sich zu konzentrieren. Sie wollte sich noch einmal in Erinnerung rufen, was sie dazu gebracht hatte, Geldors Befehle zu missachten, ihre Gefährten und jene Neue zu gefährden, nur um ihm den Stillen Tod zu schicken.
Baltram! Dir hatte es nie genügt, deine Opfer nur von außen zu foltern. Du wolltest sie immer von innen her zerstören. Dass sie sich selbst zerfleischen und verfluchen, was sie einst liebten. Mag ich auch verloren sein, so ist es mir Befriedigung, dich in die Verdammnis geschickt zu haben. Mag dir dort widerfahren, was du den Menschen angetan hat!
Sie packte den Dolch fest mit beiden Händen, die Spitze auf ihren Hals gerichtet. Sie richtete ihre Konzentration nun darauf, sich von ihrer Umwelt abzukapseln.

*

Etwa eine Stunde zuvor
Fiska lief hinter Cein her. Der Junge hatte erstaunlich schnell Vertrauen in sie gefasst, und wenn er ausreichend abgelenkt war, um nicht an seine Eltern zu denken, dann war er ein lebhafter Bursche. Sie beide waren auf dem Weg in das Winterlager, während Batrast weiter die Vorgänge um die Stadt und vor allem den Zug des Heeres beobachten wollte.

Cein blieb außer Atem stehen. Fiska erreichte ihn und drückte ihn sanft gegen ihre Seite.
„Na, zu schnell gelaufen?“, fragte sie.
„Nein! Aber ich wollte dir nicht davon laufen“, stieß er mühselig zwischen tiefen Atemzügen hervor.
„Ach so. Schön, dass du auf mich wartest. Sollen wir eine kleine Pause machen? Ich möchte mich etwas ausruhen, und du könntest vielleicht einen Happen essen.“
„Hunger habe ich keinen, aber Durst.“
Unvermittelt fing er an zu weinen. Fiska drückte ihn stärker gegen sich.
„Schlimm? Du wirst bald nach Hause können und deine Mutter wiedersehen.“ Sie fühlte, wie er unter ihren Händen leicht bebte. „Sei tapfer, es ist nicht mehr weit bis zu meinem Zuhause.“

Langsam löste er sich aus ihrem Griff und blickte sie an. Fiska wischte ihm die Tränen aus dem Gesicht.
„Du erinnerst mich an meinen Sohn. Er ist jünger, aber nicht viel kleiner.“
„Du hast einen Sohn? Ich dachte immer, Krieger haben keine Kinder.“
Fiska nickte schwer. „Ja, mein Kleiner, das könnte man denken.“ Sie bemerkte seinen verwunderten Blick und reichte ihm ihre Trinkflasche. „Doch du bist noch zu klein, um das zu verstehen.“
„Ich bin nicht klein!“
Sie seufzte. „Na schön, du bist nicht klein.“
Er nahm die Flasche und trank mit kleinen, hastigen Schlucken.

Auf einem Hügel hielten sie wieder an. Hier wehte ein kräftiger Wind, der die Kuppe vom sonst so dichten Wald freihielt. Fiska sah sich um und suchte nach dem weiteren Weg. Sie waren jetzt seit über vier Tagen unterwegs, und der Weg durch die Wälder war anstrengend. Fiska wollte auf jeden Fall vermeiden, dass sie beide den üblichen Weg gingen, da auf ihm Wachen warteten, die sie beide ganze Abschnitte weit mit verbundenen Augen führen würden – Eine Prozedur, die Cein mit Sicherheit nicht ertragen würde und das Vertrauen in sie zerstören würde. Daher hatte Fiska beschlossen, das versteckte Winterlager zu suchen. Sie traute es sich zu, denn ein Lager von dieser Größe war unmöglich sicher zu verbergen, wenn man wusste, in welcher Umgebung es lag. Vielleicht konnte man es vor Paladinen verstecken, die nichts ohne Plan und Karte auch nur versuchten, aber nicht vor einer Amazone, die von Kindheit an in der freien Landschaft gelebt hatte.

Als sie glaubte, eine bekannte Formation – das Glitzern eines Baches zwischen zwei markanten Hügeln – erkannt zu haben, fiel ihr dennoch ein Stein vom Herzen. Fiska genoss jetzt den Wind, wie er kühlend um ihre bloßen Arme und Beine strich und frisch in das Gesicht blies.
„Herrlich!“
Für wenige Sekunden war sie glücklich, denn befreit von ihren Erinnerungen.

Eine halbe Stunde später näherten sie sich einer Lichtung.
„Ich glaube, ich kenne diese Gegend, Cein. Wenn ich mich nicht irre, dann sind wir in zwei Stunden da.“
Nur hundert Meter weiter streckte sie plötzlich ihren Arm zur Seite aus, um ihn zu stoppen.
„Psst, ich glaube, da ist jemand! Warte!“
Cein nickte. Fiska schlich sich vorsichtig weiter, bis sie die Lichtung erreichte.

Es bot sich ihr ein ungewohnter Anblick. In der Mitte der Lichtung saß im Schneidersitz eine Amazone auf einer makellos weißen Decke. Es war weniger die Kleidung sondern mehr die steife Ernsthaftigkeit, die Fiska sie auf Anhieb erkennen ließ.
„Typisch Darsi!“
„Kennst du sie?“
Fiska wandte sich dem Jungen zu. „Du solltest doch warten!“
„Wieso? Du bist doch da.“ Ehe Fiska antworten konnte, flüsterte er weiter. „Warum sitzt die so komisch da?“
„Das ist Darsi, sie ist manchmal etwas merkwürdig, aber ...“, brach ihr Flüstern ab. Jetzt merkte auch sie, dass etwas nicht stimmte. Die Szene vor ihren Augen strahlte eine unbehagliche Feierlichkeit aus, die sie sich zunächst nicht erklären konnte. Erst in dem Moment, als Darsi ihre Hände mit dem Dolch hob, begriff sie schlagartig: Die schneeweiße Decke, die makellose Kleidung, das frisch gewaschene Haar, all das war dieses Mal nicht nur der gewohnte Auftreten ihrer ordnungsliebenden Kollegin, es war weit mehr: Toltar, der letzte Ausweg.

„Nein!“
Der laute Ruf schreckte Darsi auf. Sie ließ den Dolch sinken und öffnete ihre Augen. Ihr Gesicht verhärtete sich, als sie erkannte, wer auf sie zueilte.
„Warum störst du mich?“, warf sie Fiska entgegen.
„Bei den heiligen Elementen, was hast du vor?“, fragte Fiska zurück, dann stand sie unmittelbar vor der im Schneidersitz verharrenden Amazone.
Darsi hob ihren Kopf und starrte Fiska an, ein tiefer Groll stieg in ihr hoch.
„Geh! Geh, und lasse mich in Würde den Toltar vollziehen.“
„Nein! Das kannst du nicht machen. Du kannst dich doch nicht vor den Augen eines Kindes selbst töten. Warum auch? Du hast doch nichts getan.“
„Dann geh doch endlich und nehme ihn mit. Ich will nicht, dass jemand mir zusieht, nicht einmal meine Mitkämpferinnen.“ Ihr kühler Blick traf Fiska. „Und jemand wie du schon gar nicht.“
„Aber...“, stotterte Fiska hilflos, doch ihr flehender Blick ließ nur Darsis Zorn über die Unterbrechung überkochen. Sie sprang übergangslos auf, ihre straffe Gestalt überragte Fiska deutlich.
„Du hast schon verstanden. Du bist nicht würdig, mit deinen Füßen mein Tuch zu beschmutzen. Ich weiß nicht, was und warum du deine Ehre verloren hast, doch Schuld und Scham dringen dir doch unübersehbar aus allen Poren.“ Sie packte Fiska an den Schultern und stieß sie zurück. „Du hast keine Ehre mehr, maße dir nicht an, über Menschen zu urteilen, die sie besitzen!“

Fiskas Beine verloren ihre Kraft, sie sank zu Boden und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Undeutlich drangen die Worte zwischen den Fingern hindurch.
„Ich kann doch nicht anders...“ Langsam zog sie die Hände weg. „Ich würde gerne deinen Weg gehen, aber ich kann nicht. Ich beneide dich darum, dass Geldor und Anna dir den Toltar gewähren.“
Darsi schüttelte ihren Kopf. „Versuche nicht, dich herauszureden. Geldor und Anna haben mit meiner Entscheidung nichts zu tun. Ich habe gehandelt wie eine richtige Amazone und handele weiter so, das ist alles. Das unterscheidet uns. Zwischen uns liegen Welten.“

Fiska antwortete zuerst nicht. Stattdessen drehte sie suchend ihren Kopf, bis sie Cein entdeckte. Der Junge stand in stummer Verunsicherung gefangen einige Schritte abseits. Sie sah ihn an, dann stand sie auf. Sie sah noch einmal zu dem Jungen, ihre Gestalt straffte sich dabei etwas, dann wandte sie sich erneut Darsi zu.
„Es stimmt, ich habe Schuld auf mich geladen und meine Ehre verloren. Doch eines Tages werde ich Anna um den Toltar bitten. Und das solltest du auch. Ich war einmal eine vollwertige Amazone, ich kenne die Bräuche. Den Toltar nimm man sich nicht einfach heimlich, man bittet die darum, in deren Schuld man steht.“
Darsi sah sie verblüfft an.
„Willst ausgerechnet du mir erzählen, was sittlich ist? Geldor und Anna, das sind doch nur Namas. Keine Amazone ist einem Nama Rechenschaft schuldig.“
„Sicher sind beide keine Amazonen, doch deine Abfälligkeit ist zumindestens Anna gegenüber fehl am Platz. Und ich bin mir sicher, du weißt das auch. Warum bist du denn sonst aus unserer Hütte ausgezogen, als sie einzog? Weil du dich ihr gegenüber schuldig fühltest, weil du ihr nicht mehr in die Augen blicken konntest. Wenn du wirklich Ehre hast, dann fliehst du jetzt nicht weiter, sondern gehst zu ihr und bittest sie um Verzeihung oder um den Toltar.“

Darsi schüttelte ihren Kopf. „Ich soll eine Nama um so etwas bitten?“ Sie starrte Fiska an, ihren Stolz schwinden und ihre Verzweiflung anwachsen fühlend. „Das ... das kann ich nicht.“
„Warum nicht?“, erwiderte Fiska. „Ich habe es bei ihrer Freundin Meri einst getan. Was ich schaffte, solltest du auch können.“

*

Zurück in die Gegenwart
Anna und Fiska gingen in ihre Hütte. Sie war leer, da Salcia schon seit einigen Tagen unterwegs war, und Darsi gleich wenige Tage nach Annas Ankunft ausgezogen war.
„Ich habe im Wald Darsi getroffen, wie sie gerade den Toltar vollziehen wollte. Davon konnte ich sie vorerst abbringen, doch jetzt wird sie gleich hierher kommen, und dann wird sie dich darum bitten.“
„Was ist ein Toltar?“, fragte Anna.
„Die einzige Methode für eine Amazone, ihre Ehre wiederzuerlangen.“ Fiska sah Annas fragenden Blick. „Sie stößt sich dazu einen Dolch in die Kehle“, sie lächelte, „oder bittet eine Freundin, es zu tun.“
„Was? Sie bringt sich selbst um? Das ist doch Wahnsinn!“
„Oh nein“, Fiskas Lächeln vertiefte sich, „das ist es nicht. Ein Toltar ist wunderbar. Aber nur, wenn er gerechtfertigt ist.“
Anna sah ihre Freundin zweifelnd an. „Das musst du mir schon genauer erklären.“
„Das mache ich gerne, denn du musst wissen, was ein Toltar ist.“

Fiskas Erklärung machte Anna sehr nachdenklich. Es war weniger der Inhalt, denn von rituellen Selbsttötungen in machen Kulturen hatte sie schon gehört, als vielmehr Fiskas Stimme und ihr immer verträumter wirkendes Lächeln, das sie erschreckte. Es schien ihr, als wenn ihre Freundin bei diesem Thema ihre Niedergeschlagenheit und Traurigkeit ablegen würde. Anna musste sich zwingen, ihre Gedanken auf die momentane Lage zu konzentrieren, um zusammen mit Fiska einen Plan zu entwickeln. Die Zeit drängte. Anna hastete kurz darauf mit einer Wolldecke auf ihren Hügel hinter der Hütte, einen Platz, an dem sie völlig unbeobachtet und ungestört sein würde. Fiska hingegen blieb mit Cein in der Hütte, um sich um das völlig übermüdete Kind zu kümmern, und um Darsi den Weg zeigen zu können.

Anna brauchte nicht lange zu warten. Scheinbar desinteressiert sah sie zu, wie die hagere Amazone den Hügel zu ihr hinaufstieg, Doch in Wahrheit verspürte sie mit einem Mal die Last der Verantwortung. All die Hast der Vorbereitung, all die Gedanken über das richtige Vorgehen, sie waren nun fort und hinterließen Raum für Zweifel.
Fiska, ich kann Darsi doch nicht so behandeln! Aber ich vertaue deiner Einschätzung, du bist eine Amazone, ich nicht.
Sie hockte sich auf ihre Decke und wollte sich konzentrieren. Dabei fiel ihr Blick auf ihre Rockborte, deren helles Rot sie anstarrte. Sie hatte extra dieses traditionelle Kleidungsstück angelegt, da sie es für diese Situation als passend empfand. Die rote Borte signalisierte das Vertrauen, das jenes Volk ihr entgegenbrachte, das sie nicht nur aufgenommen, sondern inzwischen auch angenommen hatte.
Möge ich die Kraft haben, das hier durchzuhalten. Ich habe diese Art von Verantwortung nie gewollt.
Dann stand auch schon Darsi vor ihr.

Darsi sah Anna auf einer bunten Decke sitzen. Die blonde Frau hatte ihre Knie leicht angezogen und ihre Hände locker in den Schoß gelegt. Es wäre für eine Amazone undenkbar gewesen, dermaßen unkultiviert dazusitzen. Anna schien ihr Kommen erst jetzt zu bemerken. Langsam hob sie ihren Kopf und sah sie aus ihren blauen Augen an, das Gesicht verkniffen ernst.
„Was wollt Ihr?“
„Euch bitten, mir den Toltar zu erlauben. Ich werde ihn selbst ausführen.“
Anna antwortete zunächst nicht, dann hob sie ihre linke Hand, machte eine seltsame Geste.
„Nein, das wollt Ihr nicht“, sagte sie und schüttelte dazu bekräftigend ihren Kopf.

Die große Amazone verzog unmerklich einen Mundwinkel. „Doch, ich meine es ernst. Wir Amazonen meinen immer, was wir sagen. Zumindestens wir richtigen Amazonen, die Ihr vielleicht nicht kennt.“
„Das meine ich nicht. Ihr bittest mich nicht, das meine ich.“
„Soll ich mich vielleicht vor Eure Füße werfen und darum anflehen?“
„Warum nicht? Ihr habt mit Eurem Verhalten während meiner Befreiung Alle gefährdet. Fiska, Salcia, Geldor, Largais und alle Anderen, sie hatten sich auf Euch verlassen, doch stattdessen seit Ihr nur Eurer eigenen Rache nachgegangen. Und jetzt kommt Ihr hier bei mir an, und behauptet wieder etwas, das nicht stimmt. In Wirklichkeit bittet Ihr nicht, Ihr fordert es.“

Anna stand in einer langsamen Bewegung auf. Darsi stand mit versteinertem Gesicht absolut regungslos vor ihr, es war unmöglich zu erraten, was in ihr vorging.
„Ich will keine Demütigung, aber eine aufrichtige Bitte. Dann würde ich Euch den Toltar gewähren.“
Ihre Stimme stockte.
Ich schaffe das nicht! So bringe ich sie doch nur um!
Anna schluckte, dann presste sie mühselig weitere Worte hervor.
„Allerdings fällt es mir schwer, Euren Toltar zu verstehen. Ich würde ihn vielleicht respektieren, aber eigentlich ... versteht, wenn in meinem Volk jemand Schaden anrichtet, dann erwarten wir Reue und Wiedergutmachung. Wer das verweigert wird jedoch ausgestoßen. Die aufrechte Einsicht, sie ist uns am wichtigsten.“
„Ihr glaubt im Ernst, ich würde mich davor drücken wollen?“, fragte Darsi sichtlich ersaunt.
„Ja. Sich einen Dolch in die Kehle zu rammen, das beeindruckt mich überhaupt nicht. Im Gegenteil, es würde mir wie eine Flucht vor der Verantwortung vorkommen. Gesteht Euren Fehler ein und helft wieder, diese Schreckensherrschaft der Protektoren zu beenden.“
„Das kann ich nicht“, erwiderte Darsi.
„Warum nicht? Seht es nicht als Demütigung an, denn so ist es nicht gedacht. Im Gegenteil, ich weiß, was dazugehört, einen Fehler offen einzugestehen. Nur Weniges achte ich mehr.“
„Nein, jetzt versteht Ihr nicht. Ich müsste mich selbst belügen, würde ich einen Fehler eingestehen. Ich musste Baltram erschießen, denn Geldor hätte ihn laufen lassen. Doch ich hatte es geschworen, denn ...“
Sie brach ab und hob abwehrend beide Hände.

„Ihr könnt mir ruhig erzählen, warum Ihr Baltram töten musstet. Ich werde es bestimmt für mich behalten, und ich bin hier niemandem Rechenschaft schuldig, auch nicht Geldor. Vielleicht verstehe ich Euch dann besser.“
Darsi schüttelte ihren Kopf.
„Schade, hier würde uns niemand sonst hören“, Anna schüttelte ebenfalls ihren Kopf. „Wie soll ich Eure Tat beurteilen können, wenn Ihr schweigt? Ich bitte Euch“, sie lächelte leicht, „denkt darüber nach. Ich werde morgen um dieselbe Zeit wieder hier sein.“
Darsi nickte knapp, dann drehte sie sich abrupt um und ging.

*

Als Anna am nächsten Tag Darsi beobachtete, wie sie den Hügel zu ihr hinauf ging, erkannte sie auf Anhieb, dass die Amazone einen Entschluss gefasst hatte. Ihre Hände wurden feucht und ein unangenehmes Gefühl breitete sich von ihrem Magen ausgehend in ihrem Bauch aus. Anna zwang sich dazu, sich ähnlich wie am Vortag scheinbar gelassen auf die Decke zu setzen. Das eine Bein hatte sie gerade ausgestreckt, das andere mit beiden Händen fest am Schienbein gepackt und mit der Ferse bis an den Leib gezogen.
So könnte Darsi wenigstens nicht sehen, wie sehr ihre Hände zitterten.

Durch das Hinhocken war Darsi kurz aus ihrem Sichtfeld verschwunden gewesen, dann wuchs sie mit nur wenigen Schritten vor ihr auf.
„Ich nehme Euer Angebot an“, sagte sie ebenso übergangslos wie am Vortag.
Anna sprang wie aus einem Katapult abgeschossen auf. Im selben Moment ärgerte sie sich über ihre Unbeherrschtheit und kämpfte dagegen an, sich ihre Erleichterung ansehen zu lassen. „Ihr seid also bereit, mir Eure Gründe zu nennen?“, fragte sie.
„Ja, aber Ihr müsst sie für Euch behalten.“ Darsi verschränkte ihre Arme vor der Brust. „Ich mache das nur, damit Ihr nicht weiterhin meint, ich würde mich drücken wollen. Danach werdet ihr einsehen müssen, dass der Toltar der einzig sinnvolle Abschluss ist.“
„Wir werden sehen“, meinte Anna und deutete auf eine zweite Decke.

Während Darsi sich im Schneidersitz auf dem angebotenen Platz niederließ, ging Anna zum Feuerplatz und hob das seit geraumer Zeit kochende Wasser herab. Aus einer Blechdose nahm sie mit den Fingerspitzen getrocknete Kräuter, warf sie in zwei Becher und schüttete das Wasser drauf. Ein seltsamer, leicht herber Geruch breitete sich aus. Sie reichte den einen Becher der Amazone und setzte sich mit dem anderen in der Hand auf ihre Decke.

„Das ist Tee, Ihr könnt ihn beruhigt trinken“, sagte Anna zu der etwas misstrauisch wirkenden Amazone und nippte vorsichtig am Becher. „Er ist nur etwas heiß.“
„Danke.“ Darsi schnüffelte am Dampf und stellte den Becher sorgfältig ab. Ihre dunklen Augen erfassten Anna. „Wisst Ihr, aus welchem Grund die meisten von uns zu Rebellen geworden sind?“
Anna machte eine verneinende Geste mit den Händen. „Ich weiß nicht einmal, warum ich es geworden bin.“
Darsi nickte langsam. „Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Es ist seltsam, nicht wahr?“ Sie machte eine kurze Pause, sprach dann weiter. „Die Herrschaft der Protektoren gegenüber ihrem Volk fußt auf Angst und Auslöschung. Wer auch nur in den Verdacht der Opposition gerät, der verschwindet, und mit ihm seine ganze Familie.“
„Ihr meint wirklich die ganze Familie?“
„Ja, Frau, Mann, Kinder. Manchmal auch noch Eltern und Freunde. Sie alle verschwinden aus der Bevölkerung, einfach so. Doch sie sind nicht gleich tot.“

Anna wurde der Becher in der Hand schwer.
„Was geschieht dann mit ihnen?“
„Ich dachte, du hättest das am eigenen Leib erfahren. Sie werden meistens verhört, um so genannte ‚Mitverschwörer’ zu erfahren.“
„Verstehe, Baltram hat deine Familie auf dem Gewissen.“
„Oh nein! Wäre es so gewesen, ich hätte nicht das Recht gehabt, mich über Geldors Befehle hinweg zu setzen. Schließlich ist es Hunderten von uns so ergangen, einzig eine rechtzeitige Flucht hatte sie gerettet. Doch ich und mein Mann sind damals in Baltrams Hände gefallen, und er hat nicht gefoltert, um irgend etwas zu erfahren. Er wusste genau, dass wir beide nichts wussten. Er tat es aus ... Interesse. Er wollte mich nicht von außen her zerstören, das langweilte ihn. Er wollte, dass ich mich selbst zerstöre, von innen her. Und ebenso mein Mann Dagian.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Wie soll das gehen?“
„Das dachte ich damals auch. Dann fing er an, mich zu foltern. Nach einer endlosen Stunde bot er mir an, entweder weiterzumachen, oder Dagian einen Fausthieb zu versetzen.“
Darsi sah Anna in die Augen. „Zuerst lehnte ich ab, aber irgendwann sagte ich ‚Ja’. Damit hatte ich den Pfad in die Verdammnis eingeschlagen.“

Anna benötigte etwas Zeit, um Darsis Worte zu begreifen.
„Du hast ihn sehr geliebt, nicht wahr?“
„Natürlich habe ich Dagian geliebt.“ Für einen Moment hatte ihre Stimme geschwankt, um dann wieder die gewohnte Kühle anzunehmen. „Wir Amazonen lieben unsere Männer. Baltram ließ mich diese Liebe verraten, und er ließ auch Dagian seine verraten. Als Dagian tot war, ließ Baltram mich laufen, ich habe nie erfahren, warum. Vielleicht war ich ihm nicht mehr von Interesse.“
„Weil er sein Ziel erreicht hatte“, rutschte es Anna heraus. „Entschuldige ... das alles tut mir Leid.“ Weder ihr noch Darsi schien aufzufallen, dass sie sich längst duzten. Sie berührte Darsi an der Schulter. Die Amazone reagierte erst nicht, dann entzog sie sich.
„Ich suche kein Mitleid“, flüsterte sie, „Und von einer Nama erst recht nicht."
Anna sah sie nachdenklich an, schien ihre Worte nicht gehört zu haben. „Du hast das immer für dich behalten?“
Darsi nickte knapp. „Natürlich, das geht niemandem etwas an. Ich muss mich auf dein Wort verlassen, es für dich zu behalten.“
Anna nickte. „Das hast du ganz sicher. Und weil du so offen zu mir warst, werde ich es auch zu dir sein: Mit dem Toltar willst du nicht die Schuld mir und den anderen gegenüber tilgen, sondern Dagian gegenüber. Doch glaubst du, er hätte das gewollt?“

Darsi war bei Annas Worten zunächst erstarrt, dann umspielte überraschenderweise ein weiches Lächern ihre Lippen.
„Nein, er hätte nie mein Leben gewollt. Er hätte seines gegeben, um meines zu retten.“
„Und das hat er dann auch“, erwiderte Anna sanft. „Sehe es so. Nicht du hast es so gewollt, sondern Baltram. Du und Dagian, ihr hattet doch überhaupt keine Wahl.“ Sie packte Darsi am Oberarm. „Ich bitte dich, bleibe bei uns! Wenn du deinen Hass ablegest, dann kannst du denen mehr schaden, die dich quälten, als wenn du dich selbst vernichtest.“

Darsi stand auf.
„Ich werde über deine Worte nachdenken.“ Sie reichte Anna ihren Becher zurück. Er war noch voll. „Vielleicht ein anderes Mal.“
Dann ging sie davon in Richtung ihrer Hütte. Anna blickte ihr lange nach.
 
Ein weiteres ausgezeichnetes Kapitel einer ausgezeichneten Story.
Besonders schön ausgearbeitet: die verschiedene Umgangsweise der beiden Amazonen mit den strengen Vorgaben der Lebenssicht ihres gemeinsamen Volkes.
Die Dialoge haben Pepp, und es bleibt spannend. Weiter so :top:
 
supa :) kritik habe ich leider keine für dich *g* Lob muss dir genügen.
 
So, jetzt habe ich die letzten Wochen damit verbracht, die "Bogenbande" und deine Nachfolgestory "Die Protektoren" zu lesen. :read:
Von der Story an sich bin ich restlos begeistert, ich kenne mittlerweile jeden deiner Charaktere recht gut und kann sie schon ein wenig einschätzen.
Super fand ich das Kapitel "Freunde", ich war total überrascht, dass Sirtis die altbekannte Anna ist. Auch hab ich mich für Anna gefreut, dass sie ihre alten Freunde wieder sieht, Salcia, Fiska und auch den "Verräter" Geldor. Das war wirklich ein gelungene Wende in deiner Geschichte.
Von deiner Ausdrucksweise merkt man, das dir Reeba als Betaleserin im Nacken sitzt, :go: das gibt dir den letzten Schliff.
Im Vergleich zur Bogenbande/Lagerfeuer gibts kaum noch Fehler und wenn, dann wirkliche Kleinigkeiten.
Ich bin auf jeden Fall tierisch gespannt wie das jetzt weitergeht und vor allem hoffe ich auf eine Auflösung, warum es überhaupt zu den ganzen Ereignissen kam.
Aber ich vertraue dir da völlig und hoffe auf ein baldiges up! :mod:
 
Danke für die Rückmeldungen, ohne Leser würde es mir keinen Spaß mehr machen.
"Die Protektoren" befindet sich vom Plot her ungefähr in der Mitte, doch werde ich vielleicht etwas straffen.
 
Ach ja so nebenbei bemerkt: Ich lese natürlich auch die ganze Zeit fleißig mit :) und warte genau so wie viele andere auf ein update.
 
Huhu!

Ich bin auch noch immer dabei und warte ebenso sehnsüchtig auf jeden Up, wie die anderen!
Zum letzten Kaiptel möchte ich noch sagen, dass es mir sehr gefallen hat (auch grad die Beschreibung von Annas Unsicherheiten). Eine Szene hat mich dennoch nicht so berührt, wie sie es hätte tun müssen: Darsis Geschichte. Diese war sehr trocken und nüchtern. Von Darsis Erzählweise her verständlich, du hättest den Schrecken evtl. durch Annas Empfindungen verstärken können.

Bitte schreib schnell weiter, wie es in diesem merkwürdigen Land weitergeht!

:hy: Insidias
 
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