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Die Protektoren

hallo,

ja ich lese auch immer fleißig mit und warte auf ein up.

von mir aus mußt du nicht straffen. (nur weiterschreiben *g*)

Gruß, Helldog

p.s.: lass dich nicht hetzen. gutes braucht seine zeit.
 
Das waren gut gezeichnete und nebenbei sehr spannende Kapitel.

Vielen Dank für die beiden Ups.

Kritik? Bereits geschrieben.

Interessant, wie angedeutet wird, dass Remison sein Dasein als Werkzeug begreift . oder zu begreifen beginnt. Kommt da etwa mehr?
Leidenschaftlicher Soldat zu sein ist das eine, seine Überzeugungen (vielleicht) grundlegend erschüttert zu sehen, das andere.

Dieser erste Einblick in die höheren Sphären des Protektorats ist schlüssig zu dem bisher Gewußten. Hierarchische Desinformation , sehr schön.
Wenn ich mich recht erinnere, wird auch zum ersten Mal deutlich, dass das Protektorat aus mehreren "Protektoren" besteht ( sieht man vom Titel der Geschichte mal ab.) die sich offensichtlich nicht immer grün sind.

Steckt da bloßes Machtbedürfnis dahinter (Protektorat = Oligarchie : "Fürsten" oder Statthalter) oder gibt es einen "Lohn" neben dem Macht- und Gebietszuwachs?

Wir werden sehen

:hy:

DV
 
Wenn ich auch in letzter Zeit selten was schreibe, bin ich immer noch da, um zu lesen :hy:

Von mir aus muß übrigens auch nichts gestrafft werden ;)
 
ich find verdammt cool....wie gesagt am anfang n bissal heuprig..aber ansonsten..is echt klasse....:cry: ich kmann sowas ja nich

ich freu mich auf den nächsten teil =)

also ^^ hau ma rein

mfg..saSa
 
Es ist Anfang Mai in Al-Amaris. Die drei Protektoren Aodhan, Creagan und Maolmin planen ein Treffen in der Stadt Majan, um Frieden zu schließen.
Remison, Feldherr der Protektors Aodhan, der die Stadt im April erobert hatte, versucht währenddessen herauszufinden, was die wahren Gründe für den Krieg waren, den er ausgeführt hatte...


Die Protektoren (10)
Der weiße Stein

Namensliste:
Remison: Feldherr des Protektors Aodhan und Eroberer der Stadt Majan
Darsi: Eine strenge Amazone
Rodhlann: Legat des Protektors Aodhan
Aodhan, Creagan, Maolmin: Drei Protektoren, die Krieg untereinander führen
Eferhard: Ein Agent
Lonn: Ehemaliger militärischer Anführer der Stadt Majan

Die Nando: Der Eigenname der Rebellenbewegung

Majan: Eine Stadt im Land Al-Amaris, die von Remison erobert wurde.

*

In den Gassen Majans
Der Fremde zögerte einen Augenblick, in den schwachen Lichtschein zu treten, der durch die trüben Kneipenfenster hinaus auf die Gasse sickerte. Was er vorhatte war, milde ausgedrückt, zumindest ungewöhnlich.
Was hat dieses Licht mit meinen Motiven zu tun?
Entschlossen trat er in den schwachen Lichtschein und ging in das Gebäude. Das Wissen, dass es jetzt kein Zurück mehr gab, das seine Enttarnung ab jetzt Fragen aufwerfen würde, die er nicht befriedigend beantworten könnte, wischte das letzte Zögern weg.
So muss es sein! Sind die Würfel erst einmal in die Luft geworfen, so ist der Rest einfach.

Die Kneipe war von Lärm und stickigem Qualm, der seine Augen tränen ließ, erfüllt. Äußerlich scheinbar ruhig, aber im Inneren angespannt, schob der Fremde seine tief in das Gesicht gezogene Kapuze zurück. Nichts geschah, keiner der zahllosen verstohlenen Blicke erkannte ihn, niemand nannte seinen Namen, den sicherlich alle kannten. Sie hielten ihn vermutlich für einen gewöhnlichen Offizier aus dem Heer Remisons. Von denen waren einige Dutzend in der Stadt, um beim Wiederaufbau zu helfen, wie sie sagten. Aus der Sicht der meisten hier Anwesenden war das nicht einmal falsch, die Eroberer schienen tatsächlich die Stadt wieder zu einem blühenden Zentrum des Handels machen zu wollen. Was kümmerte es da Handwerker und Händler, wenn der eine oder andere Beamte verschwand? Bürokratie und Steuern würde das nicht im geringsten beeinflussen. So schwankte nur für einen kurzen Moment das Stimmengewirr in genau der Weise, die dem Bemerken eines unerwünschten, aber letztlich ungefährlichen, Fremden entsprach, den man ignorieren wollte.

Er hing seinen Mantel an einen der zahlreichen Haken, die sich an den Deckenstützbalken befanden, dann ließ er erneut den Blick durch den Raum schweifen. Jetzt sah er besser, seine Augen hatten sich an den Rauch gewöhnt. Nach etwas Suchen entdeckte er in einer dunklen Ecke eine Gestalt, die über einen Tisch gebeugt saß. Sie schien eine unsichtbare abwehrende Aura um sich zu verbreiten, denn trotz des Gedränges in der Kneipe war sein Tisch frei. Der Fremde drängte sich durch den Raum hin zu der sitzenden Gestalt.
„Seid Ihr Eferhard?“, fragte er den Mann.
„Wenn Ihr Euch weiterhin so auffällig benehmt, dann heiße ich nicht mehr so“, brummte der Mann und sah flüchtig auf. „Setzt Euch hin und bestellt ein Bier.“
„Mein Name ist Parlan.“
„So so, Parlan also. Jetzt setzt Euch endlich hin, bevor Ihr noch mehr Aufmerksamkeit erregt.“
Parlan zog sich etwas umständlich einen Stuhl heran und nahm Platz. Die Wirtin kam, und er bestellte sich ein Bier. Dann wandte er sich an Eferhard.
„Habt ihr die Informationen? Wir können jetzt ungestört reden. Die Offiziere Remisons habe Weisung, heute die Bewohner unbelästigt ihre Wiedereingliederung feiern zu lassen“, sagte er hastig.
„Nur die Ruhe, es gibt keinen Grund, so nervös zu sein“, brummte Eferhard in die Tischplatte, dann sah er auf. „Kühles Blut bewahrt vor Fehlern.“
„Das braucht Ihr mir nicht zu sagen.“
„Tatsächlich?“, antwortete Eferhard und zog eine Braue hoch. „Nun, ich habe die Information, die Ihr benötigt.“
„Und sie lautet?“
Als er keine Antwort bekam, ergänzte er: „Ich versichere Euch, Eferhard, dass ich alles vertraulich halten werde. Egal, was Ihr sagt, Euch wird nichts geschehen.“

Eferhard kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Das ist nicht das Problem, verehrter Parlan“, er betonte den Namen eigentümlich gedehnt, „ich bin mir sogar sehr sicher, dass Ihr schweigen werdet.“ Er grinste andeutungsweise, als er die Empörung im Gesicht seines Gegenübers erkannte, dann schüttelte er unmerklich seinen Kopf und hob abwehrend seine rechte Hand von der Tischplatte. „Das soll keine Drohung sein. Jemandem wie Euch zu drohen, das wäre doch unsinnig. Nein, es geht mir um Euch. Natürlich wollt Ihr jetzt gerne Lonns Worte verstehen, doch ich frage mich, ob Ihr das auch noch wollt, wenn ihr es wisst.“
„Wieso? Wenn die Sache unter uns bleibt, was soll dann passieren können? Oder gibt es noch Andere?“
„Im Moment weiß außer mir Niemand in der Stadt davon. Ich bin kein Einwohner, sondern komme von weit weg. Als wir von der geplanten Belagerung Majans erfuhren, wurde ich als Beobachter entsand. Es gelang mir, das Vertrauen des militärischen Anführers Lonn zu gewinnen. Ich wollte ihn zur sofortigen Kapitulation überreden, doch er hoffte darauf, dass sein Protektor Creagan mit einem Heer kommen und Majan entsetzen würde. Ich wusste genau, dass das nicht geschehen würde, konnte ihn aber nicht davon überzeugen.“
„Über das Ausbleiben jeglicher Reaktion Creagans hatte ich mich zunächst auch gewundert“, warf Parlan ein. „Doch dann hatte ich erfahren, dass Creagan Frieden mit Aodhan schließen will. Da hätte er die Stadt so oder so hergeben müssen.“

Die Wirtin brachte das Bier. Parlan sah ihr zu, wie sie den Krug abstellte. Die Frau wirkte ernst und schwermütig, doch ehe er mehr beobachten konnte drehte sich um und ging um nächsten Tisch.
„Ihr Sohn war einer von Lonns Reitern, und ihr einziger Enkel ist jetzt eine Geisel“, erklärte Eferhard, dann hob seinen Krug. „Ihr solltet es trinken, solange es frisch ist, Parlan.“ Er bemerkte, dass sein Gegenüber zögerte. „Trotz allem ist sie niemandem Gram, denn es war der Krieg, der die Opfer wollte.“ Nach einer kleinen Pause des Schweigens ergänzte er: „Nicht wahr?“
„Ich habe diesen Krieg nicht gewollt“, sagte Parlan und hob ebenfalls den Krug hoch.

Eferhard setzte nach einem großen Schluck ab. „Wie auch immer ... Ich wusste, mein Versagen und Lonns Starrköpfigkeit würden viel Unheil bringen. Mir blieb nur noch der Versuch, ihm die ganze Wahrheit zu sagen, aber das würde auch noch größere Gefahren für die Bevölkerung heraufbeschwören, weshalb ich zögerte. Doch eines Abends wurde ich schwach und erzählte sie Lonn. Ich sagte ihm, wozu dieser Krieg diente. Ich sagte ihm, warum Creagan ihm nicht helfen würde.“
„Warum seid Ihr schwach geworden, wie Ihr meint?“
Eferhard winkte ab. „Das tut nichts zur Sache. Lonn glaubte mir lange nicht, doch irgendwann während der Belagerung musste die Bitterkeit über die ausbleibende Unterstützung ihn doch noch überzeugt haben. Vielleicht sogar erst Eure unbefriedigende Antwort, als er dem Tode nahe Euch nach dem Sinn des Angriffs gefragt hatte.“

Parlan holte tief Luft. „Ihr wisst, wer ich bin?“
Eferhard machte eine wegwischende Geste. „Schon lange. Wer außer Euch sollte Lonns letzte Worte gehört haben und mich jetzt nach dessen Sinn fragen?“
„Und Ihr gebt das einfach so zu? Habt ihr denn keine Angst, Ich könnte Euch beseitigen lassen?“
„Nein“, Eferhard lächelte selbstsicher, "Das werdet Ihr nicht tun, denn Ihr macht nichts ohne Verstrand und Grund. Tötet Ihr mich jetzt, so erfahrt Ihr das Geheimnis nicht. Tötet Ihr mich danach, so würde Aodhan von Euren Nachforschungen erfahren und hätte zugleich einen Beweis dafür." Er lachte leise. „Dafür habe ich natürlich gesorgt.“ Er wurde schlagartig ernst. „Spätestens jetzt sollte Euch klar sein, dass ich nicht aus Sympathie helfe, auch wenn ich Euren Mut anerkenne, hier ohne Schutz herzukommen.“

Remison, der sich zur Tarnung Parlan genannte hatte, winkte ab. „Unwahrscheinlich, dass mich jemand erkennt, ich habe mein Feldlager bis jetzt nicht verlassen.“ Er lehnte zurück. "Es gehört schon einiges an Kaltblütigkeit dazu, so zu planen und zu reden. Ihr seid niemals ein gewöhnlicher Beobachter."
Eferhard nickte. "Das stimmt." Er blickte sich unauffällig um und öffnete vorsichtig seine linke Hand. In ihr lag eine rote Plakette. „Ich bin ein Roter Agent.“

Diese Eröffnung traf Remison, der sich zur Tarnung Parlan nannte, überraschend. Ein Roter Agent, das war etwas, was er bisher nur aus Erzählungen kannte. Er wusste, dass es sie gab, doch nur als stets im Hintergrund befindliche Beobachter, die sich normalerweise nirgends einmischten. Er war nie zuvor einem von ihnen begegnet. Angeblich dienten sie einer Macht, die neben den acht Protektoren stand, doch darüber wusste er noch weniger.

„Ihr seht, ich kann die Lage durchaus einschätzen“, sagte der Agent. „Wollt Ihr immer noch erfahren, was hinter diesem Krieg steckt?“
„Ja! Ich frage mich aber jetzt auch, warum jemand wie Ihr es mir sagen will. Handelt Ihr im Auftrag? In wessen Auftrag?“
„Ich mache das, weil ich meine, Ihr als Feldherr solltet wissen, wofür und weswegen ihr kämpft – und sterben lasst“, antwortete Eferhard mit kühler Ruhe.
„Soll ich mich etwa rechtfertigen, weil ich mein Land verteidigt habe?“, entgegnete Remison gereizt. „Sagt, in wessen Auftrag handelt Ihr?“
„Glaubt Ihr im Ernst, dass ich diese Frage beantworte?“ Eferhard lächelte leicht. „Auf jeden Fall meine ich, Ihr solltet wissen, warum Ihr Krieg geführt habt. Spielen meine Beweggründe da eine Rolle?“ Sein Gesicht wurde wieder ernst. „Allerdings hätte es keinen Sinn, die Antwort einfach so auszusprechen. Ihr selbst müsst sie Euch von dort beschaffen, wo sie liegt: vom Protektor.“
Remison machte ein abweisendes Gesicht. „Vom Protektor? Soll das ein Scherz sein? Ich bin gekommen, um die Antwort von Euch zu bekommen. Ich kann unmöglich den Protektor fragen, warum er Kriege führt.“
„Würdet Ihr mir denn glauben?“, entgegnete Parlan, dann machte eine beschwichtigende Geste. „Es ist mir klar, dass Ihr den Protektor nicht fragen könnt. Das braucht Ihr auch nicht, denn er wird von sich aus die Antwort während seines Treffens mit Creagan und Maolmin geben.“
„Die drei Protektoren treffen sich immer alleine. Ich bin nicht eingeladen“
„Ich weiß. Sie treffen sich in einer Woche in Majan im Regierungspalast der Stadtverwaltung. Bei einer solch unübersichtlichen Umgebung solltet ihr Euch doch heimlich einladen können. Oder organisiert Ihr nicht die Bewachung?“

*

Eine Woche später
Remison schob den Schrank zur Seite. Befriedigt erkannte er eine kleine Tür, wie von Eferhard versprochen. Der Staub und die vielen Spinnweben verrieten, dass sie schon lange nicht mehr benutzt worden war. Überhaupt schien das ganze Haus kaum genutzt zu werden, überall lag Schmutz herum. Vor allem hier, im Keller, war es schlimm, das Rascheln der Ratten war nicht zu überhören.

Der Feldherr hatte für das Treffen der drei Protektoren alle Gebäude im Umkreis um den Palast räumen lassen. Dieses Gebiet hatte er anschließend in Sektoren aufgeteilt, die mit jeweils eigenen Wachen versehen wurden. Die Wächter waren von ihm angewiesen worden, ihre Bereiche nicht zu verlassen, angeblich um Lücken in dem Schutzgürtel zu vermeiden, doch in Wahrheit, um genau eine solche Lücke zu erzeugen, in der das heruntergekommene Haus stand.

Er öffnete die Tür und bückte sich, um in den düsteren und etwas muffigen Gang zu gelangen. Remison kam gut voran. Nach zwanzig Schritten tauchte eine kleine, aber scharfe, Lichtquelle auf. Es war ein Rohr, das in der Gangdecke mündete und als Luftzufuhr nach oben in das Freie führte. Das Rohr war aus Ton gebrannt und durchmaß eine Handspanne. Remison konnte einen Flecken des Himmels sehen, doch kein Geräusch drang zu ihm herab.

Der Gedanke, an einem solchen Ort, in Dunkelheit tief unter der Erde und abgeschnitten von allem Leben, eingesperrt zu sein, überfiel ihn. Remison war bekannt, dass Aodhan manche seiner Feinde auf genau diese Weise zu bestrafen pflegte. Ihm war das immer gleichgültig gewesen, schien es ihm doch außerhalb jeglicher Möglichkeit für ihn selbst zu liegen. Doch jetzt, so wurde ihm schmerzhaft bewusst, galt das nicht mehr. Aodhan würde ihm niemals sein Vorgehen verzeihen, sollte er je davon erfahren. War das Eferhards eigentliches Motiv? Ihn aus Rache für irgend etwas, das er nicht einmal wusste, beim Protektor in Ungnade fallen zu lassen? Remison schüttelte den Kopf. Nein, Rache hätte er viel einfacher und sicherer haben können, wusste er doch schon länger von meinen heimlichen Erkundungen. Aber ich werde vorsichtig bleiben.

Es folgten noch zwei weitere dieser Belüftungsrohre im gleichen Abstand, dann erreichte Remison das Ende des Tunnels. Sein Herzschlag beschleunigte sich, als er die Hand gegen das Holz der Tür legte. Er wusste nicht genau, was sich hinter ihr befand.

Die Tür ließ sich nicht öffnen, sie musste von innen her verriegelt sein. Remison zog sein Kurzschwert und schob es auf der Scharnierseite zwischen Tür und Wand. Er war zu weit gegangen, um jetzt aufzugeben. Entschlossen hebelte er beide Scharniere mit einem trockenen Knacken aus dem Holz, dann schob er die Tür in den Raum. Zu seinem Schreck entstand dabei ein laut schabendes Geräusch. Es war eine leere Kiste, die auf dieser Seite den Tunnelzugang tarnte.

Im Palastkeller angelangt versuchte Remison zunächst, seinen genauen Standort zu bestimmen. Natürlich hatte er den Grundriss des ganzen Gebäudes sorgfältig studiert und memoriert, doch der Tunnel war nirgends eingezeichnet gewesen. Räume wie diesen gab es zuhauf, und die Palastgewölbe waren nicht nur umfangreich, sie waren durch viele Umbauten und Erweiterungen auch sehr unübersichtlich geworden, geradezu zum Labyrinth. Also schlich er sich hinaus auf den Gang und durchsuchte die Umgebung, bis er endlich glaubte, seinen Standort zu kennen. Aufatmend ging er los in Richtung einer der vielen kleinen Treppen für das Personal, über die er in die oberen Stockwerke vordringen wollte. Doch er kam nicht weit.

Remison erschrak, als unvermutet wenige Schritte vor ihm eine menschliche Gestalt auftauchte. Im dunklen Licht des Kellers war nur wenig von ihr zu erkennen, zumal sie im Gegenlicht stand.
„So wie Ihr hier herumsucht müsst Ihr ebenfalls ein Nando sein. Ich wusste gar nicht, dass noch jemand von uns hier ist. Von welcher Gruppe seid Ihr?“, fragte die Gestalt mit weiblicher, doch strenger, Stimme.
„Was? Nando?“, stotterte Remison entgeistert und griff nach seinem Schwert.
Die Gestalt machte eine abwehrende Geste mit dem rechten Arm, in dessen Hand nun in Umrissen ein Dolch erkennbar wurde.
„Ihr braucht die Waffe nicht, Krieger. Ich komme aus Geldors Gruppe und bin Euch schon seit längerem gefolgt. Ich denke, wir planen ungefähr dasselbe.“

Sie trat mit zwei Schritten bis auf doppelte Armlänge an ihn heran. Remison erkannte jetzt besser ihre schlanke und für eine Frau große Gestalt. Dieser kurze Moment genügte ihm, um wieder zu nüchterner Überlegung zu finden.
Sie ist eine von den Aufständigen, die sich selbst Nando nennen. Ich muss Zeit zum Überlegen gewinnen.
„Ich gehöre zu Aods Gruppe. Geldor sagt Ihr? Von dem habe ich nie gehört. Warum habt Ihr mich verfolgt?“, antworte er.
„Leider fand ich keinen Weg durch die Bewacher, doch dann sah ich, wie Ihr in das leer stehende Haus geschlichen seid. Ich folgte Euch in der Hoffnung, dass Ihr einen heimlichen Zugang kennt.“
„Und wenn ich eine Wache gewesen wäre?“
Die Fremde schwieg.
„Na schön ... was wollt Ihr hier?“
„Ich suche die drei Protektoren, die sich hier treffen sollen.“
„Und wenn Ihr sie gefunden habt?“
„Dann werde ich so viele wie möglich von ihnen töten.“
„Die Protektoren töten?“, entführ es Remison mit mühsam unterdrücktem Schreck. „Ich weiß nicht, ob das geht. Ganz ohne Wachen werden die da oben nicht sein.“
„Mag sein, doch wenigstens Aodhan werde ich schon erwischen“, erwiderte die Fremde mit kühler Stimme.
„Aber wozu? Es wäre sinnvoller, sie auszuhorchen. Tote Herrscher finden rasch einen Nachfolger, damit kommt ihr nicht weiter.“
„Das sehe ich anders, doch wir sollten uns nicht streiten. Von mir aus können wir sie zuerst aushorchen. Wenn Ihr genug erfahren habt, könnt Ihr gehen, während ich bleiben und meine Sache erledigen werde.“

Remison dachte nach, dann nickte er. „Von mir aus, wenn Ihr es unbedingt so wollt. Ich nehme an, Ihr wisst, was Ihr plant und dass es mit Sicherheit Euer Leben kosten würde.“
„Das wäre für mich kein Preis.“
„Wie meint Ihr das?“, fragte er erstaunt. Es waren nicht nur die Worte, es war mehr ihr belangloser, aber dennoch entschlossener, Klang, der ihn erschreckte. Remison hatte schon einige Menschen getroffen, die bereit waren, ihr Leben für ein bestimmtes Ziel zu opfern, doch ihnen war stets Fanatismus gemein gewesen, der ihre Stimme gelegentlich schrill, aber nie belanglos gemachte hatte.

Die Fremde machte eine abweisende Geste. „Das ist meine Sache. Nennt mich Darsi. Seid Ihr einverstanden?“
Er nickte. „Ja, wie schon gesagt. Lasst uns sie belauschen, dann sehen wir weiter. Mein Name ist übrigens Parlan.“
Darsi nickte ebenfalls und steckte den Dolch weg. Dann machte sie einen kleinen Schritt zur Seite. „Ihr scheint Euch besser auszukennen.“

Nach einem kurzen Zögern ging Remison an ihr vorbei. Er fand den Weg zu einer Dienstbotentreppe und stieg sie hinauf. Remison vermutete die Protektoren im kleinen Sitzungsaal. Das wäre ein glücklicher Zufall, da der ehemalige Stadtfürst im darüber liegenden Zimmer eine Beobachtungsmöglichkeit hatte einbauen lassen. An der Flureinmündung zum ersten Stockwerk zückte er seinen Dolch und drehte sich um.

Jetzt konnte er die Fremde, die sich Darsi nannte, zum ersten Mal richtig ansehen. Sie hatte ein schmales, asketisches Gesicht, welches gut zu ihrem hageren Körper passte, und das von pechschwarzem, knapp schulterlangem offen getragenem Haar umrahmt wurde. Am deutlichsten prägte sich ihm ihr Blick ein, der ihn aus schwarzen Augen traf. Er zeugte vordergründig von großer Strenge, vor allem gegen sich selbst, doch hintergründig war da noch etwas Anderes. Aber er konnte es nicht fassen.
„Habt Vertrauen, Parlan. Ich werde Euch bestimmt nicht mit in den Tod reißen. Im Gegenteil, mir liegt auch an Euch und Eurem Vorhaben.“
„Ich glaube Euch“, antwortete Remison. Ihm war die Anerkennung, die in Darsis so nüchtern ausgesprochenen Worten mitschwang, nicht entgangen. Kein Zweifel, sie würde Wort halten.

Doch dann wurde er sich wieder seiner Waffe in der Hand bewusst, und warum er sie gezückt hatte. Um das Richtige und Notwendige zu tun. Er wusste, jetzt war die Gelegenheit dafür.
„Ich gehe nach rechts, du links“, sagte Remison und spähte um die Ecke.
Darsi nickte und schob sich an ihm vorbei, um nach links auf den Gang zu gehen. In dem Moment drehte Remison sich um. Er schlang ihr seinen linken Arm um Kopf und Mund, gleichzeitig stieß er den Dolch in ihren Rücken.

Remison hatte schon lange nicht mehr von eigener Hand getötet, aber es nicht verlernt. Als sein Opfer sich wehren wollte, drehte er am Dolch, um den Schock zu verstärken. Es gelang, der Leib erschlaffte in seinem eisernen Griff. Sie musste das Bewusstsein verloren haben, das war für diese Art der Verletzung typisch, sie würde nun innerlich verbluten. Remison zog mit einem Ruck die Klinge heraus, presste eine Hand auf die Wunde und hob die Frau hoch. Er trug sie bis zu einem leeren Zimmer und legte sie dort auf den Boden. Zufrieden sah er, dass nahezu keine Spuren entstanden waren, denn erst jetzt, als sie dalag, fing das Blut an aus der Wunde zu laufen. Er bückte sich, um Dolch und Hände an ihrer Kleidung abzuwischen, doch dann überlegte er es sich anders und verwendete eine herumliegende Tischdecke. Schließlich ging er zurück auf den Gang und zog die Tür hinter sich zu. Sein Ziel lag nicht weit entfernt.

Das gesuchte Zimmer war klein und wurde von einem Kamin beherrscht. Remison kniete sich vor die Feuerstelle und schob das teilweise angekohlte Holz beiseite. Die nur spärlich vorhandene Asche verriet, dass es sich um keinen echten Kamin handelte, sondern lediglich um eine Tarnung für die zwei unter dem Bodengitter befindlichen Löcher. Er hob das Gitter heraus, legte sich auf den Bauch und blickte durch die Öffnungen in das darunter liegende Zimmer. Dort entdeckte er einen einzelnen Mann, der auf einem Stuhl am großen Sitzungstisch saß.
„Rodhlann! Was macht der den hier?“, entfuhr es Remison überrascht.

Der Legat des Protektors schien auf irgend Etwas zu warten. Dabei machte er keineswegs einen angespannten Eindruck, im Gegenteil, er wirkte, als wenn er auf einen Freund warten würde. Remison dämmerte allmählich, dass Rodhlann nicht nur ein einfacher Aufpasser für ihn war, er musste viel mehr ein enger Vertrauter des Protektors sein.

Nach etwa einer halben Stunde ging die Tür zum Sitzungsraum auf. Remison erkannte den Eintretenden, es war Aodhan. Der Protektor hatte eine Erscheinung, die vermutlich durch die Gassen Majans hätte gehen können, ohne auch nur einmal angehalten zu werden. Alles an ihm wirkte durchschnittlich, geradezu unscheinbar. Remison war ihm schon öfters persönlich begegnet, um Kriegszüge zu besprechen, daher wusste er um die inneren Qualitäten dieses Mannes, der stets besorgt um sein Volk gewirkt hatte und sich gelegentlich bei ihm über die eigensinnigen Methoden des Geheimdienstes beklagt hatte.

„Wie war deine Reise?“, fragte Rodhlann den Protektor ohne aufzustehen.
Aodhan winkte ab und setzte sich neben den Legaten. „Etwas mühselig. Ein gewisser Geldor mit einem Haufen Rebellen soll sich hier in der Nähe herumtreiben. Da haben meine Wachen auf einige beschwerliche Umwege bestanden.“
„Von einem Geldor habe ich auch schon gehört, das scheint ein lokaler Rebellenführer zu sein. Vielleicht sollten wir uns um ihn kümmern.“
„Das hat Zeit. Wichtig ist jetzt zunächst diese Anna. Wir müssen sie unbedingt finden und herausbekommen, was sie so gefährlich machen soll. Das Orakel hat mich eindrücklich vor ihr gewarnt“, erwiderte Aodhan, dann schlug er seine Faust auf den Tisch. „Verdammt! Wir hatten sie schon, und dann lassen sich diese Idioten von Baltram und Kieran einfach so übertölpeln.“
„Wir kriegen diese Anna schon noch. Der Narbenring an ihrem rechten Handgelenk wird sie irgendwann verraten. Ich werde Remison anweisen, die ganze Gegend nach ihr abzusuchen.“
„Ist das nicht zu auffällig?“, warf Aodhan ein.
„Ich denke, offiziell lasse ich ihn nach Geldor suchen, und Anna soll dessen Gefährtin sein.“
„Gute Idee! Mach das so. Aber denke daran, wir brauchen sie lebend und Remison darf ihr Geheimnis nicht erfahren.“
„Das ist kein Problem. Remison ist zwar ein guter Feldherr, aber von den Dingen um seine Schlachten herum bemerkt er nichts. Selbst beim Fall von Majan hat er nichts mitbekommen. Er ist der perfekte Idiot.“ Rodhlann lachte.

Remison traute seinen Ohren nicht. Sollten Aodhan und dieser schmutzig lachende Wicht von Legat tatsächlich glauben, ihn wie einen dummen Jungen behandeln zu können? Der demütigende Gedanke, vielleicht schon länger so behandelt und belogen worden zu sein, fing an, sich in seinen Geist zu bohren. Bestand Rodhlanns Aufgabe gar darin, ihn zu lenken?

„Läuft sonst alles wie geplant?“, fragte Aodhan, nachdem Rodhlann wieder ernst geworden war.
Rodhlann nickte bedächtig. „Ich denke schon. Zwar konnte ich den Stadtkommandanten Lonn nicht mehr befragen, doch er hatte wahrscheinlich geschwiegen, um die Stadt zu schützen. Bürgermeister Lughaidh zumindest kannte unser Geheimnis garantiert nicht.“
„Kannte?“
„Er ist beim Verhör verschieden“, erklärte Rodhlann zynisch.
„Das ist schlecht, unsere Verhörexperten sollen in Zukunft sorgfältiger foltern“, meinte Aodhan leicht verärgert. „Wo kommen wir denn hin, wenn sich unsere Feinde so einfach unserem Zugriff entziehen?“ Er schlug wieder seine Faust auf den Tisch. „Wir müssen heraus bekommen, woher Lonn sein Wissen hatte, dass ich, Creagan und Maolmin identisch sind. Wir müssen diese Quelle auslöschen. Das Wissen um meine Dreifachrolle muss unbedingt geheim bleiben. Nur so können wir gegen uns selbst Krieg führen und das Volk hinter uns scharen“, sagte er eindringlich.
„Das ist mir völlig klar. Deshalb habe ich dieses ‚Treffen’ so auffällig stattfinden lassen. Die Nachricht vom Frieden und von der milden Behandlung der Majans wird deine Beliebtheit weiter steigen lassen.“

Remison konnte nicht mehr weiter zuhören, Schwer atmend wälzte er sich auf den Rücken und versuchte zu begreifen.
Das Spiel kann nicht nur schwarze Steine haben.
Jetzt verstand er den Sinn dieser Worte. Es ging nicht nur um seinen letzten Feldzug, es ging um alle.
Ich bin der weiße Stein, der nur noch herumgeschoben wird, um die Bevölkerung mit dem eigenen Elend und dem eigenen Tod zu unterhalten.
Er hatte immer geglaubt, seinem Land zu helfen. In Wirklichkeit hatte er geholfen, es zu knechten. Er hatte immer geglaubt, mit kühler Planung und entschlossener Umsetzung Kriege zu verkürzen und so letztlich Leben zu retten. Jetzt war daraus nur effizientes Schlachten geworden. Er hatte geglaubt, ein Meister seines Fachs zu sein, der souverän Heere leitet. Und war er jetzt noch?
Eine Marionette, nur ein Narr! Ein nützlicher Idiot, der zwei Verbrechern hilft, an der Macht zu bleiben.
Er ballte vor Enttäuschung und Zorn die Fäuste, doch beherrschte sich.
Ruhig bleiben! Wut ist ein schlechter Ratgeber. Er schloss die Augen, um sich zu beruhigen und besser zu konzentrieren. Was soll ich jetzt tun? Er wusste die Antwort sofort und ohne nachzudenken. Ich will diesen Wahnsinn beenden, und ich werde es tun, so wie vorhin auch. Remison biss die Zähne zusammen, als seine Gedanken dort hin zurückkehrten. Aus dem Notwendigen war Verrat geworden. Und jetzt werde ich es wieder tun! Er stand auf, zog Dolch und Kurzschwert und ging mit festen Schritten aus dem Zimmer heraus.

Er lief gegen eine Wand.
„Darsi!“
Nur wenige Schritte entfernt sah er sie, wie sie mühsam über den Gang kroch. Sie gab keinen Laut von sich, doch die breite Blutspur und ihre Bewegungen sprachen für sich. Hin und hergerissen stand Remison da und sah zu, wie sie sich keuchend an einem Türrahmen hochziehen wollte. Sollte er ihr jetzt den Gnadenstoß versetzen? Sollte er einfach vorbeigehen? Als ihre blutverschmierten Hände am Holz des Rahmens abrutschten und sie mit einem Schmerzenslaut wieder zu Boden fiel, steckte er seine Waffen weg und kniete sich neben sie.
„Darsi!“
Sie sah auf und wollte etwas sagen, doch es gelang ihr nicht.
„Es tut mir Leid“, flüsterte Remison. Er wollte noch mehr sagen, doch er wusste nicht, wie. Spontan bückte er sich und hob Darsi vom Boden auf. Er wollte sie nicht hier in diesem Flur verrecken lassen, jetzt nicht mehr. Er war sich sicher, dass sie dabei sein wollte, wenn er Aodhan stellte. Darsi selbst wehrte sich nicht, als er weiterging, obwohl er noch eine gewisse Spannung in ihrem Körper bemerken konnte. Was sie jetzt wohl dachte?

Vor der Tür zum Sitzungsraum legte er sie auf den Boden. Er packte sein Kurzschwert und riss die Tür auf. Die beiden Männer im Inneren wandten ihre Köpfe zu ihm und sprangen auf, als sie ihn erkannten.
„Remison! Was habt Ihr hier zu suchen? Ich hatte doch ausdrücklich befohlen, nicht bei unserem Treffen gestört zu werden! Creagan und Maolmin können jeden Augenblick kommen“, empörte sich Rodhlann. Dann bemerkte er Darsi, die sich gerade auf ihre Knie hochzwang. „Was hat das zu bedeuten? Wachen!“, rief er laut. „Wachen!“
Remison sprang auf Rodhlann zu und rammte ihm das Schwert durch den Leib. Im selben Moment konnte Aodhan seinen Schreck überwinden und wollte aus dem Zimmer fliehen. Doch er stolperte über Darsi, die ihn erkannte.
„Du Schwein entkommst mir nicht!“
Der Hass in ihrer Stimme war unüberhörbar und erweckte sie noch einmal für diesen Moment zum Leben. Sie zog ihren Dolch und stieß ihn tief in seine Brust.
Nur Sekunden später wurde auf dem Gang eine Tür aufgerissen und zwei Leibwächter eilten herbei. Sie rissen Darsi fort, aber für den Protektor war es zu spät.

„Lasst sie los“, sagte Remison und ließ seine Waffe fallen. „Sie ist schwer verletzt und wird Euch nichts tun.“
„Was ist hier passiert, Feldherr?“, fragte der eine Wächter verunsichert, während der zweite Darsi zu Boden gleiten ließ. Offensichtlich hatten sie kaum etwas gesehen, vermutlich glaubten sie, die Amazone hätte den Legaten und den Protektor erstochen, und der Feldherr dann sie.
Remison fixierte den Sprecher. „Das ist jetzt doch unwichtig. Als Leibwächter wird man Euch beide verantwortlich machen, gleichgültig, wer wen umgebracht hat.“ Er erkannte an den betroffenen Gesichtern, wie Recht er hatte. „Das fände ich schade. Doch auch ich bin nicht daran interessiert, hier hineingezogen zu werden. Haltet den Mund über alles, dann werde ich Euch beide vergessen.“
Die beiden sahen sich gegenseitig an. Dann nickten sie. „Gut, wir werden schweigen, wie auch Ihr. Aber was machen wir mit dem Protektor?“
„Beseitigt alle Spuren. Aodhan war nie hier, sein Legat nicht, ich und diese Frau auch nicht. Oder gibt es weitere Zeugen?“
Der erste Wächter schüttelte seinen Kopf. „Nein, Aodhan war immer sehr geheimnisvoll und wollte möglichst wenig über seine Schritte verraten.“
„Das dachte ich mir. Jetzt ist er einfach verschwunden.“ So wie irgendwann einmal Creagan und Maolmin verschwunden waren, dachte Remison und hob Darsi vorsichtig auf. „Um die Attentäterin kümmere ich mich.“

Er trug sie den Weg zurück zum Tunnel. Als er im Keller angelangt spürte, wie ihr Körper immer mehr erschlaffte, legte er sie erneut hin und kniete sich neben ihren Kopf.
„Danke!“, flüsterte sie. „Danke, dass du mir geholfen hast, Aodhan zu töten.“
Er wich ihren Augen aus.
„Verzeihe mir bitte, einen Moment lang hatte ich geglaubt, du hättest mir in den Rücken gestochen...“ Sie brach kurz ab. „Doch jetzt ... Bitte benachrichtige Geldor von Aodhans Tod ... und Anna, vielleicht ist sie jetzt zufrieden...“
„Das werde ich machen und ...“ Er brach ab, als er merkte, dass sie ihn nicht mehr hören konnte.

Remison gefiel der Gedanke nicht, ihren Leichnam hier liegen zu lassen, doch er könnte ihn unmöglich durch den engen Tunnel tragen und noch weniger ungesehen aus dem verfallenen Haus schaffen. So schloss er ihre Augen, richtete ihre Arme und Beine gerade und zog die Kleidung glatt. Dabei bemerkte er, dass sie ihren Dolch die ganze Zeit über in der rechten Hand festgeklammert hatte. Er löste ihn aus ihrer Faust und betrachtete ihn im schwachen Licht des Kellergewölbes. Er sah sehr schlicht aus, und die knapp ellenlange Klinge glänzte noch vom frischen Blut des ehemaligen Protektors. Spontan entschied er sich dafür, sie nicht sauber zu wischen, sondern den Dolch in ein Stück Leder einzuwickeln, das er in einem der vielen Regale fand. Dann eilte er durch den Tunnel zurück zum Haus und von dort in seine Unterkunft, die er seit zwei Tagen bewohnte.

Dort zog er sich um, dann hastete er in sein Büro. Er schrieb eine Notiz für seinen persönlichen Sekretär, in der er den Ort von Darsis Leichnam beschrieb, verbunden mit dem Befehl, ihn unauffällig zu bergen und in Ehren zu bestatten. Remison kannte seinen Sekretär seit langem und war sich sicher, dass er loyal und mit höchster Diskretion alles erledigen würde. Wenn nun auch die beiden Wächter schwiegen, was wahrscheinlich war, dann würde es einige Zeit dauern, bis jemand Verdacht schöpfen würde. Es gab zwar einiges an Ungereimtheiten, doch man hatte es den Menschen unter Aodhan ausgetrieben, darüber nachzudenken. Er selbst wusste noch nicht genau, was er tun wollte. Langfristig ließ sich die Sache nicht vertuschen. Es würde irgendwann deutlich werden, dass die drei Protektorate ohne Führung waren. Dann würde es Krieg geben.

In der Vergangenheit hatte es gelegentlich geheime Kontakte zwischen ihm und den Rebellen gegeben, hauptsächlich um Gefangene auszutauschen, die zu wertvoll zum Hinrichten waren. Mit ihnen könnte ein Gedankenaustausch jetzt nützlich sein, auch um ihre Position für den erwarteten Bürgerkrieg zu erfahren. So schrieb Remison noch eine zweite Notiz an seinen Sekretär, in der er angab, sofort in geheimer Mission aufzubrechen.
 
Es geht weiter :)
Ersten Post und Abendlektüre somit gesichert :D - ich editiere den Kommentar dann hier hinein.

/edit:
Die Verwicklungen werden immer dichter.
Zwei Dinge habe ich nicht recht verstanden: wie lange, denkt Remison, wird der Tod des Protektors unbemerkt bleiben, und kann er wirklich hoffen, einer Überführung seiner Beteiligung zu entgehen?
Und: wieso denkt Darsi, nicht Remison habe sie erstochen?
„Verzeihe mir bitte, einen Moment lang hatte ich geglaubt, du hättest mir in den Rücken gestochen...“ <-- vielleicht habe ich den Satz aber auch nur im Kontext falsch aufgefasst...
Dass sie Remison - einen kaum bekannten Mann, der noch nicht sicher zu ihrer Seite gezählt werden kann - bittet, ihre Vertrauten - immerhin Rebellen, die von Heimlichkeit leben - zu kontaktieren, kommt mir ebenfalls etwas merkwürdig vor. Zumindest ist es ein erstaunlicher 'Auftrag' oder eine Bitte...

Darsis Tod ist traurig... ich bin auf die Reaktion ihrer Vertrauten gespannt.
Und ebenso natürlich darauf, wie sich die Lage weiterentwickelt und wie sie sich aufklärt.
 
hallo,

muss ich mehr als "KLASSE!!!!!!" sagen?

interessante wendung, schade um darsi, usw... *g*

Gruß, Helldog
 
@Reeba:
Der Tod der Protektoren könnte monatelang keine Reaktionen verursachen. Vielleicht ahnen schon nach wenigen Tagen Einige wenige etwas, aber sie werden schweigen und in unsicherer Angst verharren. Aodhan hatte eine extreme Geheimniskrämerei um seine Person und Aufenthalt getrieben, um seine Dreifachrolle spielen zu können. Dazu die Unterdrückung jeglicher Eigenintiative. Stell es dir wie bei Stalin vor. Der bekam einen Schlaganfall, und stundenlang wagte niemand, ihm zu helfen.
Dazu kommen noch die viel langsameren Kommunikationswege in Al-Amaris.
Doch irgendwann wird es offensichtlich werden, dass drei(!) Gebiete ohne Führungsspitze sind. Das weiß Remison und deshalb will er die Rebellen aufsuchen. Das wird der Inhalt des nächsten Teils werden.

Darsi folgte jemand, der heimlich in den Palast eindrang. Er benahm sich nicht wie ein Dieb. Da musste sie annehmen, dass es ein Verbündeter ist. Auf der Treppe bekommt sie ein Messer in den Rücken und verliert das Bewusstsein. Dann kommt Remison und trägt sie auf seinen Armen bis zu ihrem Ziel. Das sind alles handfeste Gründe, ihn nicht als Feind anzusehen. Was nicht in dieses Bild passt ist, woher ihr Mörder gekommen war. Vielleicht hatten Wachen ihre Schritte auf der Treppe gehört und ihnen aufgelauert? Sie niedergestochen, doch der Fremde konnte die Wachen besiegen?
Mehr tot als lebendig, also mit stark reduziertem Wachbewusstsein, kann sie den Worten nicht folgen, wohl aber den Taten: Der Fremde ersticht Rodhlann, Wachen werden gerufen, und dann rennt der Protektor ihr auf der Flucht in die Arme.
Darsi hat in dem Fremden nie Remison erkannt, sondern ihn für einen Mitstreiter gehalten.
 
Ah gut, nun klärt sich das, danke :)
Ich hoffe, dass du mir die Fragen nicht übel genommen hast.
Seltsam bleibt aber, wer Darsi in ihrer eigenen Wahrnehmung anstelle von Remidan niedergestochen haben könnte, da sie kurz vorher eng zusammengestanden haben und sie niemand sonst bemerkt hat - wohlgemerkt, eine Amazone...

Das Konstrukt von Al-Amaris ist das aufwändigste, das ich in irgendeiner Story hier entdecken kann; es erfordert viel Nachdenken, es zu durchschauen (was mir, siehe oben, nicht ganz gelungen ist) - um so gespannter darf man wiegesagt sein, wie sich alles auflöst.

:hy:


/edit: thx Apocalypsos, war aber schlicht ein Vertipper ;)
Ich bin wohl wirklich alles andere als voll da im Moment :D
 
Mensch hab ich mich gefreut, als ich dein update gesehen habe! Das ist jedesmal wieder ein Highlight des Tages!

Die Geschichte mit Darsi und Remidan habe ich auch net ganz verstanden, ich denke aber auch, das Darsi in ihrem Delirium das nicht mehr so wahr genommen hat.
Ihr Tod macht mich jetzt aber nicht so sehr traurig, sie hat ihn schon lange herbeigesehnt.
Ich bin wahnsinnig gespannt, wie es jetzt weitergeht, hoffe, du schreibst bald weiter!

@Reeba: Darsi ist ne Amazone! :hy:
 
Fragen kostet nichts. :D
Im Gegenteil, ohne solche Fragen und Anmerkungen fehlt mir die Orientierung zwischen den Extremen "unverständlich" bis "toterklärt".

Die Grundidee der Geschichte bestand ursprünglich aus zwei Teilen:
- Eine Hauptperson von "neu anfangen" zu lassen.
- Eine unbekannte Welt zu entdecken.
Den ersten Teil habe relativ früh stark abgemildert (aus Sirtis wurde wieder Anna), da ich meinte, es würde sonst zu verworren werden.
Beim zweiten Teil soll der Leser noch nicht durchblicken, doch ab und zu eine kleine Zusammenfassung des aktuellen Kenntnisstands wäre hilfreich, da stimme ich zu. Meine Schwierigkeit dabei ist, wenn ich es zu deutlich bzw. vollständig mache, werden die versteckten Hinweise zu offensichtlich, und das Suchen soll dazu gehören. Doch ich will es versuchen. :)
 
Ha !

Erster !

(Wenigstens heute ;) )

Wieder gut geschrieben, konnte mir die staubigen Gänge sehr gut vorstellen.
Welch überraschende Wendung :)
Andererseits hat mich auch überrascht, dass Aodhan die Erklärung so unmittelbar selbst liefert:

Wir müssen heraus bekommen, woher Lonn sein Wissen hatte, dass ich, Creagan und Maolmin identisch sind.
Das war doch ein ziemlicher Holzhammer :D

Ich fand alles nachvollziehbar, auch das mit Darsi. ( Zugegeben, sie mußte schon sehr gutgläubig sein, andererseits ließen ihr die Umstände kaum eine andere Wahl)

/* spoiler alert */

Anna scheint doch sehr wichtig zu sein, wichtiger als viele andere... Nun, wo er tot ist, hat sich ihre Wichtigkeit vielleicht erledigt oder sie erstreckt sich auch auf andere Protektorate und Protektoren.
In diesem Fall wäre es interessant zu wissen, ob alle Protektoren die gleichen Orakel erhalten und wenn ja, wie und aus welcher Quelle.
Etwas in der Richtung vermute ich ;) Es scheint keine unmittelbare Verbindung zwischen der/einer unbekannten Macht und den Protektoren zu geben, sonst wäre vermutlich das Spiel von Aodhan schon früher aufgeflogen.

/*spoiler ende */

Eine kleine Unerklärtheit noch: Von wem stammen die beiden Wachen? Wer befehligt Sie? Halten Sie wirklich die Klappe?
In diesem Zusammenhang handelt Remison unklug, wenn er den Wachen rät, "Niemand war da" denn ohne Grund stehen die Wachen da nicht rum und Aodhan zumindest wusste um sie.



:hy: DV
 
Hallo,

deine Schlüsse und Spekulationen sind gut nachvollziehbar und logisch. Ob sie zutreffen kann ich natürlich nicht sagen.

Aodhan hatte einen kleinen und geschlossenen Kreis an Mitarbeitern um sich, dazu gehörten auch die beiden Wachen. Er ging mit ihnen in den Palast und befahl ihnen, in einem Zimmer am Gang zu warten. Nach seinem Tod würde man die beiden der Pflichtvernachlässigung anklagen und hinrichten. Remisons Worte sagten ihnen, sie sollten den Mund halten und sich aus dem Staub machen. Um möglichst viel Zeit zu gewinnen sollten sie noch alle Spuren beseitigen. Wie sie sich im Detail verhalten sollen, kann Remison ihnen nicht sagen, da er sie nicht kennt. Insofern sind seine Worte nicht unbedingt direkt gemeint, sondern mehr als Aufforderung zur Vertuschung, und dass er selbst schweigen wird.
Da Aodhan früher ab und an die Rolle wechseln musste, ist es nicht ungewöhnlich für seinen Stab, dass er plötzlich verschwindet. Und wer früher dann anfing, das zu ergründen, wurde beseitigt, um das Geheimnis zu wahren. Daher mögen sich bald Einige Fragen, was los ist, aber sie werden es nicht wagen, es zu zeigen oder gar zu handeln.
Vielleicht hatte Aodhan auch Vertraute, die sein Geheimnis kannten. Doch er wird immer Angst gehabt haben, sie könnten seine Abwesenheit für einen Putsch nutzen, daher haben diese Personen keine direkte Macht, sind also eher Berater. Möglicherweise fürchten sie auch, Aodhan würde seine Umgebung nach der Pilzmethode testen: Wer seinen Kopf fragend hebt, der verliert ihn.
Natürlich ist das keine stabile Situation. Doch einige Wochen oder Monate sollte sie anhalten können. Wie sie sich weiterentwickelt wird auch Thema des nächsten Teils sein.
 
Das ist interessant.

Da bin ich gleich mal doppelt gespannt :)


Grüsse DV
 
Die Protektoren (11)
Das Angebot

Namensliste und Bezeichnungen:
Anna: Eine Zauberin, die von den Barbaren abstammt
Salcia: Eine Assassine, mit Anna befreundet
Fiska: Eine Amazone, mit Anna befreundet
Largais: Ein Paladin in Annas Gruppe
Remison: Feldherr des Protektors Aodhan und Eroberer der Stadt Madjan
Bradach: Ein Paladin in Geldors Winterlager
Cein: Ein Flüchtlingskind
Darsi: Eine tote Amazone
Aodhan: Der tote Protektor von Ra-Genion

Die Nando: Der Eigenname der Rebellenbewegung

Majan: Eine Stadt im Land Al-Amaris, die von Remison erobert wurde.
Ra-Genion: Der Name von Aodhans Protektorat
Al-Amaris: Das unbekannte Land, in das Anna, Salcia und Fiska verschlagen wurden.

Toltar: rituelle Selbsttötung bei den Amazonen
Durub: „Der Weg“, beschreibt den Kampfkodex der Assassinen
Ischerat: „Wegweiser“, Bezeichnung für den Lehrmeister einer Assassine

*

Anna lag auf ihrem Hügel hinter der Hütte in der späten Frühlingssonne und versuchte, sich zu entspannen. Es war im Lager ruhig geworden, denn nahezu alle Bewohner hatten es inzwischen verlassen, um von den vielen verstreuten kleineren Lagern aus Aktionen gegen die Protektorenherrschaft zu führen. Auch Anna war dazu bereit, aber sie wollte zunächst noch Batrasts Rückkehr abwarten, der bereits seit Wochen die Vorgänge um die Stadt Majan herum beobachtete.

Doch so recht wollte sich keine Entspannung einstellen. Ihre Gedanken kamen immer wieder zurück auf die Frage, wie sie und ihre beiden Freundinnen nach Al-Amaris gekommen waren.
Fiska ist seit September hier, Salcia seit November und ich seit dem März. Wir können uns weder an die Reise erinnern, noch wo Al-Amaris liegt. Warum hat die Begegnung mit Geldor einen Teil der Erinnerung zurückgebracht? Er selbst sagt, er wüsste es nicht, und ihm ginge es ähnlich wie uns.
Das Gefühl, die Antwort zum Greifen nahe vor sich zu haben, aber zu blind zu sein, um sie zu sehen, fing an, Anna zu quälen. Logik war noch nie meine Stärke. Wäre Lykos nur hier, er würde das Rätsel mit Leichtigkeit lösen. Ihre Gedanken drifteten weiter ab, hin zu ihrer Freundin Meri und deren Verlobten Lykos. Ob die Beiden schon geheiratet haben? Das letzte, an das ich mich in der Heimat erinnern kann, sind Meri und Lykos. Sie rennt mir nach und ich drehe meinen Kopf zu ihr um. Sie sagt etwas. Aber was? Dann holt Lykos sie ein und hält sie fest. Ich sehe ihre Gesichter unmittelbar vor mir: Meris Augen flehen, Lykos seine bitten. Was ist damals nur passiert?
Mit einem unzufriedenen Seufzer drehte Anna sich auf den Bauch um. Al-Amaris ist in acht Gebiete aufgeteilt, die so genannten Protektorate. Jedes Protektorat wird von einem absoluten Herrscher, dem Protektor, geleitet. Angeblich sind sie sehr unterschiedlich, doch ich habe bisher nur Aodhans Methoden kennen gelernt. Er ist ein Tyrann und scheint nichts außer Unterdrückung und Krieg zu kennen. Warum hat er mich verfolgt? Woher wusste er von mir? Jetzt habe ich mich seinen Gegnern angeschlossen, den Nando, die ihn stürzen wollen. Aber wie soll das funktionieren?

Ein lauter Ruf riss Anna aus ihrer Grübelei. Sie richtete ihren Oberkörper etwas auf und sah sich um. Ihr Blick fiel auf Fiska, die gerade mit gespielter Wildheit Cein packte und in den Schwitzkasten nahm. Ein leises Lächeln über die Ausgelassenheit ihrer Freundin erschien auf Annas Gesicht. Doch es verblasste, als sie daran denken musste, wie selten sie das erleben durfte, war die junge Amazone doch eine Geächtete ihres Volkes. Fiska war einst einer Verbrecherbande in die Hände gefallen, die sie mit dem Leben ihres Sohnes dazu erpresst hatte, ihnen tagsüber bei Überfällen auf Reisende zu helfen. Fiska hatte zwar nie direkt einen Menschen getötet, doch bei den Überfällen waren die Opfer oft von der Bande getötet worden. Nach den strengen Maßstäben des Amazonenvolkes hatte sie damit ihr Heimatrecht verwirkt. Was die drei Verbrecher ihr dann in den Nächten ihres mehrjährigen Martyriums angetan hatten, musste noch schlimmer gewesen sein, denn darüber hatte sie nie Genaueres berichtet.
Die Menschen sehen es dir nicht an, doch du bist immer noch schwer verwundet. Du hast gelächelt, als du vom Toltar sprachst. Sehnst du ihn herbei?

Cein entdeckte Annas Aufmerksamkeit und lief herbei. Sie zwang sich trotz ihrer trüben Gedanken zu einem Lächeln, um den Fehler ihrer ersten Begegnung nicht zu wiederholen. Er erreichte sie und grinste übermütig. Mit einem Mal hob sich Annas Stimmung, und ihr Lächeln wurde ehrlich.
„Na, Cein, was hast du denn ausgefressen, dass Fiska dich jagt?“
„Nichts!“, sagte er, „Hilfst du mir?“ Er lief hinter Anna.
„Freche Ratte! Mir Salz in den Tee zu schütten!“ Fiska sprang mit einem großen Satz über die verblüffte Anna hinweg, rollte sich ab und riss den Jungen dabei mit sich. Miteinander raufend kugelten sie den Hügel hinab. Das alles sah gefährlich aus, doch Anna kannte die Kraft und Geschicklichkeit ihrer Freundin. Ein Gemisch aus gespielten Hilfeschreien und Lachen erklang vom Fuß des Hügels, als Fiska den Jungen zur Strafe durchkitzelte.
„Es ist schön, den beiden beim Spielen zuzusehen“, sagte eine Stimme links neben Anna.

Sie wandte sich der Sprecherin zu. Es war Salcia, die nur zwei Schritte entfernt ebenfalls in der Sonne lag. Die Assassine hatte sich auf ihre Ellbogen gestemmt und blinzelte etwas gegen die tief stehende Sonne an. Sie war erst vor wenigen Tagen zurückgekehrt. Ihre Aufgabe war es gewesen, in Ergänzung zu Batrasts Beobachtungen der Vorgänge um die Stadt Majan, die Umgebung des Lagers zu überwachen, um gegnerische Spione zu entdecken und möglichst abzufangen. Jetzt war sie dabei von einer der verbliebenen Amazonen abgelöst worden.

„Ja, Fiska kann so ausgelassen sein“, antwortete Anna, doch es klang alles andere als fröhlich.
Salcia ahnte, was ihre Freundin bedrückte. „Glaubst du, sie wird wieder eine normale Amazone?“
Anna drehte sich auf den Rücken und stemmte sich ebenfalls mit ihren Ellbogen hoch. „Ich hoffe es.“
Beide verhielten einige Sekunden ihn nachdenklichem Schweigen.
„Du hast bemerkt, wie die hiesigen Amazonen sie meiden?“, fuhr Anna schließlich fort.
„Natürlich. Fiska fühlt sich schuldig, und das spüren sie“, meinte Salcia.
„Ich weiß nicht, wie ich ihr das ausreden kann. Und du? Du hast mir doch auch einmal dabei helfen können.“
Salcia sah Anna an und schüttelte langsam den Kopf. „Nein, so Leid es mir tut. Im Gegensatz zu dir hat sie tatsächlich Schuld auf sich geladen, das sieht sie selbst so und das kann niemand wegreden. In meinen Augen hat sie aber alles durch ihre erlittenen Leiden gesühnt, doch das scheint ihr selbst nicht zu genügen.“
„Wie meinst du das?“
„Amazonen scheinen Strafe und Sühne in unserem Sinne nicht zu kennen, ich habe das selbst noch nicht richtig begriffen.“
„Das fordern wir Zauberer auch nicht.“
„Ja, ihr fordert Besserung und Wiedergutmachung. Aber was fordern die Amazonen?“
„Ich fürchte, ich weiß es“, sagte Anna leise.

*

„Kommandantin?“
Anna schrak aus ihrem leichten Halbschlaf auf, den sie endlich aus ihren trüben Gedanken heraus gefunden hatte.
„Meine Dame, dürfen wir Euch stören?“

Es gab nur einen Menschen, der sie so nannte. Anna fragte sich manchmal, was die Ursache für Largais sonderbares Gehabe war, das ihr affektiert erschien. Anfangs hatte sie nicht einmal gewusst, was der Begriff „Dame“ bedeutet. Inzwischen hatte sie herausgefunden, dass er so ziemlich das Gegenteil von dem beschrieb, was sie sein wollte. Dennoch beharrte Largais darauf, und das ging Anna desweilen auf die Nerven. Sie war nahe daran, es ihm unter die Nase zu reiben, doch der Klang seiner Stimme ließ sie zögern.

Anna legte ihren Kopf in den Nacken, um den Paladin ansehen zu können.
„Natürlich, Largais. Worum geht es denn?“
„Mein Name ist Bradach“, antwortete eine zweite Stimme, und ein weiterer Paladin, den sie bisher nicht bemerkt hatte, trat in ihr Sichtfeld. „,Wir haben einen Gast bekommen, der Euch sprechen möchte.“
„Mich?“, wunderte Anna sich.
„Nicht persönlich. Genau genommen sucht er Geldor, doch der ist nicht im Lager. Und Ihr als seine Stellvertreterin...“
„He! Wer sagt so etwas?“ Anna sprang wütend auf. „Ich bin nicht seine Stellvertreterin!“
Bradach warf Largais einen verständnislosen Blick zu, wandte sich dann weiter an Anna.
„Wer ist es dann? Ihr seid hier im Lager die Einzige, die ein Kommando besitzt.“
„Deswegen bin ich noch lange nicht Geldors Stellvertreterin.“
Largais hob abwehrend beide Arme. „Bitte! Bradach meint es nicht so, er sucht nur jemanden, der an Geldors statt den Gast empfängt.“
„Genau“, bekräftigte Bradach.
Anna holte tief Luft, ließ sie dann aber langsam durch die Zähne entweichen.
„Na schön, das kann ich machen. Wo ist er?“
„Er wartet in Geldors Haus“, antwortete Bradach.
„In Ordnung.“ Sie blickte an sich herab. Sie trug ihre Lieblingskleidung, einen violetten Rock und ein graues Oberteil, die beide schon sichtbar abgenutzt waren. „Geht Ihr beide bitte vor, ich komme nach, sobald ich mich umgezogen habe.“
Sie nickten.
„Ich hätte nie gedacht, dass Paladine jemals eine Frau als Kommandantin anerkennen würden“, klang Salcias Stimme auf.
„Al-Amaris muss sehr weit von unserer Heimat entfernt liegen“, antwortete Anna nachdenklich.

Bradach erwartete Anna und Salcia im Vorraum von Geldors Hütte.
„Der Gast befindet sich im Hauptraum, Largais ist bereits bei ihm. Er hat freies Geleit und soll die Umgebung des Lagers nicht sehen. Deshalb haben wir ihn mit verbundenen Augen hierher gebracht, und er darf die Hütte bei Tageslicht nicht ohne Augenbinde verlassen.“
„Das verstehe ich“, bestätigte Anna. „Wer ist es?“
„Er nennt sich Parlan und ist vermutlich ein Unterhändler. Das ist nichts ungewöhnliches, meistens geht es darum, Gefangene auszutauschen.“

*

Remison wartete ungeduldig und angespannt auf seinen Verhandlungspartner. Er war zum ersten Mal persönlich bei den Rebellen. Zwar hatten sich in der Vergangenheit die Rebellen stets an die Zusage des freien Geleits gehalten, doch würde das auch noch gelten, sollten sie bemerken, dass er nicht irgendwer war, sondern der Feldherr des Protektors? Er hatte das Risiko wie gewohnt kühl kalkulierend abgeschätzt und schließlich akzeptiert. Er glaubte nicht, dass ihn jemand hier kannte. Diese Rebellengruppe kam von außerhalb, und in einer Sache hatte Aodhan Recht gehabt: Er war so gut wie nie aus seinem Heerlager herausgekommen.

Die Tür öffnete sich, und zu Remisons Überraschung erschien eine Frau in ihr. Er schätzte sie einen halben Kopf kleiner als sich selbst ein. Sie hatte leicht gewellte lange blonde Haare, die im Nacken zwar irgendwie zusammengebunden wirkten, aber dennoch breit über ihre Schultern fielen, und einen kräftigen, aber keineswegs unweiblichen, Körperbau, der sie von den ihm bekannten Amazonen markant unterschied und etwas schwerfällig erscheinen ließ. Ihre Kleidung bestand aus einem dunkelgrünen ärmellosen Oberteil und einem kurzen schwarzen Rock mit auffälliger roter Borte. Eine solche Frau hatte er noch nie gesehen. Seine Überraschung steigerte sich noch, als die Fremde auf ihn zuging. Sie bewegte sich mit einer Leichtigkeit, die ihm eine umfangreiche gymnastische Ausbildung und Übung verriet, und Nichts an ihrer Erscheinung wirkte jetzt noch schwerfällig. Sie kam bis an den Tisch heran und sah ihn wach aus ihren blauen Augen an.

Hinter ihr erschien eine zweite Frau. Sie war nur eine Spur kleiner als die erste, aber von schlankerer Statur. Auch sie machte einen ungewöhnlichen Eindruck, denn sie trug Hosen. Sie hatte schulterlange braune Haare, welche sie offen trug. Als sie sich bewegte, meinte er, eine Katze würde durch den Raum huschen. Sie setzte sich ohne ein Wort zu sagen ihm schräg gegenüber an den Tisch. Graue Augen blitzten ihn abschätzend an. Remison erinnerte sich an Berichte, in denen von einer solchen Person die Rede gewesen war. Doch bevor er tiefer in seinen Erinnerungen nachforschen konnte, sprach ihn die erste Fremde an.

„Ihr wolltet mit uns sprechen?“, fragte Anna den Fremden.
„Mein Name ist Parlan. Ich habe wichtige Nachrichten und ein Angebot, beides würde ich gerne mit Eurem Anführer besprechen.“
„Geldor ist nicht hier, aber Ihr könnt stattdessen mit mir reden.“
„Mit Euch? Die Angelegenheit ist wichtig.“
„Sie ist unsere Kommandantin!“, mischte sich Largais ein.

Remison sah, wie Annas Kopf herumruckte und dem Paladin einen verweisenden Blick zuwarf. Zu seiner Verwunderung machte der große Krieger eine entschuldigende Geste. Doch schon wandte sich die blonde Kriegerin wieder an ihn.
„Verzeihung“, sie reichte ihm nach Sitte der Paladine die rechte Hand über den Tisch. „Ich bin Anna.“
Das ist also jene Anna?
Er nahm die angebotene Hand an und bemerkte die Narben am Handgelenk. Jetzt gab es keine Zweifel mehr.
„Bitte sagt uns, was Euch am Herzen liegt. Wenn notwendig, werde ich es dann an Geldor weiterleiten. Anders geht es nicht.“ Sie verzog ihren Mund zu einem entschuldigenden Lächeln.
„Die Angelegenheit ist wirklich äußerst wichtig und muss unbedingt vertraulich bleiben.“
„Auch wenn es Euch ungewohnt erscheinen mag, Parlan, Anna ist Geldors Stellvertreterin“, sagte Bradach. „Ihr könnt Ihr ebenso vertrauen wie ihm selbst.“
Remison sah, wie die blonde Frau dem Paladin einen strengen Blick zuwarf. Das gab den Ausschlag.
„Ich bin vom Feldherrn Remison bevollmächtigt, euch Rebellen Verhandlungen zum Sturz Aodhans anzubieten.“
„Wie bitte? Das sagt Ihr einfach so?“
„Versteht Ihr jetzt, warum ich unbedingt mit einem führenden Nando reden muss?“
„Das meinte ich nicht. Ihr redet von einem Umsturz, als wenn es etwas alltägliches wäre.“
„Weder ich noch Remison reden um Sachen herum. Warum sollte ich nicht offen sein? Herumlavieren würde nur Zeit kosten.“

Anna sah den Fremden nachdenklich an. Es kam ihr sonderbar vor, dass ein Bote eine solches Vorhaben so gelassen aussprach.
„Na schön ... Remison will also Aodhan stürzen. Und was käme danach?“
„Danach suchen wir zusammen einen neuen Protektor, der etwas taugt und nicht nur das Volk unterdrückt“, antwortete er forsch.
„Zum Beispiel Remison?“
„Warum nicht? Er wäre ein guter Protektor und kein gewissenloser Tyrann. Remison wäre bereit, euch alle wieder in das Protektorat aufzunehmen, natürlich ohne irgendwelche Verfolgungen, wenn ihr ihm beim Umsturz unterstützt.“

Anna lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie hatte ein zwiespältiges Gefühl bei diesem Mann. Einerseits spürte sie, dass er es ehrlich meinte, andererseits schien er ihr aber auch zu lügen. Vor allem jedoch konnte sie eine Sache von solcher Bedeutung nicht alleine entscheiden.
„Ihr habt Recht, eine solche Sache muss von Geldor vertreten werden. Ich werde einen Boten nach ihm schicken. Das wird wahrscheinlich einige Tage dauern. Solange könnt Ihr als Gast im Lager bleiben.“ Sie bemerkte Bradachs Geste. „Auf die Sicherheitsvorkehrungen muss ich leider weiterhin bestehen. Ihr werdet eine eigene Hütte bekommen, die Ihr am Tag nicht ohne Augenbinde verlassen dürft.“

Bradach band dem Fremden eine Binde um den Kopf und geleitete ihn nach draußen. Anna, Salcia und Largais folgten unmittelbar vor die Tür, wo Fiska auf sie gewartet hatte. Es dämmerte bereits der Abend heran.
„Geldor wird zu Euch kommen, sobald er hier ist“, verabschiedete Anna Remison.
„Gut, ich werde warten“, antwortete er und ließ sich am Arm von Bradach wegführen.

Fiska sah beiden nach. Als beide außer Hörweite waren meinte sie: „Was will denn Remison von Geldor?“
„Das war Parlan. Er ist nur ein Bote“, erwiderte Anna. „Doch warum schaust du so zweifelnd?“
Fiska wand sich sichtlich unwohl.
„Sag schon“, forderte Salcia sie auf. „Oder glaubst du etwa, wir verheimlichen dir etwas?“
„Nein, nein“, wehrte Fiska ab. „Ich meine ja nur ... ich habe Remison zwar nur von entfernt gesehen, aber Größe und Gestalt stimmen genau. Vor allem aber, er bewegt sich so wie der Feldherr.“ Salcia sah sie fragend an. „Menschen bewegen sich so unterschiedlich, dass man sie alleine an ihrem Gang erkennen kann. Als Amazone habe ich dafür ein Auge“, erklärte Fiska. „Wir lernen das von Kindheit an, um besser zu treffen. Pfeile fliegen einige Augenblicke lang, da muss man Bewegungen genau voraussagen können.“

„Wusste ich es doch, dass er falsch ist!“, rief Anna aus.
Sie wollte wütend losstapfen, doch Salcia hielt sie am Arm fest. „Warte! Wir sollten erst darüber nachdenken.“
Anna wollte sich im ersten Impuls losreißen, doch dann drehte sie sich um. „Was gibt es da zu überlegen? Ich werde ihm meine Meinung darüber sagen, mich anzulügen!“
Salcia packte auch ihren zweiten Arm. „Anna! Ich verstehe dich ja, doch vielleicht hat er einen verständlichen Grund dafür.“
„Sicher hat er den. So kann er sich selbst für den Protektorenposten vorschlagen.“
„Was?“, rief Fiska erstaunt dazwischen.
„Kommt, lasst uns in unsere Hütte gehen und Fiska alles erzählen. Danach besuchen wir mit kühlem Blut Remison“, schlug Salcia vor.
Anna nickte schließlich. „In Ordnung, machen wir es so.“

*

Es war bereits dunkel geworden, als Anna, Salcia, Fiska und Largais zu Remisons Hütte
gingen. Sie besaß zwei größere Räume, im hinteren war Remison untergebracht, in dem vorderen war Bradach vorübergehend als seine Wache eingezogen. Der Paladin öffnete ihnen die Tür.
„Ihr wollt noch einmal mit Parlan sprechen?“, fragte er.
„Ja“, nickte Anna, „wir haben eine dringende Frage an ihn. Könntet Ihr dabei sein?“
„Natürlich. Der Raum wird nur etwas klein sein.“
Er ging zur Verbindungstür und klopfte an.

Remison lag voll bekleidet auf seinem Bett, als sie eintraten. Als er erkannte, wer ihn alles besuchte, richtete er sich rasch auf und schwang seine Beine auf den Boden. Anna schob sich neben den vorausgegangenen Bradach nach vorne und deutete anklagend mit dem Finger auf ihn.
„Gebt es zu, Ihr seid Remison, der Feldherr des Protektors Aodhan!“
Ihre Blicke kreuzten sich.
„Ja“, antwortete Remison mit ausdruckslosem Gesicht, „das stimmt.“

Anna spürte, wie sich eine schwere Hand auf ihre Schulter legte. Sie konnte nur von Largais stammen, der sie wahrscheinlich von Dummheiten abhalten wollte. Tatsächlich bemerkte sie jetzt, wie sich eine Spannung in ihrem Körper aufgebaut hatte, wie bei einem Tier, das zum Sprung ansetzt. Sie zwang sich zum Entspannen und holte langsam Luft.
„Ihr leugnet es also nicht?“, fragte sie.
„Nein, wozu wäre das nützlich?“
„Warum habt Ihr Euch dann zuerst als sein Bote ausgegeben? Was soll das?“
„Ich glaubte, dass würde die Verhandlungen vereinfachen. Feldherren besuchen normalerweise nie selbst den Feind. Aber ich sehe Euch an, dass Ihr irgendwelche Beweise habt. Hat mich jemand erkannt? Egal, es wäre bestimmt sinnlos, es zu leugnen.“ Er machte eine nachdenkliche Pause, ehe er weitersprach. „Vielleicht begreift Ihr nun endlich die Dringlichkeit. In dieser Situation mein Heer viele Tage alleine zu lassen könnte schreckliche Folgen haben. Ich muss unbedingt früher mit Geldor sprechen.“
„Das Ihr Euer Heer nicht alleine lassen wollt verstehe ich, aber warum seid Ihr dann persönlich gekommen?“, fragte Anna.
„Weil Ihr keinem Eurer Unterhändler Eure Umsturzpläne anvertrauen wolltet?“, spekulierte Salcia.
Remison schüttelte seinen Kopf. „Ich hätte genügend vertrauensvolle Untergebene. Der eigentliche Grund ist der Zeitdruck. Ihr müsst annehmen, ich rede über einen Plan zum Sturz Aodhans, den wir auch in einigen Monaten noch ausführen könnten.“ Er ging zu seinem Reisebeutel und fing an, in ihm zu suchen. „Doch das ist nicht so. Als ich sagte, ich wolle den Protektor stürzen, hatte ich etwas verschwiegen.“ Er sah Anna entschuldigend an, dann wühlte er weiter in seinen Sachen. Endlich fand er das Gesuchte und wandte sich erneut an Anna. Er sah ihr direkt in das Gesicht. „Aodhan ist bereits bei einem Attentat getötet worden“, sagte er ruhig und hielt ihr ein kleines Bündel hin.

„Aodhan ist tot?“, fragte Anna ungläubig und nahm das Päckchen entgegen.
„Ja“, bekräftigte Remison. „Ich habe bis jetzt gezögert, das zu sagen, denn umso weniger Menschen es wissen, desto besser.“
„Wer weiß es alles?“
Remison lächelte andeutungsweise. „Das werde ich Euch nicht sagen. Doch es sind nur Wenige.“
„Ihr fürchtet, dass Nachfolgekämpfe ausbrechen und das Protektorat in einen Bürgerkrieg fallen könnte?“, fragte Bradach dazwischen.
Remison nickte. „Ja, und es könnte auch von außen angegriffen werden. Ich weiß nicht, wie lange Aodhans Tod verborgen bleiben wird. Doch bis dahin muss es einen Nachfolger geben. Ich mit meinem Heer bin jetzt die stärkste Kraft und könnte das Protektorat zusammenhalten.“
„Warum sollen wir ausgerechnet Euch, dem Feldherren dieses Tyrannen, dabei helfen?“, zweifelte Salcia.
Remison sah sie an. „Weil Ihr so sehr viel von euren Zielen erreichen könntet. Sicherlich weit mehr, als wenn Ihr weiterkämpfen würdet.“

Anna hatte die Unterbrechung genutzt, um das Bündel zu öffnen. Es war ein schmutziger Lederlappen, in dem sie einen blutverkrusteten Dolch fand.
„Was ist das?“, fragte sie Remison.
„Der Dolch, mit dem Aodhan getötet worden ist. Sein Blut klebt noch an der Klinge. Es war eine von euch, die ihn erstach. Leider bezahlte sie es mit ihrem Leben.“ Er lächelte leicht. „Ihr habt vorbildliche Kämpfer in Euren Reihen, Anna. Sie hatte bis zuletzt alles gegeben, um den Tyrannen zu töten und starb mit Eurem Namen auf den Lippen.“
„Was? Wer?“, stammelte Anna.
„Sie nannte sich Darsi.“

Es wurde still im Raum. Remison konnte sehen, wie Anna die Augen schloss und sich ihre Hand um den Dolchgriff verkrampfte. Ihr Gesicht versteinerte, dann drehte sie sich zu seiner Überraschung wortlos um und ging. Dabei rempelte sie eine der vor Schreck erstarrten restlichen Besucher an, es war eine blonde kleine Frau in braunen Wildlederkleidern. Anna schien das nicht zu bemerken, ohne irgendeine sichtbare Reaktion ging sie weiter. Kaum war sie aus dem Haus, als auch Largais und die beiden anderen Frauen ihr folgten. Remison wandte sich an den verbliebenen Bradach: „Was hat das zu bedeuten? Ich lobe den Mut ihrer Kämpfer und dann diese Reaktion?“
Bradach zuckte mit den Schultern. „Das kann ich auch nicht sagen. Habt etwas Geduld.“ Dann verließ auch er Remisons Zimmer.

Sie fanden Anna in ihrer Hütte wieder. Sie saß mit angezogenen Knien eng zusammengekauert in einer Ecke des kleinen Waschraums auf dem Boden. Ihr Kopf war kraftlos nach vorne gekippt.
„Anna?“, fragte Salcia sie, doch ihre Freundin reagierte nicht. Sie kniete sich vor sie. „Anna! Was hast du?“ Sie packte sie an den Armen und rüttelte sie. Anna sah kurz auf, doch ihr Blick war leer. „Anna, verdammt!“ Salcia fing an, mit kraftlosen Schlägen gegen ihre Schultern zu boxen. „Bitte, sprich mit mir!“

Largais tat einen Schritt nach vorne und zog Salcia sanft aber bestimmt weg. Dann setzte er sich neben Anna auf den Boden, legte seinen rechten Arm um sie und zog sie an sich. Seine Geste war von tiefem Ernst. Anna löste ihre um die Beine gekrampften Arme und packte damit Largais zweiten Arm. Niemand sagte ein Wort. Fiska zog Salcia fort in den Hauptraum.

„Was können wir tun?“, fragte Salcia und wischte sich ihre Tränen aus dem Gesicht.
„Hatte sie so etwas nicht schon einmal?“, spielte Fiska auf ein Ereignis in der Vergangenheit an.
„Ja, aber damals ging es nur darum, dass sie mich hatte bestrafen müssen.“ Salcia fuhr sich unruhig mit der rechten Hand über das Gesicht. Die Erinnerung daran, dass Anna sich damals beinahe selbst getötet hatte ließ sie erschaudern. „Doch dieses Mal ist jemand gestorben.“ Sie erkannte, wie sich ihre Angst auf Fiska übertrug und zwang sich zu einem zuversichtlichen Lächeln. „Andererseits ist sie älter und reifer geworden. Wir schaffen das schon!“ Sie stand auf und fing an, ruhelos umher zu wandern. „Wir sollten sie auf andere Gedanken bringen. Vor allem müssen wir zeigen, dass wir auf ihrer Seite stehen und ihr keine Vorwürfe machen.“ Sie drehte sich zu der nachgefolgten Fiska um. „Ich mache ihr keine. Und du? Darsi war schließlich eine Amazone, da würde ich es verstehen. Bitte sei ehrlich. Anna würde es spüren.“
„Mache dir da keine Sorgen. Ich kannte Darsi kaum, Freunde waren wir nicht. Auch hatte Darsi den Tod gesucht. Anna konnte nicht wissen, wie ihre Worte auf sie wirken würden. Manchmal kann der Andere sagen was er will, man hört immer dasselbe heraus.“ Sie blickte Salcia in die Augen. „Außerdem“, ein leicht verträumtes Lächeln umzog Fiskas Mund, „der Tod ist nichts schlimmes.“

Salcia starrte ihre Freundin an, nickte schließlich. „Darüber möchte ich später mit dir ausführlich reden, doch jetzt kümmern wir uns um Anna. Hast du eine Idee?“
„Wenn mein Sohn traurig ist, dann koche ich ihm etwas leckeres.“
„Lass uns das versuchen.“ Salcia fuhr sich wieder nervös durch das Gesicht, bemerkte ihre Geste und sah sich auf die Handflächen. „Wie wäre es mit deiner Linsensuppe? Anna mag sie sehr gerne und wir könnten sie ohne Zeitdruck kochen und essen.“
Fiska nickte.

Nach etwa einer Stunde erschien Largais im Hauptraum. Salcia und Fiska saßen an dem Tisch. Auch Cein war da, die Ereignisse hatte ihn wieder aufgeweckt. Er verstand nicht, was passiert war, doch die ernste Stimmung hatte ihn still werden lassen. Alle drei waren gerade dabei, Gemüse zu putzen und Kartoffeln zu schälen. Salcia sah den Paladin an, der sich inzwischen seiner Rüstung entledigt hatte.
„Wie geht es Anna?“, fragte sie.
„Etwas besser. Sie ist nicht mehr ganz so teilnahmslos, aber sie spricht immer noch nicht.“ Er setzte sich auf den vierten Stuhl am Tisch und sah ihnen etwas bei der Arbeit zu. Es war ihm anzusehen, dass noch etwas auf ihm lastete. Endlich gab er sich einen Ruck.
„Kann ich euch beide etwas fragen?“
Salcia sah ihn auffordernd an.
„Ich meine ... nun ... ich weiß nicht, ob ich richtig handle, wenn ich Anna so anfasse.“
„Begehrst du sie?“

Largais wurde von Salcias direkter Frage etwas zurückgestoßen.
„Natürlich nicht! Sie ist meine Kommandantin und ich ihr persönlicher Paladin. Ich weiß, was Anstand ist und werde ihn wahren.“
„Das will Salcia auch gar nicht anzweifeln“, mischte Fiska sich ein. „Ich fand es schön, wie du Anna in den Arm genommen hast, doch wie der Paladin der Kommandantin hat das nicht ausgesehen.“ Sie machte eine beschwichtigende Geste. „Verstehe mich nicht falsch, ich fand das richtig.“
Largais seufzte laut. „Das ist mir eben auch klar geworden, deshalb bin ich zu euch gekommen. Vorhin hatte ich nicht daran gedacht. Dabei denke ich sonst immer daran. Nein, in der Ecke vom Waschraum sitzt ein Häufchen Elend. Keine Kommandantin, keine Frau, einfach nur ein bemitleidendwerter Mensch.“
Fiska lächelte leicht. „Ja, und du hast sie wie ein Kind in den Arm genommen.“
„Das mögen Einige für lächerlich oder peinlich halten.“
Salcia schüttelte leicht ihren Kopf. „Wir sind hier unter uns. Irgendwann braucht jeder einmal diese Art von Hilfe, die angeblich so lächerlich ist. Glaube mir, wenn Anna sich erholt hat, wird sie dir dafür dankbarer sein als für alles andere.“
„Mein ihr?“, fragte Largais und sah beide nacheinander an.
Fiska und Salcia nickten bestimmt.
„Anna ist nicht davongelaufen, weil sie sich ihrer Gefühle schämt, sondern weil sie sich selbst ausstößt. Ohne deine Geste wäre sie noch tiefer in den Abgrund der Einsamkeit gestürzt...“, fuhr Salcia fort, unterbrach sich dann aber, als sie eine Bewegung in der Tür zum Waschraum bemerkte. Es war Anna.
„Darf ich mich zu euch setzen?“, fragte sie leise.

„Anna! Komm, setz dich zu uns. Wir machen eine Linsensuppe.“
„Eine Linsensuppe?“ Anna kam langsam heran und sank kraftlos auf einen Stuhl. Ihr Gesicht war blass und ihre Augen huschten ruhelos umher. „Was richte ich nur an“, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme. „Erst tötet meine Unachtsamkeit die beiden Menschen, die mich gerettet und aufgenommen hatten. Dann drängel ich mich in Gom vor, was zwei Menschen das Leben kostet. Ich schlug meine Freundin nieder, dir mir helfen wollte. Und jetzt schickte ich Darsi in den sicheren Tod. Wäre ich doch nur im Schneesturm erfroren, es würde allen besser gehen!“

Fiskas Gesicht fing an zu zucken. Mit fahrigen Bewegungen sammelte sie hastig die Zutaten ein, stand auf und lief eilig zum Topf, um sie hineinzuwerfen. Doch es war zu still im Raum geworden, um ihr Weinen nicht zu hören.
Salcia suchte angestrengt nach Worten, während Largais erneut versuchte, Anna zu umarmen. Sie sträubte sich nicht, kam dem aber auch nicht entgegen.
„Anna, du darfst das nicht so einseitig auf dich beziehen“, versuchte ihre Freundin es schließlich in der Gewissheit, dass ein einfaches Zurückweisen dieser Selbstanklage scheitern würde. „Es stimmt, die beiden Alten starben, weil sie dir geholfen hatten, aber doch nicht durch dich. Ermordet wurden sie von Kieran. Im Gefängnis war eine Magiefalle, und die Wächter wollten uns töten. Ohne dein Eingreifen wären wir nicht zurückgekehrt, und der gefangene Bäcker wäre grausam hingerichtet worden.“ Salcia ergriff mit beiden Händen Annas Hand und sah ihr bittend in das Gesicht. „Das du mich getroffen hast war mein Fehler, das sagte ich schon. Eine Assassine darf sich nicht von einer solchen Waffe treffen lassen.“ Sie zwang sich ein Lächeln auf, das aber etwas verkrampft wirkte. „Erzähle es bitte nicht weiter.“ Ihr Gesicht wurde wieder ernst. „Und Darsi hat nicht wegen dir den Protektor getötet, sondern ...“
„... sondern für sich selbst“, fiel ihr überraschend Fiska ins Wort. „Darsi war viel zu Stolz gewesen, als dass sie für eine Fremde ihr Leben geopfert hätte.“
Salcia war der bittere Unterton in Fiskas Worten nicht entgangen.
Bitte nicht jetzt!
Doch die Amazone hatte sich bereits wieder umgedreht und widmete sich erneut der Suppe.
Anna schien auf all das nicht zu reagieren.

Etwa eine viertel Stunde später klopfte es. Lagais nahm hastig den Arm von Annas Schulter. Salcia stand auf und öffnete die Tür, zu ihrer Verärgerung standen Remison und Bradach vor ihr.
„Remison wünschte Euch zu besuchen, wenn es um diese Zeit noch Recht ist“, erklärte Bradach.
„Das ist jetzt ungünstig, Anna geht es nicht so gut. Ginge es morgen Nachmittag?“
Remison schob sich nach vorne. „Der Tod ihrer Kriegerin hat sie schwer getroffen?“, fragte er leise.
Salcia sah ihn kühl an. „Darsi war nicht ihre Kriegerin. Sie war eine von den Amazonen.“
„Lass ihn ein, Salcia“, klang Annas Stimme unerwartet auf. „Wenn sein Besuch dieses gegenseitige Töten zu beenden hilft, dann soll es nicht an mir scheitern.“
Die Assassine zögerte noch, deutete schließlich mit dem Finger auf Remison. „Also gut“, sagte sie gefährlich leise, „doch wenn ihr Anna noch mehr schadet, werdet Ihr feststellen, dass Eure Immunität Grenzen hat.“
Er nickte. „Das verstehe ich. Ich stehe auf der anderen Seite und bin Euer Feind, aber ich teile Eure Auffassung über Kameradschaft. Doch es geht um etwas, dass ich unbedingt mit Anna besprechen muss, bevor Geldor eintrifft. Soeben habe ich erfahren, dass er bereits morgen früh hier sein soll.“
„Das stimmt. Ich wollte es euch mitteilen, doch Remison bestand darauf, gleich mitzukommen“, bestätigte Bradach.
Salcia gab den Weg frei. Während der Feldherr eintrat, winkte sein Begleiter ab. Er wolle die Situation nicht noch unübersichtlicher machen, meinte er.

Als Remison eintrat, zuckte Cein zusammen. Er lief zu Fiska, die beruhigend auf ihn einredete.
„Jetzt verstehe ich langsam“, meinte Remison, der den Jungen wiedererkannte. „Nun, wenn wir uns einig werden, dann werden keine Geiseln von den Majanern mehr benötigt werden.“
Salcia stellte etwas unsanft den aus dem Waschraum geholten Schemel neben ihren Stuhl. „Kinder als Geiseln ... Für Euch, verehrter Feldherr.“ Ihre Verachtung war unüberhörbar. „Ihr werdet neben mir sitzen.“
„Ihr seht das falsch. Geiseln sind hier üblich und haben sich gut bewährt. Wenn die Geiselgeber die Vereinbarung brechen, töten wir die Kinder dennoch nicht, sondern geben sie nur zur Adoption frei.“
Salcia sah ihn eisig an, doch ehe sie etwas erwidern konnte mischte sich Fiska ein.
„Bitte streitet euch nicht“, bat sie mit einem Seitenblick auf Anna und stellte die Holzteller auf den Tisch. „Wer kocht, der bestimmt, sagen die Amazonen“, sie versuchte ein Lächeln, „und ich wünsche mir Frieden für heute Abend.“
Remison hob entschuldigend die Arme. „Ich bin nicht zum Streiten gekommen.“
Salcia verschränkte leicht verstimmt die Arme vor der Brust. „Aber wir reden jetzt nicht über Heldentaten. Ist das klar?“

Es war ein bedrückendes Mahl. Außer Remison schien niemand am Tisch Appetit zu haben. Er saß Anna schräg gegenüber, die mit dem Löffel in ihrer Suppe herumrührte. Irgendwann kreuzten sich ihre Blicke.
„Darf ich fragen, was Euch so betroffen macht?“
Er bemerkte im Augenwinkel, wie sich Salcia anspannte.
„Wenn ich vorhin leichtfertig über Darsis Tod erschienen bin, dann tut mir das Leid. Bitte versteht, als Feldherr bin ich den Tod gewohnt. Er gehört zum Kriegshandwerk dazu. Meine Männer wissen das. Aber sie verlangen von mir, nicht sinnlos zu sterben, und ich versprach es ihnen. Darsi ist mit Sicherheit nicht umsonst gestorben, im Gegenteil, sie erreichte viel mehr, als ein Mensch sich normalerweise erträumen kann.“

Anna legte ihren Löffel auf den Tellerrand.
„Ich habe sie kaum gekannt. Sie hat mich kaum gekannt, und dennoch hat sie mir anvertraut, was sie erlebt hatte. Ich hätte einen Weg finden müssen, sie zu retten.“ Anna starrte Remison an. „Ihr habt sie zerbrochen. Einen Menschen, der fühlt, einfach so zu eurer Unterhaltung zerstört. Wolltet Ihr nur wissen, wie das aussieht?“
„Ich? Wie kommt Ihr denn darauf?“
Ihre Arme schossen nach vorne und packten Remisons linken Unterarm.
„Eure Tyrannei war durch Nichts zu rechtfertigen. Einzig mein fester Wille, niemanden zu hassen, und die Vernunft, nicht wegen Euch eine Gelegenheit zum Frieden zu opfern, lässt mich mit Euch reden.“
„Ich habe mit den Gräueltaten nichts zu tun gehabt. Das war der Geheimdienst, mein Bereich ist immer nur das Heer gewesen.“
„Nichts damit zu tun gehabt?“, schrie sie. „Ihr wart eine der Säulen dieses Protektors! Auch wenn Eure Blindheit selbst uns hier bekannt ist, so ist das keine Ausrede. Es war Eure Pflicht, zu wissen, was Ihr da mitgetragen habt!“
„Anna, nicht!“, sagte Salcia und griff nach ihren Händen, die Remisons Arm so fest umklammerten, dass die Knöchel weiß geworden waren.

„Lasst nur“, sagte Remison zu ihr und wehrte ihre Hilfe mit der freien Hand ab. „Eure Kommandantin hat nicht ganz unrecht.“ Er sah Anna an. „Doch was nützt das jetzt? Emotionen dürfen wir uns nicht erlauben, dazu tragen wir zu viel Verantwortung.“
Anna ließ seinen Arm frei. „Auch wenn wir uns nicht verstehen, so stimme ich überein, dass wir zusammenarbeiten müssen.“ Sie sah erst Salcia, dann Fiska an. „Danke euch beiden. Mir geht es wieder besser.“ Sie drehte sich zu Largais um. „Und dir auch.“Dann wandte sie sich wieder an Remison. „Was gibt es, das so dringend ist?“
Remison hob die rechte Hand vom Tisch, ließ sie dann aber wieder zurücksinken. „Ich möchte diesen Krieg beenden. Ich möchte auch mit den Nando Frieden schließen. Ich möchte das Protektorat zu dem machen, was sein Name besagt, doch es gibt noch eine Sache, die geklärt werden muss.“ Er sah Anna an. „Ihr müsst mir schwören, Euch nicht mehr einzumischen und das Land zu verlassen.“

Largais sprang von seinem Stuhl hoch und fing an, auf Remison einzuschimpfen. Fiska wurde blass und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Anna war zunächst sprachlos, erkannte jedoch zugleich, dass Salcia kurz davor war, ihre Beherrschung zu verlieren und Remison anzugreifen. Das wäre ein Bruch, den sie letztlich teuer bezahlen würde. Es war wohl dieser Gedanke, nicht noch jemanden in sein Verderben stürzen zu lassen, der Anna so reagieren ließ. Sie hob beschwörend beide Arme.
„Bitte beruhigt euch alle!“ Flehend sah sie Salcia an. „Bitte!“ Dann schwenkte ihr Blick weiter zu Remison. „Ich verstehe Euch nicht. Wenn wir Frieden haben, werde ich Euch ebenso wenig bekämpfen wie alle Anderen auch.“
„Das genügt mir nicht. Ihr müsstet das Protektorat Ra-Genion verlassen und dürftet es nie wieder betreten.“
„Warum? Was habe ich Euch getan, dass Ihr mich verbannen wollt?“, fragte Anna überrascht.
„Noch nichts, aber wir beide wissen, was Ihr vorhabt. Und das kann ich nicht akzeptieren.“
Anna öffnete ihren Mund, doch bekam kein Wort heraus.
„Deshalb meine Eile, denn Geldor könnte als Euer Kommandant dem nicht zustimmen, ohne sein Gesicht zu verlieren. Ich hoffe, dass wir uns unter uns einigen können.“
„Das ist aber ein starkes Stück!“, empörte sich Largais wieder. „Sich hier an unseren Tisch zu setzen und dann so etwas! Besser Ihr geht, bevor ...“
„Warte!“, unterbrach Anna, „worauf wollt Ihr hinaus? Ich bin hier fremd.“
„Ihr leugnet es?“
„Was soll ich leugnen? Wenn Ihr es wisst, dann sagt es nur. Ihr meint doch, ich wüsste es, also würdet Ihr nichts verraten. Und vor meinen Freunden hier“, sie umfasste mit einer Geste alle am Tisch, „habe ich keine Geheimnisse.“

Remison dachte kurz nach, dann seufzte er.
„Also gut, solche Versteckspiele sind nicht meine Sache. Unser Orakel hat vor Euch gewarnt.“
„Was für ein Orakel?“, fragte Anna.
„Er meint vermutlich das Orakel von Ra-Genion, Anna“, antwortete Largais. „Das soll es wirklich geben.“
„Ja, und es funktioniert tatsächlich. In jedem Protektorat gibt es ein Orakel, und die Macht der Protektoren fußt nicht zuletzt auf ihren Prophezeiungen“, bestätigte und ergänzte Remison.
„Haben wir das richtig verstanden?“, fragte Salcia. Sie warf Anna einen kurzen dankbaren Blick zu. „Dieses Orakel hat vor Anna gewarnt? War der Protektor deshalb hinter Anna her, ließ sie fangen und foltern?“
„Ich weiß zwar nicht genau, was Aodhan alles unternommen hatte, doch er ließ Anna verfolgen, weil er sie fürchtete. Und weil er als Protektor sie fürchtete, müsste ich das dann auch.“
„Das gibt Euch noch lange nicht das Recht, eine solche Forderung zu stellen“, rief Largais zornig. „Ihr wollt ein gerechter Protektor werden?“
„Wäre es Euch lieber, ich hätte das verschwiegen und irgendwann einen Meuchelmörder geschickt? Das wollte ich nicht, auch wenn es einfacher gewesen wäre.“
„Das akzeptieren wir nicht. Wir opfern niemanden von uns und Anna schon gar nicht. Geldor wird das mit Sicherheit genauso sehen“, erwiderte der Paladin.
„Deshalb mein Vorschlag: Anna geht freiwillig, dafür versichere ich, sie nicht zu verfolgen. Dann können wir Frieden schließen.“

„Euer Orakel hatte also von Annas Eintreffen gewusst, noch bevor Ihr sie gefangen genommen habt?“, fragte Salcia in die eisige Stille hinein. Anna sah sie erstaunt an und zog ihre Stirn in Falten.
„So ist es“, bestätigte Remison. „Zum ersten Mal hörte ich letzten August von ihr.“
„Im August? Seid Ihr sicher?“
„Natürlich. Ich wurde vom Legaten Rodhlann aufgefordert, auf eine Fremde mit Narben am rechten Handgelenk zu achten. Aber es kam mir damals nicht besonders wichtig vor. Warum wollt Ihr das wissen?“
Salcia lächelte ihn schief an. „Ihr fordert einiges, da möchten wir wenigstens die Gründe wissen. Wieso meint Ihr, Anna wäre auch in Zukunft eine Gefahr?“
„Das kann ich nicht sagen, nur der Protektor durfte direkt mit dem Orakel reden. Doch ich habe aus seinem Mund gehört, dass Anna eine Bedrohung sei.“ Er sah Anna bedauernd an. „Gerne fordere ich das nicht, aber es ist notwendig. Ich möchte wirklich eine gütige Einigung erreichen und dachte, es wäre am einfachsten, wenn Ihr das Protektorat verlasst. Ihr seid doch ohnehin eine Fremde hier.“

Anna erwiderte ruhig seinen Blick. Sie hatte Salcias Gespräch genutzt, um sich ihre Antwort zu überlegen. „Wahrscheinlich würdet Ihr mir nicht glauben, wenn ich sage, dass ich nichts darüber weiß. Doch könntet Ihr in Ruhe schlafen, wenn Ihr es nicht erfahrt? Wer weiß, wodurch ich einen Protektor angeblich bedrohen würde? Selbst mein Tod könnte es sein. Er könnte einen Racheakt nach sich ziehen. Ich kenne einige Geschichten über Orakelsprüche, bei denen gerade der Versuch, die Prophezeiung abzuwehren, sie eintreten ließ.“
Sie bemerkte, wie ihre Worte Remison nachdenklich werden ließen.
„Wenn dieses Orakel so viel weiß, dann könnte es die Antwort liefern“, meinte Anna weiter.
„Das Orakel scheint es selbst Aodhan nicht gesagt zu haben“, entgegnete Remison zweifelnd.
„Vielleicht offenbart es mehr, wenn ich dabei bin. Das wäre mein Vorschlag: Wir beide befragen das Orakel. Danach sehen wir weiter.“
Salcia wollte etwas sagen, doch Anna machte eine Geste mit der Hand. „Später bitte.“

„Ihr würdet alleine mit mir gehen? Nun ... ich wäre dazu bereit, doch ich kann nichts zusagen. Ich möchte meine Herrschaft nicht mit einem Mord beginnen, aber niemand kann vorhersagen, was das Orakel offenbaren wird.“
„Bitte lasst es mich überdenken. Morgen früh gebe ich Euch Bescheid, wofür ich mich entschieden habe.“
Remison nickte. „Ich bin einverstanden.“ Er stand auf. „Danke für das Essen. Es tut mir Leid, es mit meiner Forderung verdorben zu haben.“ Er ging zur Tür hinaus.
Largais folgte ihm, um ihn zu seiner Hütte zurück zu bringen.

Kaum hatte sich die Tür hinter Remison und Largais geschlossen, brach es aus Salcia heraus.
„Bist du wirklich so verrückt, mit diesem falschen Kerl mitzugehen? Dem traue ich alles zu.“
„Das kann wirklich nicht dein Ernst sein, Anna“, schloss sich ihr Fiska an. „Remison ist nicht nur falsch, er ist vor allem kalt berechnend. Er wird dich töten, wenn er sich einen Vorteil davon verspricht.“
„Ich verstehe eure Ablehnung, doch es ist eine einmalige Gelegenheit, dieses Orakel zu besuchen. Es hat von mir gewusst, noch bevor jemand von uns überhaupt in Al-Amaris war! Ich muss es fragen, warum wir hier sind, und wie wir zurück nach Hause kommen können. Wir wissen doch gar nichts, nicht einmal, wo Al-Amaris liegt.“, erwiderte Anna erregt.
„Glaubst du wirklich, Remison lässt dich mit dem Orakel reden und anschließend frei ziehen? Wo er dich doch als Risiko einschätzt? Nein, er wird dich beseitigen, sobald er vom Orakel erfahren hat, wie das am besten geht“, meinte Salcia.
Anna verschränkte die Arme vor der Brust. „Das ist mir doch egal.“
„Ach? Es ist dir egal, wenn dich jemand umbringt? Jetzt bricht aber die typische Dickköpfigkeit der Zauberinnen durch.“
„Quatsch! Remison wird die Geiseln freilassen, Cein kann zurückkehren und wir erfahren endlich mehr über die Hintergründe. Er wird mich schon gehen lassen, oder denkst du wirklich, ich wäre eine besondere Gefahr? Wegen eines dahergelaufenen Weibs wird er keine Verstimmung mit Geldor riskieren. Im Gegenteil, wenn das Orakel uns den Rückweg zeigt, wird Remison uns los, ohne sich die Hände schmutzig machen zu müssen.“

Salcia sah Anna erstaunt an. „Du nennst dich ein ‚dahergelaufenes Weib’?“ Dann wurden ihre Augen schmal. „Die Geiseln ... Nun, auf jeden Fall werde ich dich begleiten.“
Anna schüttelte ihren Kopf. „Oh nein, du bleibst bei Fiska. Es genügt, wenn ich gehe.“
„Ich komme ebenfalls mit“, meinte Fiska.
„Du bleibst erst recht im Lager und kümmerst dich um Cein!“, schimpfte Anna.
„Wieso? Cein wird doch vorher zu seinen Eltern zurückkehren“, entgegnete Fiska.
Anna schlug wütend mit der Faust auf den Tisch. „Egal, ihr beide haltet euch da raus!“
„Anna“, sagte Salcia ruhig und griff sanft ihren Arm, „wir sind hier zu dritt. Du bist meine Ischerat, ich kann dich nicht alleine in eine solche Gefahr ziehen lassen.“

Ein Blick in ihre Augen versichten Anna, dass Salcia es ernst meinte. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sich damals dazu hinreißen zu lassen, doch Anna wusste, es war nicht rückgängig zu machen. Salcia war die Tochter einer Assassinenvorsteherin, und unterlag daher besonders hohen Ansprüchen an den Durub, dem Kampfkodex dieses strengen Volkes. Ihr Volk schaute immer auf ihre Taten.

„Und wenn ich dich aus dem Ischerat entlasse?“, fragte Anna matt, wusste sie doch bereits die Antwort.
„Dann wäre ich entehrt.“
Anna schloss ihre Augen. Sie fühlte, wie die eben erst verdrängte Verzweiflung erneut in ihr aufstieg.
„Anna“, sagte Fiska, „vielleicht verstehst du uns Beide nicht ganz. Weder ich noch Salcia wollen wegen irgendwelcher Verpflichtungen mit, auch wenn sie existieren mögen. Wir wollen das, weil wir nun einmal zu dritt hier sind.“
Fragend sah Anna sie an. „Wie meinst du das?“
„Einen wirklichen Freund lässt man nicht in der Gefahr alleine.“
Anna fing an zu weinen. Endlich brach aus ihr heraus, was sich in ihr aufgestaut hatte. Es waren bittere Tränen, doch sie schämte sich ihrer nicht.
 
Sehr schön - es bleibt spannend.
Oder eigentlich bleibt es nicht, sondern es wird immer spannender! :)

Schön dass du weiterschreibst!

Sehr süß fand ich den kleinen Ausflug in das Spielen mit dem Kind, Cein. Und was geht denn da ab zwischen Anna und ihrer Wache? Hä? Naja, zumindest von Annas Seite habe ich noch keine Zustimmung gelesen, allerdings auch keine Ablehnung... ja,ja typisch Weib - ich versuche aber auch überall ne Romanze zu sehen!


:hy: Insidias
 
nachdem wieder einmal eine der Foren-Göttinnen vor mir gesprochen hat, kann ich nun weiter nichts mehr sagen als: danke für dieses up, welches den spannungsbogen weiter aufbaut.

ich bin grade fertig mit lesen und freue mich schon aufs nächste up. so muss das sein *g*

Gruß, Helldog
 
Die Protektoren (12)
Oamara

Namensliste und Bezeichnungen:
Anna: Eine Zauberin, die von den Barbaren abstammt
Salcia: Eine Assassine, mit Anna befreundet
Fiska: Eine Amazone, mit Anna befreundet
Largais: Ein Paladin in Annas Gruppe
Remison: Feldherr des Protektors Aodhan
Valonius: Ein Kerkermeister
Cein: Ein Flüchtlingskind
Aodhan: Der tote Protektor von Ra-Genion
Seain: Ein Unterführer in Remisons Heer
Lydia: Oberin der Bogenschützen in Remisons Heer
Caerau: Remisons Quartiermeister

Die Nando: Der Eigenname der Rebellenbewegung

Merotir: Hauptstadt des Protektorats Ra-Genion
Golarmur: Name der Festung des Protektors in der Stadt Merotir.
Majan: Eine Stadt im Land Al-Amaris, die von Remison erobert wurde.
Ra-Genion: Der Name von Aodhans Protektorat
Al-Amaris: Das unbekannte Land, in das Anna, Salcia und Fiska verschlagen wurden.

*

Am frühen Morgen des übernächsten Tages standen sich Geldor und Remison zum Abschied im großen Besprechungsraum gegenüber. Sie hatten sich in der vergangenen Nacht einigen können.
„Ich hoffe, Euer Plan geht auf und bringt uns den ersehnten Frieden“, sagte Geldor.
„Ich bin zuversichtlich. Wenn sich Eure Leute oft genug nahe der Hauptstadt blicken lassen, dann werden diese feigen Hofschranzen froh sein, wenn das Heer anrückt. Es muss nur alles schnell genug geschehen, deshalb meine Eile.“
„Es wird sehr schnell gehen, wir werden Lichtsignale verwenden.“
„Sehr gut, ich hoffe wir werden uns bald wieder sehen.“

Remison wollte sich abwenden, doch Geldor hielt ihn zurück.
„Ein Wort noch, Feldherr.“ Er deutete mit dem Kinn auf die etwas abseits stehende Gruppe von vier Gestalten. „Eure Begleiter sind mir sehr wichtig. Ich will sie wiedersehen, und zwar alle vier. Das betrachte ich als Teil unserer Vereinbarung.“
„Darüber hatten wir doch bereits gestern lange gesprochen“, erwiderte Remison mit leichter Ungeduld in der Stimme. „Die Assassine, die Amazone und auch Euer Paladin sind mir gleichgültig, ich habe also keinen Grund, ihnen irgend etwas anzutun.“
„Das muss auch für Anna gelten.“
„Anna kommt freiwillig mit und kennt das Risiko genau.“
„Ihr habt eine etwas eigenwillige Auffassung über Freiwilligkeit.“
„Es war ihr Entschluss und nicht Euer.“
Geldor seufzte. „Das stimmt zwar, doch der Gedanke, ihr Leben könnte an dem Spruch eines Orakels hängen, gefällt mir gar nicht.“
Sein Gegenüber nickte. Er entzog sich Geldors Griff und ging zu der Gruppe.

„Können wir aufbrechen?“, fragte Remison Anna.
Als Antwort reichte die blonde Frau ihm eine Augenbinde. Er nahm sie und legte sie unter Salcias kritischen Blicken an. Dann fühlte er den kräftigen Griff Largais am Arm, der ihn führen würde. Mit seinen durch die Binde geschärften restlichen Sinnen konnte er gut verfolgen, wie sie das Haus verließen und sich draußen eine weitere Person anschloss. Er vermutete jenen Jungen, den er einst verschreckt hatte. Fiska wollte ihn zu seinen Eltern in Majan zurückbringen.

Nach einigen Stunden hielten sie an, damit Cein sich kurz in die Büsche schlagen konnte. Remison wurde von Largais die Augenbinde vom Kopf gezogen. Er kniff in der ungewohnten Helligkeit seine Augen zusammen und rieb sich den linken Arm, an dem er vom Paladin geführt worden war. Er konnte sich nicht über dessen Aufmerksamkeit beschweren, trotz gelegentlicher Stolperer war er nie gestürzt, sondern stets sicher von ihm gehalten worden, doch der Druck seiner Finger war etwas zu fest gewesen. Vermutlich würde morgen der halbe Arm blau sein, dachte er mehr belustigt als verärgert. Dann sah er sich um.

Sie standen mitten im Wald. Jene kleine Amazone, die wie üblich ihre braune Wildlederkleidung trug, die ansonsten eher untypisch für dieses Volk waren, stand an der Spitze. Schräg vor sich gewahrte er die schlanke Statur der Assassine. Hätte er sie nicht bereits am Morgen gesehen, er hätte sie kaum wiedererkannt. Nicht weil sie ihm im Moment den Rücken zukehrte, sondern weil sie einen grünen Rock trug. Unvermittelt drehte Salcia sich zu ihm um, als wenn sie seinen Blick verspürt hätte.
„Was starrt Ihr mich so an?“, fragte sie gereizt.
„Ich überlege noch, wie ich euch im Heer mitnehmen kann, ohne dass es gefährliche Fragen gibt. Anna alleine wäre einfach, doch drei Frauen und ein Paladin werden bestimmt auffallen.“

Anna kam näher. Sie trug einen violetten Rock und eine graues Oberteil. In den stark abgenutzten Kleidern wirkte sie etwas wild, doch sie schien sich in ihnen wohl zu fühlen, ganz im Gegensatz zu ihrer schwarzhaarigen Freundin. Ihr kriegerischer Eindruck wurde durch ein auf den Rücken geschnalltes Schwert und, mehr noch, durch den an ihrer linken Seite baumelnden Streitkolben verstärkt.
„Wir habe uns einen Plan überlegt. Ich dürfte als Kriegerin, Largais als Paladin und Fiska als Amazone durchgehen. Ihr wart fort, um einen Freund zu besuchen, und seid dabei auf unerwartete Gefahren gestoßen. Deshalb habt Ihr uns unterwegs als Söldner angeworben.“
„Das klingt nicht schlecht. Aber was ist mit Salcia? Sie passt in keine der hiesigen Söldnergruppen hinein.“
„Stimmt, deswegen wird sie als Geliebte mitkommen.“
„Was? Ich soll mit ihr ...“
„Nein, nein“, lachte Anna auf. „Sie wird Largais Gefährtin sein.“
„Ich mache das nur, um mir die Trosshuren vom Leib zu halten“, beeilte sich Largais zu sagen.
„Das wirst du auch müssen“, meinte Salcia trocken und grinste, „aber du wirst sie auch nicht mehr brauchen.“

Anna und Remison gingen einige Schritte weg. In diese Diskussion wollten sie sich nicht einmischen.
„Einverstanden, Anna, Euer Plan gefällt mir.“
„Danke für die Anerkennung. Ich hoffe, Ihr werdet Euch daran erinnern, dass die anderen nur Söldner sind, egal, was das Orakel sagen wird.“
„Ich habe das immer so gesehen.“
Er machte eine nachdenkliche Pause.
„Ihr wollt noch etwas sagen?“, fragte Anna schließlich.
„Ja“, er gab sich sichtlich einen Ruck. „Versteht mich bitte nicht falsch, aber es wäre besser gewesen, alleine mitzukommen. Ich kann nicht überall zugleich sein, und Aodhans Umgebung dürfte einige gefährliche Menschen enthalten.“ Er senkte seine Stimme. „In Wirklichkeit helfen sie uns nicht, sondern belasten uns nur. Ihr solltet sie zurückschicken.“
Anna schüttelte ihren Kopf. „Es sind meine Freunde“, meinte sie lächelnd, dann fügte sie hinzu: „Sie mögen die Sache komplizierter mache, doch es wird Situationen geben, da werdet auch Ihr Euch glücklich schätzen, sie dabei zu haben.“
In dem Moment erreichte sie Fiskas Ruf. Cein war zurück, und sie konnten weitergehen.

*

Wenige Tage später erreichten sie in der frühen Nacht den Waldrand vor der Stadt Majan. Die Dunkelheit nutzend gingen Fiska und Salcia mit Cein sofort weiter, um den Jungen heimlich in die Stadt zu schmuggeln. Knapp zwei Stunden später waren die beiden Frauen zurück. Die jetzt sehr stille Fiska rollte sich sofort in ihre Schlafdecke, während Salcia zu den anderen ging, um zu berichten. Viel gab es nicht zu erzählen, die Straßen waren leer gewesen und auch Ceins Eltern war nichts Neues bekannt gewesen. So stand Anna bald mit etwas Brot und einem Wasserbecher auf, ging zu Fiska und legte es neben ihr auf den Boden. Largais konnte aus seiner Position erkennen, wie Anna sich neben die Amazone setzte und erst auf sie einredete und dann etwas von dem Brot abbrach und ihr reichte.

Am Morgen gingen sie in das Feldlager. Das Heer bestand aus drei größeren Teilen. Den ersten Teil bildeten die regulären Truppen. Sie setzten sich im Kern aus gut ausgebildeten Berufssoldaten zusammen, die von kurzfristig rekrutierten Männern ergänzt wurden. Den zweiten Teil bildeten die Söldner. Sie waren sehr heterogen zusammengesetzt, alte Haudegen und unerfahrene Anfänger waren hier zusammen, ebenso Männer und Frauen, und die Disziplin war nicht ganz so streng. Der dritte Teil war der Tross, der die kämpfenden Truppen mit allem notwendigen versorgte.

Diese Aufteilung spiegelte sich auch im Lagerbild wieder. Insbesondere die regulären Soldaten achteten auf eine deutliche Abgrenzung von den ihrer Meinung nach minderwertigen Söldnern. So entstanden zwei große, sichtbar getrennte Lagerbereiche, die sich auch optisch stark voneinander unterschieden.

Der Bereich der regulären Truppe bot ein uniformes Bild. Alle Zelte waren aus demselben, leicht vor Fett glänzenden, braunen Leder gefertigt. Es gab nur zwei Größen: Für je vier Soldaten oder für je zwei Offiziere. Sie standen alle in Reih und Glied und wohl geordnet um das Feldherrenzelt in der Mitte herum, das als einzige Ausnahme groß genug war, um in ihm stehen zu können.

Die Söldner dagegen hatten ihren Bereich merklich weniger geradlinig aufgebaut. Es gab viele unterschiedliche Zelttypen und Zeltgrößen, zumal es diesbezüglich keine Regeln gab. Jeder konnte das Zelt nehmen, das er bezahlen konnte, denn im Söldnerleben hing weit mehr vom Geld ab als im Soldatenleben. Dies war einer der Gründe für das ausgeprägte Söldnertum in ganz Al-Amaris.

Der Tross schließlich bildete mehrere kleine Inseln innerhalb beider Lager, die fast wie Marktplätze wirkten. Da die Söldner mehr Bedarf und Geld hatten, befanden sich die meisten dieser Ansammlungen in deren Bereich.

Während Remison zu seinem Feldherrenzelt ging, brachte sein Quartiermeister Caerau die anderen zu den Söldnern.
„Hier sind vier Neue für Eure Gruppe, Seain.“, sagte er zu einem großen und schlanken Mann.
„Welchen Status haben sie, Caerau?“, fragte Seain zutück.
„Den gewöhnlicher Söldner unter Eurem Kommando“, er senkte die Stimme ab, „aber seid vorsichtig, sie sind von Remison persönlich angeheuert worden.“
„Ich verstehe“, flüsterte er zurück.
Der Quartiermeister machte die Geste des Abschieds und ging fort.

Seain wandte sich an die Neuankömmlinge.
„Ich bin Seain, eurer Unterführer. Als erstes sollt ihr euch Zelte besorgen, die gibt es bei den Händlern. Ich mache euch dabei keine Vorschriften.“ Er sah sich suchend um, deutete dann auf eine etwas vom Lager abgesetzte Zeltgruppe einiger Entfernung. „Dort bei den Amazonen sollte noch etwas frei sein. Sobald ihr fertig seid, sollt ihr hier her zurückkommen, dann erkläre ich alles weitere.“
„Verstanden“, antworte die größere der beiden blonden Frauen und wollte losgehen.
„Ich habe Euch nicht erlaubt zu gehen.“
„Entschuldigung, das wusste ich nicht.“
Er sah sie durchdringend an. „Sagt, habt Ihr noch nie in einem Heer gekämpft?“

„Nein, niemand von uns“, antwortete Anna. Sie ärgerte sich jetzt darüber, dieses Gespräch nicht Largais überlassen zu haben, doch nun war es zu spät.
„Hm...“, Seains Gesicht verdunkelte sich etwas, „Na gut, ich will nicht weiter fragen, was ihr alle denn dann früher so getrieben habt. Aber merkt euch gut: Auch wenn Remison euch persönlich angeworben hat, so unterliegt ihr alle genauso der Lagerordnung wie die anderen auch. Ihr könnt jetzt gehen.“
Er drehte sich um und ging zu seinem Zelt.

Sie gingen wie geheißen zu einem der Händler und kauften zwei Zelte, eines für Anna und Fiska, das andere für Largais und Salcia. Beides war kein Problem, das feste Zusammenleben eines Söldners mit seiner Frau war in Heeren dieser Größenordnung nichts Ungewöhnliches, wie die vielen gemischten Zweierzelte bewiesen.

Beim Zeltaufstellen gesellte sich ein kleines Kind dazu, das vor allem Fiska um die Beine schwirrte. Lächelnd fuhr sie ihm durch die Haare.
„Heh! Fass gefälligst meine Tochter nicht an!“, rief eine scharfe Stimme und eine schwarzhaarige Amazone kam herbeigelaufen. Sie packte das Kind und zog es weg. „Los, ab nach Hause! Ich will nicht, dass du dich mit diesem Gesindel abtust.“

Anna sah dem davonrennenden Kind nach, blickte dann der Fremden in das Gesicht. „Wer ist hier Gesindel?“
„Ihr natürlich. Das halbe Lager weiß, dass Ihr Räuber seid, die ihr Glück nun als Söldner versuchen wollen.“ Sie wandte sich erneut an Fiska. „Ihr seid doch das Allerletzte.“
„Lass meine Freundin in Ruhe, oder ...“, sagte Anna und schob sich dazwischen.
„Oder was? Ach, das ist Eure Freundin? Interessant...“, entgegnete die Fremde.
„Was soll das heißen?“
Die Schwarzhaarige spuckte verächtlich auf den Boden. „Ich hätte nie gedacht, eine Amazone könnte so tief herabsinken, die Gespielin einer Wilden zu werden.“
Ansatzlos griff Fiska die Fremde an.

Die beiden Frauen standen sich lauernd gegenüber. Fiska wehrte, ihrer ersten ungestümen Reaktion zum Trotz, völlig ruhig die auf ihre Augen zustoßenden Finger der fremden Amazone ab und wartete auf ihre Gelegenheit zum Gegenangriff. Plötzlich packte sie den linken Arm ihrer Kontrahentin und schlug zugleich ihren Kopf gegen ihr Kinn. Ein fester Ruck, eine schnelle Drehung, und schon lag die Fremde mit dem Bauch auf dem Boden. Fiska rammte ihr ein Knie in den Rücken und verdrehte ihr den linken Arm, bis sie schmerzhaft aufkeuchte. Dann setzte sie ihr anderes Knie an das Ellbogengelenk und drückte zu.

Anna sah gebannt zu. Die Kampf zwischen den beiden Amazonen hatte eine kalte Gnadenlosigkeit ausgestrahlt, die sie tief erschreckt hatte. Die Fremde hatte so hart und schnell zugestoßen, dass ihre Absicht, Fiska zu blenden, nicht zu leugnen war. Und nun war ihre Freundin kurz davor, ihrerseits der Fremden das Ellbogengelenk zu brechen, was sie auf Dauer verkrüppeln würde. Doch sie durfte sich nicht einmischen, dies war Fiskas Kampf.

Ihre Sorge erwies sich als unbegründet, Fiska deutete lediglich an, was sie machen könnte, ließ aber Gnade walten. Stattdessen packte sie den linken Ringfinger der Schwarzhaarigen und knickte ihn mit einem hässlichen Knacken nach hinten um. Ein unterdrückter Schrei erklang. Dann ließ sie den Arm los und schenkte der Besiegten keinerlei Aufmerksamkeit mehr.

„Eigentlich hätte ich ihr für diese Beleidigung mindestens den Arm, besser den Ellbogen, brechen müssen“, meinte Fiska.
„Nein, du hast es so genau richtig gemacht“, erwiderte Anna.
„Wirklich?“, Fiskas Gesicht zeigte einen Moment etwas Stolz, wurde dann wieder ernst. „Hoffentlich bekommen wir jetzt keinen Ärger.“
„Keine Sorge“, meinte Salcia, die zusammen mit Largais zugesehen hatte, „Ich habe während des Kampfes gesehen, wie Seains angelaufen kam. Er hat aus dann aus etwas Entfernung zugesehen, uns nach dem Kampf anerkennend zugenickt und ist wieder verschwunden.“
„Das ist gut. Ich frage mich aber noch, warum sie das gemacht hat“, meinte Anna. „Sie kannte uns nicht, und dennoch hatte sie diesen Kampf gesucht. Sie wollte dich ganz offensichtlich verletzen.“
„Sie hält uns, vor allem mich, für Abschaum. Dabei ist sie selbst eine Söldnerin“, meinte Fiska.
„Vielleicht war sie gerade deswegen so aggressiv, weil du sie an ihre eigene Lage erinnert hast“, spekulierte Salcia.

„Der eigentliche Grund war ein anderer“, mischte sich eine hinzugetretene ältere Amazone ein.
Anna sah sie fragend an. „Was meint Ihr?“
„Ich bin Lydia, Unterkommandantin der Bogenschützen und Oberin der Amazonen.“ Sie sah Fiska abschätzend an. „Eure Lederkleidung mit den gezackten Rändern ist typisch für den Stamm der Yanniden.“
„Yanniden?“, fragte Fiska.
„Ihr kennt sie nicht?“
„Nein, ich habe noch nie von einem solchen Stamm gehört.“
„Das dachte ich mir, sonnst würdet Ihr hier nicht so herumlaufen. Ich rate Euch dringend, andere Sachen anzuziehen. Die Yanniden gelten als Knabendiebe und haben hier nur Todfeinde.“
„Was sind Knabendiebe?“, fragte Anna.
„Das geht Euch nichts an, Kriegerin“, entgegnete die Amazone und wandte sich ab.
Als Fiskas verlegenen Gesichtsausdruck bemerkte, verzichtete sie darauf, sie zu fragen.
„Wartet bitte noch einen Augenblick, Lydia“, rief sie stattdessen und eilte mit wenigen Schritten auf die Oberin zu, die sich umgedreht hatte.
„Was gibt es noch?“, fragte sie Anna.
„Ich möchte nicht, dass Ihr glaubt, wir wären Räuber. Wie kann ich Euch davon überzeugen?“
Sie lächelte leicht. „Das braucht Ihr nicht. Ich habe alles beobachtet, und weder Fiskas Verhalten im Kampf noch Euer Verhalten passen zu Räubern.“

*

Nach Einbruch der Nacht hatten die Amazonen auf einem kreisförmigen Platz, der sich im Mittelpunkt ihrer Zelte befand, ein großes Feuer entzündet und sich darum versammelt. Als die ersten Trommeln zu hören waren, wurde Anna, Salcia und Largais klar, dass es sich um ein besonderes Ereignis handeln müsste.
„Was geschieht dort, Fiska?“, fragte Anna.
„Sie feiern ein Fest. Ich hörte, Remison hat den Majanern offiziell den Frieden verkündet und lässt alle Geiseln frei. Deswegen hat er auch dem Heer Ausgang gewährt, die meisten Söldner sind in die Stadt gegangen.“
„Sollen wir mitmachen?“, fragte Salcia ihre Freunde.
„Ich weiß nicht recht, den Trommeln nach handelt es sich um ein Amazonenfest“, zweifelte Fiska. „... oh, da kommt jemand.“

Eine Amazone tauchte aus dem Dunkelheit auf. Anna spannte sich unwillkürlich an, als sie im Mondlicht jene Frau erkannte, die am Nachmittag mit Fiska gekämpft hatte.
„Lydia schickt mich, sie lädt Euch vier zu unserem Fest ein. Wir feiern den Friedensschluss.“
In dem schlechten Licht war schwer genaueres zu erkennen, als sich die beiden Kontrahentinnen wieder gegenüber standen. Die Fremde hob beiläufig ihren linken Arm, und ein weißer Fingerverband schimmerte auf. Sie nickte knapp und ließ die Hand wieder sinken. Fiska ging einen Schritt auf sie zu und legte ihr die rechte Hand auf die Schulter. Sie drückte leicht zu. Die schwarzhaarige Amazone schien unmerklich erneut zu nicken, dann drehte sie sich abrupt um und ging zurück in Richtung des Feuers. Keine von beiden hatte auch nur ein Wort gesagt.
„Kommt mit“, forderte Fiska ihre Freunde auf. „Es ist alles in Ordnung.“

Sie erreichten den Festplatz. Um ein großes Feuer herum waren liegende Baumstämme im Kreis herum angeordnet worden. Auf ihnen saßen zahlreiche Amazonen, dazwischen waren vereinzelt auch andere Söldner zu sehen. Etwa auf halber Distanz zum Feuer befanden sich mehrere Gruppen von Trommlerinnen. Noch näher zu den Zuschauern hin gelegen waren einige kleine Feuer, über denen verschiedene Tiere gegrillt wurden, daneben standen Körbe mit Brot und große Krüge auf dem Boden.

Die Fremde führte sie zu einem freien Stamm und bedeutete mit einer Geste, sich dort niederzulassen. Anschließend brachte sie ihnen einen der Krüge mit vier Bechern, ließ sie dann aber alleine.
„Das ist Jamarinarisar“, erklärte Fiska mit belegter Stimme. „Ein Festgetränk der Amazonen.“

Sie hatten sich absichtlich in der Reihenfolge Fiska, Largais, Salcia, Anna gesetzt, um jeglichen Gerüchten entgegen zu wirken. Der Paladin nahm ihr den Krug aus der Hand und schnüffelte vorsichtig.
„Da ist Alkohol drin“, stellte er fest.
„Ja, und noch andere Sachen. Nichts schädliches, aber es verstärkt die Wirkung.“
„Wir können es also trinken, sofern wir nur wenig nehmen?“
Fiska nickte. „Sicher, das gehört dazu. Das Fest hier ist das Oamara. Ich hätte nie gedacht, es jemals außerhalb meiner Heimat zu erleben.“
„Was wird dabei gefeiert? Der Friedensschluss?“, fragte Largais und goss etwas von dem roten Getränk in einen der Becher.
„Nein, das ist nur der Anlass, aber nicht der Inhalt des Oamara.“
„Was ist der Inhalt?“
„Du wirst schon sehen. Sie werden sich in der Fremde zwar zurückhalten, aber du wirst es verstehen.“

Anna hatte Schwierigkeiten, sie in dem zunehmendem Lärm zu verstehen, zumal ihre Stimme immer mehr zu schwanken schien. Sie beugte sich vor, um sie wenigstens von der Seite sehen zu können.
„Wirst du dich auch zurückhalten?“, hörte sie Largais weiter Fiska fragen.
Sie antwortete nicht.
Largais stieß sie an und gab ihr den Becher.
„Heute feiern wir, ich denke, wir haben es verdient.“
Als sie den Becher nahm sah er, wie eine Träne über ihr Gesicht lief. Er wischte sie vorsichtig weg. „Solange man Heimweh verspürt, hat man eine Heimat.“
Fiska kippte den Becher hinunter.

Als Anna zum ersten Mal an ihrem Becher nippte, schmeckte sie vor allem Alkohol und Kirschsaft heraus. Es war feurig und verbreitete im Nu ein Gefühl der Wärme in ihrem Bauch. Während der Rausch in ihren Kopf stieg, veränderte sich das Geschehen vor ihren Augen. Die Trommeln, die von älteren Amazonen betätigt wurden, veränderten ihren Rhythmus. Das schien ein Signal zu sein, etwa ein Dutzend Amazonen erschienen von jenseits des Sitzkreises und gingen tänzelnd auf das Feuer zu.

„Was machen die da?“, fragte Anna verwundert.
„Sie tanzen“, antwortete Salcia knapp.
„Tanzen?“ Es fiel ihr schwer sich zu konzentrieren. „Ich glaube, Meri hat mir einmal davon erzählt. Man bewegt sich im Takt einer Musik. Richtig?“
Salcia sah sie kritisch an. „Zauberinnen wissen nichts vom Tanzen, stimmts?“
„Hm“, brummte Anna und wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Salcias Antwort hatte seltsam trocken geklungen, doch das Getränk machte sie zunehmend müde. Sie beschloss, nicht weiter zu fragen, sondern zuzusehen.

Die Amazonen tanzten mit anmutigen Bewegungen um das Feuer herum. Es waren durchweg junge Frauen, die sich im Takt der Trommeln wiegten. Ihre Körper glitten dahin auf nackten Füßen, die kaum den Boden zu berühren schienen. Arme und Beine glänzten im flackernden Licht. Dann öffneten sie wie auf ein Kommando ihr Haar. Lang und schwarz floss es über ihre Schultern bis zu den Hüften, die weiter im Rhythmus kreisten. Ihr Tanz näherte sich allmählich dem Feuer.

„Oh!“, entfuhr es Largais überrascht.
Die ersten Frauen fingen an, ihre Westen auszuziehen. Darunter trugen sie noch knappe Brusttücher. Im flackernden Licht des Feuers glänzten jetzt ihrer schwitzenden Körper, die im harten Takt zu schwingen schienen.
„Das sind aber hübsche Mädchen“, sagte Largais staunend.
Salcias Rippenstoß konnte ihn nur kurz aus seiner Betrachtung reißen.

Die Trommeln wurden eindringlicher, die Bewegungen der Tanzenden noch intensiver. Ihr langes Haar wehte durch die Nacht, und sie näherten sich weiter dem Feuer. Die roten Flammen spiegelten sich auf ihren durchtrainierten Körpern. Mit elegantem Schwung hoben sie im Sand verborgene Krüge empor und gossen Wasser über ihre erhitzten Leiber. Zuerst etwas über die rechte Schulter, dann über die linke. Die Mädchen wirbelten mit den Krügen in den Händen um ihre Achse, gossen einen kleinen Schwall über ihre Brüste. Erneut wirbelten und tänzelten sie um das Feuer, schütteten schließlich den ganzen Rest langsam über ihre Köpfe, von wo aus es in Strömen über den sich wiegenden Körper hinabfloss.

Ein mächtiger Schlag aller Trommeln erklang. Die Tänzerinnen blieben kurz stehen, dann liefen sie mit sprungartigen Schritten vom Feuer weg. Sie blieben nicht stehen, sondern verschwanden in der Dunkelheit.

Salcia stand auf und ging zu einem der Grills und kam mit zwei Fleischstücken und einigen Brotscheiben zurück. Sie teilte beides mit Largais, der immer noch sichtlich beeindruckt war.
„Hat dir der Tanz gefallen?“, fragte sie ihn.
Anna stand auf und gingen ebenfalls zu dem Grill, Fiska folgte ihr. Als sie zurückkamen hatte Largais einen Arm um die Assassine gelegt. Anna grinste in sich hinein, offensichtlich hatten beide den Inhalt des Oamara verstanden. Dann fingen die Trommeln wieder an.

Es war ein merklich langsamerer Takt, der jetzt erklang. Nach und nach standen die Amazonen von ihren Sitzen auf und fingen an zu tanzen. Doch es war ein gänzlich anderer Tanz, statt jugendlichem Ungestüm drückte er Würde aus. Das Essen half Anna ein wenig, ihre Konzentration wieder zu finden, so fielen ihr bald bestimmte Muster auf: Manche der Frauen drehten sich gelegentlich rechts herum, einige wenige links herum, doch es wechselte nie.
„Fällt dir das mit dem Drehen auch auf, Salcia?“, fragte sie ihre Freundin.
„Jetzt, wo du es sagst, bemerke ich es auch.“ Sie drehte sich zu Fiska um, doch die kam der Frage zuvor:
„Bitte fragt nicht. Das Fest darf nur von Amazonen ausgeführt werden, es ist schon sehr großzügig, dass Namas zusehen dürfen.“
„Und was ist mit dir, Fiska? Wir sind Namas, aber du bist eine Amazone. Warum machst du nicht mit?“, fragte Largais.
„Weil...“
„Ach komm schon!“ Er schob sie mit seinem linken Arm vom Sitz. „Steh endlich auf.“

Anna wusste, dass Largais nicht viel über Fiskas Vergangenheit kannte, und hielt ihren Atem an. Fiska stand tatsächlich auf und drehte sich zu ihnen. Leicht vor Trunkenheit schwankend machte sie eine ihre Freunde umfassende Armbewegung.
„Wenn ihr das richtig findet?“
„Aber ganz bestimmt!“, bekräftigte Salcia, Anna nickte dazu.
Fiska lächelte und lief mit kraftvollen Schritten in die tanzende Menge.

Anna sah ihr nach. „Ich werde ihr helfen, in ihre Heimat zurück zu finden.“
„Ja“, stimmte Salcia zu, „das werden wir beide.“
„Ist ihre Heimat denn so weit weg?“, fragte Largais.
„Sie ist fast unerreichbar fern.“
Largais nickte. „Langsam verstehe ich, was ihr meint.“ Er zeigte auf die kleine Gestalt, die einen gut zu erkennenden roten Rock trug. „Ich habe Fiska noch nie so gesehen.“ Er sah ihr zu. „Sie tanzt schön, mit wahrer Anmut.“
Salcia nickte, während Anna stumm mit ihrer Fassung kämpfte.
„Schaut, sie dreht sich link herum. Seltsam, das scheint auf die anderen Eindruck zu machen“, ergänzte Largais.

*

Vier Tage später, es war gerade Mittag, erließ Remison den Marschbefehl. Es hieß, er habe von einem Boten des Protektors Meldung bekommen, dass sich immer mehr Rebellen in der Nähe von Merotir herumtreiben würden. Da Aodhan einen ernsthaften Angriff befürchte, solle er mit seinem ganzen Heer möglichst rasch herbeieilen, um die Hauptstadt zu schützen und die Rebellen zu vertreiben. Dafür habe er sogar das Verbot aufgehoben, sich mit Truppen der Stadt zu nähern. Remison habe dem Boten auf den Rückweg mitgegeben, dass er mit zehn Tagen Marschzeit rechnen würde. Nun sollte sich in nur drei Stunden das gesamte Heer in Bewegung setzen.

Entsprechend groß war die darauf hin ausbrechende Hektik. Hastig schlangen die Menschen ihr Essen hinunter, um dem Befehl nachzukommen. Insbesondere Largais, der noch am meisten von solchen Dingen verstand, wusste, welcher Leistungen es bedurfte, viele tausend Menschen einschließlich des ganzen Kriegsgeräts in Marsch zu setzen. Wären die Belagerungsmaschinen nicht bereits abgebaut und verladen gewesen, es wäre innerhalb der Zeitspanne unmöglich gewesen.

*

Zwölf Tage später im Heerlager vor den Toren Merotiers
Seit drei Tagen lagen sie bereits vor den Toren der Hauptstadt. Remison war gleich nach ihrer Ankunft mit etwa einhundert seiner zuverlässigsten Leute hineingegangen. Äußerlich schien nichts weiter geschehen zu sein. Doch hinter den starken Mauern dieser mächtigen Stadt musste inzwischen die Entscheidung gefallen sein.

Die Reise war anstrengend gewesen. Remison hatte sein Heer unerbittlich mit Gewaltmärschen vorangetrieben, die von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang andauerten. Anna ahnte, was ihn so trieb: Die Angst, eine der näher gelegenen Garnisonsstädte könnte mit einer Truppe vor ihm eintreffen.

Doch sie und ihre Freunde hatten genügend eigene Sorgen. Zwar hatten die Amazonen sie inzwischen akzeptiert und Fiskas Kampf ihnen auch einigen Respekt verschafft, doch es blieben immer noch Söldner übrig, die ihnen offene Ablehnung entgegenbrachten, weil sie von ihnen als irgendwelche Räuber angesehen wurden, die ihre Anstellung lediglich Remisons Gunst verdankten.

Mit diesen Gedanken im Kopf ging Anna zusammen mit ihren Freunden zu einem weiter entfernten Händler, als sie angehalten wurde:
„Wie wäre es mit uns beiden, Mädchen?“
Eine schwere Hand legte sich auf ihre Schulter. Sie gab dem Zug widerwillig nach und drehte sich langsam um.
„Lass mich in Ruhe“, sagte sie ruhig und schüttelte die Hand ab.
„Warum so abweisend? Du siehst aus, als ob du einen richtigen Mann vertragen könntest.“
„Ich sehe keinen.“
Anna wollte vorbeigehen, doch der Fremde packte sie grob am Arm. Er war gut zwei Köpfe größer als Anna und etwa doppelt so schwer. Seine riesigen Hände wirkten nur deshalb nicht monströs, weil sie an noch fleischigeren Armen hingen.
„Ich werde dir schon zeigen, dass ich einer bin.“
Sie wollte sich losreißen, doch gegen seine Kraft und Masse verpufften ihre Bemühungen. Stattdessen zog er sie mit beiden Händen fest an sich.
„Bestimmt passt nicht nur dein Hintern so gut in meine Hände.“
„Fass mich nicht an!“
Anna schlug ihm ein Knie in den Unterleib. Mit einem heiseren Aufstöhnen sank der Riese zu Boden.
„Du Aas, dafür wirst du mir büßen!“ Er sah sich um, immer noch nach Atem ringend. „Was glotzt ihr so“, fuhr er die Schaulustigen an, die das bisherige Geschehen angelockt hatte. „Sollen wir uns das von den Weibern gefallen lassen? Von einer Räuberin? Los, packt sie, dann zeigen wir ihr, wer hier die Hosen anhat!“

Einer der Umstehenden schien nur darauf gewartet zu haben. Er sprang vor. Anna konnte ihm noch ausweichen, doch dann folgten zwei weitere Männer. In ihrer Not nahm sie ihren Streitkolben und schlug ihn dem nächsten Angreifer in den Bauch. Im gleichen Moment eilten ihr Salcia, Fiska und Largais zu Hilfe. Jetzt gab es kein Halten mehr, es brach eine Schlägerei aus.

„Sofort aufhören! Waffen fallen lassen!“
Eine Gruppe der Lagerwächter ging dazwischen. Sie waren mit Holzknüppeln und Schwertern ausgerüstet, und sie galten als kompromisslose Schläger. Brutal knüppelten sie auf alles ein, was sich nicht sofort ergab. Wer sie erkannte, der tat gut daran, sich nicht zu wehren, denn sie besaßen frei Hand alle Waffen zu benutzen, und schon so manchen Streit hatten sie blutig mit dem Schwert beendet. Anna ließ deshalb sofort ihre Waffe auf den Boden fallen.
„So ist es brav“, meinte der Gruppenführer. „Arme auf den Rücken, du bist festgenommen!“
Einer seiner Leute band Annas Hände zusammen.
„Sie hat angefangen!“, rief der vierschrötige Riese.
Der Gruppenführer sah ihn zweifelnd an. „Aber sicher doch, sie wollte dich unter ihren Arm klemmen und in ihrem Zelt vernaschen, nicht wahr?“
„Blödmann! Sie hat mir mit ihren feinen Freunden“, er deutete auf Salcia, Fiska und Largais, denen ebenfalls Fesseln angelegt wurden, „aufgelauert.“
„So, so. Und warum?“
Er schritt drohend auf den Offizier zu. „Glaubst du mir etwa nicht?“
„Nein.“
Er wollte ihn packen, doch zwei Wächter waren schneller. Ein gut gezielter Hieb mit einem Knüppel brachte den Riesen zu Fall, dann legten sie ihm ebenfalls Handfesseln an.
Der Offizier wandte sich mit lauter Stimme an die wenigen Schaulustigen, die bei ihrem Erscheinen nicht weggerannt waren: „Diese fünf kommen alle in die Festung, dort werden wir ihnen beibringen, was es bedeutet, die Disziplin zu brechen!“ Er stieß Anna unsanft an. „Das gilt auch für Frauen. Wenn wir mit dir fertig sind, wirst du keine Waffe mehr in unserem Lager anfassen.“
Dann stießen die Lagerwächter sie voran. Ihr Ziel war die Festung Golarmur.

Anna erkannte in den Gesichtern der Söldner, an denen sie beim Verlassen des Lagers vorbeigingen, sowohl Schreck als auch Befriedigung. Die Festung war berüchtigt dafür, ihre Gefangenen für immer zu verschlucken. Die Wächter achteten auch jetzt auf strikte Disziplin, grob stießen sie alle zurück, die sich den Gefangenen nähern wollten. Als einer nach Largais spuckte, erntete derjenige einen Schlag mit dem Knüppel. Dann hatten sie auch schon die breite Straße erreicht und gingen auf ihr weiter in Richtung der Stadt.

Anna sah auf, als sie in den Schatten des westlichen Stadttors gelangte. Sie humpelte leicht, denn irgendein Fußtritt hatte sie während des Kampfes hart am Oberschenkel getroffen. Unwillkürlich musste sie sich an den Winter erinnern, als sie von Baltram und Kieran verschleppt worden war. Damals hatten sie ebenfalls jene Festung zum Ziel gehabt, die jetzt in etwa fünfhundert Schritten Entfernung vor ihnen aufwuchs.
Golarmur!
Graue Quader, ersichtlich aus dem gleichen Fels geschlagen, auf dem sie errichtet worden war.

Innerhalb der Stadt begegnete ihnen niemand. Keiner von ihnen sagte ein Wort, immer höher, immer bedrohlicher wuchsen die Mauern der Festung empor. Die fugenlos aneinander gefügten Quader drückten eine unbezwingbare Kraft und kalte Macht aus, der selbst ihre Wächter verstummen ließ, die den ganzen Weg über Belanglosigkeiten untereinander ausgetauscht hatten. Einige Augenblicke lang ließ Anna diese Stille, in dem nur noch die Schritte auf kiesigem Grund zu hören waren, auf sich einwirken. Dann änderte sich deren Klang, als sie die Zugbrücke zur Festung betraten.

Man brachte sie weit in das Innere der steinernen Befestigung, hinab in die Fundamente, wo in nahezu lichtlosen Tiefen feuchte Verliese auf sie warteten. Golarmur war mit ihnen großzügig ausgestattet, dennoch waren die meisten Türen verschlossen. Anna, Salcia und Fiska stieß man gemeinsam in eine Kammer, Largais in eine andere.

*

Nach einer unbestimmbaren Zeitspanne des Wartens wurde die Tür geöffnet. Im Licht einer Fackel erkannte Anna das Gesicht jenes vierschrötigen Mannes, der sie im Lager belästigt hatte. Er trat ein und zog die Tür hinter sich zu.
„Es ist alles in Ordnung, Remison erwartet Euch in den Privatgemächern des Protektors“, sagte er zur Begrüßung.
„Ich hoffe, wir haben bei unserer Schlägerei niemanden ernstlich verletzt?“, fragte Anna.
Er winkte gelassen ab. „Nicht der Rede Wert, macht Euch darüber keine Gedanken. Jeder hat genügend Gold dafür eingesteckt. Ihr könnt mich Valonius nennen.“

Sie traten auf den Gang, wo Largais bereits wartete. Er wirkte etwas bedrückt.
„Stimmt etwas nicht?“, fragte Anna ihn.
Er schüttelte den Kopf. „Nein, es ist nichts. Nur verstehe ich jetzt die Berichte jener wenigen noch besser, die hier wieder herausgekommen sind.“
Annas Schweigen war eine beredte Antwort.
„Wir sollten hier nicht rumstehen“, drängte Valonius, „in den Zellentrakten ist zur Zeit viel Betrieb. Remison hat bereits mit dem Aufräumen angefangen.“
Sie gingen los.
„Was wird aus den ganzen Leuten?“, fragte Anna.
„Remison wird Tabula Rasa machen.“
„Tabula Rasa?“
„So bezeichnet man das Löschen einer Wachstafel.“
Anna erschrak. „Ihr könnt doch nicht so viele Menschen umbringen.“
„Warum nicht? Dieses Land braucht einen klaren Schnitt.“ Er drehte kurz den Kopf zu ihr um. „Wollt Ihr Euch etwa für diese Verbrecher einsetzen?“
Salcia stieß Anna in den Rücken und sagte laut: „Nein, das ist Eure Sache.“ Zu Anna flüstere sie: „Nicht jetzt, das hat doch keinen Sinn.“

Sie gingen durch zahlreiche schmale Gänge und Treppen, bis sie in einen Bereich gelangten, der vor pompösem Luxus geradezu überquoll. Auf den Böden lagen dicke Teppiche, an den Wänden hing ein Gemälde neben dem anderen, in jeder Ecke standen Skulpturen. Largais blieb bei einer stehen.
„Hier scheint jemand Geschmack mit Gold verwechselt zu haben.“
„Alles ohne Sinn zusammengeworfen“, pflichtete ihm Fiska bei.
„Ihr beide habt vielleicht Sorgen“, meinte Salcia.
Largais zuckte mit den Schultern. „Mag sein, doch es erzählt uns viel über Aodhan. Der hat hier doch gewohnt?“ Er sah Valonius fragend an.
„Ja, das hat er. Er wohnte hier bereits, als ich in seine Dienste trat. Das ist jetzt über zwanzig Jahre her, damals war ich Küchenjunge, dann wurde ich Kerkermeister, was mir nie gefallen hat. Anfang war es noch erträglich, doch dann wurde Aodhan immer grausamer.“ Er zeigte auf die Skulptur. „Zugleich hat er immer mehr solche Sachen angehäuft. Es war beängstigend, wie er sich veränderte.“
„Er war also nicht immer ein Tyrann?“, fragte Largais.
Valonius schüttelte seinen Kopf. „Nein, ursprünglich war er ein umgänglicher Mensch. Er kam sogar manchmal in die Küche, um mit uns zu reden.“
Largais sah ihn nachdenklich an.
„Gab es einen Grund für seine Wandlung?“, frage Anna.
„Darüber gibt es nur Gerüchte. Kommt jetzt weiter, Remison wartet auf uns.“

Aodhans ehemaliger Wohnbereich war riesig. Es ging weiter durch ein Gewirr von Gängen, Korridoren und mehreren Hallen, bis sie an ein Tor gelangten. Es setzte sich deutlich von allen anderen Türen ab, denn es war groß und aus massiven Balken gebaut, mit umfangreichen Eisenbeschlägen, schweren Scharnieren und einem großen Schloss.
„Ab hier beginnt der eigentliche Privatbereich. Ich soll hier warten, während ihr weitergehen sollt.“ Er gab Largais seine Hand. „Passt gut auf Eure Begleitung auf“, sagte er leise, dann drückte er das Tor auf.

Die vier traten zögernd ein. Sie gingen einige Schritte weit in den halbdunklen Raum hinein, bis sich hinter ihnen mit einem leisen, aber nachdrücklichen Geräusch das Tor schloss.
„Da seid Ihr ja endlich“, klang Remisons Stimme auf. Ein Schatten erhob sich aus einem in einer Nische halb verborgenen Sessel und kam auf sie zu. „Wir sollten gleich zum Orakel gehen.“
„Seid Ihr schon bei ihm gewesen?“, fragte Anna.
„Selbstverständlich. Es ist wirklich beeindruckend. Übrigens besteht es selbst darauf, Euch kennen zu lernen. Deine Freunde dürfen ebenfalls mit.“
Er ging ohne eine Reaktion abzuwarten los.
„Kommt mir nicht auf dumme Gedanken. Auch wenn ich alleine bin, bin ich dennoch abgesichert. Meine Wachen haben ihre Befehle.“
„Warum sagt Ihr das? Wir sind doch Verbündete.“
„Nur zur Sicherheit.“

Die privaten Räumlichkeiten waren nicht so geschmacklos überladen wie die öffentlichen, stattdessen wirkten sie zunehmend düster und seltsam alt. Es ging einen Korridor entlang auf eine grünbraune Tür zu. Annas Schritte wurden zunehmend schwerer.
„Hast du etwas“, flüsterte die hinter ihr gehende Salcia.
„Ich habe Angst“, flüsterte Anna zurück. „Dieses Flüstern, hörst du es nicht?“
„Nein, ich höre nichts.“
Sie erreichten die Tür. Jetzt konnten sie sehen, dass sie aus massiver Bronze gefertigt war. Remison griff mit beiden Händen in einen großen Ring an ihr und zog sie mit sichtlicher Kraftanstrengung auf.
Sanftes, rötliches Licht fiel aus der Öffnung.

Sie schoben sich hinter Remison in den Raum. Er war vollständig in dieses seltsame Licht getaucht, das trotz seiner Ruhe zu flackern schien. Fiska hatte den Eindruck, etwas würde nicht stimmen. Sie sah genauer hin.
Wir werfen keine Schatten.
Dann fiel ihr Blick auf den Gegenstand, der in der Raummitte aufragte. Dort war ein altarähnlicher Sockel, der aus dem grauen Fels herausgeschlagen schien, worauf die ganze Festung erbaut war. Aus ihm ragte ein weiterer Stein, er war zylindrisch rund und verjüngte sich leicht nach oben hin. Seine makellose Ebenmäßigkeit war von tiefem Schwarz.
Remison zeigte mit beiden Händen auf den Stein.
„Dies ist das Orakel.“
 
ich kann nur wiederholen, was ich schon oben geschrieben habe.

ich danke für das up und fand es klasse, dass ich wieder füe iene weile zu lesen hatte.

Gruß, Helldog
 
Die Protektoren (13)
Das Orakel

Namensliste und Bezeichnungen:
Anna: Eine Zauberin, die von den Barbaren abstammt
Salcia: Eine Assassine, mit Anna befreundet
Fiska: Eine Amazone, mit Anna befreundet
Largais: Ein Paladin in Annas Gruppe
Remison: Der neue Protektor von Ra-Genion
Seanachan: Remisons Sekretär

Golarmur: Name der Festung des Protektors in der Stadt Merotir.
Ra-Genion: Der Name von Remisons Protektorat
Al-Amaris: Das unbekannte Land, in das Anna, Salcia und Fiska verschlagen wurden.
Plamag: Eigenname einer Ebene und Heimat der Zauberer


Das Flüstern in Annas Kopf war zu einem vernehmlichen Raunen angeschwollen. Es gab für sie keinen Zweifel.
„Das ist Belial“, sagte sie mit schwerer Stimme und deutete auf den Stein. „Ihr dürft ihn nicht berühren.“
„Wer ist Belial? Davon habe ich nie gehört. Nein, glaube mir, das ist das Orakel, und Ihr könnt es gefahrlos anfassen. Ich habe es selbst schon öfters getan, und mir ist nichts geschehen.“ Remison sah sie ernst an. „Vergiss nicht unsere Vereinbarung, Ihr müsst mit dem Orakel sprechen.“
„Wollt Ihr nicht einmal hören, was es mit dem Stein auf sich hat?“
„Nein, denn ich weiß es bereits. Jetzt will ich wissen, was es mit Euch auf sich hat.“
„Und wenn ich mich weigere? Damit habe ich nicht gerechnet.“
Remison machte einen knappe Geste mit der Hand. Aus verborgenen Winkeln traten bedrohliche Gestalten einen Schritt hervor.
„Dann zwinge ich Euch.“
Anna nickte langsam, Remisons Ton ließ keine Zweifel aufkommen. „Ich beuge mich Eurer Gewalt.“ Sie wandte sich an ihre Freunde. „Passt bitte auf mich auf und haltet Euch vom Stein fern.“
Largais machte eine beruhigende Geste. „Natürlich, Anna, deshalb bin ich hier.“
Sie sah, wie Salcia und Fiska stumm nickten, dann streckte sie ihre linke Hand aus. Remison tat es ihr gleich.

Anna starrte auf ihre Hand, die sich zitternd der glatten Oberfläche näherte. Sie verspürte eine schreckliche Angst, ohne sie wirklich begründen zu können. Sie erwartete eine kalte Oberfläche zu berühren, doch es war ganz anderes. Da war nichts. Es war nicht das plötzliche Verlöschen des Lichts, es war nicht das wie abgeschnitten verstummte Raunen. Es war das Gefühl, den Körper verlassen zu haben und wie eine substanzlose Wolke im Nichts zu schweben. Es war die Vorstellung, auf ewig in diesem Zustand gefangen zu bleiben. Absolut einsam in einer Welt zu sein, in der es Nichts zu hören, zu sehen oder zu greifen gab. War die unerklärliche Vorahnung schon schlimm genug gewesen, so erfüllte sie dieser Gedanke jetzt mit brutaler Furcht.

Etwas näherte sich.
„Ich bin das Orakel.“
Die Stimme war direkt in ihrem Kopf, wie ein Gedanke, dessen Herkunft sie leugnen musste. Das erinnerte sie wieder an Meris Bericht, was ihr endlich einen greifbaren Bezugspunkt schenkte. Wie eine Ertrinkende klammerte Anna sich an ihm fest und zwang ihre Gedanken in andere Bahnen.
„Du bist Belial“, erwiderte sie.
„Ich bin das Orakel“, wiederholte sich die Stimme.
„Du bist nicht Belial?“
„Hat dich meine geringfügige Verspätung so sehr verwirrt, dass du an nichts anderes mehr denken kannst? Ich weiß nicht einmal, wer oder was Belial ist. Aber bist du nicht gekommen, um mir andere Fragen zu stellen?“

Anna versuchte sich zusammenzureißen. Sie und ihre Freunde hatten viel riskiert, um diese Gelegenheit zu bekommen. Sie durfte sie jetzt nicht leichtfertig verstreichen lassen.
„Warum sind wir hier?“, fragte sie, „Ich meine mich und meine Freunde“, schob sie hastig nach.
„Du bist hier, um zu tun, was du nicht weißt und was niemand wissen kann. Deine Freunde sind hier, weil du hier bist.“
„Das verstehe ich nicht. Bitte erkläre es mir.“
„Das kann ich nicht.“

Ärger kam in Anna auf, doch sie zwang sich zur Ruhe.
„Wo liegt Al-Amaris?“
„Al-Amaris liegt nirgends.“
„Was soll das? Erst soll ich fragen, doch dann weichst du selbst den einfachsten Fragen aus.“
„Beide Fragen waren alles andere als einfach.“
„Was soll daran so schwer sein, die Lage des Landes zu erklären?“
„Du befindest dich in einem grundlegenden Irrtum. Es wäre so, als wenn ich einer Blinden erklärte, was Farbe ist.“

Unvermittelt klang Remisons Stimme in Annas Gedanken auf, doch er richtete sich an das Orakel.
„Ist sie diejenige, wovor du uns gewarnt hast?“
„Sie ist die Gesuchte“, erwiderte das Orakel. „Doch sie weiß nichts.“
„Soll ich sie beseitigen?“
„Nein“, antwortete das Orakel.
„Warum nicht? Du hast sie doch als Gefahr für unseren Plan bezeichnet.“
„Ihre Auftraggeber könnten neue Agenten schicken. Wir müssen herausbekommen, worin die Bedrohung besteht, um uns besser schützen zu können. Es wird noch einige Jahre dauern, bis wir alles acht Steine vereinigt haben und das Gefängnis zerstören können.“
„Was soll das?“, fragte Anna. „Ich weiß nicht, wovon ihr redet. Ich weiß doch nicht einmal, warum ich hier bin und was hier geschieht. Ich und meine Freunde haben die Erinnerung daran verloren. Wie soll ich da jemanden bedrohen?“
„Deswegen wirst du mich auch in Zukunft besuchen. Du sollst weiter fragen, bis dir die Antworten einfallen. Zwei Dinge will ich wissen: Womit werden wir bedroht? Was weißt du, das niemand wissen kann?“, erwiderte das Orakel.
„Das ist doch Irrsinn!“
„Die Mauern des Geistes bestehen aus Unwissenheit.“

Ehe Anna etwas erwidern konnte, brach die Verbindung ab, und übergangslos stand sie wieder im roten Licht. Zwei Wächter hatten sie an den Schultern gepackt und vom Stein weggerissen. Remison nahm auf ihre Verwirrung keine Rücksicht.
„Ihr werdet alle hier bleiben müssen“, sagte er knapp.
Es überraschte Anna nicht, Largais, Salcia und Fiska von den Wächtern bedroht zu sehen.
„Wollt Ihr Eure Vereinbarung brechen“, fragte Anna, und ihre schwache Stimme verriet, welche Antwort sie erwartete. „Ihr hattet mir und meinen Freunden freien Abzug versprochen, wenn ich in ein Exil gehe.“
„Das war der Feldherr Remison gewesen, doch den gibt es nicht mehr. Es hängt viel zuviel von der Vereinigung der acht Steine ab.“
„Lasst wenigstens meine Freunde gehen, sie haben damit nichts zu tun.“
„Nein, und wenn Ihr Euch sträubt, werden sie leiden, und wenn Ihr fliehen solltet, werden sie sterben.“
Er wandte sich an einen der Wächter: „Bringt sie weg in meine Zellen. Sie sollen gut behandelt werden.“

Sie führten Anna und ihre Freunde aus der Orakelkammer hinaus. Es ging zu einem abgetrennten, aber noch innerhalb des Protektorentraktes gelegenen Gebäudeabschnitts, der auf den ersten Blick Gästewohnungen mit anspruchsvoller Ausstattung enthielt. Lediglich die dicken Türen mit den außen befindlichen massiven Riegeln verrieten ihre eigentliche Bestimmung. Sie stießen sie nacheinander in getrennte Räume und verschlossen die Türen hinter ihnen.

*

Vier Tage später
„Anna! Anna, warte, ich komme mit.“
Ich drehe meinen Kopf um und sehe, wie meine beste Freundin Meri hinter mir her läuft. Ihr Verlobter Lykos versucht sie einzuholen. Kurz bevor Meri mich erreichen kann, bekommt er sie zu fassen. Ich sehe Meris flehende Augen.
„Bitte nehmt mich mit! Ohne mich kommst du nie zurück, du und unsere Freunde würden für immer gefangen bleiben.“
„Sie kann nicht mit, Anna“, sagt Lykos, und ich sehe ihm den Schmerz seiner Worte an. „Ihr solltet alle hier bleiben. Es geht so nicht, wir müssen eine andere Lösung finden.“
„Wir haben lange genug darüber nachgedacht und keine andere Möglichkeit gefunden, um die Katastrophe zu verhindern.“
Ich wende mich ab und sehe den schwarzen Stein vor mir.


Anna schlug schwer atmend die Augen auf. Seit sie beim Orakel gewesen war, hatte sie diesen Traum über ihren Abschied jede Nacht gehabt. Doch bisher hatte er stets früher abgebrochen, hatte nur bis zum Ende ihrer bewussten Erinnerung erreicht. Dieses Mal jedoch war er etwas weiter gegangen, und sie hatte die Worte gehört, die damals gefallen sein mussten.

Ein lautes Schaben erklang und erlöste Anna von dem quälenden Gefühl, etwas wichtiges zu übersehen, obwohl es unmittelbar vor ihren Augen lag. Sie starrte durch das Halbdunkel ihres Zimmers zur Tür, von wo das Geräusch gekommen war. In ihr befand sich eine kleine Sichtluke, und mattes Licht verriet, dass sie von außen aufgeschoben worden war. Es musste früher Morgen sein, und vermutlich würde Remison sie wieder einmal aufsuchen, um sie Dinge zu fragen, die sie nicht wusste. Der Gedanke, dass gerade diese Ungeduld ihre Erinnerung gestoppt hatte, ging ihr durch den Kopf, doch er war nicht erheiternd. Der ehemalige Feldherr schien sich mit erschreckender Geschwindigkeit zu verändern, und es würde nicht mehr allzu lange dauern, bis er alle Bedenken und Skrupel verlieren würde.

Undeutliche Stimmen drangen durch die Öffnung in Annas Gefängnis, dann erklang das Poltern der Riegel und die Tür öffnete sich. Einige Gestalten wurden sichtbar, von denen Zwei in den Raum traten. Die eine ging zügig zum Fenster und schlug die Fensterläden auf. Im eindringenden Licht wurde die zweite Person erkennbar. Es war wie erwartet Remison.

Er packte sich einen Stuhl und setzte sich vor Anna. Die Kriegerin lag in voller Kleidung auf dem Bett und richtete sich bei seinem Anblick langsam auf. Sie machte inzwischen einen müden und etwas verwahrlosten Eindruck. Doch das spielte für ihn keine Rolle. Er wartete, bis sie sich ihm gegenüber auf die Bettkante gesetzt hatte.
„Habt Ihr endlich Fortschritte gemacht?“
„Nein, ich kann mich nicht erinnern. Warum haltet Ihr mich immer noch fest? Glaubt Ihr wirklich, ich könnte Euer Protektorat gefährden?“
„Ich bin täglich beim Orakel gewesen, und es bezeichnet Euch als Gefahr. Erst wenn ich herausgefunden habe, worin die Gefahr besteht, kann ich Euch vielleicht gehen lassen.“
„Dann lasst wenigstens meine Freunde frei. Oder sollen sie auch eine Gefahr darstellen?“
„Ich sagte Euch schon, dass sie als Pfand dienen.“
„Hat Euch das Orakel oder die Macht so schnell verändert?“
Remison holte mit der rechten Hand aus, doch dann ließ er sie sinken.
„Nein ... Nein, Ihr begreift nicht. Kommt, ich zeige Euch etwas.“
Er stand auf und ging zum Fenster. Anna folgte ihm.

Der Mann am Fenster ging bereitwillig einen Schritt zur Seite. Anna sah ihn zum ersten Mal. Er schien kein Wächter zu sein, dazu war er bereits zu alt. Seine hagere Statur und sein Gesicht, dessen asketische Züge ein entbehrungsreiches Leben erzählten, machte dennoch einen vitalen Eindruck auf sie.

Durch das Fenster fiel Sonnenschein herein. Es war unvergittert, lag aber für eine Flucht in zu großer Höhe.
„Schaut hinaus und sagt mir, was Ihr seht.“
Anna runzelte die Stirn, fragte aber nicht. Die Aussicht war wunderbar. Weit schweifte der Blick über die Frühlingslandschaft, die auf dieser Seite bis unmittelbar an die Festungsmauer heranreichte.
„Eine natürliche Landschaft mit großen Hügeln, Wiesen und Hainen. Zum Horizont hin scheint sie in einen geschlossenen Wald überzugehen.“
„Träumt Ihr gelegentlich davon?“

Anna erwägte einen Moment lang, ihren Traum zu erzählen und dass sie glaubte, jetzt zu wissen, wie sie und ihre Freunde nach Al-Amaris gekommen waren. Doch würde Remison verstehen, was ein Materialisationsstein war, und würde er ihr glauben?
„Ich träume manchmal von schönen Landschaften. Vor allem von meiner ursprünglichen Heimat. Aber weshalb fragt Ihr?“
„Weil ich noch nie geträumt habe. Ich glaube, die Menschen in Al-Amaris träumen alle nicht. Sie reden zwar gelegentlich darüber, aber das tun sie nur, um sich keine Blöße zu geben.“
„Seid Ihr deswegen gekommen und habt mich zum Fenster gebeten?“

Remison schaute aus dem Fenster und schien nachzudenken. Dann wandte er sich wieder an Anna.
„Natürlich nicht. Ich habe Euch das gesagt, damit Ihr nicht meint, ich wäre überheblich geworden. Nein, ich tue das hier nicht zu meinem Vergnügen, sondern weil es notwendig ist. Dieses Land“, er deutete aus dem Fenster, „und alles was darin lebt benötigt Schutz. Es ist meine Pflicht als Protektor, ihn zu gewährleisten. Dafür werde ich alles tun, auch Euren Widerstand brechen.“
Anna sah ihn an. „Meinen Widerstand brechen? Ich wiedersetze mich doch gar nicht, sondern ich erinnere mich nicht, das bestätigt selbst das Orakel.“
Remison zuckte die Schultern. „Mag sein, doch es kann nicht schaden, Eurer Erinnerung auf die Sprünge zu helfen.“ Er sah, wie sie erschreckte. „Ihr scheint mich zu verstehen.“ Er gab den in der Tür stehenden Wachen einen Wink.

Sie führten Largais, Salcia und Fiska hinein. Als Anna ihre Freunde erkannte, eilte sie zu ihnen und umarmte sie nacheinander. Remison ließ sie eine Zeit lang gewähren, dann sagte er laut:
„Ihr werdet ab sofort zusammen wohnen. Es muss doch ein schönes Gefühl sein, drei Freunde zu haben. Wenn Ihr Euch innerhalb der nächsten vier Tage erinnert, können es auch drei bleiben.“
Anna wirbelte herum, Entsetzen im Gesicht. „Ihr wollt meine Freunde für meine fehlende Erinnerung verantwortlich machen?“
„Warum nicht? Ob drei oder zwei Geiseln, das ist mir gleichgültig. Warum also nicht ausprobieren, ob Ihr so Euer Gedächtnis wiederfindet?“
„Ihr seid ja verrückt geworden! Das Orakel hat Euch in ein Monstrum verwandelt!“

Dieses Mal schlug Remison zu. Anna wurde von der harten Ohrfeige zur Seite geschleudert, stolperte und fiel auf den Boden. Remison schüttelte wütend seine Faust.
„Beleidigt mich nicht, auch meine Geduld hat Grenzen. Denkt daran, in vier Tagen komme ich wieder.“
Er wandte sich ab und eilte aus dem Raum.

Der hagere Mann neben dem Fenster zögerte kurz, dann stieß er sich von der Wand ab und ging zu der immer noch auf dem Boden liegenden Anna. Er nahm vorsichtig ihren rechten Arm und zog sie hoch. Er schien etwas sagen zu wollen, doch dann ließ er sie los und ging ebenfalls aus dem Raum. Die Tür wurde wieder von außen verschlossen.

Sie standen zwischen Nachdenklichkeit und Schreck gebannt im Raum. Salcia fand als erste wieder Worte:
„Was machen wir jetzt? Glaubst du, Remison wird seine Drohung wahrmachen?“, fragte sie Anna.
„Ich fürchte, ja. Remison war einmal ein kühl vorgehender Vernunftsmensch gewesen, aber seit er in Golarmur ist, wird er immer irrationaler. Habt ihr das auch bemerkt?“
„Er war nie bei uns, erst vorhin hat er uns holen lassen. Doch so wie er dich eben behandelte, das hatte etwas krankes an sich.“
Anna nickte zustimmend, dann wurde ihr Gesicht nachdenklich.
„Ich habe tatsächlich einen kleinen Fortschritt gemacht. Bevor Remison kam, hatte ich einen Traum. Ich weiß jetzt, wie wir hier her gekommen sind.“

Sie erzählte ihren Traum. Danach ergänzte sie:
„Solche Rematerilisationssteine sind früher öfters aufgetaucht. In ihnen steckte aber kein Dämon, sondern sie dienten als Pforten aus fremden Welten in unsere. Die Zauberer haben damals alle entdeckten Steine zertrümmert und aus den Bruchstücken die Wegpunkte gebaut. Ich glaube wir sind über den Stein, den damals Meri und ich geborgen hatten, vom Plamag aus hier her gereist.“

Salcia sah Fiska verständigend an, dann nickte sie.
„Das könnte gut stimmen, auch wenn einige Ungereimtheiten und Fragen bleiben. Warum sind wir in so großem zeitlichen Abstand in Al-Amaris eingetroffen? Hat die Reise unsere Erinnerung zerstört?“
„Warum wusste der Protektor von dir, noch bevor ich als erste in Al-Amaris eintraf?“, ergänzte Fiska. „Dennoch fühle ich, dass wir auf der richtigen Spur sind. Willst du Remison davon erzählen?“
„Das solltest du besser nicht machen, Anna“, meinte Largais. „Ich befürchte, es würde ihn nicht befriedigen, sondern nur noch mehr anstacheln.“
Anna nickte. „Ja, das befürchte ich auch. Andererseits könnte das Orakel es irgendwann herausbekommen, und dann würde es noch schlimmer werden.“
„Kann es denn alle deine Gedanken lesen?“, fragte Fiska.
„Nein. Ich glaube, es hört nur bewusste Gedanken, aber wie soll ich die steuern?“

*

Drei Tage später, mitten in der Nacht
Dieses Mal war es Salcia, die beim ersten Ton an der Tür aus dem Schlaf aufschreckte. Was könnte man mitten in der Nacht von ihnen wollen? Sie wusste, als Frau war sie in Gefangenschaft einer besonderen Gefahr ausgesetzt, sei es am Tag als angeordnete Demütigung oder in der Nacht durch betrunkene Wächter. Sie alle, auch Fiska und selbst Largais, hatten vereinbart, sich in dem Fall geschlossen zu wiedersetzen, selbst wenn es das Leben kosten würde.

Annas Wohnung bestand aus zwei Räumen und einer winzigen Waschkammer. Das war für ein Gefängnis ungewöhnlich luxuriös, aber es war dennoch ein Gefängnis. Nachts lagen die drei Frauen in Decken gewickelt auf dem Boden des Hauptraums, während Largais in der kleinen Küche schlief. Das Bett selbst blieb leer, sie hatten seinen Inhalt untereinander aufgeteilt.

Salcia rollte sich unter ihrer Schlafdecke hervor, blieb aber bäuchlings und mit halb angezogenen Gliedern auf dem Boden liegen. Zwei Armspannen entfernt gewahrte sie, wie Fiska und Anna ebenfalls erwachten. Salcia sprang auf und huschte zur Wand links neben der Tür, Fiska folgte ihr und übernahm die rechte Seite.

Der schwache Schein einer Öllampe glomm auf und ein großer Mann trat ein. Er schob die Tür hinter sich zu und trat einen Schritt weit in den Raum.
„Anna“, flüsterte er, „Bitte wacht auf. Ich möchte mit Euch reden.“
Er machte einen weiteren Schritt in Richtung auf das Bett zu, dann entdeckte er die Bündel auf dem Boden.
„Oh! Sind das deine Freunde?“, fragte er.
Annas Kopf und Schultern wurden sichtbar. Sie hatte sich nicht unter ihrer Decke hervorgerollt, sie jedoch so gelegt, dass sie beim Aufspringen nicht behindert werden würde. Sie hob ihren Kopf.
„Was wollt Ihr?“
„Euch alle hier heraus bringen.“

Anna stand langsam auf. Dabei beobachtete sie unauffällig aber sorgfältig die Reaktion des Mannes. Sie trug, wie ihre beiden Freundinnen auch, beim Schlafen nur ihren Rock, dennoch zeigte der Mann keinerlei besondere Reaktion. Er zog lediglich die Lampe etwas zu sich, wodurch Anna wieder etwas in das Dunkel tauchte, dafür aber sein Gesicht besser erkennbar wurde. Erst dadurch erkannte Anna ihn an seinen asketischen Zügen wieder, denn seine Statur wurde unter einem weiten Mantel verborgen.
„Ihr wart vor drei Tagen mit Remison hier gewesen. Wer seid Ihr?“
„Ich bin Seanachan, Remisons Sekretär.“
„Das ist doch nur ein Trick?“
Sie bückte sich scheinbar gelassen nach ihrem Oberteil und zog es sich über.
„Nein, ich meine es ernst. Wir sollten uns nicht lange aufhalten und sofort gehen. Eure Freunde können natürlich mitkommen.“

Anna gab ihren Freundinnen ein Zeichen, sie kamen zu ihr und zogen sich ebenfalls an. Auch jetzt blieb der Fremde unbeeindruckt, lediglich als er für einen Augenblick Fiskas Rücken sah, huschte kurz ein Ausdruck des Entsetzens über sein Gesicht. Als letzter kam Largais aus dem Nebenraum.
„Wir würden gerne fliehen, doch was treibt jemanden dazu, an dessen Loyalität keine Zweifel bestehen dürften, seinen Herren zu hintergehen?“, fragte er.
„Das ist eine sehr gute Frage. Ich verrate Remison nicht wirklich, denn es gibt ihn nicht mehr. Unser Feldherr wurde vom Orakel zu einem anderen Menschen gemacht. Remison hätte nie einem von ihm geachteten Gegner in der Form gedroht, wie er es bei Euch tat.“
„Verstehe“, sagte Anna.
„Das glaube ich nicht“, erwiderte Seanachan, und sein vom Alter gezeichnetes Gesicht nahm schmerzliche Züge an. „Ich habe mehr als zwanzig Jahre lang für Remison gearbeitet, ich kannte ihn wie sonst niemand. Es ist schrecklich, wie schnell und wie stark er sich verändert, seit er Kontakt zum Orakel hat. Und es wird immer schlimmer.“ Anna sagte nichts, also fuhr er fort: „Ich habe die Wachen mit einer Ausrede fortgeschickt. Das wird schnell bemerkt werden. Beeilt Euch!“ Er zog seinen Mantel aus. „Hier, vielleicht glaubt Ihr mir jetzt mehr.“
Staunend erkannte Anna ihr Schwert, den Streitkolben, Salcias Kralle, Largais Schwert und vier Dolche, dazu noch einen zerlegten Bogen und einen Bündel Pfeile.
„Euren eigenen Bogen konnte ich leider nicht verbergen, doch der hier ist auch von den Amazonen“, sagte Seanachan zu Fiska.

Sie holten ihre Sachen und zogen sich weiter an. Man hatte ihnen lediglich die Waffen, nicht aber die sonstige Ausrüstung weggenommen, selbst Annas Kettenhemd und Largais Rüstung hatten sie behalten können. Anna erlaubte sich ein kleines Lächeln als sie ihren Streitkolben in der Hand wog. Der alte Mann sah sie ernst an:
„Auch wenn Ihr und Eure Freunde euch jetzt besser fühlt, mit Gewalt würden wir nie aus Golarmur herauskommen. Außerhalb des Protektorentraktes gibt es überall Wachen in den Gängen und Treppenhäusern.“
„Gibt es denn keine Geheimgänge?“, fragte Salcia und klinkte ihre Kralle an den Gürtel.
„Sicher gibt es die, aber ich kenne sie nicht.“ Er sah, wie sich ihr Gesicht verdunkelte. „Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit. Wir müssen zur Orakelkammer. Der Stein kann uns zu einem anderen Ort transportieren.“
„Das ist richtig“, stimmte Anna zu. Sie bemerkte seine Verwunderung. „Ich hatte mit einem solchen Stein bereits einmal zu tun, wenn er auch nichts mit einem Orakel gemein hatte.“
Seanachan sah sie nachdenklich an. „Das ist interessant, doch wir haben jetzt keine Zeit mehr. Die Wachen können jederzeit meinen Trick durchschauen.“

Er ging vor auf den Gang, die anderen folgten ihm.
„Remison ist heute Abend weggegangen“, flüsterte er auf dem Weg zur Orakelkammer. „Die Räume sind alle leer. Auf diese Gelegenheit habe ich gewartet, deshalb musste ich auch so lange mit unserer Flucht zögern.“
Zügig eilten sie durch die Gänge und durch Remisons Gemächer, bis sie jene Bronzetür erreichten. Davor drehte Seanachan sich wieder zu ihnen um.
„Fasst den Orakelstein auf keinen Fall an! Macht am besten genau das, was ich euch sage.“
Er griff in den Ring und zog an ihm. Largais half ihm, schließlich schwang die Tür auf. Sie traten in das bekannte rötliche Licht ein.

Anna bemerkte, wie sich die Tür hinter ihnen von selbst langsam schloss. Das Flüstern war dieses Mal nicht so aufdringlich, und sie verspürte keine Angst, sondern gespannte Erwartung. Ehe sie sich darüber wundern konnte, bemerkte sie, wie der rechts neben ihr stehende Seanachan sich versteifte. Dann sahen sie alle den Grund dafür: Sechs Orakelwächter traten aus dunklen Nischen hervor.
„Also hat das Orakel wieder einmal Recht. Auch du, mein Freund Seanachan, verrätst mich“, sagte eine bekannte Stimme, und Remison trat ebenfalls hervor. Er gab den Wachen einen Wink. „Nehmt sie fest. Die große Blonde will ich lebend, die anderen sind entbehrlich.“
 
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