Kapitel 58 – Kompromisse
„Löwenherz.“
„Äh…Hel...Pul...Fal.“
„Fast.“
„Hilf mir auf die Sprünge…“
„HelLumFal. Zeichnen.“
Der Meister seufzt und malt Runen auf Pergament, kritisiert von Akara. Kaschya hat dieser natürlich davon erzählt, wie der Meister die Formel für die Schriftrollen vergessen hat; darum hat die Weise ihn sich nach dem Mittagessen zur Brust genommen. Jetzt ist es Abend, und der Meister legt eine beachtenswerte Lernunfähigkeit an den Tag.
Langsam, aber sicher, scheint er jetzt trotzdem das Runenalphabet und zunächst zwanzig der wichtigsten Wörter zu verinnerlicht zu haben.
Als er sich weit nach Mitternacht schlafen legt, brummt ihm nach eigenen Angaben der Kopf.
Ich habe sämtliche Runen und –wörter im Gegensatz zu ihm schon beim ersten Mal komplett memoriert; es ist mir absolut unbegreiflich, wie man etwas hören und sich danach nicht erinnern kann! Darum war das Lernen des Nachmittags für mich einfach nur zum Gähnen – das heißt, nicht zum Gähnen, denn ich muss ja auch nicht schlafen. Ich kann nicht.
Darum halte ich jetzt wieder Wache, es ist dunkel, wer weiß, was passiert.
„Wo hat der denn seine Klauen gelassen?“
Eine der Jägerinnen am Lagereingang sieht mich abschätzend an. Ich glaube, sie ist eine von denen, die mich nicht besonders gut ausstehen können…
Um nicht vertrieben zu werden, lasse ich meine Finger kurz lang und spitz werden.
He! Warte…
Hm? Ich habe die Klauen sofort wieder verschwinden lassen; wollte meine Kampfpersönlichkeit noch einen Gedanken einbringen? Vergiss es, Dreckskerl!
Eine Stunde vergeht. Die Jägerinnen führen eine Ablösung durch. Eine der neuen – die mich beim ersten Angriff hat kämpfen sehen – lächelt mich an.
„He, du Kämpfer! Ich hab dir noch gar nicht dafür gedankt, dass du uns bei dem Angriff so gut unterstützt hast! Das war hervorragend!“
Oh! Na, das freut mich jetzt. Endlich Jemand, der auch mal mich für meine Leistungen würdigt, und nicht immer den Meister.
„Spinnst du? Das ist doch nur ein seelenloser Golem…wenn du Jemandem danken willst, dann dem General!“
Wenn das keine Probleme gäbe, würde ich der Kollegin meiner Dankerin jetzt gerne in den Hintern treten.
So verziehe ich nur das Gesicht.
„Ach komm schon, ein dummer Klumpen Ton hätte doch nie so einfallsreich gekämpft wie er! Ich glaube, in ihm steckt mehr, als man sofort sieht.“
Diese Einstellung gefällt mir…ein Grinsen zierst mein Gesicht.
Aber die andere lässt nicht locker. Vielleicht sollte ich doch…
„Ja, in ihm steckt eine ganze Menge, da hast du wohl Recht…ein kleiner Wahnsinniger zum Beispiel, nach dem, was man so hört…“
Ich erstarre. Sie kann doch nicht das meinen?
„Du erinnerst dich doch an unseren Schmied, oder? Also, dieser Klumpen hier…“
Und sie fängt an, eine Version meines Ausrasters – des Ausrasters meiner Kampfpersönlichkeit, ich bin nicht so! – zu erzählen, die sicher unglaublich übertrieben ist, aber das kann ich nicht einmal genau wissen, weil ich mich eben nicht daran erinnere! Es ist zum wahnsinnig werden!
Nach dem Ende der Erzählung stehe ich in einem extrem schlechten Licht da, und eine Verteidigung ist absolut unmöglich. Meine Unterstützerin ist bleich geworden. Sie sieht mich auf einmal an, als wäre ich ein gefährliches Raubtier, schiebt sich ein Stück von mir weg und redet kein Wort mehr mit mir.
Nicht, dass sie nicht auch Recht hätte.
Sie zuckt zusammen, als ich ruckartig Klauen forme.
Ah. Bitte! Du musst mir zuhören…
Oh nein, du wirst nur jetzt zuhören! Du verdammter Irrer! Du Psychopath! Blutrünstiges Monster! Ist dir eigentlich klar, in welcher Dreckssituation wir jetzt stecken, bloß weil es dir perversen Spaß macht, andere Leute aufzuschlitzen?
Dir mag das vielleicht völlig egal sein, aber ich will eigentlich schon, dass der Meister mir vertraut, dass mich Andere nicht als potentiellen Amokläufer ansehen, vielleicht mich sogar mögen, einfach als das denkende, fühlende Stück Erde akzeptieren, das ich bin!
Ich weiß nicht, warum du hier in meinem Körper rumhängst, warum ich nicht verdammt noch mal alleine bin in meinem Tonhirn!
Aber eins sage ich dir: Wenn du dich nicht benimmst, und deine idiotischen Eskapaden einfach sein lässt, dann kriege ich dich raus aus mir, und wenn ich dafür jedes einzelne Tonmolekül einzeln zerlegen muss!
Ich verstehe dich vollkommen.
Bitte wie? Das sind ja ganz neue Töne!
Es tut mir Leid.
Was, jetzt auf einmal?
Ja. Ich hatte Zeit, nachzudenken. Es ist wirklich nicht in Ordnung, die Anweisungen des Meisters so zu interpretieren, wie es mir passt, und genau das habe ich nämlich getan. Das muss ich zugeben.
Aha, ja dann – also kommst du weg von der „Befehle und sonst nichts“ – Linie?
Natürlich nicht! Dem Meister ist stets zu gehorchen! Aber ich muss in Zukunft die Befehle so interpretieren, wie es IHM passt, nicht wie mir.
Aha. Eigentlich mache ich ja nichts Anderes, das ist dir schon klar?
Du handelst eigenmächtig, auch ohne seine Befehle! Das ist einfach nicht richtig! Ein Golem sollte nicht für sich denken!
Komm mir nicht mit dämlichen Dogmen daher. Du weißt, was ich davon halte. Es ist doch einfach Fakt, dass der Meister manchmal einfach zu dämlich ist, von sich aus die richtige Entscheidung zu treffen!
Also, das ist doch...der Meister hat noch nie eine falsche Entscheidung getroffen! Noch nie!
Sag mal, reden wir vom gleichen Meister?
Selbstverständlich. Er hat mir umissverständlich klar gemacht, was er von mir will, und zwar die Ausführung seiner Befehle, nichts weiter. Und sie waren immer gut.
Aha, hat er dir auch das Morden beigebracht?
Er hat sicher ein wenig auf mich abgefärbt, was ganz natürlich ist...ich gebe aber zu, seit du meinen Körper gestohlen hast, ist er irgendwie netter zu den Leuten.
Ich deinen? Das war ja wohl eher umgekehrt! Du hast mich in meinen Kämpfen zuerst unterstützt, dann die Kontrolle übernommen, und mich zuletzt mit Meisterpropaganda geistig zugemüllt!
Nein. Ich war ewig der treue Diener eines furchtbaren Meisters gegen meinen Willen, als ich mich plötzlich, reduziert auf ein rein unterbewusstes Niveau, in einem groben, unperfekten Tonkörper wiederfand, dieser kontrolliert von einem Usurpator – dir!
Unsinn. Ich war seit der ersten Beschwörung hier. In der kalten Ebene, vor weniger als einer Woche.
Die erste Beschwörung war nicht in der kalten Ebene, und wie lange sie zurückliegt, kann ich nicht wissen. In den Tiefen des Tempels von Trang Oul, dem Herzen des Kultes von Rathma, nahm mein Körper das erste Mal Gestalt an.
WAS erzählst du da? Ich habe wenigstens die Hälfte nicht verstanden.
Siehst du? Ich bin der wirkliche Eigentümer dieses Golemkörpers, und der Beweis ist folgender:
Je näher du meiner perfekten Form vor deiner Übernahme kommst, desto mehr Kontrolle habe ich über deinen Körper. Das Schwert war ein guter Anfang, ich konnte dich dann kontrollieren, wenn du im Kampf unachtsam warst. Die Klauen sind schon die endgültigen Waffen, und nach ihrer Ausbildung konnte ich endlich mit dir reden, um dich von der Falschheit deines Weges zu überzeugen.
Ich lasse die Klauen verschwinden. Ich zittere.
Was hat sich dieser Wahnsinnige da nur ausgedacht? Ich bin der alleinige Eigentümer meines Körpers, und es ist mir egal, wie perfekt er ist! Kein Tempel, kein Kult ist da in meiner Vergangenheit!
Ich meine…wie soll es eine Beschwörung vor der Beschwörung gegeben haben? Der Meister ist sechzehn Jahre alt! Er hat, nach seinen eigenen Angaben, mich als seinen ersten Golem beschworen! Das werde ich ihm sagen. Ich forme die Klauen wieder.
In der Tat sehe ich hier eine gewaltige Diskrepanz.
Was…hast du mir gerade zugehört?
Ja. Und du hast Recht. Nach allen Gesetzen der Logik ist dein Meister nicht meiner. Aber er ist es! Wie sonst könnte er mich beschwören? Und er sieht genauso aus, wie er es immer getan hat: Weiße Haare, braune Augen, Pferdeschwanz, hager, hochnäsig, aristokratisch.
Aber er ist MEIN Meister!
Ich habe das Gefühl, dass wir beide Recht haben.
Er ist UNSER Meister.
Ich will dich nicht bei mir haben.
Du HAST mich aber bei mir. Pass auf. Ich schlage einen Kompromiss vor.
Ach so?
Ja. Du lässt mich zu jeder Zeit bewusst mit dir reden – also die Klauen stets geformt – und ich werde dir Rat geben, wann immer ich es für sinnvoll halte.
Im Gegenzug werde ich nicht versuchen, die Kontrolle über den Körper an mich zu reißen.
Hm. Würdest du mich während dem Kampf nicht ablenken?
Natürlich.
Dann haben wir eine Vereinbarung. Ich will wirklich mit diesen Klauen kämpfen, sie sind prima, und unser Überleben könnte von meiner Kampfkraft abhängen. Und wenn es nicht anders geht, bitte.
Aber pass auf: Das Rätsel unserer Koexistenz lösen wir gemeinsam. Das kann so nicht weitergehen.
Abgemacht.