Kapitel 32 – Hasst du, nicht gesehen?
Ich knie am Boden. Direkt vor meiner glatten rechten Augenschale liegt die jetzt nicht mehr glatt gleichseitige Handfläche, geschmolzen, geschwärzt, und womöglich gerade mein Gesicht verkratzend.
Es ist mir egal.
Mein Schädel spürt den Druck meiner Fingerspitzen, die auch den Druck spüren, den dieser zurückübt. Der Schlamm an meinen Ellenbogen ist trocken, von der Hitze, die mein ganzer Körper immer noch absondert, gebacken. Mein Rücken gibt Klopfgeräusche von sich, als die Tropfen des einsetzenden Regens ihn treffen. In der Einbuchtung, die meine Bewegungen in letzter Zeit leicht fahrig werden lässt, sammelt sich bereits Wasser, auch das des kondensierenen Nebels. Langsam spüre ich mich kühlen.
„Die Minute ist vorbei, genau jetzt. Steh auf. Man erwartet uns.“
Wenn ich hier bleibe...wenn ich einfach hier bleibe, mich ruhig verhalte, wird der Dschungel vielleicht einfach über mich hinwegwachsen? Wird diese verdammte Stahlhülle von Wurzeln aufgebrochen werden, wächst aus diesem verräterischem Mund dann vielleicht ein blühender Strauch?
„Magier, feuere auf mein Hinterteil!“
Hitze trifft mich. Einmal. Zweimal. Dreimal. Es kümmert mich nicht.
Bis ich zu schmelzen beginne.
Panik übernimmt die Kontrolle, als ich mich zur Seite rolle und das obere Ende meiner Beine fest in einer Pfütze platziere, die verdampft.
„Das reicht, hör auf.“
Jetzt sehe ich wieder, was ich eigentlich ausblenden wollte, als ich mich zusammenkauerte, und was ich auch da nicht schaffte, die Erinnerung an den Grund meiner Tat nur zu deutlich vor Augen. Erneut hebe ich meine rechte Hand, die Wunde in ihr wirkt wie ein Grinsen, ein schartiges Grinsen aus schwarzen Zähnen, das mich verhöhnt. Wie der Rest der Welt, die ich nicht mehr sehen wollte. Der Nebel, der Schlamm, die verabscheuungswürdigen Bäume! Die Leichen der einst menschlichen Kadaver, die noch immer nicht ausgebluteten Hälse der Hydren, die aus dem Wasser kamen. Der Dschungel. Ich hasse den Dschungel, aus vollem Herzen, mit ganzer Seele, mit jeder Faser meines genauso hassenswerten Körpers. Und der Dschungel hasst mich. Mit jeder Faser der Pflanzen, der kranken Tiere, der wahnsinnigen Kreaturen seiner abgrundtief bösen Herrscher. Wie soll man bestehen, wenn die ganze Welt einen hasst?
„Verdammt, was zur Hölle ist los mir dir? Falls du es noch nicht bemerkt hast, wir haben gerade gewonnen!“
Gewonnen? Du nennst das einen Sieg? Diese säurespuckenden Schlangenmäuler haben unsere Nahkämpfer aufgerieben, die Kadaver den letzten Giftmagier, mein Schwert steckt fest wegen dieses einen Schlages – aber das ist egal, das wäre Alles völlig irrelevant, wenn wir das gefunden hätten, was wir suchten. Siehst du es nicht? Wir haben diese Schlacht gewonnen, aber der Dschungel hat den Krieg gewonnen. Er hat uns genommen, was wir wollten – er ist nicht hier! Der Wegpunkt ist nicht hier! Sicher haben ihn die Wurzeln verschluckt, die Drescher zerschmettert, jede Hoffnung, die wir noch hatten, lebend hier herauszukommen, ausgelöscht!
„Du redest über verlorene Hoffnung? Warst du es nicht immer, der genau an dieses Konzept geglaubt hat?“
Meine Hand schweift über die grüne Hölle vor mir, um dann verzweifelt herabzusinken.
Zweiter, was nützt Hoffnung jetzt? Du hast gesehen, was diese unnatürliche Natur um uns tun wird, um uns loszuwerden. Das Land ist nicht sicher, das Wasser ist nicht sicher. Sogar die Luft hat uns angegriffen. Wir können nur fliehen, wir sind hier nicht, um an ein Ziel zu gelangen – sobald wir die Grenze der Menschlichkeit hinter uns gelassen haben, waren wir nur noch auf der Flucht. Und je schneller wir fliehen, je näher wir an die vermeintliche Rettung kommen, desto näher kommt auch unser Ende.
„Und darum hast du beschlossen, einfach nicht weiter zu fliehen.“
So ist es! Wir bleiben hier, Zweiter. Wir verhalten uns ganz ruhig in dieser Ecke des Dschungels, die wir gerade noch mit letzter Kraft säubern konnten. Es ist jetzt unsere Ecke. Ich will einfach nicht mehr. Ich will die Schmerzen der Blitze nicht mehr spüren, den Stich, wenn meine Mitstreiter vernichtet werden und wir immer weniger haben, auf das wir uns verlassen können. Die Pein des Versagens, wenn ein Schlag meinen Körper verunstaltet, das verzweifelte Scheitern, wenn ein verbogenes Gelenk nicht funktioniert, wie es soll, und ich stolpere und in diesem grauenhaften Schlamm lande, der in jede Lücke dringt, die diese Monster in mich gerissen haben und mich immer mehr versanden lässt, bis ich am Ende wohl nur noch auf mein baldiges Ende hoffen kann – und womöglich geht auch diese Hoffnung nicht in Erfüllung, wenn eine falsche Seele meine eigene stiehlt.
Nein. Nichts von alledem. Der Meister wird uns irgendwann wieder beschwören, und wir können ihn warnen. Warnen davor, jemals wieder einen Fuß in dieses verfluchte Gewächshaus des Irrsinns zu setzen. Und bis er das tut, sind wir hier sicher...sicher direkt unter den Augen des Bösen...wir müssen uns nur...verstecken...
„In Ordnung, in Ordnung. Jetzt verstehe ich dich. Ich verstehe sogar ausgezeichnet.“
Bitte, sprich leise mit mir. Man könnte uns hören.
„Einen Dreck werde ich tun! Du hast mich enttäuscht, 'Erster', ja, erster Verlierer, erster Schwächling! Nie hätte ich gedacht, dass du das hinbekommst. Unglaublich. Jedes Mal überraschst du mich wieder damit, wie groß meine Verachtung dir gegenüber noch werden kann. Du hattest mich fast überzeugt, weißt du das? Du hattest mich überzeugt, dass du zwar naiv bist bis zur Dummheitsgrenze, aber ich dachte bis gerade eben, dass du wenigstens eine Art Willen hättest. In Wirklichkeit aber bist du doch nur ein geistloser Diener, der sich jeder scheinbar größeren Macht bedingungslos unterwirft, sobald diese anfängt, böse zu werden über die lächerlichen Ambitionen ihres kleinen Spielzeugs!“
Denkst du, du kannst mich mit deinen immer gleichen Worten der Beleidigung dazu bringen, etwas zu tun, das ich nicht will – nämlich loszugehen?
„Meinst du, ich will dich zu etwas bringen? Offenbar bist du nicht einmal dazu in der Lage, dich selbst zu etwas zu bringen. Was bitte ist dein Problem? Dass dieser Ausflug durch das Dickicht härter geworden ist, als du dachtest? Großartig, wie überraschend! Es kommt immer schlimmer als man denkt! Glaubst du ernsthaft, du wärst schon so schlau und berechnend geworden, dass du vorhersehen könntest, wie eine Sache ausgeht? Nein? Warum überrascht dich das dann so? Weil dein geradezu krankhafter Optimismus erneut gnadenlos nicht funktioniert hat? Hat er schon vorher nicht, und trotzdem hast du daran festgehalten. Was war denn bisher anders als jetzt, hm? Halt, du brauchst mir nicht zu antworten. Ich weiß es.“
Ich höre dir ohnehin nicht zu, aber deine Chancen stehen besser, wenn du mir direkt in die Gedanken redest, hm?
„Es liegt daran, dass du alleine bist. Nur du und dein ach so schlimmer Körper allein auf weiter Flur, und dazu die Stimme in deinem Kopf. Das ist es, was dich jetzt kaputt macht, dass du Niemanden hast, der deine Fehler ausbügeln kann, dem du im Zweifelsfall die Schuld für einen Rückschlag geben kannst, und dem du zujubeln kannst, wenn es einmal gut läuft. All dein Gerede von Unabhängigkeit, dein eigener Herr sein – Unfug! Alles Unfug! Ohne einen Meister, ohne Jemand, der dir sagt, was du zu tun hast, bist du Nichts. Alles, was du kannst, ist dich zusammenrollen und weinen wie ein kleines Kind, das seine Mutter verloren hat.“
Ich...das ist nicht...
„Ein wenig Einsamkeit, kurze Zeit allein mit der Stimme in deinem Kopf – die ganze Zeit, die wir hier in Kurast sind, warst du immer wieder völlig auf dich gestellt. Denkst du, ich habe es nicht gespürt? Wie dein Selbsthass immer weiter in die Höhe stieg, bis du endlich wieder diesen weißhaarigen Milchjungen an deiner Seite hattest, der dir den Kopf getätschelt hat, wenn du ein braver Hund warst? Und wie du jetzt zusammenbrichst, sobald klar ist, dass du nicht zu ihm zurückkommst, wenn du es nicht selbst tust, dass dir Niemand helfen kann außer dein eigener, verdammter, verabscheuter Körper?“
Dieser Körper versagt! Er bricht zusammen, immer mehr! Nicht mehr lange, und...
„Und weißt du, was das Schlimmste daran ist? Du hattest einen Auftrag, den dir Keiner nehmen konnte außer dir selbst, weil ihn dir Keiner gegeben hat. Aus freien Stücken und freier Entscheidung hast du beschlossen, gegen etwas zu kämpfen, das die Leute nicht einmal bemerkt haben, weil dieses Problem auch in ihnen selbst lag. Du, du ganz allein, wolltest den Wahnsinn in Kurast bekämpfen, wolltest diesen persönlichen Sieg gegen den Dschungel feiern, wann immer du ein wenig Vernunft in die Leute prügeln konntest! Und es war gut! Nichts ist wichtiger als Vernunft, Verstand!
Aber was sehe ich vor mir? Du verlierst ihn, deinen Verstand! Du! Wirst! Wahnsinnig! In diesem Augenblick lässt du dich von dem Dschungel besiegen, ja, genau, er gewinnt, weil du ihn lässt! Er, der immer ein Pol der Ruhe gegen den Sturm in den Köpfen der Menschen sein wollte, wirbelt seine eigenen Gedanken so auf, dass sie für ihn selbst zu einer undurchschaubaren Schlammpfütze geworden sind. Bist du stolz auf das, was du erreicht hast? Gerade machst du es wieder zunichte. Bravo. Ich würde klatschen, wenn ich könnte.“
Ich lasse meine Hände sinken. Und meinen Kopf in die Höhe wandern, weg vom Boden, in den Himmel. Der Regen wäscht über mein starres Gesicht, aber könnte ich es bewegen, es wäre schlaff und leer wie jetzt.
Der Wahnsinn, mein Erzfeind, der Erzfeind Aller, die sich gegen das Böse zu stemmen versuchen. Er kann doch nicht...was ich tue, ist doch vernünftig...
Ist es nicht natürlich, die Schmerzen vermeiden zu wollen?
„Es ist eine natürliche Reaktion, ja. Aber mit Vernunft hat sie Nichts zu tun. Wie oft hast du versucht, Schmerzen durch Davonlaufen zu vermeiden, als du noch Blutgolem warst und dir mehr Schmerzen bereitet hat als ein paar läppische Blitze? Und mehr Schmerzen dazu!“
Nun...dieses eine Mal...in der Zuflucht hätte ich auch fast...
„Fast, ja. Aber du hast damals den Wahnsinn besiegt. Was macht es heute so schwierig? Bist du etwa keine Pein mehr gewohnt, hast du dich doch so sehr mit diesen Körper arrangiert, den du angeblich so hasst, dass du es nicht mehr erträgst, beschädigt zu werden?“
Es ist nicht nur das! Hör auf, verdammt! Tu nicht so, als ginge es mir nur um die körperlichen Schmerzen! Es ist Alles zusammen, die ganze Umgebung hier, die mich hasst und die ich hasse! Ich kann nicht gegen den ganzen Dschungel gewinnen, es geht nicht!
„Es wäre schon ein Sieg, wenn du jetzt aufstehst und weiter gehst!“
Ein bedeutungsloser, wenn mich bald darauf die Seelen schlachten, und womöglich meine stehlen! Bald wird der Meister den anderen Wegpunkt benutzen, uns mitteleportieren und wir sind hier raus!
„So? Du zwingst mich ja geradezu, wieder diesen Hebel zu ziehen. Was ist denn mit dem Meister? Denkst du, es wird irgendwie leichter, an seiner Seite hier durchwaten zu müssen? Er wird genau den Weg nachgehen müssen, den wir heute schon gegangen sind. Und er wird es schwerer haben als wir. Willst du ihm die Seelen zumuten? Der Nebel hier ist nicht natürlich, er kann nicht natürlich sein. Er wird nicht den ganzen Dschungel bedecken. Wenn wir aus diesem Moor heraus sind, können uns die Seelen Nichts mehr anhaben. Oder ihm. Riskierst du seine Seele, um jetzt deine hypothetische vor eventuellen weiteren Angriffen zu schützen, die sowieso kommen werden, wenn du hier noch einmal durch musst?“
Nein, du wirst mich nicht mehr mit diesem Argument manipulieren! Der Meister ist weit kompetenter als wir mit der Hilfe seiner ganzen Armee, so schaffen wir das ohne Probleme! Tu nicht so, als würdest du dich einen Dreck um ihn persönlich scheren! Was höre ich dir überhaupt zu? Ich hasse dich und deine ständigen Versuche, mich zu kontrollieren! Gib mir meine Stimme zurück, jetzt sofort!
...bitteschön.
„Gut! Bravo! Jetzt können wir endlich still warten!“
Ich höre dich nicht besonders still sein.
Und du bist es auch nicht. Gut, dass ich dir hier drin nicht zuhören muss.
Merkst du eigentlich nicht, was gerade geschieht? Dass du mich nicht magst, weiß ich. Vielleicht hasst du mich ja auch, und vielleicht sogar so sehr, wie ich dich hasse. Aber das hat dich bisher noch nie gestört, auf deine und meine Vernunft zu hören. Ich höre auch auf dich, wenn du in seltenen Fällen einmal mehr Recht hast als ich. Noch nie hat dich bisher der Hass derart übermannt, dass dein Verstand ausgesetzt hat – was glaubst du wohl, ist die Ursache dafür?
Vielleicht reichen mir deine ständigen Lügen, dein besserwisserisches Getue und die gespielte Überlegenheit einfach einmal? Vielleicht bekommst du jetzt die Quittung für dein Verhalten?
Vielleicht liegt es aber auch einfach daran, dass du hier von mehr Mächten als mir manipuliert wirst. Daran schon einmal einen Gedanken verschwendet? Ich habe dir bereits gesagt, auf wessen Konto dieser Dschungel geht, und welche Kraft zu verantworten hat, dass die Natur hier gegen sich selbst kämpft. Es ist der Hass – und sein Herr.
Das ist ja wohl ein kleiner Unterschied zu unserer jetzigen Situation.
Ach? Dein Zorn blendet dich, bis du das Offensichtliche übersiehst. Deine schon vorhandenen Ressentiments werden so lange geschürt, bis du nicht mehr klar denken kannst, und vor lauter Paranoia der Stimme der Vernunft in dir die unlautersten Absichten unterstellst. Und, was noch viel schlimmer ist: Der Hass auf mich wäre völlig irrelevant, wenn nicht als erstes etwas Anderes ins Übermaß geschürt werden könnte: Dein Selbsthass.
Das hast du schon einmal gesagt.
Und, hat es nicht gestimmt?
Deine Worte sind wie Gift! Ich sollte wirklich aufhören, dir zuzuhören...
Du solltest aufhören, dich selbst zu belügen. Wenn du wirklich nicht zuhören wolltest, hättest du es schon längst getan. Aber du weißt gar nicht, was du willst, oder? Du schlägst wild um dich gegen Alles, was dich gerade am meisten stört. Zuerst der Dschungel, du meinst, wir sollten den Meister warnen, nie einen Fuß hinein zu setzen. Dann bin auf einmal ich das Ziel, und nur, um mir zu widersprechen, behauptest du, dass der Meister sicher kein Problem damit hätte, hier durchzulaufen? Was denn nun? Entscheide dich. Hier warten und Gras über die Sache wachsen lassen, den Meister vergessen und unseren Auftrag, oder trotzdem weitermachen und darauf hoffen, dass dein übermächtiger Leinenhalter die Sache schon schaukeln wird?
Ich...gah! Hör auf, mir die Worte im Mund zu verdrehen!
Tatsachen, und du weißt es. Muss ich dir noch einmal ins Gedächtnis rufen, was genau du wann gedacht hast? Das kannst du auch selber, jetzt mach einmal den ersten Schritt und erkenne, wie lächerlich du dich gerade anhörst. Wie schnell du durch eine kleine Prise Hass zu einem völlig dysfunktionalen Wesen demontiert wurdest. Vorher warst du zwar blöd, aber wenigstens nicht irre.
Das reicht jetzt. Du fängst schon wieder an, mich zu beleidigen.
Ich kauere mich erneut zusammen.
Wir warten. Ende des Streits. Siehst du? Der Hass hat keine Macht über mich, das ist Unfug. Ich kann die ganze Diskussion auch friedlich beenden.
Genau, weil man „Diskussionen“ immer damit beenden kann, einfach nicht mehr über den Streitfall zu sprechen.
He, du Held. Gib mir mal eine Chance. Ich kann dir beweisen, dass dein Hass dafür sorgt, dass du das Offensichtliche übersiehst.
Ha!
...wenn du nach diesem Versuch still bist?
Versprochen.
Na schön! Und? Was willst du für einen Beweis erbringen?
Rufe dir bitte ins Gedächtnis, was du vor genau einer Minute und...siebzehn Sekunden ab jetzt gesehen hast.
Hä? Was soll...na schön. Ich tue dir den Gefallen. Das war, als ich aufgeblickt hatte, um in den Himmel zu starren. Der Schlamm am Boden, der mich großzügig bedeckt, dahinter die grüne Hölle, die verdammte grüne Hölle, außen herum der Nebel! Was soll das...
Was ist das?
Mein Kopf fährt wieder aus meinen Händen hoch und das Bild vor meinen Augen ist tatsächlich immer noch das gleiche wie in meiner Erinnerung – was hätte sich auch ändern sollen. Aber kurz dachte ich, ich könnte dieser Erinnerung nicht trauen. Weil ich das jetzt erst sehe, was eigentlich nicht sein kann.
Ich stolpere hoch, rutsche aus, krieche durch den Morast. Auf das Objekt zu, das direkt vor mir liegt, nur wenige Meter entfernt, neben einem Schlangenhals, der endlich ausgeblutet ist.
Glattes, hartes Chitin, drei Ecken, dazwischen geschwungene Ränder. Wie ein Ertrinkender an ein Floß klammere ich mich daran.
Es ist der Schild eines Wächters. Die Szene schießt mir unaufhaltsam in den Kopf: Gerade hatte ich den letzten Kadaver durchbohrt, die Gase und das Unleben entwichen aus ihm, als das Zischen vom Wasser hinter mir ertönte. Ich drehte mich um, und sah gerade noch, wie der Kopf der Hydra nach vorne stieß, grünen Schleim spuckte und damit den Wächter traf, der in Sekundenschnelle von der Säure zerfressen wurde. Schon stürzte ich darauf zu, Mord im Sinn, Rache für ein weiteres so wertvolles Mitglied unserer Truppe, das vergangen war...und noch am Rande sah ich, was ich allerdings völlig übersah vor Wut, wie der Schild, intakt und nicht zu Staub zerfallend, wie er sollte, zu Boden fiel. Die Säure hatte den Körper des Wächters zerfressen, aber aus irgendeinem Grund war sein „Tod“ durch Auflösung verhindert worden...hatte sie zu schnell dafür gewirkt? Unerklärlich, aber tatsächlich passiert.
Ich hebe den leichten Schutz auf, vorsichtig. Die mit der Rückseite verschmolzene Skeletthand ist immer noch dran, der Arm ein Stumpf, alles ab dem Ellenbogen weggefressen.
Der Hohlraum der Wächterfinger wirkt wie ein Griff.
Für einen Menschen wäre es äußerst unbequem, aber ich habe kein Problem damit, zwei Finger ständig zu verbiegen und den Großteil des Drucks der Chitinknöchel auf ihnen lasten zu lassen. Ich kann den eckigen Schild tragen!
Und, falls du es noch nicht wusstest – Chitin ist nicht leitfähig.
Huh?
Er schützt dich vor Seelenblitzen. Problemlos. Dürfte nicht einmal kaputt gehen, wenn zehn gleichzeitig darauf schießen.
Wie konnte ich ihn übersehen...
Tja...
Blinde Wut?
Du hattest...Recht. Ich hasse dich dafür, weißt du das?
Natürlich tust du das.
Aber...das hindert mich nicht daran, dir zuzustimmen.
Denn eins ist sicher.
Wenn es wirklich Mephistos Einfluss war, der gerade dafür gesorgt hat, dass ich den Verstand verloren hatte, und dass du mir helfen musstest, wieder zurückzufinden, dann hasse ich ihn noch mehr. Das hat er geschafft. Ich will und werde ihn zurück in die Hölle schicken, aus der er gekommen ist, und diesen Dschungel wenn nötig mit bloßen Händen roden. Dieses ganze verfluchte Holz soll brennen! Die Monster verrecken! Und wer sich mir in den Weg stelllt...
Hör auf!
Was? Stimmst du mir nicht zu? Willst du etwa nicht, dass ich...
Merkst du nicht, was du gerade tust? Du lenkst den Hass nur um, und egal, auf wen er gerichtet ist, blenden tut er dich so oder so! Noch ein wenig fester, und du zerquetscht den Schildgriff, dann bin ich mir sicher, dass der Rest zu Staub zerfällt!
Eiskalter Schock durchzieht mich und ich lasse den Griff sofort ganz los, Schlamm spritzt hoch, als er fällt.
Das ist...tückisch. Unglaublich tückisch. Wie kämpfst du eigentlich dagegen an? Was lässt dich so standhaft sein gegen den Hass um uns herum?
Ganz einfach: Ich hasse dich zu sehr, um dich den leichten Weg aus dieser Sache nehmen zu lassen. Und im Gegensatz zu den meisten Leuten habe ich eine Maxime, die mir schon oft weitergeholfen hat: Weißglühende Wut ist zerstörerisch. Kalter Hass dagegen fokussiert dich nur.
Allein dafür könnte ich dich schon wieder...
Nein.
Ich hebe den Schild auf, Symbol meiner wiedergefundenen Hoffnung.
Weißt du was? Danke. Danke! Danke für deine Hilfe! Ich bin dir ehrlich und wahrhaftig dankbar dafür! Ich glaube sogar, dass du gar nicht so schlimm bist, wie du dich immer gibst. Du willst mir nicht nur helfen, um mich zu peinigen, oder? Allein für dein krankes Vergnügen, mich zu verspotten, wäre das doch viel zu viel Aufwand.
Ich habe hier drin sonst Nichts zu tun, oder? Jetzt geh endlich los, wir haben schon viel zu viel Zeit verschwendet. Nachher holt der Meister uns wirklich noch zurück, kurz, bevor wir den Wegpunkt finden.
Ja! Ja, natürlich!
Ich laufe.
„Mitkommen, Magier!“
Ach, übrigens...du kannst die Stimme wieder haben, wenn du willst.
Wozu? Zeig mir, wie du dich schlägst. Bei einem einzigen übrigen Diener kann man nicht viel falsch machen. Wobei mir diese Worte wohl im figurativen Halse Stecken bleiben werden, sobald du es tatsächlich vermasselst.
Keine Sorge, dein nicht vorhandener Hals ist sicher!
Der Regen prasselt unvermindert nieder. Der Boden ist fast unpassierbar geworden...für Leute, die normal tief einsinken in den Schlamm. Ich dagegen bin so schwer, dass die dünne Erdschicht komplett wegspritzt, sobald einer meiner Füße darauf landet, und da ich außerdem stark genug bin, um den saugenden Schlamm relativ leicht zu ignorieren, kann ich fast ungehindert auf dem unter dem Moor schlummernden Steinboden Kurasts zu laufen.
Der Magier umklammert meinen Hals. Zu Fuß hätte er nie mithalten können. Das nur noch er von der Armee übrig ist, stellt sich jetzt als Segen heraus, wo wir es wirklich eilig haben.
Vor uns wirbelt der Nebel. Jetzt gilt es. Ich werde nicht langsamer, greife aber nach hinten und bekomme das Rückgrat des Magiers zu fassen und hebe ihn hoch.
„Halt dich mit den Beinen fest, Magier. Und dann schieß auf Alles, was sich im Nebel bewegt.“
Die Blitze beginnen zu fliegen, Feuer von uns, wirkliche von vorne. Mein Schild zuckt hoch, ihnen entgegen...
Und ich spüre überhaupt Nichts, als sie zerplatzen. Da schießt ein Schuss unter der Kante hindurch, trifft mein Bein...ich schreie vor Überraschung auf, als der Schmerz meine Fußsohle durchzuckt, aber schon löst sich meine Verbindung zum feuchten Untergrund und Nichts bleibt als Erinnerung. Vor mir zerfällt eine Düsternis zu Seelenstaub nach zwei Volltreffern meines Passagiers, und auf einmal bin ich mitten unter ihnen. Der Schild zuckt vor, trifft...ich spüre den leichten Widerstand, als das halb stoffliche Material vom Chitin geteilt wird...
Und die Seele fließt um den Schild herum, Tentakel formend. Moment Mal! Der Schlag war hart genug, um sie zu zerstören!
Versuch deine Faust!
Was bleibt mir übrig? Das Schwert funktioniert ja nicht. Nimm das!
Staub rieselt. Jetzt auf einmal?
Vielleicht sind die gegen Metall allergisch, was weiß ich? Nicht wundern, weitermachen.
Ich bade in den Blitzen. Von allen Seiten kommen sie aus nächster Nähe, und der Schmerz ist beinahe unerträglich. Aber nur beinahe. Immer wieder tun sich Lücken auf in dem Dauerbeschuss, als ich blocke – und wenn ich gerade nicht von Strom durchflutet werde, ist nur noch die Resthitze ein Problem. Da erweist sich allerdings der Regen als Segen. Solange die unzähligen kleinen Schweißpunkte, die die Treffer an mir erzeugen, nicht meine Gelenke beeinträchtigen...ah...diese Kopftreffer bringen mich ganz durcheinander...
He.
Wusste gar nicht, dass der Boden hier so...braun ist?
He!
Und schau mal, eine Schnecke...sie kriecht so langsam...
Steh auf, verdammt!
Hö, was ist...oh! Ich liege ja mit dem Gesicht im Schlamm! Sofort stemme ich mich hoch, den Schild als Stütze missbrauchend...aah, Kopfschmerzen? Was ist passiert?
Du warst kurz betäubt, als dich zwei Blitze mitten ins Gesicht erwischt haben. Und dann hat dich ein Tentakel berührt.
Was? Hektisch drehe ich mich um...und falle fast wieder hin. Ich bin so...müde?
Nur die Ruhe, dein dünner Freund hat ihn gerade rechtzeitig geröstet! Wenn man die Feuerkugeln um seine Hände in eine Seele hineinsteckt, gibt das einen sehr netten Effekt.
Ist er da...selbst darauf gekommen?
Wie hätte ich ihm denn das sagen sollen?
Tja...stimmt wohl...so...gehen wir dann weiter...?
Stolpern wohl eher. Aber natürlich tun wir das! Wir sind noch am Leben, und der Meister wartet auch noch auf uns!
Dann tun wir das...sag mal...welche Richtung?
Ich würde vorschlagen, wir gehen durch diese Säulen da durch.
Oh...
Logisch...
Ich schleppe mich voran. Mein linkes Bein funktioniert nicht mehr, ich muss es nachziehen; das Knie ist total geschmolzen. Der Magier, tatsächlich noch am Unleben, geht neben mir her; er könnte tatsächlich schneller sein als ich. Wenn der Wegpunkt nicht hier ist...
Eine Lichtung tut sich auf, fast gleich der letzten, die mich mit ihrer Leere so enttäuscht hat. Ich bleibe stehen, bevor ich sie ganz überblicke. Will ich es wissen?
Denkst du, es hilft etwas, die Augen zu verschließen?
Dachte ich zumindest noch vor Kurzem...
Ich mache zwei zaghafte Schritte.
Ein Steinquadrat lächelt mich in zehn Metern Entfernung an. Mir ist, als würde der Himmel aufbrechen und einen Lichtkegel darum ziehen. Jaaa...
Dir ist bewusst, was die Blasen in dem Schlammtümpel da links bedeuten, nicht wahr?
Ich sollte...mich beeilen?
Zwei Tentakel steigen in die Höhe, und dazwischen erhebt sich träge ein beschuppter Kopf mit langen Zähnen.
Es sind nur zehn Meter. Zehn Meter! Aber das ist...eine Ewigkeit...
Fünf. Drei.
Da umschlingt ein Tentakel meinen linken Knöchel. Ich kann ihn nicht wegtreten; ich habe völlig das Gefühl im Bein verloren. Nicht...jetzt! Ich werde hochgehoben, weggezerrt, meine Finger umklammern das lockere Moos des Bodens, das keinen Halt bietet; meinen Schild habe ich fallen gelassen. Warum jetzt?
Du bist nicht allein!
Ha!
„Magier! Feuer auf den Tentakel, der mich hält!“
Das Zischen des Regens auf den Geschossen ist Alles, was mir verrät, dass er mir gehorcht – und das Zischen des Wasserwächters dieses Wegpunktes ist Alles, was mir verrät, dass er auch trifft. Denn spüren kann ich die Wärme nicht mehr. Auf Händen und einem Fuß krieche ich weiter, die Distanz überbrückend, und endlich den Stein berührend, auf den ich so lange sehnsüchtig gewartet habe. Ich blicke noch einmal zurück. Der Magier schießt weiter auf den Tentakel; der Schlangenkopf holt aus und setzt dazu an, seine Säure zu spucken.
Ich sollte ihm helfen...er hat mir so treu gedient...
Bist du irre? Er ist nur ein willenloser untoter Diener! Was kümmert dich seine Vernichtung?
Schade ist es trotzdem...ich wende mich wieder ab, und höre das Schlürfen der Schlangenspucke. Als ich die Runenfolge ablese, leuchten die Flämmchen in den Steinschalen auf.
„Verdammtes, dreckiges, ekelhaftes Großes Moor!“
Sie werden weißlich-blau.
Wieder zieht etwas an meinem Bein – dem rechten, das ich spüren kann. Ich trete zurück, eine der Schalen umklammernd.
„Docks von Kurast!“
Und weg bin ich.
Als überraschte Rufe um mich laut werden, atme ich innerlich auf, noch gar nicht begreifend, dass ich endlich für eine kurze Weile Mephistos Klauen entkommen bin. Der Schutz der Docks dürfte mich von der Aura des Hasses im Dschungel behüten.
Wenn es wirklich sein Einfluss war, der dich fast wahnsinnig gemacht hat.
Was denn sonst?
Der Einfluss der dunklen Ecken deiner eigenen Seele, mein Freund.
Das...
Wäre zu schrecklich, um jetzt darüber nachzudenken.