Kapitel 36 – Vertrauensfrage
Das blaue Glühen des Stadtportals mischt sich malerisch mit dem rötlich-orangen Sonnenuntergang, der das Meer in wunderschönen Farben strahlen lässt. Zwei Eisenwölfe stehen schon zum Empfang bereit, in Kampfposition, aber entspannen sich, als sie den Meister sehen, der sich noch mit einem Grinsen ins Nichts von Tees „verabschiedet“, die sich in ein paar Büsche zurückgezogen hat; bald wird es wohl wieder kurz sehr dunkel werden, und Natalya darf ein paar Leuten erklären, wo sie den ganzen Tag über war, ein kleines Problem für sie, nehme ich an.
Der Meister nickt lächelnd den Wächtern zu, ich nicke ebenfalls, zu mehr nicht fähig, die Skelette wandern im Gleichschritt und Formation unbeeindruckt weiter. Wir ziehen ein paar neugierige Augen an – im Grunde alle, die noch offen sind in der Nähe – aber so richtig ungewohnt ist der Anblick nicht mehr. Deckard Cain und Ormus sind wieder dabei, sich zu unterhalten; offenbar haben sie sich eine Menge zu erzählen. Beide sehen besorgt aus, aber der Meister grüßt sie fröhlich, was ihnen immerhin kurz eine ähnliche Reaktion aufzwingt.
„Fortschritte, mein Freund?“
„Schritte eine Menge, Deckard, sonst Nichts, aber wir kommen der Sache näher, da bin ich mir sicher.“
Stimmt ja auch. Nur wie effizient eben, das ist die Frage. Damit sind wir auch schon unterwegs zu unserer Hütte, wo der Meister sich erst einmal auf das Bett wirft, kurz die Augen zusammenkneift – und dann wieder aufsteht.
„Hast du die Nacht etwas zu tun, Golem?“
Die Nacht...hm...
Du kannst hier schon zustimmen, egal, ob du nur am Abend etwas vorhast! Verdammt, jetzt stell dich nicht so an, nachdem du eh schon einmal gelogen hast.
„...ja.“
„Schön, ich nämlich auch! Dann sehen wir uns Morgen früh sicher, viel Spaß bei was auch immer du tust, ich habe schon ein Treffen geplant...“
Er singt ja fast.
Nachvollziehbar.
Natalya?
Natürlich.
Na ja, er hat uns gerade ja fast herausgeworfen – dann gehen wir eben. Ich habe ja eh...noch etwas vor...
Du zögerst?
Ich sitze auf der Truhe und starre in den Sonnenuntergang.
Eigentlich wäre das jetzt eine gute Gelegenheit, um mit Aschara zu reden. Aber ich fühle mich gerade wirklich nicht in der Lage dazu.
Was soll das denn heißen?
Was denkst du denn? Du hast ja wohl mitbekommen, was heute Alles passiert ist. Aschara ist gefährlich. Ich sollte meine Sinne beisammen haben, wenn ich mit ihr rede, und genau aufpassen, was ich wann sage – denkst du, heute ist ein guter Tag für mich, um rational und konzentriert zu denken? Ich merke doch selbst, dass ich am Rande des Wahnsinns stehe!
Nun, wenn es nur das Wissen ist, das dich abhält, dann sollte deine Aversion sich doch leicht überwinden lassen. Ich bin ohnehin davon überzeugt, dass du völlig irre bist, seit ich dich kenne.
Hör auf! Ich habe wirklich keine Lust auf deine ständigen Sticheleien im Moment.
Und ich habe keine Lust auf dein Rumgeflenne. Du bist nicht der Einzige, dem es schlecht geht hier, oder? Reiß dich zusammen und rede mit Aschara. Dabei geht es mir überhaupt nicht um Devak, der kann meinetwegen angeln und Deck Schrubben, bis er Blasen an den Blasen an den fingern bekommt. Aber du hast dir vorgenommen, ihm zu helfen, du hast dich unglaublich schuldig gefühlt, weil du ihn warten lassen musstest – und jetzt willst du nicht, wo die Gelegenheit da ist? Der Meister ist den Rest der Nacht abgelenkt – wenn Natalya rechtzeitig zurück ist, aber wir kennen sie, das kann sie – es ist noch früh genug, wer weiß, wann du wieder dazu kommst.
Verstehst du denn nicht? Es geht heute nicht! Ich würde mich lächerlich machen! Natürlich tut es mir Leid um Devak, aber er muss einfach warten, sonst mache ich Alles nur noch schlimmer.
Soll ich dir einmal zeigen, wie du mich gerade aufregst? Deine Unsicherheit ist unerträglich! Für eine Weile schienst du echt zu was zu werden, du hast dich ohne zu zögern deinen Pflichten gestellt, meinen Ratschlägen zugehört, meinetwegen ohne ihnen blind zu folgen, und das Alles, ohne dabei alle fünf Minuten zusammenzubrechen, weil du gelegentlich Dinge tun musstest, die dir nicht so gefallen! Und was jetzt? Ich sitze in Kopf dieses minderwertigen Körpers neben einem Wrack, der das Geschenk seines „Lebens“, von dem er bisher so überzeugt war, schlichtweg verschwendet.
...weißt du eigentlich, wie sehr du mich verwirrst?
Brauchst du mich zur Verwirrung?
Das ist es nicht. Ich habe einfach, nach der ganzen Zeit, die wir uns kennen, keine Ahnung, was ich von dir halten soll. So oft du betonst, mich zu hassen oder zu verachten und ich wirklich spüre, dass du es in diesem Moment meinst, so oft scheint es mir nur aufgesetzt, als müsstest du dich selbst überzeugen, dass ich dir nicht doch langsam sympathisch werde.
Dieses Scheinen scheint Teil deiner Verwirrung.
Genau das meine ich. Wie du bewusst betonst, dass ich mich irren muss, den Gedanken mit beiden Händen von dir stößt. Und das verstehe ich nicht. Ich mag dich auch nicht...
Betonst du ja auch oft genug.
...aber das ist bei mir nichts Endgültiges, wie du deine Meinung mir gegenüber immer darstellst. Ich tu mir da einfach so schwer, weil ich so unerfahren bin. Aber je länger ich lebe, je mehr Personen und Persönlichkeiten ich kennen lerne, desto mehr merke ich, wie sehr erste Eindrücke täuschen können und wie oft man sie allein deswegen revidieren muss, weil Leute sich einfach ändern. Und du änderst dich auch, obwohl du das nicht wahrhaben willst. Leugne es, so sehr du willst, aber ich bin überzeugt davon, dass dein unbedingter Zynismus nur gespielt ist.
Traust du mir zu, ein derart guter Schauspieler zu sein?
„Trauen“ ist das richtige Wort. Schon vergessen? Du verwirrst mich. Und das stört mich so. Ich denke, ich kann gerade jetzt keinen Feind in mir brauchen, mit dem man tatsächlich reden kann – ich würde einfach gerne mit dir Frieden schließen, aber dafür müsste ich dir vertrauen können. Und das kann ich einfach nicht.
Beruht doch auf Gegenseitigkeit. Wenn ich mich recht entsinne, hast unseren letzten Pakt du gebrochen.
Das hat doch damit Nichts zu tun! Es geht hier nicht um Bedingungen. Ich will einfach nur wissen können, wie bedingungslos ich Ideen, Ratschlägen, Anweisungen von dir folgen sollte!
Und von meiner Vertrauenswürdigkeit soll ich dich genau wie überzeugen?
Keine Ahnung!
Hm, wie beurteilst du diesen Rat: Wir gehen jetzt zu Aschara und klären die Sache mit Devak?
Wirst du nie aufhören heute damit? Ich sagte doch bereits, dass der Zeitpunkt nicht schlechter sein könnte. Ich fühle mich auf keinen Fall in der Lage, dieses Gespräche zu fühlen.
Du hast Angst vor ihr, das ist es. Aber wer redet eigentlich von dir? Du, stimmt. Ich dachte, es ginge hier nicht nur um dich? Wir sind hier auf Gedeih und Verderb zusammen in der Sache. Also werde ich dich durch das Gespräch mit Aschara führen. Vertraust du mir genug, um jetzt aufzustehen und bei den Eisenwölfen anzuklopfen?
Du...mir helfen?
Ja, das würde ich tun. Also, vertraust du mir?
Warum?
Vertraust du mir?
...ich stehe auf und gehe zu der Kasernenhütte. Was solls...wenn der Zweite mich fallen lässt, weiß ich wenigstens, woran ich bin.
Hör auf, dir ständig Sorgen zu machen!
Die zwei Eisenwölfe vor der Tür des längeren Holzgebäudes heben ihre Schwerter, als sie mich sehen. Ich kenne keinen von ihnen.
„Was willst du denn hier?“
Ich zögere kurz. Scheinbar hat zumindest der Fragende, im Gegensatz zu Vanji, ein Problem damit, dass ich den Einkommensverlust seines Kollegen verursacht habe – das bedeutet, ich muss nicht nur Aschara gegenüber sehr vorsichtig sein mit dem, was ich sage, sondern hier und jetzt damit beginnen.
„Grüße zunächst. Es tut mir außerordentlich Leid, zu dieser doch recht späten Stunde stören zu müssen, aber gewisse Dinge verlangen einfach, dass ich mit Aschara reden darf. Sofern sie noch wach ist, heißt das.“
Derjenige, der zuerst gesprochen hat, spuckt in das Wasser unter der Brücke, über die ich gekommen bin.
„Ein reichlich schwacher Grund dafür, dass wir dich hier reinlassen sollten. Was ist denn genau so wichtig?“
Mist...das kann ich ihm doch nicht sagen...
Warum nicht?
Eigentlich eine gute Frage...aber Moment, gerade habe ich so getan, als ob die Sache von höchster Wichtigkeit wäre, was für Devak zwar zutrifft, aber wenn ich ihnen das jetzt sage, glauben sie, ich lüge sie an.
Was der Beweis dafür wäre, dass man sich auch in Aussagen verfangen kann, die zwar wahr sind, aber genauso gut Lügen sein könnten. Also?
...also habe ich, mal wieder, keine Wahl...
„Glaubt mir, ich würde mich gerne von euch fernhalten, wenn ich könnte. Aber ich habe direkten Befehl von meinem Meister, gegen den kann ich nicht handeln. Ich muss Aschara etwas mitteilen – und das darf sonst Niemand hören. Bitte.“
Und wieder eine Lüge...
Und wieder sehe ich das Problem dabei nicht. Sie lassen dich durch, und Aschara kannst du guten Gewissens sagen, dass du in Wirklichkeit auf eigene Faust herkommst. Dass du in der Hinsicht ehrlich bist, wird sie honorieren, denke ich.
Kurz überlegt der Sprecher; dann tippt ihm sein Kollege auf die Schulter.
„Ich weiß nicht, warum du dich gerade so anstellst. Wir sollten diesem Totenbeschwörer helfen, wo wir können, egal, was der Golem getan hat. Geht hier ja nicht um Devak alleine, oder? Ich mag dich auch nicht...“
Er funkelt mich an.
„...aber das hat damit ja Nichts zu tun. Sollte es zumindest nicht. Oder?“
Der Zweite schneidet eine Grimasse...dann nickt er knapp. Sein vernünftiger Partner nickt zurück.
„Dann sage ich Bescheid. Wenn ich hier schon dafür sorge, dass einer von uns mit Aschara reden muss, mache ich es auch selbst.“
Glück gehabt.
Nein, nur einen guten Grund erfunden.
Hm. Bereitet mir aber immer noch Bauchschmerzen.
Der allein gelassene Eisenwolf hat keine Lust, mit mir zu reden; kann ich ihm nicht verdenken. Wir warten in Stille, bis der Andere zurückkommt; er winkt mich nach drinnen, ebenfalls kein Wort verlierend.
Diesmal sitzt Aschara auf ihrem großen Thron, ansonsten wie ich sie das letzte Mal gesehen habe: sehr entspannt, lächelnd und mit einer Schlange um den Hals, die mehr Haut bedeckt als ihre Kleidung. Während ich näher komme, bemerke ich die feindseligen Blicke mancher Eisenwölfe, die sich gerade bettfertig machen; in diesem einzelnen, recht kleinen Raum gibt es keinen Platz für Privatsphäre. Gemurmel begleitet mich. Vor der Anführerin angekommen verbeuge ich mich kurz und förmlich. Sie lacht.
„Warum so steif, Golem? Nach deinem letzten Besuch hatten wir uns doch so gut verstanden. Ich würde dir einen Stuhl anbieten, wenn wir welche hätten, aber das macht ja Nichts, du stehst sicher auch gerne und so muss ich zu dir aufblicken. Wie geht es denn so?“
In Ordnung, sie versucht, dich durch ihre Freundlichkeit zu verwirren. Entweder, du fällst direkt darauf herein und wunderst dich, warum sie es ist, oder du durchschaust den aufgesetzten Charakter ihres Verhaltens – und machst Fehler, weil du dich fragst, was sie eigentlich vorhat, ohne darauf zu achten, was sie tatsächlich tut. Am besten konterst du mit der gleichen Taktik, würde ich sagen. Sei nett, zuvorkommend, und leg diese schüchterne Vorsicht ab, die ich gerade bei dir spüre.
Na schön...was soll ich sagen?
Ich bin nicht dein Einsager. Denk dir was aus, das kannst du doch wohl?
Seufz...ja.
„Den Umständen entsprechend, Aschara. Der Dschungel macht es uns nicht leicht. Aber wir haben ja zum Glück Verbündete, die uns mit Rat, Tat und Ausrüstung zur Seite stehen. Seht nur, was aus Euerem fast geschenktem Schwert geworden ist.“
Langsam lasse ich die Klinge ausfahren, damit Niemand nervös wird. Ihre Augen blitzen, und sie steht auf, die Schlange sich grazil um ihren Arm winden lassend. Fast zärtlich berühren ihre Finger die Klinge.
„Du hast etwas sehr Schönes aus dieser grifflosen Klinge gemacht, Golem. Wirklich gut improvisiert.“
Lass das nicht so stehen, sonst bestätigst du ihr, dass du den Griff nicht absichtlich zerbrochen hat – und sie kann erneut versuchen, deine Knöpfe zu drücken, indem sie den Meister beleidigt.
„Tatsächlich war das von vorneherein meine Absicht gewesen.“
Ihre Lippen verziehen sich zu einem spöttischen Schmollen.
„Ach, und du warst dir sicher, dass du das Schwert bezahlen konntest?“
„Wir hätten die Mittel, auch wenn wir uns nicht auf eine andere Art der Vergütung geeinigt hätten.“
Gut, gut! Strahle grenzenloses Selbstvertrauen aus.
Sie lächelt mysteriös, dann lässt sie von mir ab und sich auf ihrem Stuhl nieder.
„Sicher seid ihr auch überaus erfolgreich im Dschungelkampf dank euerer...Hilfen. Es hat mich gefreut, zu hören, dass es deinem Meister wieder besser geht. Eine wundersame Genesung. Wie es scheint, ist der Himmel doch noch auf Kurasts Seite.“
In Ordnung, die nächste Falle. Zwei Möglichkeiten: Entweder weiß sie, wie der Meister geheilt wurde, und will deine Ehrlichkeit ihr gegenüber testen, oder sie weiß es nicht und fischt nach Informationen.
Wir könnten die Sache einfach bei „dem Himmel sei Dank“ belassen und auf den Punkt kommen – die Gelegenheit ist gerade günstig.
Ich wäre dafür, ihr vage Details zu geben. Das macht sie neugierig, aber weniger, als wenn du gar Nichts sagst, und du verschweigst ihr Nichts, wenn sie tatsächlich Bescheid weiß; und du weißt, wie empfindlich sie auf Leute reagiert, die ihr etwas verschweigen.
Ups.
„Ja, dem Himmel sei Dank, dass wir rechtzeitig ein Heilmittel fanden. Wo wir schon bei meinem Meister sind: Wie ich den Wachen schon sagte, er hat mich geschickt, um etwas mit Euch zu besprechen. Können wir das unter vier Augen erledigen?“
Sie lehnt sich zurück und verschränkt die Arme hinter dem Kopf.
„Ach, ich vertraue meiner Truppe. Alles, was du mir sagst, kannst du auch ihnen erzählen.“
Oh, verdammt.
Was machen wir jetzt?
Nun, der ursprüngliche Plan ging gerade in Flammen auf. Wir können ihr nicht sagen, dass wir die Wachen angelogen haben, sonst läuft der Rest hier drin Amok. Also müssen wir uns etwas einfallen lassen, warum der Meister uns tatsächlich geschickt hat.
Und darum lüge ich ungern! Gah! Zum Glück...fällt mir auch da etwas ein.
„Nun gut. Folgendes: Wir wissen, dass Euere Truppe in voller Stärke gebraucht wird, um Kurast zu verteidigen. Dennoch würde es uns überaus helfen, wenn Ihr wenigstens einen Eisenwolf entbehren könntet, der uns begleitet. Einerseits wegen der erhöhten Kampfkraft gegen die immer stärker werdenden Monster, je mehr wir uns Travincal nähern, andererseits wegen der Kenntnisse der unzerstörten Stadt von einheimischen Mitgliedern, denn wir sind mehr oder weniger blind durch den Dschungel unterwegs.“
...und das stimmt sogar Alles.
Hm. Da muss ich doch tatsächlich ein Lob aussprechen.
...
Ja. Genau. Musst du. Ascharas Grinsen ändert sich kaum, aber was wird daraus...?
„Tja, Golem, ich kann nicht behaupten, dass mich diese Bitte überrascht. Um genau zu sein, habe ich sie sogar erwartet. Deswegen konnte ich mich bereits dem Bedauern stellen, das meine Antwort hervorrufen wird: Es ist ein ‚Nein’. Tut mir Leid. Wir haben ohnehin schon genug Probleme, die nötigen Posten zu füllen.“
Und auch das war zu erwarten.
„Mir geht es ähnlich wie Euch, Aschara: Auch ich habe diese Antwort bereits erwartet.“
Sie hebt eine Augenbraue.
„Was mir ebenfalls Bedauern erspart. Mich wunderte nämlich, als ich über Euch und Euere Personalnot nachdachte, eine Sache: Wenn Ihr viel zu wenig Männer habt – warum werft Ihr dann einen von ihnen aufgrund trivialer Umstände aus der Truppe?“
Ein Raunen geht durch die garantiert nicht an Schlaf denkende Menge hinter mir.
Das war vielleicht ein bisschen zu direkt.
Sie hat mir aber auch eine Steilvorlage geliefert. Und jetzt will ich ernsthaft wissen, wie sie das erklärt.
Die Augenbraue fährt wieder nach oben – aber gleichzeitig schwindet ihr Lächeln.
„’Triviale’ Umstände, Golem? Ich glaube, du bist schlicht nicht besonders gut informiert, sonst müsste ich das glatt als Beleidigung auffassen. Der Eid der Eisenwölfe mir gegenüber besteht aus genau einer Aussage, im Gegensatz zu dem, den sie Kurast schwören müssen: Absolute Ehrlichkeit. Und Jemand, der sich daran nicht hält, begeht das schlimmste Verbrechen, das ein Eisenwolf begehen kann – mir gegenüber, nicht Kurast gegenüber, wohlgemerkt. Egal, wie sehr wir ihn brauchen würden, ich habe gar keine Wahl, außer ihn hinaus zu werfen.“
Aber...Devak hat sie nicht angelogen. Er hat nur eine Sache verschwiegen, die er für unwichtig hielt.
Moment, das weißt du nicht. Vielleicht hat sie ihn direkt gefragt, und er hat zum Beispiel gesagt, er würde dich nicht kennen – was insofern stimmt, als dass er dich nicht gut kennt, aber wissen, wer du bist, das tut er schon länger.
Mist. Du meinst, sie wäre in dem Fall tatsächlich im Recht?
Es ist bescheuert, wegen so etwas stur und prinzipientreu bis zum Letzten zu sein. Aber wenn sie so viel auf diesen Eid hält, dann hat sie in der Tat richtig gehandelt – von ihrer Perspektive aus. Und Devak wird keine Gelegenheit erhalten haben, sich zu erklären.
Das glaube ich auch nicht, bei dieser Frau. Aber was soll ich jetzt sagen? Ich muss einfach darauf bauen, dass Devak nur durch Verschweigen gelogen hat.
Nein! Das ist ein zu großes Risiko! Und mir ist gerade ein besserer Weg eingefallen...
Doch noch während der letzte Satz des Zweiten in meinen Gedanken klingt, habe ich schon zu reden begonnen. Wir denken schnell zueinander, aber Zeit benötigt das doch; und noch länger hätte ich nicht schweigen können.
„Nun, Aschara, so wie ich das sehe, gibt es zwei Arten von Lügen. Einerseits die, die direkt die Unwahrheit behaupten und aus reinem Eigennutz bewusst falsche Aussagen sind; und andererseits die, welche schlicht gewissen Wahrheiten nicht sagen. Das kann aus Eigennutz geschehen – so, wie die anderen Lügen durchaus auch zum Schutze Anderer ausgesprochen werden können – aber meistens sind diese nicht einmal absichtlich.
...
Aber eigentlich ist das ja egal.“
Moment Mal. Das...wollte ich nicht sagen?
„Viel wichtiger ist doch Folgendes: Ich glaube, zu wissen, warum Ihr auch in einer Situation wie dieser so strikt sein müsst mit Eueren Regeln, und vielleicht sogar an Devak nur ein Exempel statuiert habt.“
Jetzt geht erst richtig ein Murmeln durch den Raum. Aber das interessiert mich gerade nicht. Meine Stimme gehorcht mir nicht mehr! Zweiter, bist du das etwa?
„Das...interessiert mich jetzt, Golem. Das interessiert mich sehr, was deine Erklärung für diese...gewagte Aussage ist.“
Schüttle deinen Finger verneinend. Das ist wichtig.
Hast du gerade meine Stimme benutzt?
Ja. Keine Zeit für Erklärungen, die bekommst du danach, versprochen. Jetzt spiel mit.
Gib. Mir. Meine. Stimme. Zurück.
Hör zu. Ich habe jetzt einfach keine Zeit, mich mit dir zu streiten. Nicht bei dem, was auf dem Spiel steht. Vertraust du mir?
Ich...
Du wolltest mir vertrauen, dass ich dich durch dieses Gespräch führe. Das tue ich jetzt, und zwar direkt, weil du fast versagt hättest. Also vertrau mir auch jetzt!
...jetzt bin ich auf eine Erklärung sehr gespannt.
Aber ich schüttele den Finger.
„Nicht einfach so, Aschara. Diese Information ist von einer gewissen Mächtigkeit, sonst wäre ich nicht in der Lage, eine so ‚gewagte Aussage’ zu treffen, nicht wahr? Ich will eine Gegenleistung versichert, bevor ich sie preisgebe – immerhin durch die Umstände nicht nur Euch, sondern auch den ganzen Anderen hier. Was ich sehr ungern tue. Hm?“
Ihre Schlange scheint bereit, zuzubeißen. Und sie wirkt ähnlich misstrauisch und gespannt.
„Und...wie hättest du dir das vorgestellt?“
Verschränk die Arme.
In Ordnung. Meine Stimme redet schnell weiter, nachdem ich es getan habe.
„Devak hat einen Fehler gemacht, und Pech hatte er auch. Aber als Gegenleistung für meine Information möchte ich dennoch, dass er wieder ein vollwertiger Eisenwolf wird, und weiter diese Aufgabe erfüllen kann, die ihm so am Herzen liegt.“
Noch mehr Raunen.
„Das ist deine Forderung? Ein äußerst hoher Preis nur für eine Information, denkst du nicht?“
„Zusätzlich dazu brauchen wir ebenfalls einen Führer. Wir hätten ja Devak selbst genommen, aber er will hier bleiben und bereit sein, im Ernstfall Kurast zu verteidigen. Was Ihr sicher wisst.“
Aschara schüttelt den Kopf.
„Zwei Forderungen nur für eine Information? Das ist zu viel. Darüber brauchen wir gar nicht nachzudenken.“
Linken Finger heben.
„Ich weiß, dass ich viel verlange, aber passt auf: Ich garantiere, dass Ihr in der Lage sein werdet, beide Forderungen ohne Probleme erfüllen zu können, sobald ich meine Information gegeben habe. Wenn dem nicht so ist, dann bleibe ich eben auf ihnen sitzen. Ich werde die Information jetzt preisgeben; bitte beurteilt selbst, ob meine Einschätzung ihrer Wichtigkeit für Euch korrekt ist oder nicht. Das Risiko, dass ich mich dabei irre, trage ich. Nur zuhören müsst Ihr.“
Sie streicht sich über das Kinn. Das ist dein Plan? Alles auf eine Karte zu setzen? Was für eine Information überhaupt?
Verstehst du langsam, warum ich das Reden hier selbst übernehmen musste? Dein Pfad hätte uns nicht weiter gebracht, im Besten Fall, und uns einen Rauswurf eingebrockt im schlimmsten!
„In Ordnung, Golem. Ich denke darüber nach. Dann schieß los, aber mach es interessant.“
„Keine Sorge. Die Information ist Folgende: Die magische Barriere, die die Docks vor dem Einfluss des Bösen schützt, steht kurz vor dem Zusammenbruch. Das lässt sich über mehrere Quellen, namentlich Hratli und Ormus, bestätigen.“
Und das Raunen wird zu Gemurmel. Lautem Gemurmel.
„Ruhe! Ich war noch nicht fertig mit Reden, und das steht mir zu. Je schwächer der Schild wird, desto stärker können die Wellen des Bösen, die der Dschungel aussendet, die Menschen darunter beeinflussen. Mephistos Hass steigert schon vorhandene Antipathien in den Köpfen hier auf immer gefährlichere Niveaus, und selbst, wenn die Barriere noch Wochen hält, haben wir keine Chance, diese Zeit zu nutzen, wenn wir anfangen, uns gegenseitig abzuschlachten, je mehr der Wahnsinn um sich greift. Und weil ich das weiß, zusammen mit den Aussagen, die Ihr gerade getroffen habt, Aschara, glaube ich zu wissen, was hier abgelaufen ist. Die Eisenwölfe sind unzufrieden. Nicht zwingend mit Euch, durchaus auch miteinander, aber fast Jeder, mit dem ich schon geredet habe, hat irgendein Problem mit einem anderen Mitglied der Truppe. Die Atmosphäre ist so giftig, dass ein kleiner Funke ausreichen könnte, um sie zu entzünden.
Darum regiert Ihr mit immer härterer Hand, Aschara, weil Ihr das auch bemerkt. Die Ressentiments wachsen, die Verzweiflung greift um sich, also glaubt Ihr, das unter Kontrolle bringen zu müssen. Darum musste Devak seinen Kopf hinhalten: Ihr habt ein Exempel statuiert, um dem Rest zu zeigen, dass sie überhaupt keinen Spielraum haben, um irgendeinen Unfug zu treiben. Dass er dann nicht mehr zur Verfügung steht, falls der Ernstfall eintritt, ist egal; Ihr wisst sicher, dass er, Eisenwolf oder nicht, die Docks mit seinem Leben verteidigen würde.
Diesen Weg halte ich für falsch. Je mehr der aufsteigende Hass unterdrückt wird, desto tödlicher wird er explodieren, wenn Euer Deckel dafür nicht mehr stark genug ist. Und das wird geschehen. Das ist aber tatsächlich unwichtig.
Es gibt eine Lösung für das Problem. Die Barriere kann repariert werden. Wie genau, muss ich zugeben, wissen wir nicht – aber wir kennen die Leute, die es tun, und mit denen werden wir so bald als möglich reden. Und ich halte Euch auf dem Laufenden, das verspreche ich.
Nun, zurück zu meinen Forderungen. Devak zurück in die Truppe bringen? Kein Problem, sobald der Hass wieder auf die Ebene reiner Antipathie zurücksinkt. Einen von euch entbehren? Ein noch geringeres Problem, sobald die Barriere wieder steht. Wie Ihr seht, hängt Alles, und damit meine ich Alles, davon ab, dass wir es schaffen, sie zu reparieren. Dafür brauchen wir Unterstützung, mein Meister und ich – von Jedem in den Docks. Von Euch benötigen wir, wie gesagt, einen Ortskundigen – nicht mehr, nicht weniger. Aber so bald als möglich.“
Jetzt herrscht erst einmal Stille. Aschara streichelt ihre Schlange, was sie begonnen hat, noch während der Zweite seine längere Rede gehalten hat. Langsam kommt Geflüster auf. Da packt ihre Hand zu, die Schlange zischt – und schlagartig ist es ruhig.
„Das war interessant, Golem. Wenngleich du sicher gelegentlich falsche Schlüsse ziehst, die allgemeine Aussage war klar und deutlich, und gibt mir durchaus zu denken.“
Sie beginnt, auf- und abzugehen. Willst du darauf Nichts sagen?
Darauf wartet sie. Kann sie meinetwegen auch länger.
Nach kurzer Zeit hebt sie ihren Finger.
„Mehr aber nicht, Golem! Ich werde mich informieren, ob deine Aussagen stimmen. Durch mehr Quellen als die, die du genannt hast.“
Sie dreht mir den Rücken zu.
„Bevor ich mir sicher sein kann, kann ich euch auch keine Unterstützung liefern. Meine Pflicht Kurast gegenüber verbietet es mir, den Worten einer einzelnen...Halbperson...so sehr zu folgen, dass das Schicksal Aller hier sich daran entscheiden könnte.“
Oh, verdammt.
Das ist ein Teilsieg. Unsere Informationen sind hieb- und stichfest.
Und wenn Hratli, Ormus und die möglichen anderen Quellen ihr das Falsche sagen?
Dann haben wir ein Problem, nicht wahr?
Nein, das werden sie einfach nicht tun. So hoch kann der Wahnsinn nicht gestiegen sein.
„Ich verstehe, Aschara. Ich werde mit meinem Meister über unser Gespräch reden. Vielleicht können wir uns ja bald auf mehr einigen als das, und ich hoffe, dass sich bald bestätigt, dass Ihr uns vertrauen könnt.“
„Das hoffe ich auch, Golem. Eine Zusage kann ich hingegen gleich tätigen, da ich deine Ehrlichkeit heute wirklich zu schätzen weiß: Wenn die Barriere wirklich am Zerbrechen ist, und ihr es schafft, sie wiederherzustellen, dann werde ich ohne zu zögern einen von uns euch zur Verfügung stellen. Und das kostenlos.“
Oha!
Na schau an, mehr als ein Teilsieg. Die Sache ist damit wohl erledigt für heute – du kannst die Stimme zurück haben.
Danke...oder so.
„Habt Dank für Euere Großzügigkeit, Aschara. Wir hören voneinander.“
Funktioniert. Sie winkt mich etwas fahrig nach draußen; wir scheinen sie doch ein wenig aus der Fassung gebracht zu haben...die beiden Eisenwölfe, die eigentlich die Tür bewachen sollten, stehen innen, wie ich sehe, und sehen mir etwas verwundert nach. Von hinten hallt Ascharas Stimme durch den Raum.
„War nicht eigentlich schon Zapfenstreich? Ich sehe ein paar zu Viele von euch noch wach dafür!“
Hastig folgen die Wächter mir nach draußen, bevor sie drinnen gesehen werden, aber das registriere ich nur am Rande. Ich warte noch auf eine Erklärung! Warum konntest du die Stimme kontrollieren?
Deine Stimme wird von deinem gesamten Körper erzeugt, wie ich schon einmal gesagt habe. Um sie zu übernehmen, muss ich also nicht die Kontrolle über eine bestimmte Körperpartie übernehmen, es reicht, von überall einen gewissen Anteil zu kontrollieren – und ich weiß genau, welcher Anteil das ist, du dagegen hast keine Ahnung, wie deine Stimme überhaupt funktioniert.
Na ja, grob vielleicht...das macht mir jetzt aber schon Sorgen.
Ich weise darauf hin, dass ich kein Schindluder damit getrieben habe.
Ganz und gar nicht. Hm. Es scheint, als müsste ich dir tatsächlich vertrauen – ohne dich hätte ich dieses Gespräch nie geschafft...Danke.
Keine Ursache. Wirklich...keine Ursache...