TwinYawgmoth
Champion des Hains, Storywriter of the Years
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Kapitel 77 – Fragen, die die Welt bewegen
Wir kommen also kurz nach Deckard beim Meister an. Die beiden Menschen haben es sich bereits auf Stühlen gemütlich gemacht; wie ich sehe, ist der Meister schon wieder präsentabel, er ist in legerer Kleidung – mit einem fragwürdigen Oberteil, er hat wohl wirklich nicht mehr viele gute Hemden, und das von heute...tja – die Rüstungsgegenstände liegen leicht verteilt im Raum herum. Gut sieht keines von ihnen aus. Er selbst wirkt sehr müde, verständlich, seine Haare sind noch feucht, die Finger rosig geschrubbt, etwas, was ich auch gern getan hätte. Deckard trinkt gerade aus einer Tasse Milch, der Meister starrt in seine. Ohne aufzublicken spricht er mich an.
„Ah, schön, dass du auch da bist. Ich nehme an, wir sind zu früh und du bist pünktlich?“
„Tatsächlich bin ich vierzehn Sekunden zu spät dran.“
„...das können wir mal unter den Tisch fallen lassen. Also, Deckard, tut mir Leid, dass ich dich habe warten lassen...jetzt können wir aber in Ruhe reden, ohne dass ich Alles dreckig mache. Konkret also zum Fortschritt unserer Reise: Wir sind in Travincal angekommen, hatten...Widerstand und sind sobald wir ihn überwunden hatten per Wegpunkt hierher gekommen, also ist noch nicht viel dort geschehen. Morgen dürfte aber tatsächlich der Tag sein, an dem wir die hypnotische Kugel zerschmettern, also wäre es gut, genauer über Khalims Organe Bescheid zu wissen.“
Deckard räuspert sich.
„Welcher Art war der Widerstand denn, von dem Ihr spracht?“
Der Meister zögert.
„Nun...ist das so wichtig?“
„Ja.“
„...es waren ehemalige Zakarumiten, unterstützt durch heilende Priester. Ich hatte selten einen so harten Kampf. Die Details wären...nicht besonders erfrischend, möchtest du das wirklich hören?“
„Also...es waren Menschen, die von der Hypnotischen Kugel verwirrt worden waren, habe ich das richtig verstanden?“
„...korrekt. Und ihre Körper sind zudem grausam verformt worden. Die Priester übrigens sind sich durch die Bank im Klaren darüber, was sie tun – sie huldigen nun Mephisto.“
„Ach so? Der Glauben ihrer Kaste war stark, aber...egal. Aber...wie habt Ihr sie denn letztlich überwunden, wenn ich fragen darf?“
Die Antwort lässt auf sich warten.
„...ich habe sie alle getötet.“
„Wir haben sie alle getötet.“
Zweiter, verdammt! Bist du irre? Du kannst doch keinen Stolz in deine Stimme legen, wenn du das sagst!
Deckards Blick zuckt zu mir – mit mäßigem Entsetzen gefärbt – der Meister hat es überhaupt nicht bemerkt, weil er sofort nach dem Einwurf des Zweiten weiterredet.
„Ja, verdammt, aber ich bin letztlich doch verantwortlich für das, was du tust, Golem! Und mir gefällt überhaupt nicht, was wir getan haben, das kannst du mir glauben, Deckard. Aber...was hätte ich machen sollen? Mephisto hat uns eine Falle gestellt, wir waren in kürzester Zeit umzingelt, die Priester haben die Skelette zerschossen, wir mussten um unser Leben kämpfen. Es war grauenvoll, Schläge noch und nöcher, ich habe noch nie so oft so viele Schmerzen überall erdulden müssen. Irgendwie haben wir gewonnen, es war dreckig, es war hässlich, es war falsch, aber es war die einzige Möglichkeit...vielleicht komme ich dafür in die Hölle, aber sag mir, Deckard, wie hätte ich handeln können? Das Schicksal der ganzen Welt steht auf dem Spiel, ich darf nicht aufgeben, wenn die Gegner beschließen, die Regeln zu brechen...“
Der Horadrim-Weise starrt kurz auf seine gefalteten Hände, dann sieht er den Meister mit bedauerndem Ausdruck an.
„Mein Freund, Ihr habt das Grundproblem jedes Krieges erkannt, die zentrale Frage: Wie groß muss der Zweck sein, damit er welche Mittel heiligt? Zu oft beantworten die verfeindeten Parteien diese nur mit 'für unseren Zweck ist jedes Mittel Recht', was verwerflich ist und in den Abgrund führt, für alle Beteiligten. Sich die Frage überhaupt zu stellen zeichnet Euch schon einmal grundsätzlich aus, problematisch ist die Sache allerdings, weil Ihr sie Euch erst im Nachhinein stellen könnt – das soll kein Vorwurf sein, Ihr hattet in diesem Moment offenbar nur die Wahl zu töten oder zu sterben, und Ihr wärt ein sehr seltsamer Mensch, wenn ihr nicht das Leben gewählt hättet. Dennoch ist es berechtigt, sich schuldig zu fühlen, denn wäre es nicht so, wärt Ihr ebenfalls ein sehr seltsamer Mensch – im überaus negativen Sinne.
Es ist nun nicht an mir, Euch Absolution zu erteilen für das, was Ihr getan habt, aber ich möchte Euch ein paar Denkanstöße liefern. Dafür müssen wir auf die Eingangsfrage zurückkommen...“
Der Meister hebt die Hand.
„Deckard, Schluss. Ich muss dich hier unterbrechen, weil ich ein ganz großes Problem mit dem habe, was du gerade gesagt hast.“
„...mein Freund?“
„Du meinst, ich wäre ein sehr...seltsamer Mensch, wenn ich mich nicht schuldig fühlen würde? Nun...wie soll ich es sagen? Seien wir provokatisch: Ich fühle mich nicht schuldig.“
Was?
...so schnell stellt sich Vernunft ein?
Aber...frag ihn, was das soll, was meint er damit!
Schon hebt der Meister eine Hand, um Deckards Antwort erneut zu unterbinden.
„Pass auf, ich weiß, wie seltsam das klingt. Und es schmerzt mich zutiefst, das sagen zu müssen, aber wir müssen ehrlich sein. Mein Hirn schreit mich an, dass es falsch war, was ich getan habe, dass ich alle diese Unschuldigen getötet habe, will mich geißeln dafür, will, dass ich mich vor Scham und Schuld auf dem Boden winde...aber mein Herz weigert sich, das zu tun. Wenn ich daran denke, was in Travincal geschehen ist, spüre ich keine Schuld, nur den äußerst unangenehme Ekel vor einer wirklich schlimmen Erinnerung...wegen der Schmerzen, wegen der Hilflosigkeit, wegen der Verzweiflung; nicht wegen den Leben, die ich genommen habe. Ich spüre Zorn auf Mephisto, dass er das mit diesen Menschen getan hat, sie gegen uns geschickt hat, um uns moralisch fertig zu machen, ja, ich hasse ihn dafür – aber ich fühle mich auf beängstigende Weise eben nicht moralisch vernichtet. Weil der andere Teil meines Hirn mir sehr überzeugend einredet, dass ich eben keine Wahl hatte und mich nicht fertig machen sollte wegen etwas, das überhaupt nicht in meiner Macht stand. Ja, ich hätte aufgeben können, mich töten lassen können statt Leben zu nehmen, aber das wäre dumm gewesen, was du mir sicher gleich gesagt hättest, also was solls? Es wäre genauso dumm, sich jetzt groß den Kopf deswegen zu zerbrechen, ich muss weiter machen, da habe ich genauso keine Wahl.
Verstehst du mich?“
Seine Frage ist fast flehend. Deckard lehnt sich zurück und blickt ihn leer an.
„Das...überrascht mich, General. Ihr habt auf mich nicht den Eindruck eines Menschen gemacht, der seine Vernunft so sehr über seine Gefühle stellen kann. Euer Fazit ist richtig, zweifelsohne, ich wäre auf kein anderes gekommen. Aber der Weg dahin...er macht mir Angst, mein Freund. Was da draußen geschieht...Ihr habt es richtig ausgedrückt, es steht eigentlich nicht in Euerer Macht...und es verändert Euch. In einer Weise, die mir überhaupt nicht gefällt.“
„Mir auch nicht, Deckard. Ich habe einen unglaublichen Horror davor, ein kalter Bastard zu werden, den es überhaupt nicht mehr interessiert, was er tut, solange er seine Mission erfüllen kann...aber ich kann Nichts gegen meine Gefühle tun. Beziehungsweise deren Abwesenheit. Jetzt den verzweifelten Sünder zu geben, wäre heuchlerisch. Es macht mir Nichts aus, dass ich ein Massaker veranstaltet habe, obwohl es das sollte. Tut mir Leid...“
Meister...was geschieht mit dir...
Wie gesagt, er wird vernünftig.
Das ist...er wird zu einem Monster, wenn das so weitergeht!
Er wird...wie mein Meister!
Nein. Nein! Oh Himmel, das...ich muss...
Schnell schlage ich meine geistigen Hände über meinen ebensolchen Mund, aber der Gedanke ist gedacht, und es ist klar, was meine Intention ist.
Du wirst ihn nicht warnen – du kannst ihn nicht warnen. Ich bin jetzt hier, um ihn auf seinen Weg zu leiten. Auf dem richtigen Weg. Lass es einfach geschehen, es wäre früher oder später sowieso geschehen. Auch dir wird es noch geschehen...oder du wirst komplett wahnsinnig. Dass diese Gefahr gleich um die Ecke lauert, sollte dir in der letzten Stunde klar geworden sein.
Ich...das ist so falsch, ich möchte ihn schütteln, ihn ohrfeigen, ihm Verstand einprügeln! Er kann doch nicht...aber wenn es ihm so geht, wie er das schildert...seine Gefühle sind wirklich nicht durch ihn kontrollierbar. So wenig wie ich meine kontrollieren kann...kann ich ihn wirklich verurteilen? Es ist sicher auch schlimm für ihn. Und vielleicht hat der Zweite Recht, und der Meister muss kalt und abgestumpft werden, um letztlich obsiegen zu können.
Natürlich. Denn wenn er erst einmal verstanden hat, dass die Vernunft immer über das Gefühl siegen wird, dann kann er mit Gefühlen auch tun, was du gerade so vorschnell als unmöglich abgetan hast: Sie kontrollieren.
Da durchzuckt es mich, aber diesen Gedanken behalte ich sehr gut für mich. Der Zweite hat hier nicht Recht. Er hat seine Gefühle gut unter Kontrolle, das muss man ihm lassen – indem er sie völlig abtötet. Die meiste Zeit fühlt er überhaupt Nichts. Eine Existenz, die Niemanden zu wünschen ist – was wäre ich denn ohne Gefühle? Ein Nichts, ein Niemand, eine verhasste Maschine! So wie der Zweite angeblich gerne wäre...aber er hat, wie ich, eine Seele. Denn obwohl er seine Gefühle gut unter Kontrolle hat, ist diese Kontrolle bei Weitem nicht perfekt. Immer wieder brechen seine Emotionen durch seine abweisende, glatte Schale der Vernunft, des Pragmatismus'...und das ist jedes Mal eine komplette Katastrophe. Gefühle werden ungern eingesperrt, in etwa so wie ich.
Nein. Er hat so Unrecht, wie es nur gehen kann. Der Meister darf seine Gefühle nicht verlieren, und ich werde garantiert nicht diesen Weg beschreiten – ich werde kämpfen dafür, dass er wieder Schuld spüren kann, Schmerz und Bedauern – und das Gegenteil von all dem ebenfalls.
Deckard reagiert nun.
„Ich kann Euch keine Gefühle einimpfen, die Ihr nicht habt. Es ist sehr gut, dass Ihr hier so ehrlich seid...vielleicht habt Ihr auch einfach noch nicht genug Distanz zu dem Geschehenen? An Euerer Stelle würde ich eine Nacht darüber schlafen, vielleicht zwei. Dass es Euch sehr beschäftigt, dass Ihr Probleme habt, echte Schuld zu fühlen, ist auch etwas, was ich als sehr positiv sehen würde...ich weiß es nicht. Ihr scheint vor einem Scheideweg zu stehen. Mehr als hoffen, dass Ihr Euch für die richtige Richtung entscheidet, kann ich nicht, weil ich so wenig Einfluss habe wie Ihr auf das, was Euch noch erwartet. Einfach wird es auf keinen Fall, aber ich bete darum, dass es Euch nicht vernichtet.“
„Im Zweifelsfall habe ich ja noch einen guten Berater, Deckard...“
Er weist auf mich. Ein eisiger Klumpen formt sich in meiner Brust.
„Auf Golem kann ich mich immer verlassen, wenn ich mal gar nicht mehr weiß, wohin mit mir.“
Mit Zähnen und Klauen versuche ich zu verhindern, dass der Zweite huldvoll nickt, aber ich bin zahn- und klauenlos.
„Wir haben viel zu reden, General. Mir geht es nämlich ähnlich wie dir. Aber vielleicht machen wir das unter zwei Augen aus?“
„Tun wir. Also, Deckard...lenken wir den Blick auf Dinge, die wichtiger sind als mein Seelenheil. Travincal. Die Kugel. Khalim.“
Der Weise seufzt.
„Ja. Also, Ihr seid sehr schnell dort angekommen, was mir gute Hoffnung macht – auch, dass Mephisto offenbar Alles daran setzt, Euch aufzuhalten, warum sollte er das tun, wenn die Übel zu dritt auf Euch warten? Das heißt, die Kugel steht im Weg, denn er wird sie benutzen, um Euch zu verwirren. Ich sehe keine Chance, diesen Einfluss zu brechen ohne sie zu zerstören, und das geht nur durch Khalims reinen Willen. Ein wenig habe ich mich den schon beschafften Organen bereits gewidmet, ihre Macht ist groß – das Auge wird durch die Illusion sehen, das Gehirn sie verstehen. Aber ich weiß nicht, ob es genug ist. Ohne die Macht der Gefühle können wir in diesem Krieg nicht gewinnen, und das heißt, wir brauchen das Herz...nur es wird den Mut haben, Mephistos Macht zu brechen.“
„Das...ist jetzt nicht so gut, immerhin sind wir schon in Travincal. Und wenn es irgendwo im Dschungel versteckt ist, sind wir prinzipiell verloren, ich könnte Jahre damit verbringen, das Gestrüpp zu durchsuchen.“
„Es ist nicht so lange her, dass Ihr Kurast erreichtet – wie gründlich habt ihr das abgesucht?“
„Überhaupt nicht, ich kann nicht in jedes Haus sehen, das ist völlig ausgeschlossen!“
Der alte Mann holt tief Luft.
„Ich hatte gehofft, der Himmel würde uns hierbei helfen...durch einen scheinbaren Zufall...aber wenn es nicht sein soll...ich weiß nicht, was wir da tun können. Vielleicht genügen zwei Organe, es war eigentlich auch schon Glück genug, überhaupt an diese zu kommen. Möglicherweise möchte uns das Licht auch sagen, dass wir wirklich keine Gefühle brauchen können? Aber ich gerate ins Plappern. Mein Rat für den morgigen Tag ist: Dringt in den Tempel ein. Der Hohe Rat wird dort warten. Wenn die Priester die Seite gewechselt haben, ohne durch ständige Illusionen dazu gezwungen werden zu müssen, werden auch sie dem Einfluss der Kugel erlegen sein. Was genau mit ihnen geschehen ist, kann ich nicht vorhersagen...dass ihr Anführer Sankekur zu Mephistos Avatar wurde, nachdem er Khalim tötete, wisst Ihr ja. Es ist gut möglich, dass sie in irgendeiner Art und Weise dabei helfen können, die Macht der Kugel zu brechen...und wenn Ihr die Informationen aus ihren kalten Leichen lesen müsst, da hilft Alles Nichts. Wenn sie schon freiwillig Mephisto anbeten, sind sie ohnehin verloren.“
„Denkst du denn, sie werden mir helfen, wenn ich ihnen gut zurede?“
Schweigen erfüllt den Raum.
„...das dachte ich mir. Wir dürfen also wieder die Klingen wetzen...“
„Ich wünscht, es wäre anders...“
„Spar dir das, Deckard. Mach du dir keinen Kopf wegen etwas, das ich tun muss, ich hab selbst genug daran zu kauen. Was ich jetzt tun werde, ist schlafen. Vielleicht ist die Leere in mir nur der Tatsache geschuldet, dass ich kurz davor bin, einfach ohnmächtig umzufallen? Ich wünsche dir eine gute Nacht...bis Morgen, Golem. Du wirst sicher etwas finden, mit dem du dich beschäftigen kannst...adieu.“
„Ich wollte noch mit Euch über...nein, das kann bis Morgen auch warten. Dann aber sofort...bitte verlasst die Stadt nicht, ohne noch mit mir zu sprechen. Nun schlaft gut...und ungewollte Träume mögen Euch verschonen.“
Der Meister geht wortlos zu Bett. Deckard steht auf und verlässt leise den Raum. Der Zweite wartet kurz, offenbar unentschlossen. Sehr gut – er soll hier bleiben! Deckards Angebot zu einem Gespräch ausschlagen! Der Weise muss dann merken, dass etwas nicht stimmt mit mir...
Tja, dann wollen wir mal sehen, wie gut diese goldene Zunge von mir noch funktioniert, hm? Wäre doch gelacht, wenn ich den alten Zausel nicht einlullen könnte.
Gah, heute ist der Himmel wirklich nicht auf meiner Seite! Ich versuche es trotzdem...
Das ist Deckard Cain, den du als „alten Zausel“ bezeichnest, Zweiter. Denkst du wirklich, du kannst den letzten überlebenden Horadrim in irgendeiner Hinsicht täuschen? Er kennt alle Tricks!
Ja, aber er erwartet nicht, dass ich diese kenne, oder? Wenn ich nicht auf sein dämliches Redeangebot eingehe, weiß er sicher, dass etwas nicht stimmt. Und das weißt du auch, nicht wahr?
Ja, verdammt. Ihm gegenüber schweige ich nur, was vielsagend genug ist...
Der Meister schläft schon, als wir die Hütte verlassen. Deckard wartet tatsächlich draußen auf uns.
„Möchtest du mein Angebot annehmen, Golem?“
„Sehr gerne. Ich bin mir sicher, ich werde aus unserem Gespräch wertvolle Erkenntnisse gewinnen, die ich auch dem Meister vermitteln kann, wenn wir uns später über das Gleiche unterhalten.“
„Möchtest du denn mit mir auch über das reden, was in Travincal passiert ist?“
Wir gehen langsam in Richtung des Leuchtturmplatzes. Der Regen hat aufgehört.
„In der Tat, weil das ja auch die Quelle meiner...Verwirrung ist. Ich habe mich gefragt, ob es noch richtig ist, was wir da tun...dass wir diese unschuldigen Menschen töten...für eine Weile dachte ich, ich müsste aufgeben, verzweifeln wegen diesem unglaublichen Dilemma, in das wir gezwungen wurden. Ich...ich habe so viele getötet...ständig schwebt mir das Gesicht von einem Gläubigen vor Augen, schrecklich entstellt, aber eindeutig menschlich, mit Augen voll Angst, als ich das Leben aus ihm sauge, er war nicht älter als fünfundzwanzig vielleicht...“
Mir wird schlecht, als ich meine eigenen Worte vom Zweiten ausgesprochen höre, der kein einziges von ihnen ernst nimmt, aber durchaus so klingt, als würde er. Er ist ein extrem guter Schauspieler...meine Mut sinkt, dass Deckard sich doch nicht narren lässt. Aber noch hat das Gespräch kaum angefangen!
Der Weise nickt.
„Das heißt, du fühlst, was dein Meister vermissen lässt...“
„Ja.“
„Dann kehren wir doch zurück zu der Frage, die so zentral ist für diese Situation: Wie groß muss der Zweck sein, damit er welche Mittel heiligt? Du wirst erkennen, dass es weder nur auf einen Zweck ankommt, der groß genug ist, noch auf eine bestimmte Wahl der Mittel, denn kein Zweck ist groß genug, um wirklich jedes Mittel zu rechtfertigen, und gleichsam sind manche Methoden durch kein noch so hehres Ziel zu entschuldigen. Wir müssen also beide Seiten der Frage gleichzeitig beantworten, und das macht sie ja so schwierig! Beginnen wir mit dem Zweck. Kannst du dir einen höheren Zweck vorstellen als die Rettung der Welt?“
Natürlich nicht!
„Kann ich. Den Schutz der Seelen ihrer Bewohner. Denn selbst, wenn alle Menschen sterben, können sie immer noch sicher in den Himmel gelangen. Sollte die Hölle allerdings ihren absoluten Sieg davontragen, wäre wirklich Alles verloren.“
...oh.
Scheint, als hättest du immer noch nicht verstanden, wie ernst diese Sache hier ist, hm?
Deckard nickt. Mittlerweile sitzen wir bei ihm zuhause.
„Eine gute Antwort, Golem. Eine sehr gute Antwort. Sie zeigt uns, dass die Obergrenze der Wichtigkeit deines Meisters Mission immer noch nicht erreicht ist – denn im ewigen Kampf des Guten gegen das Böse führen wir nur ein Scharmützel, keine Schlacht und schon gar keinen Krieg. Gleichwohl können auch kleinste Gefechte den Ausgang des ganzen Konfliktes bestimmen. Deswegen dürfen wir nie aus den Augen verlieren, dass wir tatsächlich auf der Seite des Guten sind, kompromisslos; das ist ein wirklich ultimatives Gebot. Aus diesen beiden Gründen sehen wir, dass die Wahl Eurer Mittel wirklich extrem wichtig ist; gleichzeitig ist klar, dass das, was ihr tut, auf jeden Fall extrem wichtig ist.“
„Ja, aber ist es wirklich wichtig genug, um das Töten von Unschuldigen zu erlauben?“
„Genau diese Frage ist es, die wir mit diesen Voraussetzungen beantworten müssen! Und wie du dir denken kannst, ist sie nicht allgemein beantwortbar, nur in diesem speziellen Fall. Und vielleicht nicht einmal besonders befriedigend. Also, welches Mittel habt ihr gewählt? Es war Mord. Ja, es war ein Kampf um Leben und Tod, aber ihr habt absichtlich Leben genommen, da ist die Definition klar. Dies wäre ein schlimmes Verbrechen...wenn ihr tatsächlich eine Wahl gehabt hättet. Hattet ihr aber nicht, weil Mephisto euch diese genommen hat. Tötet oder sterbt, das war seine Absicht, und seiner grausamen Falle musstet ihr euch beugen.“
So ist es, und das Verbrechen ist begangen, die Schuld lässt sich nicht abstreiten! Warum schränkt er da ein?
Der Zweite findet andere Worte.
„Moment, wir hätten ja eine Wahl gehabt. Nämlich, wie Ihr selbst sagt, zwischen töten...und sterben.“
„Und das ist der springende Punkt!“
Er hebt seinen Zeigefinger.
„Habt ihr in diesem Moment die letztlich richtige Wahl getroffen? Es war, wie schon erwähnt, eine logische Wahl – Selbsterhaltung ist völlig natürlich – aber wir sind deswegen Menschen, weil wir uns über den reinen Instinkt hinwegsetzen können. Hättet ihr Mephistos Falle ins Leere laufen können, indem ihr einfach gestorben wärt?“
„Vielleicht...“
„Natürlich nicht! Weil das eine Situation war, in der ihr nur verlieren konntet! Seine Falle hätte so oder so Erfolg gehabt, also kommt es nur darauf an, was die Folgen für euch sind, nicht für ihn! Im einen Fall wärt ihr tot gewesen, die Übel würden sich in Bälde völlig ungehindert vereinen, und weil nur ihr von Anfang an direkt am Geschehen wart, käme die Schreckensnachricht zu spät für Andere, um rechtzeitig reagieren zu können. Dämonenhorden würden Sanktuario überfluten und die Menschheit vernichten.
Im anderen Fall – der Fall, in dem wir uns jetzt befinden – besteht eine gute Chance, dass dein Meister mit deiner Hilfe genau diese Entwicklung aufhalten kann. Ihr könnt den Plan der Übel vereiteln, sie zurück in die Hölle senden und Sanktuario retten. Gleichzeitig birgt dieser Fall aber auch die weit größere Gefahr. Zumindest für euch persönlich. Denn wenn ihr zwar den physischen Kampf gewinnt und überlebt, aber euere Seelen verliert, ist das weit schlimmer.“
Das...
Frag ihn.
Aber das ist doch...er kann nicht...
Du weißt, dass du ihn fragen wirst. Weil du dir sonst nie sicher sein kannst.
„...heißt das, Ihr glaubt, dass ich eine Seele besitze?“
Er atmet tief ein.
„Sagen wir es so, Golem...allein die Tatsache, dass du diese Frage stellst, macht es mehr als möglich. Ob dem so ist, weiß ich nicht. Ich kann es nicht wissen, weil die Natur der Seele das größte Mysterium überhaupt ist. Aber ich kann dir eines sagen: Ich kenne dich nun schon eine Weile, und hättest du nicht diesen Metallkörper, müsste ich sagen, du wärst einer der wertvollsten Menschen, die ich je kennen gelernt habe.“
Das ist...
Ein klares „Jein“. Toll.
Aber ich...
Für einen Moment ersetzt ein anderes Gefühl die drückende Schuld in mir. Eine gewisse...Wärme.
Das lassen wir mal gar nicht aufkommen hier. Wird Zeit, dass der Alte zum Punkt kommt.
„Nun, das ist schön, Deckard...aber was meint Ihr denn damit, wir könnten unsere Seelen verlieren? Das ist doch nicht möglich.“
Er runzelt die Stirn.
„Ich meinte das nicht wörtlich. Stell dir doch vor, Golem – was wäre, wenn euch irgendwann egal ist, wen ihr töten müsst, um euere Ziele zu erreichen? Wenn irgendwann die Ziele nicht einmal so hoch gesteckt sein müssen wie das aktuelle, damit ihr dafür das Morden beginnt...wenn ihr gar nicht mehr nach einer anderen Lösung sucht?
Dann wäre irgendwann euer einziges Motiv Egoismus...auch, wenn ihr das euch und anderen gegenüber vielleicht nicht zugeben würdet. Und selbst, wenn ihr bis dahin die Übel besiegt hättet – was ich bezweifle, denn ich glaube nicht, dass sie schlagbar sind, wenn man sich auf ihr Niveau hinunter begibt – wärt ihr nicht besser als sie.
Dann hätte nicht das Gute gewonnen, sondern das Böse wäre nur durch ein anderes Böses ersetzt worden. Dein Meister und du, ihr wärt nicht mehr dieselben. Ihr wärt selbst zu großen Übel geworden.“
Ich schlucke innerlich. Das wäre...nicht gut.
Geniale Erkenntnis. Das Böse ist nicht gut.
„Klingt...bedenklich.“
„Ja, Golem. Deswegen macht es mir auch so Angst, dass der General keine Schuld verspürt...das Ausschalten von Reue ist der erste Schritt auf dem Weg ins Böse. Zum Glück bist du nicht so, nicht wahr? Du fühlst diese Schuld...und deswegen kann ich ihre Spitze mildern, Golem. Nimm das mit, wenn du in deine lange Nacht gehst, und denk darüber nach: Ihr habt durch euere spontane Entscheidung, die im Nachhinein eine sehr schwere war und für die ihr nicht zu beneiden seid, dem Guten ermöglicht, direkt und physisch über das Böse zu triumphieren. Deswegen war diese Entscheidung prinzipiell richtig, egal, was ihr dafür tun musstet – weil genauso noch die Möglichkeit besteht, dass ihr durch Umsicht und Glauben an euer Ziel den Blick auf das wahre Gute nicht verliert. Deine moralische Festigkeit ist am Wanken, aber sie ist auf keinen Fall gefallen – auch nicht die des Meisters, wenngleich er in größerer Gefahr ist als du. Lasst, was in Travincal geschehen ist, eine Ausnahme für die Ewigkeit sein. Ein großes Opfer, das ihr bringen musstet, für das Wohl Aller – und denkt mit Bedauern daran, erinnert euch daran als etwas, was nie wieder vorkommen darf, haltet es als weiteren Grund fest, warum die Übel fallen müssen. Schuld ist mehr als erlaubt, sie zeigt dir, dass du noch nicht in Richtung des Bösen abdriftest – aber lass sie dich gleichzeitig nicht niederdrücken. Ich kann euere Tat nicht entschuldigen, aber ich kann dir sagen, dass ich nicht anders gehandelt hätte an euerer Stelle – mit ähnlich großem Widerwillen. Solange dieser immer vorhanden ist, ist Alles in Ordnung.“
Was für ein Haufen Unfug.
Was für...eine befreiende Sichtweise.
Ich bin mir nicht wirklich sicher, ob ich einfach so hinnehmen soll, was Deckard gerade gesagt hat...ich werde darüber nachdenken, diese Nacht habe ich Zeit. Was aber absolut sicher ist: Ich muss den Meister erreichen, koste es, was es wolle – und sei es meine eigene Seele. Er darf nicht böse werden! Er darf einfach nicht! Dafür gebe ich gerne Alles...
Danke für das Soufflieren.
„Das ist eine befreiende Sichtweise, Deckard. Ich danke Euch vielmals, das hilft mir sehr. Dann möchte ich Euch allerdings nicht weiter belästigen...Ihr habt Eueren Schlaf sicher nötig.“
„Ja, Golem. Lass dir durch den Kopf gehen, was ich für unzureichende Worte gefunden habe für dein großes Problem...es würde mich sehr freuen, wenn sie ein wenig helfen. Und dem General. Gute Nacht.“
„Schlaft gut...“
Und wie ich ihn narren konnte.
Stolz und Hochmut, zwei sehr gefährliche Gefühle...
Dieser Kommentar lässt mich nur eisiges Schweigen ernten.
Wir gehen in die Nacht hinaus. Sofort begibt der Zweite sich zum Wegpunkt, grüßt die Wache mit falscher Freundlichkeit und meldet sich für eine ganze Weile ab; danach landen wir im Spinnenwald.
So! Dann machen wir uns mal nützlich und beschaffen Material für Morgen. Der Meister braucht Leichen für Skelette, die soll er bekommen...
Meine Klingen fahren aus.
...ich werde mit dem größten Vergnügen dafür sorgen.
Hab du nur deinen Spaß – ich habe zu denken. Und ich werde dich wieder in deine Schranken weisen...irgendeine Möglichkeit finde ich. Es gibt immer eine Möglichkeit.
Himmel, hilf mir.
Wir kommen also kurz nach Deckard beim Meister an. Die beiden Menschen haben es sich bereits auf Stühlen gemütlich gemacht; wie ich sehe, ist der Meister schon wieder präsentabel, er ist in legerer Kleidung – mit einem fragwürdigen Oberteil, er hat wohl wirklich nicht mehr viele gute Hemden, und das von heute...tja – die Rüstungsgegenstände liegen leicht verteilt im Raum herum. Gut sieht keines von ihnen aus. Er selbst wirkt sehr müde, verständlich, seine Haare sind noch feucht, die Finger rosig geschrubbt, etwas, was ich auch gern getan hätte. Deckard trinkt gerade aus einer Tasse Milch, der Meister starrt in seine. Ohne aufzublicken spricht er mich an.
„Ah, schön, dass du auch da bist. Ich nehme an, wir sind zu früh und du bist pünktlich?“
„Tatsächlich bin ich vierzehn Sekunden zu spät dran.“
„...das können wir mal unter den Tisch fallen lassen. Also, Deckard, tut mir Leid, dass ich dich habe warten lassen...jetzt können wir aber in Ruhe reden, ohne dass ich Alles dreckig mache. Konkret also zum Fortschritt unserer Reise: Wir sind in Travincal angekommen, hatten...Widerstand und sind sobald wir ihn überwunden hatten per Wegpunkt hierher gekommen, also ist noch nicht viel dort geschehen. Morgen dürfte aber tatsächlich der Tag sein, an dem wir die hypnotische Kugel zerschmettern, also wäre es gut, genauer über Khalims Organe Bescheid zu wissen.“
Deckard räuspert sich.
„Welcher Art war der Widerstand denn, von dem Ihr spracht?“
Der Meister zögert.
„Nun...ist das so wichtig?“
„Ja.“
„...es waren ehemalige Zakarumiten, unterstützt durch heilende Priester. Ich hatte selten einen so harten Kampf. Die Details wären...nicht besonders erfrischend, möchtest du das wirklich hören?“
„Also...es waren Menschen, die von der Hypnotischen Kugel verwirrt worden waren, habe ich das richtig verstanden?“
„...korrekt. Und ihre Körper sind zudem grausam verformt worden. Die Priester übrigens sind sich durch die Bank im Klaren darüber, was sie tun – sie huldigen nun Mephisto.“
„Ach so? Der Glauben ihrer Kaste war stark, aber...egal. Aber...wie habt Ihr sie denn letztlich überwunden, wenn ich fragen darf?“
Die Antwort lässt auf sich warten.
„...ich habe sie alle getötet.“
„Wir haben sie alle getötet.“
Zweiter, verdammt! Bist du irre? Du kannst doch keinen Stolz in deine Stimme legen, wenn du das sagst!
Deckards Blick zuckt zu mir – mit mäßigem Entsetzen gefärbt – der Meister hat es überhaupt nicht bemerkt, weil er sofort nach dem Einwurf des Zweiten weiterredet.
„Ja, verdammt, aber ich bin letztlich doch verantwortlich für das, was du tust, Golem! Und mir gefällt überhaupt nicht, was wir getan haben, das kannst du mir glauben, Deckard. Aber...was hätte ich machen sollen? Mephisto hat uns eine Falle gestellt, wir waren in kürzester Zeit umzingelt, die Priester haben die Skelette zerschossen, wir mussten um unser Leben kämpfen. Es war grauenvoll, Schläge noch und nöcher, ich habe noch nie so oft so viele Schmerzen überall erdulden müssen. Irgendwie haben wir gewonnen, es war dreckig, es war hässlich, es war falsch, aber es war die einzige Möglichkeit...vielleicht komme ich dafür in die Hölle, aber sag mir, Deckard, wie hätte ich handeln können? Das Schicksal der ganzen Welt steht auf dem Spiel, ich darf nicht aufgeben, wenn die Gegner beschließen, die Regeln zu brechen...“
Der Horadrim-Weise starrt kurz auf seine gefalteten Hände, dann sieht er den Meister mit bedauerndem Ausdruck an.
„Mein Freund, Ihr habt das Grundproblem jedes Krieges erkannt, die zentrale Frage: Wie groß muss der Zweck sein, damit er welche Mittel heiligt? Zu oft beantworten die verfeindeten Parteien diese nur mit 'für unseren Zweck ist jedes Mittel Recht', was verwerflich ist und in den Abgrund führt, für alle Beteiligten. Sich die Frage überhaupt zu stellen zeichnet Euch schon einmal grundsätzlich aus, problematisch ist die Sache allerdings, weil Ihr sie Euch erst im Nachhinein stellen könnt – das soll kein Vorwurf sein, Ihr hattet in diesem Moment offenbar nur die Wahl zu töten oder zu sterben, und Ihr wärt ein sehr seltsamer Mensch, wenn ihr nicht das Leben gewählt hättet. Dennoch ist es berechtigt, sich schuldig zu fühlen, denn wäre es nicht so, wärt Ihr ebenfalls ein sehr seltsamer Mensch – im überaus negativen Sinne.
Es ist nun nicht an mir, Euch Absolution zu erteilen für das, was Ihr getan habt, aber ich möchte Euch ein paar Denkanstöße liefern. Dafür müssen wir auf die Eingangsfrage zurückkommen...“
Der Meister hebt die Hand.
„Deckard, Schluss. Ich muss dich hier unterbrechen, weil ich ein ganz großes Problem mit dem habe, was du gerade gesagt hast.“
„...mein Freund?“
„Du meinst, ich wäre ein sehr...seltsamer Mensch, wenn ich mich nicht schuldig fühlen würde? Nun...wie soll ich es sagen? Seien wir provokatisch: Ich fühle mich nicht schuldig.“
Was?
...so schnell stellt sich Vernunft ein?
Aber...frag ihn, was das soll, was meint er damit!
Schon hebt der Meister eine Hand, um Deckards Antwort erneut zu unterbinden.
„Pass auf, ich weiß, wie seltsam das klingt. Und es schmerzt mich zutiefst, das sagen zu müssen, aber wir müssen ehrlich sein. Mein Hirn schreit mich an, dass es falsch war, was ich getan habe, dass ich alle diese Unschuldigen getötet habe, will mich geißeln dafür, will, dass ich mich vor Scham und Schuld auf dem Boden winde...aber mein Herz weigert sich, das zu tun. Wenn ich daran denke, was in Travincal geschehen ist, spüre ich keine Schuld, nur den äußerst unangenehme Ekel vor einer wirklich schlimmen Erinnerung...wegen der Schmerzen, wegen der Hilflosigkeit, wegen der Verzweiflung; nicht wegen den Leben, die ich genommen habe. Ich spüre Zorn auf Mephisto, dass er das mit diesen Menschen getan hat, sie gegen uns geschickt hat, um uns moralisch fertig zu machen, ja, ich hasse ihn dafür – aber ich fühle mich auf beängstigende Weise eben nicht moralisch vernichtet. Weil der andere Teil meines Hirn mir sehr überzeugend einredet, dass ich eben keine Wahl hatte und mich nicht fertig machen sollte wegen etwas, das überhaupt nicht in meiner Macht stand. Ja, ich hätte aufgeben können, mich töten lassen können statt Leben zu nehmen, aber das wäre dumm gewesen, was du mir sicher gleich gesagt hättest, also was solls? Es wäre genauso dumm, sich jetzt groß den Kopf deswegen zu zerbrechen, ich muss weiter machen, da habe ich genauso keine Wahl.
Verstehst du mich?“
Seine Frage ist fast flehend. Deckard lehnt sich zurück und blickt ihn leer an.
„Das...überrascht mich, General. Ihr habt auf mich nicht den Eindruck eines Menschen gemacht, der seine Vernunft so sehr über seine Gefühle stellen kann. Euer Fazit ist richtig, zweifelsohne, ich wäre auf kein anderes gekommen. Aber der Weg dahin...er macht mir Angst, mein Freund. Was da draußen geschieht...Ihr habt es richtig ausgedrückt, es steht eigentlich nicht in Euerer Macht...und es verändert Euch. In einer Weise, die mir überhaupt nicht gefällt.“
„Mir auch nicht, Deckard. Ich habe einen unglaublichen Horror davor, ein kalter Bastard zu werden, den es überhaupt nicht mehr interessiert, was er tut, solange er seine Mission erfüllen kann...aber ich kann Nichts gegen meine Gefühle tun. Beziehungsweise deren Abwesenheit. Jetzt den verzweifelten Sünder zu geben, wäre heuchlerisch. Es macht mir Nichts aus, dass ich ein Massaker veranstaltet habe, obwohl es das sollte. Tut mir Leid...“
Meister...was geschieht mit dir...
Wie gesagt, er wird vernünftig.
Das ist...er wird zu einem Monster, wenn das so weitergeht!
Er wird...wie mein Meister!
Nein. Nein! Oh Himmel, das...ich muss...
Schnell schlage ich meine geistigen Hände über meinen ebensolchen Mund, aber der Gedanke ist gedacht, und es ist klar, was meine Intention ist.
Du wirst ihn nicht warnen – du kannst ihn nicht warnen. Ich bin jetzt hier, um ihn auf seinen Weg zu leiten. Auf dem richtigen Weg. Lass es einfach geschehen, es wäre früher oder später sowieso geschehen. Auch dir wird es noch geschehen...oder du wirst komplett wahnsinnig. Dass diese Gefahr gleich um die Ecke lauert, sollte dir in der letzten Stunde klar geworden sein.
Ich...das ist so falsch, ich möchte ihn schütteln, ihn ohrfeigen, ihm Verstand einprügeln! Er kann doch nicht...aber wenn es ihm so geht, wie er das schildert...seine Gefühle sind wirklich nicht durch ihn kontrollierbar. So wenig wie ich meine kontrollieren kann...kann ich ihn wirklich verurteilen? Es ist sicher auch schlimm für ihn. Und vielleicht hat der Zweite Recht, und der Meister muss kalt und abgestumpft werden, um letztlich obsiegen zu können.
Natürlich. Denn wenn er erst einmal verstanden hat, dass die Vernunft immer über das Gefühl siegen wird, dann kann er mit Gefühlen auch tun, was du gerade so vorschnell als unmöglich abgetan hast: Sie kontrollieren.
Da durchzuckt es mich, aber diesen Gedanken behalte ich sehr gut für mich. Der Zweite hat hier nicht Recht. Er hat seine Gefühle gut unter Kontrolle, das muss man ihm lassen – indem er sie völlig abtötet. Die meiste Zeit fühlt er überhaupt Nichts. Eine Existenz, die Niemanden zu wünschen ist – was wäre ich denn ohne Gefühle? Ein Nichts, ein Niemand, eine verhasste Maschine! So wie der Zweite angeblich gerne wäre...aber er hat, wie ich, eine Seele. Denn obwohl er seine Gefühle gut unter Kontrolle hat, ist diese Kontrolle bei Weitem nicht perfekt. Immer wieder brechen seine Emotionen durch seine abweisende, glatte Schale der Vernunft, des Pragmatismus'...und das ist jedes Mal eine komplette Katastrophe. Gefühle werden ungern eingesperrt, in etwa so wie ich.
Nein. Er hat so Unrecht, wie es nur gehen kann. Der Meister darf seine Gefühle nicht verlieren, und ich werde garantiert nicht diesen Weg beschreiten – ich werde kämpfen dafür, dass er wieder Schuld spüren kann, Schmerz und Bedauern – und das Gegenteil von all dem ebenfalls.
Deckard reagiert nun.
„Ich kann Euch keine Gefühle einimpfen, die Ihr nicht habt. Es ist sehr gut, dass Ihr hier so ehrlich seid...vielleicht habt Ihr auch einfach noch nicht genug Distanz zu dem Geschehenen? An Euerer Stelle würde ich eine Nacht darüber schlafen, vielleicht zwei. Dass es Euch sehr beschäftigt, dass Ihr Probleme habt, echte Schuld zu fühlen, ist auch etwas, was ich als sehr positiv sehen würde...ich weiß es nicht. Ihr scheint vor einem Scheideweg zu stehen. Mehr als hoffen, dass Ihr Euch für die richtige Richtung entscheidet, kann ich nicht, weil ich so wenig Einfluss habe wie Ihr auf das, was Euch noch erwartet. Einfach wird es auf keinen Fall, aber ich bete darum, dass es Euch nicht vernichtet.“
„Im Zweifelsfall habe ich ja noch einen guten Berater, Deckard...“
Er weist auf mich. Ein eisiger Klumpen formt sich in meiner Brust.
„Auf Golem kann ich mich immer verlassen, wenn ich mal gar nicht mehr weiß, wohin mit mir.“
Mit Zähnen und Klauen versuche ich zu verhindern, dass der Zweite huldvoll nickt, aber ich bin zahn- und klauenlos.
„Wir haben viel zu reden, General. Mir geht es nämlich ähnlich wie dir. Aber vielleicht machen wir das unter zwei Augen aus?“
„Tun wir. Also, Deckard...lenken wir den Blick auf Dinge, die wichtiger sind als mein Seelenheil. Travincal. Die Kugel. Khalim.“
Der Weise seufzt.
„Ja. Also, Ihr seid sehr schnell dort angekommen, was mir gute Hoffnung macht – auch, dass Mephisto offenbar Alles daran setzt, Euch aufzuhalten, warum sollte er das tun, wenn die Übel zu dritt auf Euch warten? Das heißt, die Kugel steht im Weg, denn er wird sie benutzen, um Euch zu verwirren. Ich sehe keine Chance, diesen Einfluss zu brechen ohne sie zu zerstören, und das geht nur durch Khalims reinen Willen. Ein wenig habe ich mich den schon beschafften Organen bereits gewidmet, ihre Macht ist groß – das Auge wird durch die Illusion sehen, das Gehirn sie verstehen. Aber ich weiß nicht, ob es genug ist. Ohne die Macht der Gefühle können wir in diesem Krieg nicht gewinnen, und das heißt, wir brauchen das Herz...nur es wird den Mut haben, Mephistos Macht zu brechen.“
„Das...ist jetzt nicht so gut, immerhin sind wir schon in Travincal. Und wenn es irgendwo im Dschungel versteckt ist, sind wir prinzipiell verloren, ich könnte Jahre damit verbringen, das Gestrüpp zu durchsuchen.“
„Es ist nicht so lange her, dass Ihr Kurast erreichtet – wie gründlich habt ihr das abgesucht?“
„Überhaupt nicht, ich kann nicht in jedes Haus sehen, das ist völlig ausgeschlossen!“
Der alte Mann holt tief Luft.
„Ich hatte gehofft, der Himmel würde uns hierbei helfen...durch einen scheinbaren Zufall...aber wenn es nicht sein soll...ich weiß nicht, was wir da tun können. Vielleicht genügen zwei Organe, es war eigentlich auch schon Glück genug, überhaupt an diese zu kommen. Möglicherweise möchte uns das Licht auch sagen, dass wir wirklich keine Gefühle brauchen können? Aber ich gerate ins Plappern. Mein Rat für den morgigen Tag ist: Dringt in den Tempel ein. Der Hohe Rat wird dort warten. Wenn die Priester die Seite gewechselt haben, ohne durch ständige Illusionen dazu gezwungen werden zu müssen, werden auch sie dem Einfluss der Kugel erlegen sein. Was genau mit ihnen geschehen ist, kann ich nicht vorhersagen...dass ihr Anführer Sankekur zu Mephistos Avatar wurde, nachdem er Khalim tötete, wisst Ihr ja. Es ist gut möglich, dass sie in irgendeiner Art und Weise dabei helfen können, die Macht der Kugel zu brechen...und wenn Ihr die Informationen aus ihren kalten Leichen lesen müsst, da hilft Alles Nichts. Wenn sie schon freiwillig Mephisto anbeten, sind sie ohnehin verloren.“
„Denkst du denn, sie werden mir helfen, wenn ich ihnen gut zurede?“
Schweigen erfüllt den Raum.
„...das dachte ich mir. Wir dürfen also wieder die Klingen wetzen...“
„Ich wünscht, es wäre anders...“
„Spar dir das, Deckard. Mach du dir keinen Kopf wegen etwas, das ich tun muss, ich hab selbst genug daran zu kauen. Was ich jetzt tun werde, ist schlafen. Vielleicht ist die Leere in mir nur der Tatsache geschuldet, dass ich kurz davor bin, einfach ohnmächtig umzufallen? Ich wünsche dir eine gute Nacht...bis Morgen, Golem. Du wirst sicher etwas finden, mit dem du dich beschäftigen kannst...adieu.“
„Ich wollte noch mit Euch über...nein, das kann bis Morgen auch warten. Dann aber sofort...bitte verlasst die Stadt nicht, ohne noch mit mir zu sprechen. Nun schlaft gut...und ungewollte Träume mögen Euch verschonen.“
Der Meister geht wortlos zu Bett. Deckard steht auf und verlässt leise den Raum. Der Zweite wartet kurz, offenbar unentschlossen. Sehr gut – er soll hier bleiben! Deckards Angebot zu einem Gespräch ausschlagen! Der Weise muss dann merken, dass etwas nicht stimmt mit mir...
Tja, dann wollen wir mal sehen, wie gut diese goldene Zunge von mir noch funktioniert, hm? Wäre doch gelacht, wenn ich den alten Zausel nicht einlullen könnte.
Gah, heute ist der Himmel wirklich nicht auf meiner Seite! Ich versuche es trotzdem...
Das ist Deckard Cain, den du als „alten Zausel“ bezeichnest, Zweiter. Denkst du wirklich, du kannst den letzten überlebenden Horadrim in irgendeiner Hinsicht täuschen? Er kennt alle Tricks!
Ja, aber er erwartet nicht, dass ich diese kenne, oder? Wenn ich nicht auf sein dämliches Redeangebot eingehe, weiß er sicher, dass etwas nicht stimmt. Und das weißt du auch, nicht wahr?
Ja, verdammt. Ihm gegenüber schweige ich nur, was vielsagend genug ist...
Der Meister schläft schon, als wir die Hütte verlassen. Deckard wartet tatsächlich draußen auf uns.
„Möchtest du mein Angebot annehmen, Golem?“
„Sehr gerne. Ich bin mir sicher, ich werde aus unserem Gespräch wertvolle Erkenntnisse gewinnen, die ich auch dem Meister vermitteln kann, wenn wir uns später über das Gleiche unterhalten.“
„Möchtest du denn mit mir auch über das reden, was in Travincal passiert ist?“
Wir gehen langsam in Richtung des Leuchtturmplatzes. Der Regen hat aufgehört.
„In der Tat, weil das ja auch die Quelle meiner...Verwirrung ist. Ich habe mich gefragt, ob es noch richtig ist, was wir da tun...dass wir diese unschuldigen Menschen töten...für eine Weile dachte ich, ich müsste aufgeben, verzweifeln wegen diesem unglaublichen Dilemma, in das wir gezwungen wurden. Ich...ich habe so viele getötet...ständig schwebt mir das Gesicht von einem Gläubigen vor Augen, schrecklich entstellt, aber eindeutig menschlich, mit Augen voll Angst, als ich das Leben aus ihm sauge, er war nicht älter als fünfundzwanzig vielleicht...“
Mir wird schlecht, als ich meine eigenen Worte vom Zweiten ausgesprochen höre, der kein einziges von ihnen ernst nimmt, aber durchaus so klingt, als würde er. Er ist ein extrem guter Schauspieler...meine Mut sinkt, dass Deckard sich doch nicht narren lässt. Aber noch hat das Gespräch kaum angefangen!
Der Weise nickt.
„Das heißt, du fühlst, was dein Meister vermissen lässt...“
„Ja.“
„Dann kehren wir doch zurück zu der Frage, die so zentral ist für diese Situation: Wie groß muss der Zweck sein, damit er welche Mittel heiligt? Du wirst erkennen, dass es weder nur auf einen Zweck ankommt, der groß genug ist, noch auf eine bestimmte Wahl der Mittel, denn kein Zweck ist groß genug, um wirklich jedes Mittel zu rechtfertigen, und gleichsam sind manche Methoden durch kein noch so hehres Ziel zu entschuldigen. Wir müssen also beide Seiten der Frage gleichzeitig beantworten, und das macht sie ja so schwierig! Beginnen wir mit dem Zweck. Kannst du dir einen höheren Zweck vorstellen als die Rettung der Welt?“
Natürlich nicht!
„Kann ich. Den Schutz der Seelen ihrer Bewohner. Denn selbst, wenn alle Menschen sterben, können sie immer noch sicher in den Himmel gelangen. Sollte die Hölle allerdings ihren absoluten Sieg davontragen, wäre wirklich Alles verloren.“
...oh.
Scheint, als hättest du immer noch nicht verstanden, wie ernst diese Sache hier ist, hm?
Deckard nickt. Mittlerweile sitzen wir bei ihm zuhause.
„Eine gute Antwort, Golem. Eine sehr gute Antwort. Sie zeigt uns, dass die Obergrenze der Wichtigkeit deines Meisters Mission immer noch nicht erreicht ist – denn im ewigen Kampf des Guten gegen das Böse führen wir nur ein Scharmützel, keine Schlacht und schon gar keinen Krieg. Gleichwohl können auch kleinste Gefechte den Ausgang des ganzen Konfliktes bestimmen. Deswegen dürfen wir nie aus den Augen verlieren, dass wir tatsächlich auf der Seite des Guten sind, kompromisslos; das ist ein wirklich ultimatives Gebot. Aus diesen beiden Gründen sehen wir, dass die Wahl Eurer Mittel wirklich extrem wichtig ist; gleichzeitig ist klar, dass das, was ihr tut, auf jeden Fall extrem wichtig ist.“
„Ja, aber ist es wirklich wichtig genug, um das Töten von Unschuldigen zu erlauben?“
„Genau diese Frage ist es, die wir mit diesen Voraussetzungen beantworten müssen! Und wie du dir denken kannst, ist sie nicht allgemein beantwortbar, nur in diesem speziellen Fall. Und vielleicht nicht einmal besonders befriedigend. Also, welches Mittel habt ihr gewählt? Es war Mord. Ja, es war ein Kampf um Leben und Tod, aber ihr habt absichtlich Leben genommen, da ist die Definition klar. Dies wäre ein schlimmes Verbrechen...wenn ihr tatsächlich eine Wahl gehabt hättet. Hattet ihr aber nicht, weil Mephisto euch diese genommen hat. Tötet oder sterbt, das war seine Absicht, und seiner grausamen Falle musstet ihr euch beugen.“
So ist es, und das Verbrechen ist begangen, die Schuld lässt sich nicht abstreiten! Warum schränkt er da ein?
Der Zweite findet andere Worte.
„Moment, wir hätten ja eine Wahl gehabt. Nämlich, wie Ihr selbst sagt, zwischen töten...und sterben.“
„Und das ist der springende Punkt!“
Er hebt seinen Zeigefinger.
„Habt ihr in diesem Moment die letztlich richtige Wahl getroffen? Es war, wie schon erwähnt, eine logische Wahl – Selbsterhaltung ist völlig natürlich – aber wir sind deswegen Menschen, weil wir uns über den reinen Instinkt hinwegsetzen können. Hättet ihr Mephistos Falle ins Leere laufen können, indem ihr einfach gestorben wärt?“
„Vielleicht...“
„Natürlich nicht! Weil das eine Situation war, in der ihr nur verlieren konntet! Seine Falle hätte so oder so Erfolg gehabt, also kommt es nur darauf an, was die Folgen für euch sind, nicht für ihn! Im einen Fall wärt ihr tot gewesen, die Übel würden sich in Bälde völlig ungehindert vereinen, und weil nur ihr von Anfang an direkt am Geschehen wart, käme die Schreckensnachricht zu spät für Andere, um rechtzeitig reagieren zu können. Dämonenhorden würden Sanktuario überfluten und die Menschheit vernichten.
Im anderen Fall – der Fall, in dem wir uns jetzt befinden – besteht eine gute Chance, dass dein Meister mit deiner Hilfe genau diese Entwicklung aufhalten kann. Ihr könnt den Plan der Übel vereiteln, sie zurück in die Hölle senden und Sanktuario retten. Gleichzeitig birgt dieser Fall aber auch die weit größere Gefahr. Zumindest für euch persönlich. Denn wenn ihr zwar den physischen Kampf gewinnt und überlebt, aber euere Seelen verliert, ist das weit schlimmer.“
Das...
Frag ihn.
Aber das ist doch...er kann nicht...
Du weißt, dass du ihn fragen wirst. Weil du dir sonst nie sicher sein kannst.
„...heißt das, Ihr glaubt, dass ich eine Seele besitze?“
Er atmet tief ein.
„Sagen wir es so, Golem...allein die Tatsache, dass du diese Frage stellst, macht es mehr als möglich. Ob dem so ist, weiß ich nicht. Ich kann es nicht wissen, weil die Natur der Seele das größte Mysterium überhaupt ist. Aber ich kann dir eines sagen: Ich kenne dich nun schon eine Weile, und hättest du nicht diesen Metallkörper, müsste ich sagen, du wärst einer der wertvollsten Menschen, die ich je kennen gelernt habe.“
Das ist...
Ein klares „Jein“. Toll.
Aber ich...
Für einen Moment ersetzt ein anderes Gefühl die drückende Schuld in mir. Eine gewisse...Wärme.
Das lassen wir mal gar nicht aufkommen hier. Wird Zeit, dass der Alte zum Punkt kommt.
„Nun, das ist schön, Deckard...aber was meint Ihr denn damit, wir könnten unsere Seelen verlieren? Das ist doch nicht möglich.“
Er runzelt die Stirn.
„Ich meinte das nicht wörtlich. Stell dir doch vor, Golem – was wäre, wenn euch irgendwann egal ist, wen ihr töten müsst, um euere Ziele zu erreichen? Wenn irgendwann die Ziele nicht einmal so hoch gesteckt sein müssen wie das aktuelle, damit ihr dafür das Morden beginnt...wenn ihr gar nicht mehr nach einer anderen Lösung sucht?
Dann wäre irgendwann euer einziges Motiv Egoismus...auch, wenn ihr das euch und anderen gegenüber vielleicht nicht zugeben würdet. Und selbst, wenn ihr bis dahin die Übel besiegt hättet – was ich bezweifle, denn ich glaube nicht, dass sie schlagbar sind, wenn man sich auf ihr Niveau hinunter begibt – wärt ihr nicht besser als sie.
Dann hätte nicht das Gute gewonnen, sondern das Böse wäre nur durch ein anderes Böses ersetzt worden. Dein Meister und du, ihr wärt nicht mehr dieselben. Ihr wärt selbst zu großen Übel geworden.“
Ich schlucke innerlich. Das wäre...nicht gut.
Geniale Erkenntnis. Das Böse ist nicht gut.
„Klingt...bedenklich.“
„Ja, Golem. Deswegen macht es mir auch so Angst, dass der General keine Schuld verspürt...das Ausschalten von Reue ist der erste Schritt auf dem Weg ins Böse. Zum Glück bist du nicht so, nicht wahr? Du fühlst diese Schuld...und deswegen kann ich ihre Spitze mildern, Golem. Nimm das mit, wenn du in deine lange Nacht gehst, und denk darüber nach: Ihr habt durch euere spontane Entscheidung, die im Nachhinein eine sehr schwere war und für die ihr nicht zu beneiden seid, dem Guten ermöglicht, direkt und physisch über das Böse zu triumphieren. Deswegen war diese Entscheidung prinzipiell richtig, egal, was ihr dafür tun musstet – weil genauso noch die Möglichkeit besteht, dass ihr durch Umsicht und Glauben an euer Ziel den Blick auf das wahre Gute nicht verliert. Deine moralische Festigkeit ist am Wanken, aber sie ist auf keinen Fall gefallen – auch nicht die des Meisters, wenngleich er in größerer Gefahr ist als du. Lasst, was in Travincal geschehen ist, eine Ausnahme für die Ewigkeit sein. Ein großes Opfer, das ihr bringen musstet, für das Wohl Aller – und denkt mit Bedauern daran, erinnert euch daran als etwas, was nie wieder vorkommen darf, haltet es als weiteren Grund fest, warum die Übel fallen müssen. Schuld ist mehr als erlaubt, sie zeigt dir, dass du noch nicht in Richtung des Bösen abdriftest – aber lass sie dich gleichzeitig nicht niederdrücken. Ich kann euere Tat nicht entschuldigen, aber ich kann dir sagen, dass ich nicht anders gehandelt hätte an euerer Stelle – mit ähnlich großem Widerwillen. Solange dieser immer vorhanden ist, ist Alles in Ordnung.“
Was für ein Haufen Unfug.
Was für...eine befreiende Sichtweise.
Ich bin mir nicht wirklich sicher, ob ich einfach so hinnehmen soll, was Deckard gerade gesagt hat...ich werde darüber nachdenken, diese Nacht habe ich Zeit. Was aber absolut sicher ist: Ich muss den Meister erreichen, koste es, was es wolle – und sei es meine eigene Seele. Er darf nicht böse werden! Er darf einfach nicht! Dafür gebe ich gerne Alles...
Danke für das Soufflieren.
„Das ist eine befreiende Sichtweise, Deckard. Ich danke Euch vielmals, das hilft mir sehr. Dann möchte ich Euch allerdings nicht weiter belästigen...Ihr habt Eueren Schlaf sicher nötig.“
„Ja, Golem. Lass dir durch den Kopf gehen, was ich für unzureichende Worte gefunden habe für dein großes Problem...es würde mich sehr freuen, wenn sie ein wenig helfen. Und dem General. Gute Nacht.“
„Schlaft gut...“
Und wie ich ihn narren konnte.
Stolz und Hochmut, zwei sehr gefährliche Gefühle...
Dieser Kommentar lässt mich nur eisiges Schweigen ernten.
Wir gehen in die Nacht hinaus. Sofort begibt der Zweite sich zum Wegpunkt, grüßt die Wache mit falscher Freundlichkeit und meldet sich für eine ganze Weile ab; danach landen wir im Spinnenwald.
So! Dann machen wir uns mal nützlich und beschaffen Material für Morgen. Der Meister braucht Leichen für Skelette, die soll er bekommen...
Meine Klingen fahren aus.
...ich werde mit dem größten Vergnügen dafür sorgen.
Hab du nur deinen Spaß – ich habe zu denken. Und ich werde dich wieder in deine Schranken weisen...irgendeine Möglichkeit finde ich. Es gibt immer eine Möglichkeit.
Himmel, hilf mir.