Ach, Esme hat es mal wieder auf den Punkt gebracht. Diese fremdartige Welt. Ich muss aufhören, Stackpole zu lesen.
Und das Ende des Kapitels ist mir wohl auch nicht gelungen. Jyroshis
Enttäuschung hätte eher
Verzweiflung sein sollen.
Maro ist am Ziel angekommen - es ist nur nicht das, was er erwartet hat. Und wieso? Dazu mehr im übernächsten Kapitel...
Die Ernährungsfrage beim komatösen Maro habe ich jetzt nachträglich gelöst. Da hätte ich mir schon vorher Gedanken machen sollen.
Aradeia schrieb:
„Trink es langsam. Der Schlaf wird über dich kommen, wenn du den Krug ganz geleert hast. Meine Töchter werden dir mehr davon einflößen, wenn du erst schläfst. Der Trunk erhält deinen Körper, und deinem Geist erhält er seine Freiheit."
Das aktuelle Kapitel ist jetzt etwas rasanter, weil ich langsam die Fäden der Handlungen zusammenziehen muss...
Willkommen beim Göttertraum, weaknezz.
XV Prinzessin Hundertwaffe
„Hier hast du dich versteckt.“
Blutrabe bückte sich zu dem unter der Brücke kauernden Dämon hinunter. Eine Binde aus schwarzem Stoff bedeckte das Auge des Ziegenbockkopfs. Wie bejammernswert der großartige Baphomet aussah, hier, in seiner menschlichen Gestalt.
„Ich verstecke mich nicht. Dazu müsste es jemanden geben, vor dem ich mich verstecken will, und den gibt es nicht!“
Der Dämon schickte ein tierisches Meckern seinen Worten nach, und Blutrabe musste sich zusammenreißen, um nicht zu lachen. Der Krieger, den sie turmhoch und unbesiegbar kennengelernt hatte, überragte sie jetzt kaum noch um einen Kopf.
„Vielleicht versteckst du dich vor mir?“
Baphomet presste seine dicht behaarten Hände aneinander. Sein Auge drehte sich hoch zu den Klostermauern, hinter denen die Sonne langsam verschwand.
„Vor dir, kleines Menschenwesen?“
„Wenn ich mich auf den Baumstumpf dort stelle, bin ich so groß, dass ich dir die Ohren abbeißen könnte.“
Blutrabe deutete in den inneren Klostergarten hinein.
„Wenn ich will, dann ist dieser Baumstumpf so groß wie einer meiner Hufe!“
Sie lächelte.
„Und ich dachte schon, sie hätte dich für alle Zeiten besiegt.“
„Dieses Mädchen mit dem Messer?“ Mit einer Pranke tastete er nach seiner Augenbinde. „Hat sie nicht auch dich besiegt?“
„Nein!
Sie nicht. Sie lag auf den Knien vor mir, dann kam ihr Gefährte.“
Ein Schauder lief ihr über die Haut, als ob ihr toter Körper noch fühlen konnte.
Gefährte...
Baphomet erhob sich vom Ufer des Bachs und trat zu ihr auf die Wiese. An seiner Brust war das Fell durchbrochen von geschwärzten Hautstellen.
„Der, den du uns hier eingeschleppt hast? Deine Strategien sind nicht die besten, Blutrabe.“
Sie seufzte gespielt.
„Leider. Deshalb habe ich dich aufgesucht.“
„Ah!“ Seine verschränkten Arme zitterten unter einem Lachen. „Du hast den Kommandanten der Schwefelstein-Legion vor dir.“
„Wo sind deine Legionen?“
Er schnaufte und zertrat unter seinen Füßen eine Tulpe.
„Es ist lange her, dass ich den Schwefelsteinern befohlen habe. Aber meinen Kopf habe ich noch, und darin ist alles, was du an Strategie brauchst. Sag mir nur, weshalb ich dir helfen sollte... In Karmhang hast du den Ruhm mit dir genommen, und mir nur die Schande übriggelassen.“
Seine Nüstern blähten sich, und er knurrte.
Um so besser. Es lief so gut, wie es konnte.
„Ich wäre doch nicht so naiv zu glauben, dass sich ein Dämon unter mich stellen würde.“
„Hm. Ihr Menschen habt dennoch oft törichte Träume.“
„Wenn du um deine Schande klagst, dann sollst du jetzt die Gelegenheit bekommen, sie wieder wettzumachen.“
„Ach ja.“ Er knuffte lässig gegen einen Brückenpfeiler. Der Stein knirschte, und der Abdruck der Fingerknöchel Baphomets zeichnete sich darin ab. „Ich weiß, dass deine alten Schwestern gegen die Tore des Klosters anrennen werden. Früher oder später. Aber ich kann nicht... in die Gigantengestalt zurück. Nicht, bis die Wunden wieder verheilt sind. Und mit
dieser, der Gestalt eines Menschen... Was meinst du, vier oder fünf kann ich vielleicht mit mir nehmen, bevor sie mich niederwerfen. Aber damit habe ich nichts wettgemacht.“
Jilis, oh Jilis... Was hast du diesem König unter den Dämonen angetan?
„Dann ist es nur gut, dass ich nicht von dieser Schlacht spreche, die kommen mag oder auch nicht. Für einen Giganten reicht deine Gestaltwandelskunst nicht mehr... Aber wie ist es damit, die Gestalt eines Menschen nachzuahmen?“
Baphomet grunzte, dann verschoben sich seine Gesichtszüge. Die Hörner sanken in den Schädel zurück, das dichte Haar an Armen, Beinen, am ganzen Körper, verschwand, als würde es fortgeweht. Die Muskeln der Arme wurden flacher, und die Brüste wölbten sich nach vorn. Baphomet wischte sich mit einer Hand über das Gesicht, und seine grässliche Tierfratze verschwand.
Blutrabe biss sich auf die Lippen, in denen das Blut längst getrocknet war. Vor ihr stand Jilis. Ein perfektes, nacktes Ebenbild ihrer Freundin. Selbst Baphomets Augenbinde war gewichen. Jilis machte einen Schritt auf Blutrabe zu.
Sofort machte sie einen Schritt zurück.
Wahnsinn.
„Fürchtest du mich, Blutrabe?“
„Nein...“ Die Bilder in ihrem Kopf rasten ineinander. Jilis bei dem Schachspiel ihr gegenüber, Jilis bei den morgendlichen Messen neben ihr, Jilis in den Schlafsälen- „Nein, ich fürchte deinen Nekromanten.“
Ein schallendes Lachen brach ihre Starre, und sie hörte sich selbst die Worte noch einmal sagen. Die Welt um sie zitterte. Sie wendete sich ab, aber es durchzog sie noch immer wie ein eben durchstandener Rausch.
„Das ist nicht übel gewesen, oder?“
Es war wieder Baphomets dunkle, keckernde Stimme, die sprach. Nicht mehr die von Jilis.
„Ja. Ja, das war nicht übel.“
„Was also soll mir das nützen? Ich stifte Unheil in ihren Reihen in der Gestalt einer der ihren. Letzten Endes erkennen sie den Schwindel und töten mich. Darin liegt noch weniger Ruhm als im offenen Kampf.“
„Wieviel Ruhm liegt dann darin, dich an deiner Peinigerin zu rächen?“
Er schnaubte. „Wenn ich die Gelegenheit bekommen würde...“
„Die bekommst du vielleicht.“ Der Köder baumelte dicht vor ihm. „Vergiss nicht, wir haben ihren Gefährten hier bei uns. Ich kenne sie. Sie wird nicht darauf warten, dass sich ihr ganzes Lager dazu entschließt, ihn zu retten.“
„Also gut. Nehmen wir an, sie kommt hier her. Sie ist noch so mächtig wie in Karmhang, und ich...“
„Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Deine Gestaltwandlung. Wenn mein Plan aufgeht, wirst du nicht kämpfen müssen. Bring Jilis einfach zu mir. Die Gestalt des Nekromanten annehmen, das könntest du doch?“
Wieder verschoben sich als Antwort die Gesichtszüge des Gehörnten. Eine Mähne weißen Haars strömte aus seinem Nacken, und seine Glieder wurden schmaler und sehniger.
Ein nackter Nekromant deutete vor ihr eine Verbeugung an.
Was für ein Glück, dass gerade dieser Gestaltwandler aus der Hölle nach oben gespült worden war. Jilis mochte noch so stark und unbezwingbar sein – ihrem Gefährten gegenüber würde sie so schwach sein wie jedes Mädchen.
„Dann sprich jetzt von deinem Plan“, raunte die Stimme des Nekromanten.
„Sehr wohl“, sagte Blutrabe und blickte ihm zwischen die Beine. „Als erstes solltest du dir Kleider besorgen. Wir Menschen tragen für gewöhnlich zumindest eine Hose.“
*
Tabitha stand Wache an den Westzinnen. Ein einsames Geschäft. In der Wachstube standen drei zusammen, aber eine musste immer Ausschau halten und die Winkel überblicken, die von der Wachstube aus nicht einzusehen waren.
Sie drehte die Sanduhr in den Fingern. Konnte der Sand nicht etwas schneller rinnen?
Klirrend zerbrach das Glas unter ihren Nägeln, und der Sand ergoss sich auf ihre Stiefel. Nur die Schuld dieser nekromantischen Kraft, die sie jetzt durchfloss. Auch Susa hatte vor zwei Tagen bei den Übungen ein Schwert zerbrochen. Ein Schwert aus
Eisen. So viel Macht war schwer zu kontrollieren.
Sie blickte in die Nacht hinaus. Zwischen den Büschen der Aue vor dem Tor huschte ein Schatten durch die Finsternis. ...oder es war nur ihr Wunsch, dass zumindest auf ihrer Wache etwas Aufregendes geschehen würde, von dem sie erzählen konnte. Sie lachte.
Ohnehin war es Zeit für die Wachablösung. Oder war der Sand etwa
nicht vollständig nach unten gerieselt? Sie schob die Splitter mit der Schuhspitze vom Wehrgang und steuerte das Wachhaus an.
Im Schein einer Pechfackel standen die anderen Wachen um einen Tisch und scherzten.
„... mit einer einzigen Hand.
Knack, war der Bogen durch.“
Alle lachten, und Tabitha betrat den Raum. „Ist ja zum Glück nicht so, dass wir die Bögen noch bräuchten.“
Elle, die die Geschichte erzählt hatte, nickte ihr zu.
„Eben. Seit mich dieser Junge berührt hat, habe ich das Gefühl, dass ich die Pfeile jetzt sogar besser mit bloßer Hand werfen könnte.“
„Was machst du eigentlich hier?“, fragte Yana vom Tisch aus. „Hast du nicht Wachdienst?“
„Das haben wir alle“, sagte Tabitha. „Aber raus in die Nacht muss jetzt eine andere, mein Sand ist durch.“
„Den musst du nach unten
geprügelt haben.“ Yana zog ihre eigene Uhr aus der Tasche.
Nun ja, so unrecht hatte sie nicht...
„Warte noch. Ich glaube, ich habe da draußen etwas... gesehen.“
Yana zog sich ihre Kapuze über und war schon auf der Treppe.
„Herrlich, etwas zum Gucken. Nachdem sie den hübschen Jungen jetzt in die Kathedrale geschafft haben... haben wir nur noch den haarigen Hintern von diesem Ziegenmann. Da geht irgendwann der Reiz verloren, wenn er immer nackt über den Hof stolziert.“
Sie war die Treppe längst hinunter, als Imia den Kopf hob.
„Was war das, das du gesehen hast, Tabitha?“
„Es war nur... vielleicht nur ein Schatten von einem Tier“, sagte sie.
Elle winkte ab.
„Tier, Mensch, was auch immer. Mit der Kraft, die wir jetzt haben, müssen wir nicht einmal mehr einen Ringkampf mit einem Bären fürchten.“
Tabitha kaute auf ihrer Lippe.
„Ich glaube eigentlich nicht, dass es ein Bär gewesen ist.“
„Gut, das sollten wir diskutieren. Dann haben wir zumindest etwas zu tun, während der...“
Elle verstummte, und Imia stand von ihrem Stuhl auf, um näher an das Fenster zu kommen. Ein Pochen am Holz des Tors.
Sie sahen sich eine Weile an, dann stand Imia auf. „Dein Bär ist zumindest höflich. Er klopft sogar an.“ Sie winkte Yana auf der Wehrmauer. „Geh nachsehen, wer dort ist.“
Zu dritt saßen sie um den Tisch und warteten. Imia warf eine Münze hoch und fing sie wieder auf. Wieder und wieder. Das Metall funkelte.
Tabitha räusperte sich. „Und wenn es wirklich– “
„Wenn es wirklich was ist?“, fragte Elle. „eine unserer Schwestern? Dann hat Yana den Vorteil, dass sie schon einmal gestorben ist, dass sie die Kraft von zwei Männern in den Armen hat – und das hölzerne Tor zwischen sich und wem auch immer.“
„Es könnten mehrere sein.“
„Ja“, sagte Imia und griff nach ihrem Bogen. „Das könnte tatsächlich sein. Runter.“
Elle murrte, aber legte sich ebenfalls ihre Waffe um die Schulter. „Wer ist hier eigentlich der Anführer...“
Sie mussten den umständlichen Weg hinab nehmen, über das andere Ende des Hofs. Tabitha ging voran.
Durch das Tor konnte niemand eingedrungen sein. Dunkel verstellte es die Sicht auf den Wald. Und damit auch den Weg ins Kloster.
„Da“, flüsterte Imia.
Ein menschengroßer Schatten hob sich vom Tor ab.
„Yana?“, rief Elle.
Keine Antwort. Aber es war Yanas Kapuzenmantel, der dort im leichten Wind flatterte. Neben ihr am Boden lag ein Bündel aus Dunkelheit. Ein Körper.
„Ich musste sie töten“, sagte Yana. „Sie war eine Verräterin.“
Jetzt sah Tabitha, woher der Wind kam, der ihr durch die Kleider strich. Er pfiff durch ein ausgefranstes Loch im Holz des Tors. Wie war die Verräterin hereingekommen? Mit einem Rammbock?
Elle warf Yana einen abschätzigen Blick zu. „Was ist unser Losungswort?“
„Todeshauch.“
„Es ist ernst, Yana.“ Imia festigte ihren Griff um den Bogen „Das Losungswort.“
Tabitha beugte sich zu der Gefallenen hinunter und drehte sie um. Yanas Augen starrten durch sie hindurch in den Himmel. Drei Messergriffe ragten ihr aus der Brust.
Die Fremde, die sie für Yana gehalten hatte, regte sich nicht, die Kapuze noch immer über dem Gesicht.
„Mit einem Losungswort verschafft man sich Zugang. Wie ihr seht, hat
sie mich passieren lassen.“
Die Wut zeichnete scharfe Linien in Elles Gesicht. „Nachdem du sie abgeschlachtet hast! Runter mit der Verkleidung!“
Tabitha und Imia zogen die Schwerter und stellten sich um die Mörderin auf. Elle riss ihr die Kapuze herunter, und die Fremde zog die Schultern an den Körper, sodass der ganze Umhang zu Boden glitt. Tabitha erstarrte. Quer über die Brust griff der Frau ein Waffengurt, zum Zerreißen angefüllt mit Messern. In Gürtelschlaufen hingen Handäxte neben Breitklingen, die aneinander klirrten, und auf dem Rücken bildete ein Bündel Wurfspeere zusammen mit einem Zweihänder ein Kreuz.
Sie erkannte das Gesicht.
„Jilis?“, fragte Tabitha.
Elle spuckte auf den Boden und deutete auf Yana. „
Sie war eine Verräterin?“
„Ja, genau wie ihr drei“, sagte Jilis.
„Hah. Deine Meinung ist hier nichts wert, Schwester. Du hast hundert Waffen bei dir, aber doch nur zwei Hände, um sie zu führen. Und gerade deinen Bogen hast du vergessen? Sehr nachlässig.“
„Ich habe keinen Bogen mehr, und ich bin nicht deine Schwester.“
Elle seufzte gespielt. „Oh? Hast du dich von uns abgewendet? Wie einsam werden wir jetzt ohne dich sein.“
Noch immer bewegte Jilis keinen Muskel, nur ihre Blicke flogen hin und her.
„Einsam werdet ihr sein, wenn eure Seelen die Niederhöllen bereisen. Ich bin nicht im Namen der Schwestern hier. Nur in meinem eigenen.“
„Um was zu erreichen? Hast du Mitleid mit uns und willst uns zurück auf den rechten Weg führen?“
Jilis Brust bebte unter einem unterdrückten Lachen.
„Davon verspreche ich mir wenig. Ihr habt Maro gefangen genommen, das weiß ich. Bringt ihn zu mir, oder ich hole ihn selbst.“
„Oh, der Nekromant.“ Imia verlagerte ihr Gewicht von einem Bein aufs andere. „Er ist freiwillig gekommen, und hat uns sogar ein Geschenk überlassen... mit dem wir dir weit überlegen sind.“
Irgendetwas in Jilis Blick ließ Tabitha einen Schritt zurücktreten. Elle dagegen machte einen nach vorn. „Ja, er war sehr aufmerksam zu uns. Er hat sehr weiche Hände–“
Ein Blitz schoss über ihre Lippen hinweg. Jilis Hand hielt plötzlich einen Dolch. Elles Gesicht klaffte auseinander, gespalten von einer dunklen Linie, die sich über Wange, Nasenbein und Stirn zog. Wimmernd brach sie zusammen, und eine zweite Schneide blitzte in Jilis freier Hand auf.
Imia stieß mit ihrem Schwert nach Jilis Magen, da senkten sich eine Axt und die Spitze einer Klinge von beiden Seiten in ihren Arm. Jilis verwandelte sich in einen Wirbel aus Metallglitzern. Tabitha duckte sich, und Eisen raste über sie hinweg. Imias Schwert klapperte neben der wimmernden Elle auf den Boden.
"Ich hab sie!", rief Tabitha und sprang vor, um einen Ausfall zu landen. Die entwaffnete Imia rammte sich Jilis gegen die Brust und trieb sie auf die Klinge zu. Jilis zog sich selbst die Beine unter dem Leib weg und ließ sich nach hinten fallen. Imia rollte über sie hinweg, und Tabitha stach ins Leere.
"Mein Gesicht!", heulte Elle und richtete sich auf. Etwas blitzte auf wie ein Sternenschweif und prallte ihr mit einem Schmatzen in die Schulter, dass es sie herumwirbelte und niederstreckte. Der Schaft eines Beils ragte ihr aus dem Armansatz.
Imia krallte ihre Nägel in Jilis Schultern und drückte sie auf den Boden. "Jetzt, Tabitha!", rief sie. Tabitha zielte auf Jilis Hals. Zwei Stöße hallten dumpf und schüttelten Imias Körper. Tabithas Schwert ging nieder. In der selben Bewegung hämmerte Jilis Imia mit einem Fauststoß vor die Brust, dass die Jägerin nach hinten stürzte, und rollte sich nach vorn ab. Tabithas Klinge fuhr in den Stein.
Ein Schrei erschallte von der Seite. Einen Arm vor das Gesicht gelegt, schoss Elle auf Jilis zu. Deren Stiefelspitze huschte in den Ansturm hinein und rammte sich in Elles Armgelenk. Jilis fasste nach dem Zweihänder auf ihrem Rücken. Die Waffe glitt aus der Scheide und stürzte wie ein Fallbeil auf Elle hinab und durch sie hindurch.
Tabitha wendete sich soweit ab, dass sie nicht sehen musste, was mit Elle geschah. Etwas polterte gegen die Vorratskisten.
Mit einem Sprung erreichte sie Jilis und setzte eine Finte auf ihren linken Arm an. Als hätte sie den angetäuschten Angriffsversuch nicht einmal wahrgenommen, riss Jilis die Zweihandklinge herum. Ein Strahl aus silbernem Glanz streckte sich nach Tabitha aus, stieß mit einem Ruck in ihre Brust herein. Das Klingenblatt spiegelte den Mond.
Vorbei.
Die Stärke, die ihr der Nekromant verliehen hatte, floss aus ihr hinaus wie aus einem lecken Fass, dann löste sich der Zauber ihrer Herrin. Ein Schleier fiel ihr von den Sinnen.
In einem letzten Augenblick sah sie Jilis, die vielleicht wirklich ihre Schwester war. Mehr als Elle oder Imia.
Dann hüllte Wärme sie ein, von den Schultern bis zu den Zehen. Und Dunkelheit.
*
Jilis wischte sich den Schweiß von der Stirn und schnaufte. Neben ihr auf dem Eingangsmosaik lag die Schwester mit dem Zweihänder in der Brust, und auf der Treppe zu den Wehrgängen die mit den drei Speeren im Rücken. Sie hätte einen Kampf bekommen können, aber sie war gerannt, noch mehr von den Verräterinnen heranzuholen.
Sie sammelte ihre Waffen ein und schloss den Schwestern die Augen. Keine von ihnen hatte den Tod verdient gehabt. Aber weder als die untoten Verräterinnen hätten sie sie ungehindert ins Innere gelassen, noch als die Puppen, mit denen Akara ihr Spiel trieb. Für
sie, die sie jetzt zwischen den Fronten dahintrieb, gab es nur einen Weg, und der führte in das Herz des Feindes.
Sie schob den Zweihänder zurück in die Scheide. Eine gute Arbeit, die Vega besorgt hatte. Vielleicht aus den Schmieden der nördlichen Eiswüsten.
Einen Augenblick blieb sie vor der Niedergestreckten bei den Vorratskisten stehen. Das Schwert in Gesichter zu stoßen, in die sie seit ihrer Geburt blickte... Aber sie trug keine Schuld daran. Nein.
Sie beugte sich nieder und schloss auch der mit dem gespaltenen Gesicht die Augen. Was hatte sie gesagt? Maro sollte ihnen Kraft geschenkt haben? Dabei hatte sie sie zerbrochen wie Spielzeuge. Offenbar hatte er
ihr mehr Kraft geschenkt. Sie lächelte.
Stille im ersten Hof.
Die Toten zu verstecken würde sie sich ersparen können. Denn zumindest das zerstörte Tor ließ sich vor Niemandem verbergen. Wenn jemand die Geräusche des Kampfes gehört hatte und nachsehen kam, dann würde sie ihn ebenfalls zerschmettern müssen.
Wieder unter dem Kapuzenmantel verborgen, schmiegte sie sich an die Wände und umschlich die Terrassengänge. Wie eine Verbrecherin, in ihrem eigenen Zuhause.
Über dem Garten, der zu Asche zerfallen war, patroullierten zwei Fackelträger. Jilis duckte sich hinter Stützsäulen und verbarg ihren Schatten vor dem Feuerschein.
Von der einstigen Pracht standen nur noch verkohlte Stümpfe, und Asche bedeckte die Erde. Wahrlich, das Kloster war gefallen. Doch sie war nicht gekommen, um den Schwur wahr zu machen, den sie alle damals in der Kathedrale geleistet hatten. Das Kloster würde nie wieder ihr Heim werden.
Als die Fackeln in einem Wachhaus verschwanden, schlüpfte sie über den Hof zum Portal der Kathedrale. Dort würde sie zumindest eine kurze Ruhepause haben, in der sie sich überlegen konnte, wohin sie Maro gebracht haben konnten. Oder wohin er von selbst gegangen sein konnte... Nein, das war unmöglich.
Sie zog einen Portalflügel auf, so langsam, wie sie konnte. Wenn das Holz jetzt knarzte... Sie hatte das Gefühl, es würde über sämtliche Innen- und Außenhöfe hallen.
Aber das Holz blieb stumm, und als der Spalt groß genug war, zwängte sie sich hinein.
Ihr flog der selbe Geruch des Räucherwerks zu, der schon damals im Gemäuer gehangen hatte. Die Bänke standen in artigen Reihe, und auf dem Altar und in den Seitenschiffen verbreiteten Kerzen ihr Licht. Und sie hatte eher damit gerechnet, dass sich der Ort in einen unheiligen Tempel verwandelt hätte. Doch selbst die Statue der Herrin des verborgenen Auges thronte noch auf der Empore.
Jilis wich in das Seitenschiff aus. Nur für den Fall. Sicher sandte niemand in diesen Mauern mehr Gebete an die Herrin, aber jemand musste die Kerzen entfacht haben.
Sie strich mit den Händen an den Flämmchen vorbei und genoss die Wärme. Nach all den Jahren der Übung nutzte ihr Training nun doch nur dazu, wieder zurück an den Anfang zu kommen.
Etwas klackte auf den steinernen Boden. Sie wandte sich um. Dunkelheit, und das warme Licht der Kerzen. Auch kein Klacken mehr.
Als sie sich wieder zu den Kerzen drehte, klackte es erneut, in einem regelmäßigen Rhythmus. Es kam näher. Sie blieb starr stehen, als hätte sie nicht gehört. Vom Geräusch her schätzte sie noch einige Schritte Distanz. Dann fuhr sie herum, und ihr Jagdmesser zischte aus der Scheide.
Die Klinge legte sich an weiche Haut. Das Kerzenlicht fiel auf einen dunklen Mantel, verziert mit einem Schädel.
„Jilis?“, fragte eine Stimme, die ihr mit ihrem Klang die Kraft aus den Gliedern sog.
„Maro?“
„Ich habe gewusst, dass du kommen würdest, um mich hier hinauszubringen.“
„Es ist schwer genug gewesen, hier hereinzukommen... Die Jägerinnen erzählen, du hättest ihnen Kraft geschenkt.“
Maro brachte vorsichtig eine Hand zwischen die Klinge des Jagdmessers und seinen Hals.
„Nimm dein Messer weg, und ich kann dir die Wahrheit sagen.“
Sie nickte und steckte ihre Waffe zurück in die Gürtelscheide, zu ihrem Arsenal.
„Die Wahrheit, ja? Dann ist es also nicht wahr, was sie mir gesagt haben?“
„Sie haben mich gezwungen, und Aradeia, die Dämonin, hat einen Nebel um die Geister von jedem in dieser Festung gelegt. Ich kann ihn noch immer spüren.“
„Ah. Dann verdanke ich es diesem Nebel, dass sich in Karmhang meine eigene Faust mir in die Niere gerammt hat?“
„Hm, das tust du wohl. Verzeih mir, aber es ist nicht meine Schuld gewesen.“
Maro sah sich nach den Seiten um. Irgendetwas in seiner Haltung passte nicht zu dem Jungen, den sie auf seinen Reisen begleitet hatte. Aber es konnte die Nachwirkung des Geistesnebels sein, von dem er gesprochen hatte.
„Dein Feuerriese, jedenfalls, dem habe ich mein Leben zu verdanken. Als du verschwunden bist, ist ein Gigant aus den tiefsten Höllen gekommen, um mich zu holen. Ein Ziegenbock von der Schulterhöhe eines Kirchturms. Er wird jetzt einige hübsche Brandflecken in seinem Fell haben, und ein Auge weniger auch.“
„So?“, fragte Maro. Sein Körper schien sich zu versteifen.
„Was haben sie mit dir angestellt? Du bist nicht einmal gefesselt...“
Er zuckte mit den Schultern, aber an der Bewegung fehlte etwas. Das ewige Lauern, das dem Jungen immer angehaftet hatte, wohin er auch gegangen war.
„Wahrscheinlich haben sie es nicht für nötig gehalten. Die Ausgänge werden bewacht, jeder einzelne.“
„Einen, den nach Westen hin, habe ich freigeräumt“, sagte sie und lächelte. „Weißt du, ein paar sehr kurze Momente lang, da habe ich geglaubt, was Akara im Lager verbreitet hat. Dass du uns verraten hättest. Aber dann ist mir eingefallen, dass du nie auf unserer Seite gewesen bist, wie hättest du uns also verraten können?“
„Akara ist nur vorsichtig, ich kann das verstehen.“
„Du?“ Jilis lachte. Das waren ganz neue Töne. „Dich hat sie doch am lautesten beschimpft und verleumdet... Und mich auf dich angesetzt. Aber ich gebe jetzt nichts mehr auf ihre Worte. Sie haben nicht weniger bösen oder guten Willen, als es die von dieser Dämonin haben mögen.“
„Das heißt, du hast dich von ihr abgewendet? Ich bin froh, Jilis.“
„
Froh also. Seltsam, ich hätte immer gedacht, du könntest keine Regungen wie andere Menschen empfinden.“
Mit dem Nekromanten musste in der Gefangenschaft eine Wandlung geschehen sein, die über diesen seltsamen Gedankennebel hinausging... Jetzt sprach er schon darüber, wie er sich fühlte.
Einer seiner Finger streifte ihre Hand.
„Natürlich kann ich Regungen empfinden, und du weißt das.“
Sie wich zurück und schlug ihm instinktiv die Hand weg. Was sollte das?
„Wir sollten raus hier.“
Kurz stand er erstaunt da, dann nickte er. „Gut. Ich kenne einen Weg, an dem die Wachmannschaften dünn sind. Folg mir. Wir haben noch später Zeit für alles.“
„
Alles?“, murmelte sie und ging ihm durch die Reihen der Kerzen hinterher.
Glut schoss ihr in die Wangen. Wovon sprach er, zum Teufel?
Sie schüttelte sich und legte eine Hand um den Griff des Jagdmessers. Irgendetwas war in ihn gefahren – und Dämonen musste es hier doch genug geben, die die Körper von Menschen besetzten.
Jede seiner Bewegungen verfolgte sie. Wie er an das Tor herantrat und einen Flügel aufstieß, ihn für sie offen hielt.
"He, Jilis", sagte er, während sie an ihm vorbeitrat. "es ist schön, dass wir uns wiedergefunden haben."
Seine Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln, und er legte die Arme um sie.
Sie handelte, bevor sie es wusste.
Das Messer flog ihm über die Kehle und zog einen roten Schweif hinter sich her, der sich auf das Holz des Portals malte.
Der Nekromant stürzte, Fassungslosigkeit auf seinem Gesicht. Dann war sein Gesicht nicht mehr, es zerfloss wie ein Lehmklumpen im Wasser. An seine Stelle trat der Kopf eines Ziegenbocks mit nur noch einem einzigen Auge. Roter Schaum trat vor den Mund des Wesens. Baphomet. "Woher?", röchelte er. "Woher... hast du es gewusst?" Die Blasen rannen ihm das Kinn hinab. Langsam verformte sich der ganze Körper. Selbst der dunkle Stoff der Kleidung schmolz fort, verwandelte sich in dichte Haare.
"Gewusst? Du hast versucht, mich zu umarmen. Also hast du einen Dolch zum Knutschen bekommen."
Sie spähte nach draußen, zog den sterbenden Dämon wieder in die Kathedrale und schloss das Portal.
"Aber... Sie hat gesagt... ihr... Gefährten."
"Aradeia hat das gesagt?"
"Blut...rabe."
Blutrabe hetzte ihr Gestaltwandler nach, mit falschen Informationen. Vielleicht hatte sie ihr nur in die Hände gespielt, indem sie das Leben des Ziegenmanns beendet hatte.
"Die Schwestern dürfen sich keinen Gefährten wählen."
Sie nahm den Beidhänder hervor und zielte auf die Brust des Dämons. Selbst einer wie er verdiente kein unnötiges Leiden.
"Aber du... nicht mehr."
Mit dem Stoß brachen seine Augen, und er sank zusammen.
Sie wischte die Klinge an seinem Fell sauber und verstaute sie.
Nein, sie war keine Schwester mehr. Zumindest mit dem letzten Atemzug hatte der Dämon die Wahrheit gesprochen.
Und
Maro verdankte sie es, dass sie keine Schwester mehr war.
*
"Es ist die höchste Zeit für unsere Entscheidung."
Akaras Stimme drang durch das Loch des Kommandozelts, das Vega mit ihrem Messer hineingestochen hatte. Sie presste sich flach auf die feuchte Erde. Nur keinen Schatten an der Zeltwand werfen. Vor ihrer Nase krabbelten Käfer an den Grashalmen entlang. Es schüttelte sie in ihrem Innern. Sie musste jetzt aushalten...
"Nicht für
diese Entscheidung, Akara."
Kaschyas Stimme.
"Wir haben die Verderbnis lange genug in unserem Land geduldet. Du hast gesehen, wie sie selbst unsere eigenen Schwestern befallen hat."
"Aber was haben wir bisher an Wissen gewonnen, was einen Angriff rechtfertigen könnte?"
"Wissen", begann Akara, und in ihrer Stimme klang eine Spur von Verachtung. "Ist nur die eine Seite. Die andere Seite ist der Glaube daran, das Wissen zum Nutzen bringen zu können und damit Erfolg zu haben.“
"Dennoch ist das einzige Wissen, das wir haben, ist das über den Umgang mit Bogen und Klingen."
"Und dazu rechne nun den Glauben, mit diesem Wissen unsere Heimstatt zurückzuerobern."
Vega richtete sich auf. Nur einen einzigen Blick durch das Loch...
Akara saß an der Spitze der Versammlung und legte einen Arm um die Schultern von Zethys, die neben ihr saß. Die arme, alte Frau...
Die jüngeren Kriegerinnen des Rats beantworteten die Geste Akaras mit Jubel. Nur Zethys blickte unverwandt geradeaus, und Kaschya setzte zu sprechen an, doch die Rufe übertönten sie.
Ein Kribbeln rann ihr über das Rückgrat. Akaras Blick schien direkt zu ihr zu gehen. Die Oberin reagierte nicht, sondern starrte weiter.
Vega hielt den Atem an. Wenn sie sich jetzt bewegte, musste etwas Schreckliches geschehen. Sie wusste es tief in ihrem Innern.
Als der Jubel nachließ, wandte Akara sich wieder ab.
Vega atmete erleichtert aus.
„Ich kann nicht glauben, dass du noch Zweifel hast, Kaschya. Wir treiben die Dämonen zurück in ihre Heimat, denn wir glauben an unsere Arme und unsere Waffen. Sollte ein Hauptmann uns nicht diesen Glauben geben?“
Über Kaschyas Gesicht legten sich Schatten, und einen Herzschlag lang sah sie so uralt aus wie Zethys.
„Sagt mir, wann ich den Sturm führen soll.“
Sie hatte bei diesen Worten
überhaupt nichts von einem Hauptmann, der sein Heer in die Freiheit führte. Genau so wenig, wie Zethys etwas von der Legende hatte, die den Dämonen ins Auge blickte.
„Wir greifen noch an, bevor der Morgen graut. Allein schon deshalb, weil das Lager noch mehr Verräter bergen könnte, die dem Feind bald unseren Plan verraten könnten.“
Noch
mehr Verräter? Noch mehr als Jilis? Vega nahm sich zusammen, um nicht die Zeltplane zu zerreißen und in die Versammlung zu platzen.
„Das sind nur wenige Stunden Vorbereitungszeit für uns“, sagte Kaschya und sah sich unter den Jägerinnen im Zelt um. Keine von ihnen reagierte. Sie hatten ja Zethys, ihre Legende... wer brauchte sich da vorzubereiten? Es war ein solcher Wahnsinn...
„Und für unsere Feinde genau so, falls sie davon erfahren sollten. Wir haben lang genug in der Wildnis gehaust. Es geht zurück in unser Heim.“ Akara breitete die Arme aus, umfasste den ganzen Raum mit einer Geste. Zethys starrte nach vorn, als hätte ihr Geist sie längst verlassen.
Sie
alle hatte der Geist längst verlassen...
Kaschya senkte den Kopf, und Akara fuhr fort.
„Wir werden gegen unsere einstigen Schwestern kämpfen müssen. Aber
sie sind es gewesen, die uns verraten haben. Was den Nekromanten betrifft, und Jilis...“ Vega horchte auf. Akara legte eine Hand auf den Bauch, als fühlte sie den Stoß mit der Eisenstange ein zweites Mal. „...den Titel, den ich ihr verleihen wollte, den bekommt diejenige, die mir ihren kalten Körper bringt. Das Selbe gilt für die, die den des Nekromanten heranschafft.“
Ein Aufschrei wollte ihr aus der Kehle. Sie bedeckte den Mund mit den Händen, und nur ein Fiepen drang hinaus. Akaras Blick heftete sich wieder an die Zeltwand, und sie hielt in ihrer Rede inne. Sie machte eine Geste zu einer der Kriegerinnen neben sich, die das Auge auf der Stirn trug, und flüsterte etwas. Die Kriegerin erhob sich.
Vega tauchte fort von ihrem Guckloch und presste sich wieder auf die Erde. Was sollte sie tun? Laufen, laufen wie der Wind? Die Schwester würde sie sehen. Sehen wie sie davonlief, und das würde jeden Zweifel ausräumen. Aber sie musste Jilis warnen!
Die Plane am Eingang des Zelts wurde fortgeschlagen, und ein Schemen trat heraus.
Sie presste sich auf die Erde, als könne sie das unsichtbar machen. Vielleicht übersah die Schwester sie...
Käferbeine kitzelten sie an der Nasenspitze und der Stirn. Sie hielt die Luft an und krampfte sich zusammen.
Die Stimmen im Zelt sprachen weiter, gingen ineinander über. Vor ihr stand die Jägerin, deren schiefe Nase sie unter Hunderten erkannt hätte. Tyreé. Ihre Blicke trafen sich. Jetzt war es aus. Wenn Kaschya Jilis' Tod belohnen wollte, dann würde auch Tyreé jetzt nicht leer ausgehen, wenn sie...
„Ein paar von Elenes Hühnern haben sich verlaufen“, rief Tyreé ins Zelt zurück. „Ich bringe sie rasch ins Gehege zurück.“
Vega begriff nicht. Was hatte das zu bedeuten?
Tyreé blickte sich nach allen Seiten um und trat auf sie zu.
„Glotz nicht, komm da weg. Bevor wir noch Gesellschaft bekommen.“
Sie löste sich aus der Starre, schüttelte die Käfer von ihrem Gesicht und erhob sich. Tyreé zog sie einige Meter weit. „Was hast du jetzt mit dem Wissen vor, das du dir erschlichen hast?“
„Ich...“ Vega ballte die Fäuste. Es hatte jetzt keinen Sinn mehr, zu lügen. „Ich werde Jilis warnen. Damit ihr sie nicht bekommt.“
Tyreés Miene blieb undurchdringlich. „Dann weißt du, wo sie ist?“
„Ich werde es dir nicht sagen!“
Diesmal zuckte ein Lächeln auf Tyreés Gesicht.
„Gut. Sieh zu, dass du es auch niemandem sonst verrätst.“
Vega runzelte die Stirn.
„Was wirst du jetzt mit mir tun?“
„Weswegen sollte ich mit dir etwas tun?“
„Weil ich... alles gehört habe.“
„Alles? Lange nicht. Sei froh. Ich muss jetzt zurück und lächeln und nicken. Bei jedem Wort, das über Akaras Lippen kommt.“
Tyreé wandte sich ab, und Vega blieb zurück. Was sollte das?
„Tyreé! Wieso hast du mich nicht verraten?“
„Vielleicht tue ich das noch, also beeil dich lieber, wo auch immer Jilis im Moment stecken mag.“ Sie drehte sich noch einmal um und legte die Faust auf die Brust. „Ich bin nicht so blind wie die anderen Offiziere. Jilis hat mir damals die Nase gebrochen, weil sie einer Schwester zu Hilfe kommen wollte... Sie ist keine Verräterin. Auch jetzt nicht.“
Dann verschwand sie wieder im Zelt.
Sie musste Jilis hinterher, so bald es ging. Sie warnen, dass die Schwestern, die ihr folgen würden, es nicht zu ihrem Schutz taten. Wenn sie nur nicht schon im Kloster war...
Sie plünderte das Zelt, das sie gemeinsam mit Jilis bezogen hatte. Keine von ihnen beiden würde es je wieder benutzen.
Sie stopfte sich einen Sack voll mit allem, was sie finden konnte. Proviant für einige Stunden der Reise... Aber was würde danach sein? Egal, was geschah, ins Lager würden sie nicht mehr zurückkehren können. Sie füllte den Proviantsack weiter, mit Eisbeerenkuchen und einigen Brotscheiben.
Ihren Bogen schnallte sie sich auf den Rücken, und füllte den Köcher mit den letzten Jagdpfeilen. Eigentlich war es Frevel, dass sie für diese Mission den Bogen nahm... Der Wille der Schwesternschaft war Jilis' Tod, und sie stellte sich diesem Willen in den Weg. Aber schließlich kannte der Orden als Herrin längst nicht mehr die des verborgenen Auges. Nicht mehr die körperlose Göttin führte sie an, sondern eine alte Zauberin.
Außer dem Bogen fand sie als einzige Waffe die Klinge, die nach Jilis Einschätzung
trudelte wie eine besoffene Ente.
Sie lächelte. Wenn es darauf ankam, dann war eine trudelnde Klinge besser als gar keine. In ihrer Hand würde vermutlich ohnehin jede Klinge trudeln.
Sie trat aus dem Zelt und schulterte das Schwert und ihr Gepäck.
Ich komme, Jilis.
*
Die Kerzen auf dem Altar leuchteten den Gang gerade genug aus, um erkennen zu lassen, dass es ihn gab.
Eine Aussparung im Boden hinter dem Altar... Als Jilis näher herantrat, blitzte ihr von unten Fackelschein entgegen und spiegelte sich auf Treppenstufen. Der Gang hätte ihr irgendwann auffallen müssen, in all den Jahren. Oder es gab ihn erst seit kurzer Zeit.
War es wirklich so, wie der Dämon es gesagt hatte? Dass Maro gezwungen worden war, den gefallenen Schwestern mit seiner Macht zu helfen? Er hatte doch selbst etwas gesucht, und war über die Kontinente hinweg gereist, nur, um es zu finden...
Mit zwei Beilen in der Hand sprang sie in den Gang und hastete die Treppe hinunter. Die Wände glichen denen des Klosters aufs Haar, als hätte der selbe Architekt sie erbauen lassen. Aber das war unmöglich.
Am Fuß der Treppe folgte ein Raum. Sie presste sich an die Wand und spähte hinein. Rausteinerne Wände wie im Kloster, und ein Geruch wie in der Bäckersstube. Nach Hitze. Der Raum endete in einem Balkon, und dahinter... Sie schlich vor, dann blieb sie bei einem steinernen Thron stehen, von dem aus Menschenschädel sie angrinsten. Ein Thron aus Knochen. Wie tief war sie hinabgestiegen? In die tiefste Hölle?
Dann flammte ein Licht am Balkon auf. Eine Bö aus Feuer zog vorüber und peitschte ihr heiß über die Haut. Ja, sie war wirklich in die tiefste Hölle geraten.
Krater voll geschmolzenen Gesteins gähnten jenseits der Brüstung in einer pechschwarzen Öde, und flüssiges Feuer floss in Strömen dahin.
Hatte er
das gesucht, der dumme Nekromant?
Die Hölle?
Die Flammenfunken zogen an ihr vorbei, und noch ein zweiter Luftzug, der von hinten kam. Sie sprang zur Seite. Neben ihr sauste die Stange einer Hellebarde nieder, und das Axtblatt brach einen der Schädel von der Armlehne des Throns. Die Zähne splitterten fort, und der Unterkiefer rollte über den steinernen Boden, bis er zu den Füßen eines Mädchens liegen blieb. Ihre Haut schimmerte wie Schnee in der Wintersonne, und Flügel aus pechschwarzem Leder sprossen von ihrem Rücken. Als sie die Waffe zu sich zurückzog, klapperten die Glieder eines bronzenen Harnischs.
Jilis warf ihren Kapuzenumhang fort, und die Feuerwinde packten ihn und zogen ihn in die Vulkanöde. Die Zeit des Versteckens endete hier.
„Du musst Aradeia sein“, sagte sie. Die Waffen an ihrem Gürtel klirrten und schabten aneinander.
„Und du? Bist du Prinzessin Hundertwaffe?“ Das Mädchen lachte, und ihr Lachen hallte wie Glockenklang, der zwischen gläsernen Wänden hin- und her geworfen wurde. „Leider bin ich nur Aradeias Tochter. Aber auch ich habe die Erlaubnis, dein Leben für das Betreten dieser Kammer zu beenden.“
„Die Erlaubnis hatten auch die Jägerinnen auf den Zinnen, und es hat sie nicht weit gebracht.“ Jilis duckte sich in Angriffsposition. „Ich bin nicht hier, um diesen Thronsaal zu schleifen. Nur, um einen Freund zu holen.“
Das Mädchen strich sich durch das feuerrote Haar und über die Hörner, die ihr am Haaransatz aus der Stirn sprossen.
„Dann sei willkommen,
Jilis. Vor dir wurden wir bereits gewarnt.“
„Das ist gut, aber ich warne dich trotzdem noch einmal selbst: Zeig mir den Weg zu ihm, oder ich treibe dich zurück in deine Hölle.“
Wieder erklang das glockenhelle Lachen. Die Dämonin setzte sich auf die Armlehne des Throns und überkreuzte die Beine.
„Liebe Jilis, wir sind hier unten schon längst eher in dem Reich, das du
Hölle nennst, als in deiner Welt. Dem Nekromanten scheint es hier gut zu gefallen. Er möchte gar nicht mit dir kommen.“
„Weil ihr ihn mit einem Zauberbann gebunden habt, du und deine grässliche Mutter.“
„Er ist von ganz allein zu uns gekommen.“
Jilis festigte den Griff um ihre Handäxte.
„Du lügst.“
Maro hätte sich nicht in die Arme dieses Dämonenvolks gegeben, nicht für eine Sekunde.
„Ich bin seine Wächterin, und vor genau solchen Eindringlingen wie dir soll ich ihn beschützen. Darüber hinaus bist du eine Tochter des Auges, und ich könnte dich ohnehin nicht gehen lassen.“
Eine Woge aus Feuerfunken zog am Balkon vorüber und erleuchtete den Thronsaal.
„Ich bin niemandes Tochter.“ Sie griff eine Axt um, sodass sie sie mit der Rückhand führen konnte. „Los, Dämon, lass uns kämpfen.“