...und zwar kommt sie hier.
XIV. Gefangene
Unter seiner Wange war kühler, feuchter Stein.
Ohne den Geruch hätte er es vielleicht als angenehm empfunden. Der Geruch aber durchdrang alles: Fäulnis, klamme, unsaubere Nässe, der Dunst schimmliger Winkel. Kot von Ratten, oder von Menschen. Es war auch einerlei.
Mit einer matten Bewegung, deren verzweifelte Vergeblichkeit ihm Tränen in die Augen trieb, schlug er nach dem Huschen und Trippeln in seiner Nähe. Da waren sie wieder. Immer, wenn die Schwäche ihn bis zur Reglosigkeit übermannte, wagten sie sich heraus. Seine Hand brannte. Er wusste nicht, ob von einer älteren Verwundung, von einem gegen die rauen Steinwände fehlgegangenen Schlag in Richtung der Ratten, oder von einem Biss. Die plötzliche Angst, bei lebendigem Leib aufgefressen zu werden, rüttelte an ihm, aber er konnte nur zucken und einen schwachen Laut ausstoßen.
Dicht an seinem Kopf befand sich in der Wand eine massive Tür, von der er nur die Schwelle sah. Vom Rest des Raumes blieb nur Halblicht, manchmal Geräusche. Ein Fenster wohl. Er hatte nicht die Kraft, sich danach umzudrehen.
Die Quelle der Schmerzen konnte er ebenso wenig erfassen wie seine Sinne oder Gedanken. Vage wusste er, er war nicht allein mit den Ratten. Etwas lag Schritte entfernt, und vielleicht war es hier besser, dass er den Kopf nicht danach drehen konnte.
Ein Geräusch, draußen, hinter der Tür. Dort führte ein Gang vorbei, erinnerte er sich.
Die Anstrengung des Horchens – oder vielleicht auch der Impuls, sich ohnmächtig zu stellen – ließ ihn erschlaffen. Innerlich aber klärte sich sein trübes Bewusstsein um ein Weniges.
Hinter der Tür klangen Schritte und Stimmen ineinander, schwere Riegel rumpelten. In den Geräuschen war etwas Gezwungenes, Widerstrebendes, dann hob sich eine Frauenstimme von rauen Kommandotönen ab. Was gesprochen wurde, war nicht zu verstehen.
Mit einem Mal öffnete sich die Tür. Luft aus dem Gang strich über den Boden hin, eine Stimme wies jemanden an, sich nicht weiter zu widersetzen.
Menrad schloss die Augen und erstarrte.
Dicht an seinem Kopf vorbeigehend, betrat eine Person die Zelle. Er hörte Stiefelleder knirschen. Dumpf, metallisch-hölzern, klangen die Tür und die vorgeschobenen Riegel.
Die dauernde Bedrohung durch die Wächter zog von dannen, aber die Anwesenheit des neuen Insassen drang nicht weniger massiv auf ihn ein.
Sie bewirkte, dass er sich ächzend umdrehen und halb aufsetzen konnte. Es schien ewig zu dauern, doch schließlich fand er sich halb gegen die Wand gelehnt und schickte den taumelnden Blick zu den verklungenen Schritten.
Der, der zu ihm in die Zelle gesteckt worden war, stand nahe des einzigen Fensters, und das hereinfallende Licht schien seine Gestalt zu verwischen. Menrad brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass indes kein Lichteinfall und keine Sinnestäuschung ihm vorgaukelten, was er sah.
Der Mann war hochgewachsen und breitschultrig, halb wie ein Krieger gekleidet, aber kein Soldat. Ohne dass er das Licht der Zelle minderte, schein es, als sei etwas Dunkles mit ihm hereingekommen. Doch das war es nicht, was Menrad erschreckte.
An dem Mann gab es keine Farben, nur Schwarz und mattes Silber von Rüstungsteilen. Aus einem vollkommen weißen Gesicht sahen ihn weiße Augen an, hielten ihn fest, und gegen die Wand zurückweichend, als wolle er sich übergraust in sie hineinschieben, begriff er, wer ihm gegenüberstand. Was sie mir in die Zelle geschickt haben.
Ein Nekromant.
Er sah den anderen seiner Kaste, einer obskuren, unmöglich zu überblickenden Kaste, in keiner Weise ähnlich. Dennoch wusste der Paladin, wen er vor sich hatte. Eine kurastische Ausgeburt vielleicht, noch schlimmer als die anderen.
Keuchend vor Schwäche wich er weiter nach hinten aus. Seine Stimme drang ihm rau aus der Kehle, noch bevor er begriff, dass er etwas gesagt hatte.
Der Mann drehte sich um, als habe er nichts gehört, und sah prüfend zum Fenster hinaus. Sich wieder umwendend, ließ er die Augen durch die Zelle gehen.
Sie spielten ein Spiel mit ihm. Bitter gestand sich Menrad ein, dass er bei der Öffnung der Tür kurz geglaubt, nein, gehofft hatte, es könne Hilfe sein. Hilfe, die kam. Elend und grimmig hielt er sich halb aufrecht, wild entschlossen, den Anderen nicht aus den Augen zu lassen. So leicht würde er es ihnen nicht machen.
Der Mann kam näher. Schließlich stand er vor ihm.
Seine Stimme war nüchtern, fast beschwichtigend, und er nahm den unverwandten Blick nicht fort, als kümmere es ihn nicht, dass Menrad sich mit erstaunlicher Kraft vor ihm zurückzog.
„Ruhig. Wer seid Ihr?“
Hadan betrat die Zelle und verfolgte aus einiger Entfernung, wie sie die Tür verriegelten.
Der Raum maß etwa sechs Schritte im Durchmesser. Die Decke war niedrig, das einzige Fenster vergittert. Er sah hinaus. Ein schmaler Hof, eine hohe Mauer, dahinter die Dächer der Stadt.
Durch die Fensteröffnung kam immerhin ein Luftzug in die klamme Schwüle, und das Gemäuer schützte sie vor der Sonne. Der Nekromant drehte sich um.
Zwei Männer hatte man hier eingesperrt, nun waren sie zu dritt. Oder vielleicht auch nicht mehr. Ernst ließ er den Blick über den einen gehen, einen jungen Mann mit kurastischem Aussehen, der leichte Rüstung trug. Er lag auf der Seite, ein zerfetztes Hemd unter dem Brustschutz, an dem die Lichtsymbole noch halbwegs sichtbar waren unter Blut und Schmutz. Seine Augen starrten ins Leere. Die beginnende Blindheit des Todes beschlug sie bereits. Eine dunkle Druckstelle an seiner Schläfe schien weniger schlimm als die anderen Wunden an seinem verdrehten Körper, hatte ihn aber vermutlich getötet.
Ein konvertierter Paladin.
Der andere Mann lebte noch, war aber in schlechtem Zustand.
Aus einem schmalen, kränklich bleichen, bärtigen Gesicht starrten umschattete Augen zu ihm hoch. Ihr Glanz war keine Lebendigkeit, sondern Fieber. Der Mann mochte an die dreißig Jahre zählen und wirkte trotz seines Zustandes befehlsgewohnt und kriegerisch geschult.
Ein weiterer Paladin, einer der im Westen geborenen, vielleicht ein Kommandant. Einer der Missionare.
Der rechte Arm des Mannes hing schlaff, und er umklammerte ihn nur schwach. Etwas verbissen Stolzes haftete ihm an, der Wunsch, unbedingt wach zu bleiben, und sein Gesicht war pure Feindseligkeit.
Als Hadan einen Schritt auf ihn zu machte, erbebte der Körper und wand sich rückwärts, so angestrengt, dass dem Paladin die Adern an den Schläfen hervortraten.
„Ruhig.“ Hadan hob die Hand. Der Gefangene mochte in seiner verzweifelten Lage glauben, dass man ihm jemanden schickte, um ihn zu verhören oder zu quälen. „Wer seid Ihr?“
Keine Antwort. Ob der Paladin aus Misstrauen schwieg oder weil seine Anstrengung, bei Bewusstsein zu bleiben, ihm den Mund verschloss, war nicht zu sehen.
Hadan ließ sich auf ein Knie nieder – damit der Andere nicht mehr zu ihm aufsehen musste und auch, um sich näher ansehen zu können, was ihn zunehmend beunruhigte.
Selbst für einen nicht unerheblich Verletzten, dem der gebrochene Arm immense Schmerzen bereiten musste, atmete der Mann zu mühsam. Seine Augen waren glasig, die Atemzüge kamen keuchend. In einer Ecke entdeckte Hadan einen Tonkrug.
„Beunruhigt Euch nicht“, wiederholte er. „Ich bin ein Gefangener wie Ihr.“
Obwohl die starren Augen sich klärten, war zu sehen, dass der Mann kaum begriff, wo er war, und sie flackerten im besessenen Ringen darum, nicht dem Entsetzen anheim zu fallen.
„Wer seid Ihr?“ bohrte der Nekromant nach. Der Blick des Paladins fand aus dem Raum zu ihm zurück. Auf die darin erkennbare Abneigung würde er sich nicht einlassen.
Er nannte seinen Namen und sah, dass es wirkte.
Anstand und vordergründige Höflichkeit prägten das Gehabe der Ordensbrüder in allen Teilen der Welt, ungeachtet ihrer Situation, und auch dieser Paladin regte sich, weil das Ideal, ganz gleich wie sinnentleert, beinahe fester mit dem Bewusstsein verwachsen war als persönliches Gefühl.
Bevor die Lippen unter dem kurzen Bart sich jedoch öffnen konnten, erfasste den Mann ein Zittern. Er stemmte sich elend halb zur Seite und erbrach sich. Dünne Flüssigkeit und Schleim spritzten auf den Steinboden.
Mit erstaunlicher Energie wandte er sich Hadan jedoch sofort wieder zu, der näher herangerückt war. Die gesunde Hand schlug in einer Geste erbitterter Abwehr, die gepresste Stimme schnappte halb über.
„Bleib mir vom Leib, Nekromant!“
„Ich kann Euch helfen“, entgegnete Hadan ruhig. Die an Angst grenzende Abneigung der Menschen des Westens war nichts, das ihn berührte. „Man hat Euch vermutlich das Trinkwasser vergiftet.“
In den vom Erbrechen geröteten Augen huschte ein Funken möglichen Verstehens.
„Sie... sie haben uns nichts gegeben... außer dem Wasser. Wir mussten es trinken.“ Vielleicht sich erinnernd, vielleicht den Toten plötzlich spürend, wandte der Paladin den Kopf halb zu diesem hin. Hadan sah in seinem Gesicht heraufziehen, was er in den Kriegen und vor den belagerten Städten schon an so vielen Menschen hatte erblicken müssen: das unendlich mitleiderregende, langsame Begreifen eines Verlustes. Vor diesem fremden Schmerz war alles, was an Hilfe angeboten werden konnte, ein Anstoß zum Handeln, eine Einspannung in das Hier und Jetzt.
Die Seele des Toten war noch im Raum. Er nahm ihre klagende Bewegung wahr. Aber für sie konnte nichts mehr getan werden.
„Er ist tot“, kommentierte er den Seitenblick das Anderen. „Für ihn kommt jede Hilfe zu spät. Für Euch indes nicht. Sagt mir Euren Namen.“
Der Paladin hustete, und in seinem Zögern drückte sich, neben dem unverhohlenen Misstrauen, Befremden über die Bevormundung durch einen Mann aus der einfachen Bevölkerung und einer niedrigen Kaste aus. „Menrad Callist“, rang er sich dann aber zu einer Antwort durch, und sie schein ihn zu festigen. „Kommandant der Mission in Shanghar. Er –„ diesmal wies nur die gesunde Hand zu dem stillen Körper „- war ein Mann aus meiner Truppe... eigentlich aber ein Kuraster Gardist. Rhajeev Chana... war sein Name...“
„Lasst mich nach Euren Wunden sehen“, entgegnete der Nekromant. „Es wird von allein nicht besser werden.“
Sofort wich die Klarheit, die den Paladin zuletzt erreicht hatte, erbitterter Abwehr. In seinem Gesicht wurde die Furcht, vom Gegenüber berührt zu werden, zu körperlichem Widerwillen, ja fast zu Hass. „Fasst mich nicht an“, knirschte er. „Bevor Ihr Eure Hände an mich legt, sterbe ich lieber.“
Hadan ignorierte, dass der Andere ihn trotz der Feindseligkeit mit einem Mal höflicher ansprach. Langsam kam sie jetzt, kam doch, kühl und mit gefährlicher Verachtung einhergehend – die Wut über die engstirnige Scheu des ordensgeprägten mittleren Westens, über die selbstvergessene Torheit einer ignoranten Hochkultur. Er bohrte dem Mann die bleichen Augen in das wunde Gesicht, dankbar, dass die Ruhe schnell wiederkehrte.
„Ihr könntet Euch ohnehin nicht wehren“, sagte er und ließ sich auf der Ferse des abgewinkelten Beins nieder, wartend, geduldig. „Es mag seltsam klingen, aber im Augenblick habe ich Zeit. Viel Zeit.“ Er fixierte die grimmigen Augen des Kommandanten. „Ihr werdet sowieso bald das Bewusstsein verlieren. Sie werden Euch nicht helfen, nur am Leben erhalten.“
Menrad blinzelte.
Dann aber griff er doch nach der kleinen Kugel gepresster Pflanzenteile, die der Nekromant ihm, sich erhebend, in den Schoß warf.
Hadan überließ den Paladin eine Weile sich selbst und trat zu dem Toten. In der Hitze würde der Körper bald verfallen. Er glaubte nicht eine Sekunde daran, dass den Wachen entgangen sein konnte, dass der eine Eingesperrte nicht mehr lebte. Sie lassen ihn absichtlich hier liegen – die Anwesenheit des toten Kameraden soll den Anderen quälen. Auch wenn die Männer Fremde waren, packte ihn eine Woge angewiderten, wütenden Bedauerns derart heftig, dass seine Hand zitterte, als er dem Toten die Augen schloss.
Die Bewegung der umherstreifenden Seele war eine einzige Klage, traurige Gewissheit eines gewaltsamen Todes auf geliebtem Land, ohne verstanden zu haben. Ohne heimgekehrt zu sein. Unter dem Stoff mit den Lichtsymbolen fand sich eine blassgoldene Kette mit dem Anhänger eines Bisra-Tempels.
Düster murmelte er einen Vers, sich wohl bewusst, dass die Augen des Kommandanten ihn misstrauisch beobachteten, verfiel dann in monotonen Singsang.
Als er sich erhob und zur Tür ging, kauerte der Verwundete schon ruhiger an der Wand. Die Kräuter taten bereits ihre Wirkung. Aus dem Augenwinkel streifte der Nekromant den rechten Unterarm des Mannes mit einem Blick. Eine deutliche Erhebung, rot verschwollen, bestätigte seine Vermutung. Man hatte dem Paladin den Arm entweder bei seiner Verhaftung oder später gebrochen. Die Bruchenden saßen versetzt. Sie würden falsch zusammenwachsen, oder überhaupt nicht.
An der Tür hielt er inne und lauschte, sandte die gesammelte Konzentration nach den Anderen. Er spürte sie. Selbst von dem Kind erhielt das Ausschicken dieses Sinn-ähnlichen Tastens ein feines Abbild. Er schloss die Augen, und Sorge schob sich vor die wiederkehrende Verwirrung. Weder Art noch Ursprung dieser Gabe waren ihm klar, auch steuern ließ sie sich nicht. Was es auch ist, es hat mit euch begonnen. Er nahm die Gefährten wahr, und nur das zählte jetzt.
Eya spürte er am deutlichsten. Ihr Seelenlicht stand angespannt, aber hell im Dunkel hinter seinen Lidern. Die assassinische Erfahrung würde sie warnen, nichts an Wasser oder Nahrung unvorsichtig anzunehmen.
Die sie umgebende Ordnung war neu und – vielleicht zu ihrem Glück – lückenhaft, offenbarte Eile und irritierende Selbstsicherheit. Im besten Falle, weil sie nicht alles bedenken konnten, im schlimmsten, weil hinter den Mauern Travincals eine Macht saß, die unangreifbar war.
Hadan wandte sich um.
Der Paladin starrte ihn benommen an, als er sich ihm gegenüber niederhockte.
„Wie lange seid Ihr schon hier?“ fragte der Nekromant. Die Anstrengung des Erinnerns würde vor dem Mann eine Weile verbergen, was mit ihm geschah, und vielleicht mehr über ihrer aller Gegner herausbringen.
„Ich weiß nicht“, kam es matt. „Vielleicht drei Tage.“
„Starb Euer Untergebener hier? Erinnert Euch.“
Ein Ausdruck der Qual trat auf das eingefallene Gesicht. „Er... er starb, glaube ich... kurz nachdem man uns eingesperrt hatte.“ Mitleiderregende Müdigkeit zog durch die fiebrigen Augen, Selbstvorwürfe. „Ja... ich glaube, so war es. Ich konnte ihm nicht helfen.“
Die Not riss das Misstrauen des Paladins kurzzeitig ein. Hadan indes wusste, warum sein Widerstand auch nachgab, erschlaffte wie alles andere. Geduldig wartete er.
„Warum seid Ihr aus Shanghar gekommen? Wisst Ihr etwas über den Verbleib der kurastischen Paladine?“
Ein mühsamer Atemzug hob die Brust des Anderen. Menrad, erinnerte sich der Nekromant. Ein fadraîscher Name. „Die Mission wurde überfallen und... ausgelöscht“, antwortete der Paladin. „Meine Einheit kam, nachdem uns Überlebende in Shanghar erreicht hatten. Wir waren auf einem Erkundungszug.“
Das erklärt die Abwesenheit aller Paladine auf den Straßen. Aber von dem Vorfall war nichts mehr zu sehen, ganz, als sei nie etwas vorgefallen. Hadan wandte den Kopf zur Tür. Auf dem Gang kam jemand vorbei, hielt aber nirgends an. Man schaute kaum nach den Gefangenen, ein weiteres Zeichen, dass man sie sicher verwahrt wähnte.
Er sah Menrad an, unverwandt und prüfend. „Ich bin mit drei Gefährten hier, Paladin. Wir wurden ohne Anlass verhaftet und ohne ein Wort der Anklage hierher gebracht – ganz wie Ihr, vermute ich.“ Er sah im Gesicht des Anderen die Bemühung, die Lage nüchtern abzuwägen. „Ich kenne Kurast besser als Ihr“, fuhr er fort. „Aber nicht einmal ich kann Euch sagen, was hier vorgeht, und ich bezweifle, dass die Kuraster es besser könnten.“
Die Männer fixierten einander, hier ruhig, dort mit angestrengter Sturheit.
„Travincal“, sprach Hadan weiter „ist nah. Wenn es einen Willen hinter unserer Festnahme gibt, sitzt er dort, und man wird sich kaum die Mühe gemacht haben, Euch und uns am Leben zu lassen, weil wir so hübsche Zelleninsassen abgeben.“ Er senkte die Stimme. „Sie werden uns holen, Paladin. Irgendwann. Ihr wisst etwas, das sie interessiert, sonst wäret ihr nicht mehr hier. Bei uns sind sie offenbar derselben Meinung.“
Die glasigen Augen glommen kurz auf. „Wer... zum Himmel, wer seid Ihr?“
„Unwichtig“, entgegnete der Nekromant und rückte an den Verwundeten heran. Dessen Bewegungen kamen nur noch schwer, als müsse er gegen etwas ankämpfen, das ihn weich und stark nach unten zog.
Jetzt schien ihm doch aufzugehen, dass etwas nicht stimmte, und in einem Aufwallen von Energie versuchte er, sich hoch zu drücken. Es misslang jämmerlich, aber die Augen hingen erweitert an dem bleichen Fremden.
Hadan stemmte das rechte Knie auf den Unterleib des Mannes, der fassungslos aufkeuchte. „Was... was habt Ihr mit mir gemacht?!“ Erfolglos zuckte der verwundete Arm gegen das andere Knie des Nekromanten hoch, bevor es ihn am Ellbogen auf den Boden drückte.
„Nichts, Paladin.“ Hadan legte die Rechte auf die Brust Menrads. „Was ihr geschluckt habt, wird Euch helfen – gegen Euer Fieber und gegen das Gift. Und gegen den Schmerz.“
Er fasste mit der Linken das rechte Handgelenk des Anderen. Die Haut war so heiß, dass seine Hand dagegen kühl erschien. Sie war die stärkere. Seit einem Jahr. Der Verwundete lag genau richtig.
Vage hörte er den Paladin, heiser im Taumel der Droge und des Entsetzens, Verwünschungen ausstoßen, aber die Konzentration dämpfte sein Gehör.
Dann packte er fester zu und zog den gebrochenen, schon verwachsenen Unterarm mit aller Kraft lang. Ein leises, böses Knirschen. Gepeinigtes Keuchen. Die zuschlagende Linke erreichte ihn nicht.
Dann war es vorbei.
„Liegt still“, sagte er, aufstehend, in das schweißige, schmerzensbleiche Gesicht. Die Augen fraßen sich in Verwirrung und Zorn an ihm fest. „Ich muss Euch noch verbinden.“
„Kannst du etwas hören?“
Mit sorgenvoll ineinander verschränkten Händen beobachtete Ifrah die Assassine. Eya hatte ein Ohr an die dunklen Bohlen der Zellentür gelegt, regte sich nicht, atmete auch kaum. Fast schien sie mit dem Hintergrund zu verschmelzen.
Dann wandte sie sich um. „Nichts.“ Ihre schwarzen Augen glitzerten im dämmrigen Licht.
Das feine Gehör der jungen Frau half ihr wenig zwischen dicken Steinmauern und wuchtigen Türen. Das Gebäude mochte alt sein – die unsichtbaren Wege der Ratten verrieten es – war aber von sorgfältiger Bauart, wie alle Tempel und Häuser der kurastischen Hochkultur.
„Ab und zu eine Wache“, sagte die Assassine und bemühte sich, ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen. Festigkeit, die sie nicht empfand.
Der Tag neigte sich bereits langsam dem Abend zu, der den Himmel über der Stadt in die zarten Farben der Dämmerung kleidete. Immer wieder hatten die Frauen gegen die schwere Tür gepocht, bittend, man möge ihnen wenigstens über das Befinden des Mädchens Auskunft geben. Niemand hatte ihnen geantwortet. Auch die Wasserkaraffe, die rasch durch einen geöffneten Türspalt hereingeschoben worden war, war eine stumme Gabe gewesen.
Während Ifrah den derben Bohlen ihre Verzweiflung mit den Fäusten und dem Flehen ihrer Stimme anvertraute, hatte Eya den Krug untersucht. Sie hatten das Wasser nicht getrunken.
Zu ihrem Glück besaßen beide eine kleine Lederflasche, Relikt der Gewöhnung an entbehrungsreiche Tage langer Wanderungen.
Eya kauerte sich nieder, in die Stellung, in welcher sie am besten nachdenken konnte.
Man hatte ihnen eigenartigerweise außer den Waffen nichts weiter weggenommen. Die Nadeln in ihren Armschienen waren noch da, ebenso der Brief, einige andere Kleinigkeiten und Schmuck, und auch die Wasserflaschen.
Es beruhigte sie nicht, im Gegenteil. Wer hinter diesem Umgang mangelnde Erfahrung oder Nachlässigkeit vermutete, musste schon mit der Blindheit der Hoffnung geschlagen sein.
Mit erzwungener Ruhe konzentrierte sich die Assassine auf den Grundriss des Gebäudes und die wahrscheinliche Unterbringung der Anderen. Maysan hatten sie zuletzt vor der letzten Zelle des Ganges gesehen, also trennten sie drei Zellen von den Frauen. Den Nekromanten hatten die Wächter vermutlich schräg gegenüber eingesperrt.
Sie stand auf und legte die Hände auf die Tür, als könne die Macht ihrer Gefühle Stein und Holz niederreißen. Hadan.
In hundert Situationen waren die Gefährten schlimm bedrängt gewesen, aber niemals getrennt. Mit der Unterbrechung ihres Zusammenhalts – über alle persönlichen Schwierigkeiten hinweg ihre größte Stärke – hatten die Widersacher, beabsichtigt oder zufällig, den Finger auf ihre schwächste Stelle gelegt.
Eya sah sich nach Ifrah um. Wenn sie den Nekromanten hinter Mauern und Türen schmerzlich intensiv wahrnahm und misste, wie musste es erst der Magierin mit Maysan ergehen?
Die Augen der älteren Frau begegneten ihr, rastlos, erweitert. „Was, wenn sie Maysan weggebracht haben?“ Angst ließ ihre samtige Stimme heller klingen. „Ich ertrage das nicht länger...“
„Wir können nichts tun“, entgegnete Eya beschwichtigend. Die Andere wusste dies ebenso, aber zuweilen in den erst wenigen vergangenen Stunden des Wartens, schien ihre Beherrschung nur ein dünner Schleier über dem wahnwitzigen Impuls, die sie einmauernden Wände zu zersprengen, ganz gleich, wer dabei zu Schaden kam.
Eya näherte sich ihr vorsichtig. Obwohl Ifrah beinahe kraftlos dastand, zitterte die Luft um sie her, ging durch Haut und Haar bis in die Leibesmitte, als feines Kitzeln, Vorbote des machtvollen Schlages, den sie in der Nähe der Magierin schon so oft verspürt hatte. Ihre Hand, die sich behutsam auf Ifrahs Schulter niederließ, wurde akzeptiert. „Wir können nichts tun. Nicht, bevor wir die Lage genauer kennen. Maysan wird gewiss nichts geschehen sein.“ Beklommen hörte sie selbst, dass ihr letzter Satz nicht überzeugend klang.
„Damals, als ich fortging“, sagte die Magierin leise „musste sie erleben, wie sie anderen Menschen zugeschoben wurde. Jetzt, da ich es nicht ein weiteres Mal über mich brachte, sie allein zu lassen, muss sie wieder leiden.“ Alle Macht und Erfahrung der Kämpferin, die allein über die Schlackenebenen der Hölle gewandert war, um sich der aussichtslosesten Mission ihrer Zeit anzuschließen, fiel von ihr ab. Zurück blieb eine dunkelhäutige, nicht sehr große Frau fortgeschrittenen Alters, der die Zerrissenheit zwischen zwei Leben aus dem stolzen und traurigen Gesicht sprach.
„Erinnerst du dich an die Nacht im Weg der Ahnen?“ fragte die Assassine, um die Andere abzulenken. „An unser Gespräch? Du erzähltest mir damals von Maysan... und wie eure lange Trennung euch entfremden würde... aber dass es besser so für sie sei.“
„Ich erinnere mich.“ Ein Lächeln kam auf Ifrahs Gesicht, an dem nur in den Gedanken an die damalige Kameradschaft Freude war.
„Was immer jetzt geschieht, ihr seid zusammen.“ Die schmale Hand der Assassine drückte noch einmal, unbeholfen, die Schulter. Sie konnte nicht lügen. „Sie wird sicherlich große Angst haben. Aber ich habe...“ – als sei sie plötzlich nackt, sah sie zu Boden – „...immer gefühlt, dass die Angst, wenn sie Nähe kennt, viel leichter zu ertragen ist als die Einsamkeit.“
Als sie wieder aufsah, lächelte Ifrah immer noch. Es war ein vergängliches Lächeln, voller Traurigkeit über eine sich schwieriger als in den Worten der Gefährtin gestaltende Wirklichkeit. Sie verstand den kurzen Trost, und auch, dass Eya es ehrlich meinte.
Wieder, wie schon zuvor in Zeiten, da Not und Bedrohung von außen sie auf sich selbst und die anderen zurückwarf, fühlten die beiden unterschiedlichen Frauen, was sie aneinander hatten. Auch, wenn ihr Lebensweg und ihre Erfahrungen gänzlich andere waren.
Ihre Lage besserte es indes nicht, und die feuchte Zelle machte alle leichteren Gedanken rasch zunichte.
Ernüchtert sahen sie sich um, zum ungezählten Mal.
Nicht einmal Eya konnte sich durch die Gitterstäbe des Fensters winden. Die Tür verschloss eine eigenartige Kraft, die Ifrah teils, wenn auch schwächer, in den Wänden und überall im feuchten Stein spürte. Magische Versiegelungen waren selten, eine fast vergessene Kunst. In Kurast mochte man solches Wissen besitzen. Und es zeigte erneut, dass die Gegner recht genau wussten, mit wem sie es zu tun hatten.
Ein Ausbruch von Ifrahs Kräften würde ungeahnte Folgen haben, Folgen, vor denen sie die Assassine kaum schützen konnte, und vermutlich keine Wirkung.
Schritte auf dem Gang rissen die Frauen aus ihrem dumpfen Brüten.
Erneut warfen sie sich versuchsweise gegen die Tür, riefen. Aus dem Augenwinkel sah Eya wieder Vorboten der Panik in Ifrahs Gesicht. Jeder Bewaffnete dort draußen konnte zu Maysans Zelle unterwegs sein.
Himmel, gib, dass Beiden nichts geschieht. Gib uns eine Möglichkeit zur Flucht.
Eya zog die Magierin mit sich rückwärts, als die Riegel sich bewegten.
„Sie kommen uns holen, Ifrah“, sagte sie leise. Ihr war nicht klar, woher, aber sie wusste es.
Als die Tür sich öffnete, waren die Männer ihrer Festnahme wieder da, weniger jetzt, doch sie füllten den Gang. Herausgeholt, wieder gefesselt, sahen die Frauen Hadan und einen weiteren Mann aus der Zelle schräg gegenüber auftauchen, düster im Durcheinander gebellter Befehle und blitzender Waffen. Ferner wartete eine Gestalt in priesterlichen Gewändern.
Die Gefährten sahen nach dem Kind. Maysan schien in den Armen eines Bewaffneten zu schlafen. Ihr Kopf ruhte an der Brust des Mannes, schwer von einer Droge oder einem Betäubungsmittel. Sie verständigten sich mit nach außen kaum sichtbaren Blicken, sandten Ifrah, der Tränen in die Augen gestiegen waren, dringende, beruhigende Gedanken zu.
Kurz sah Eya den Nekromanten an, bevor man sie alle in eine Reihe zwang. Er mühte sich, Zweifel und Panik zu verdrängen, niederzuhalten, sie las es in seinen Zügen.
Wenn es soeben eine Möglichkeit zur Flucht gegeben hatte, war sie nicht bedeutend besser gewesen als ihre Aussichten in den Zellen. Sie holen uns, Shatryindjah.
Man gab den Gefangenen keinen Hinweis, aber sie brauchten auch keinen.
Diesmal würde der Zug nach Travincal gehen.
Sie konnten sich nur vorwärts dirigieren lassen und auf eine bessere Gelegenheit warten. Hoffen, dass die Hohe Stadt Antworten bereithielt, und nicht nur ihren Tod.