@G4ndi: schön, dass du noch dabei bist, hatte dich bereits vermisst
So, es geht weiter.
XII. Kurast
Als sie die Augen aufschlug, war der Himmel über ihr von eben jenem nachdrücklichen Blau, das baldige Dämmerung anzeigt.
Beblätterte Äste ragten in ihr Blickfeld. Träumerisch sah Eya eine Weile zu ihnen hinauf. Das Erwachen ging nur langsam und mit einer nie gekannten Gelassenheit vonstatten, als habe sie zum ersten Mal wahrhaft tief geschlafen.
Doch ein Schwindeln, einem leichten Rausch ähnlich, widerlegte diese Möglichkeit.
Das Gift. Mit der gemächlichen Klarheit kam auch die Erinnerung daran zurück, wo sie sich befand und was geschehen war.
Sie lag auf dem Rücken. Ihr Kopf ruhte auf einer Erhebung, und an der bloßen Haut ihres Nackens spürte sie eigenartige, fremde Wärme. Jetzt schlug auch die Empfindung, nicht allein zu sein, plötzlich an. Sie wandte den Kopf.
Ihr Blick ging an der Linie eines halbnackten Arms entlang in Hadans Gesicht. Er hatte die Augen geschlossen und rührte sich nicht. Sein Atem verriet nicht, ob er schlief. Eya fühlte sich erstarren, aber es war ein Erstarren in Wärme, in Scheu und Bedingungslosigkeit zugleich. Hadan lag auf der Seite, so nah, dass sie für eine Berührung nur die Hand auszustrecken brauchte. Aber sie wagte es nicht.
Stattdessen richtete sie sich behutsam auf und ließ die Blicke schweifen. Es war ihr wie einer Genesenden zumute oder wie einem Menschen, den eine Veränderung aus einem alten Dasein in ein neues hinüberhebt. Der Wundschmerz an ihren Armen gemahnte an ihr Gestern.
Sie dachte an den Alten am Fluss, der sie eine Pilgerin genannt hatte.
Sie dachte daran, wie Hadan zu ihr gesagt hatte, sie sei nun vielleicht frei.
Frei. Bemüht, nicht das geringste Geräusch zu verursachen, saß sie und ließ den Augenblick sich in sie hineinsenken.
Ihrer beider Lager befand sich an einer der Außenmauern des Tempels, unter hohen Bäumen. Hadan musste sie hinausgetragen haben. Unter dem abendnahen Himmel wartete der Wald, still in einer letzten Anstrengung der Schwüle. Die Dämmerung würde seine Stimmen wieder hervorlocken, aber jetzt war eine große Ruhe ringsum, der Fluss darin nur ein leises Rauschen.
Eya drehte vorsichtig den Kopf.
In einer Wüstennacht, auf der anderen Seite eines Feuers, hatte sie dieses Gesicht zum ersten Mal deutlich gesehen: fern, herrisch, halb verborgen von ihrer eigenen Decke, über deren Rand sie hinweggeblickt hatte, allein unter Fremden, zitternd vor Wagemut und Einsamkeit. Nah war es jetzt und schien weicher. In den regelmäßigen Zügen saßen Härte und Nachgiebigkeit zugleich, und schwer bestimmbares Alter. Den Unterarm, der ihr als Kopfstütze gedient hatte, bedeckte eine Unzahl immer gleicher Narben.
Sie erschauerte bei diesem Hinsehen, als habe sie sich mit den Augen unerlaubt Zutritt zu seiner Seele verschafft.
In dieser Sekunde schlug er die Augen auf.
„Du hast den ganzen Tag geschlafen, als seiest du tot“, sagte er. Die alte Nüchternheit fehlte in seiner Stimme. „Die Nachwirkungen sollten erträglich sein.“
Benommen entdeckte sie, dass sie unwillkürlich vor ihm zurückgeschreckt war. Sie kniete jetzt und murmelte eine Bestätigung.
Ein Augenblick verstrich in Schweigen, und die junge Frau fühlte sich zaudern, nicht wissend, was sie nun tun sollte. Dann stand sie auf den Beinen und sah betreten zum nahen Fluss, während Hadan sich aufsetzte. Darin, den Anderen trotz aller Ungewissheit anzusehen, den Blick nicht abzuwenden, war er besser.
Es muss etwas geschehen, ging es Eya durch Kopf und Herz.
Und es wird geschehen. Ein Schritt. Aber das Traumwandlerische der vorigen Nachtstunden war wieder fort.
„Ich würde mich gern waschen“, hörte sie sich selber sagen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass ihre Schulterpanzer und ihr Leibschutz fehlten, abgenommen worden waren, damit sie leichter schlafen konnte.
Sie stand im Leinenhemd, mit flammenden Wangen, und ihr Blick huschte bittend zu seinem Gesicht. Die Stille war mit Händen zu greifen.
„Der Fluss ist ungefährlich, das Wasser sogar trinkbar“, warf er ihr einen Satz hin.
Wir sind am Ende der Ausflüchte angelangt. Als er wieder sprach, hatte sich seine Stimme vollkommen verändert.
„Ich werde
nicht weggehen oder wegsehen, Eya.“
Sie schluckte. Die Angst und das irritierende Gefühl zögerlichen Stolzes, anhebender Erregung, waren indes nicht, was sie fest bannte. Die Scham war es. Sie sperrte aus, was sie gern wagen wollte, und ließ sie linkisch, wie sie dachte, und elend dastehen.
„Es ist“, brachte sie mit belegter Stimme hervor „wegen der alten Verletzung.“
Mein Körper war zertrümmert. Tyrael allein, erzählten sie mir, ist es zu verdanken, dass ich noch lebe. Ihr Gesicht war ein Schlachtfeld leiser, tiefer Qual. „Von außen sieht man das nicht. Aber es ist nichts mehr wie früher.“
Dann musste sie wegsehen.
Hadan sah sie das Antlitz abwenden im Versuch, ihre Scham zu verbergen. Vergebens, wie sie auch erfolglos ihre Scheu über dem zittern ließ, was in ihr schlummerte. Vielleicht war das einer der Gründe, warum er sie liebte.
Jedem von uns, dem, der den ersten Mut aufbringt, wäre es jetzt ein Leichtes, sich den Anderen zu nehmen. Er würde sich nicht wehren. Er musste sich zwingen, klar zu denken.
Unsere Ähnlichkeit würde darüber in Vergessenheit geraten. Das ist nicht die Tür, durch die ich mit dir gehen will.
Dann stand er auf.
Eya zuckte zusammen, als erwarte die Anspannung ihres Leibes einen Schlag, ein Wort oder eine Berührung, aber Hadan sprach nicht. Wortlos, ihre Augen mit seinen lange festhaltend, zog er sich das Lederhemd über den Kopf. Über seine linke Schulter, bis weit hinunter zu Rippen und Lenden, über die gesamte linke Seite seiner Brust, zog sich der Schlag der Minotaurenaxt. Als sei unter der oberflächlich verheilten Wunde, die ihn hätte getötet haben müssen, damals, eine andere Materie entstanden, prangte die Verletzung, leuchtend rot auf der sonst makellos weißen Haut. Das Gewebe war wüst vernarbt. Ergriffen sah sie, dass es den Rest von ihm für sie nur schöner machte.
Mit fahrigen Händen streifte sie die Waffengurte ab, die Beinkleider und Stiefel. Ihr Gesicht brannte, aber ihr war plötzlich zumute, als sei sie betrunken. An ihren Beinen glitt das Unterzeug ins Gras. Zögernd entledigte sie sich des Hemdes, dann auch des enganliegenden Brustschutzes aus weichem Leder. Hadan sah ihr zu. Dann stand sie frei, mit ihrer mitgenommenen rechten Hüfte, dem unterbrochenen Schwung ihres Schlüsselbeins, der abgesenkten Schulterpartie, der langen, fußbreiten Narbe, die in einem Gewirr an ihrem Hals begann und über ihren Leib hinabführte bis in die sanften Täler ihrer Lenden. Es sah aus, als habe ein Blitz sich verstiegen, Ewigkeit auf ihrer Haut zu beanspruchen. Aber elegant wand sich sein Lauf um die Wölbung ihrer Brust, die stählerne Eleganz ihres Körpers hatte keine Einbuße hingenommen, und ihre schwarzen Augen besaßen größeren Glanz als je zuvor.
Wir sind nicht unversehrt aus den Kämpfen hervorgegangen. Macht es sie – und uns – nicht kostbarer?
Hadan wandte sich ab und ging langsam zum Flussufer.
Eya sah ihm hinterher. Zitternd, wunderte es sie, dass er sich so frei bewegte. Dann trat hinter seiner weißen Gestalt der Hintergrund des Waldes hervor, und sie verstand.
Weil er hierher gehört.
Er watete bis zur Hüfte ins Wasser hinein und drehte sich nach ihr um. Die pure Forderung in seinem Blick half ihr über die ersten Schritte hinweg. Fast übergangslos stand sie neben ihm im Wasser.
Warum die unüberwindlich scheinende Schwelle mit einem Mal an Bedeutung verlor, ob etwas Zwingendes in Hadans schweigender Art die Versuchung unwiderstehlich gemacht hatte, über alle Angst hinaus, konnte sie später nicht sagen.
Sie standen im stillen Fluss, Herumgeworfene ihrer Zeit, aber auch Krieger, versehrt und atmend, und in der Unnahbarkeit des Anderen lag, weil er sie wegschenkte für das Wagnis des Aufeinandertreffens, ein erregender Widerspruch.
Eya sah ihrer eigenen Hand zu, die sich behutsam auf die Brust des Nekromanten legte. Wo sie herstrich, ging die Glätte der Muskeln in zerklüftetes Fleisch über. Er zuckte nicht zurück. Nach ungewissen Augenblicken fing er ihre Hand, und ein leises, aber unmissverständliches Ziehen zwang ihren Schatten, auf dem Wasser in seinen zu fließen. Dunkelheit und schwerer Atem schluckte sie, dann eine Gier, die alle unsichtbaren Fesseln der Hände löste. Ringsum fiel Dämmerung herab, lautlos, von anderen Sinnen als den Augen wahrgenommen, denn diese, als erstes, besaßen sich gegenseitig. Das Zittern ließ sich nun beruhigen, in tiefem Staunen über den Mahlstrom der Nähe, in dem Fremdheit und Verlangen aufeinander lossprangen. Daraus löste Eya, ein letztes Mal, den Kopf, aber nur, um wieder zurückkehren zu können, und vom Zurückkehren war es nicht mehr weit bis zum Hochgehobenwerden und bis zu seinem Mund.
Drei Tage später näherten sie sich Kurast, der großen, alten Stadt der östlichen Kontinentalkultur. Kleinere Weiler, vermehrte Boote auf den Zuflüssen des Arivati, immer wieder unverhofft auftauchende Tempel im Meer der Bäume – alles kündigte die Nähe dichter Zivilisation an.
Menschen begegneten sie bislang aber noch selten. Hadan indes wusste, dass der dichte Wald den Durchreisenden leicht über die Zahl der in ihm Lebenden täuschte. Zählungen der Untertanen, von allen größeren Fürstentümern verschiedene Male durchgeführt, hatten stets gezeigt, dass außerhalb der Städte weit mehr Menschen hausten als geschätzt.
Am Vortag ihrer Ankunft begegneten sie jedoch etwas ganz Anderem als Flößern oder Reisbauern.
Es geschah, als sie mittags am Ufer desselben Stromes rasteten, dem sie seit dem Abstieg aus den Hügeln gefolgt waren. Schwüle lastete in der Windstille, die unter der Sonne kaum zu ertragen war.
Sie wählten den Schatten unter einem ufernahen Baum. Hadan hatte sich bereits niedergelassen und sah zu, wie Eya sich Wasser aus dem Fluss über das kurze Haar schöpfte.
Gleichzeitig fast erreichte sie etwas, das sie alarmierte. Die Assassine, deren scharfes Gehör langsam herannahendes Knacken aus dem Dickicht unweit von ihnen vernommen hatte, richtete sich auf. Einen Schritt machte sie in Richtung des Nekromanten, der bereits wieder auf den Beinen war, gewarnt auf anderen Wegen.
Er winkte sie heran. In diesem Augeblick aber tauchte der Urheber der Geräusche auf, und beide erstarrten. Sein Gespür mochte dem Nekromanten eher etwas verraten haben, und er hieß die junge Frau, die ihre Klingen bereits angriffsbereit hielt, mit einem Blick davon Abstand nehmen..
Komm her, aber ohne ein Geräusch, und langsam. Sie hörte es beinahe im Kopf. Sacht schlich sie an seine Seite.
Dann, in altem Schreck, aber mit wachsendem Staunen, standen sie und beobachteten den ehemaligen Feind.
Es war ein Dornendrescher.
Aus dem Dickicht des Urwalds hervorbrechend, bewegte sich die Kreatur mit den plumpen, aber überraschend geschwinden Schritten ihrer Art über den Uferstreifen auf den Fluss zu. Trockenes Knirschen begleitete das Beugen der baumstumpfähnlichen Glieder. Eya und Hadan kannten es als erste Warnung vor den fürchterlichen Attacken der Drescher.
Dieser hier aber, wenngleich er sie wahrnehmen musste, griff nicht an. Er würdigte sie keines Blickes.
Langsam durchwatete die Kreatur den Fluss. Er reichte ihr nur bis zur Leibesmitte. Dann, mit einem letzten Knarren und unter dem Brechen von Zweigen, verschwand sie im Waldsaum der anderen Flussseite.
Eya, die noch nach der Stelle spähte, an der die Kreatur verschwunden war, schrak zusammen, als Hadans Hand ihr durchs feuchte Haar strich. Nach einer Sekunde der Befangenheit, die abzulegen ihr noch nicht gelang, schmiegte sie sich in die Berührung.
„Wie konntest du wissen, dass er uns nicht angreift?“ fragte sie und sah ihn an.
„Nur ein Gefühl“, antwortete er. „Fehlende Aggressivität. Einzig der Drang, in den Wald zurückzukehren... weg von Lebewesen wie uns...“ Seine Stimme war leiser geworden zuletzt, fast wie in Trance.
Es ist noch etwas anderes als seine Schulung oder zufällige Begabung, was ihn zu derlei Wahrnehmungen befähigt. Rasch aber drängte Eya die aufkommenden Gedanken fort, die sie ängstigten. Und gespürt hatte sie auch etwas.
Sie ließen sich wieder unter dem Baum nieder. Nachdenklich schlang die Assassine beide Arme um die ans Kinn herangezogenen Knie. Leise begann des Nekromanten Hand an ihrem Schenkel zu spielen. Nach wie vor geschah es weniger oft, dass er sie berührte, als ihr Körper es begehrte, und sie hielt ganz still.
„Ich habe mir nie die Frage gestellt, was all den Kreaturen widerfahren ist, die uns begegneten... damals“, überlegte sie laut. Ein Schatten der Erinnerung zog über ihr Gesicht. „Die, von denen wir wussten, dass sie der Sphäre entstammen, in der das dunkle Heiligtum steht – sie müssten... vergangen sein, wie die Energie ihrer Herren. Und die Züchtungen, die weder dorthin noch hierher gehören – irren sie noch durch die Berge und werden gejagt?“ Ihre Augen suchten die Hadans. „Aber zu diesen beiden Gruppen gehörten doch nicht alle.“
„Nein, sogar die wenigsten.“ Er lehnte den Kopf an den grünlichen Stamm. „Drescher, anderes Getier, die Wasserschlangen und das Waldvolk, die Pygmäen, gab es hier schon vor den ersten Fürstentümern, lange bevor Kurast erbaut wurde. Die Wüste hat ihre Bewohner. Viele sind älter als die Menschheit. Zumindest hier ist es so, und in den nekromantischen Lehren findest du nichts anderes.“
Eya sah die unaufhaltsame Fortbewegung der Kreatur wieder vor sich Es musste so sein, wie er gesagt hatte. Der Hauch von etwas Älterem hatte sie gestreift.
„Dann haben wir etwas gesehen, das sich... freigemacht hat vom Einfluss des vergangenen Jahres?“ Sie vermied es, die Namen der alten Erzgegner zu nennen.
Hadan folgte ihrem Blick über das Ufer. „Vielleicht ist es so. Es sind auch Völker. Warum sollten sie nicht ihre Entscheidungen getroffen haben?“
Sie schwiegen. Beide ahnten, dass sich im Anderen die Fragen regten, die seit der Zerstörung des Weltensteins unablässig auftauchten.
Wie schon vordem fanden sie sich mühelos im Gespräch wieder, obwohl jeder eine Zeit lang mit seinen Gedanken allein gewesen war. „Etwas.. ist geschehen“, sagte Hadan tastend. „Die vertrauten Fronten lösen sich auf. Was ich gespürt habe, war Intelligenz.“ Er sah Eya an. „Und nicht, weil ich es allein bin, der sich verändert hat... seit –„
„Ich weiß.“ Ihre Stimme war nur ein Flüstern.
„Was geschieht, Shatryindja? Wohin geht die Welt? Vielleicht haben wir, in all unserer hergebrachten Ignoranz, die möglichen Feinde und Verbündeten neu zu ordnen. Und was ist mit den Menschen?“ Er sagte es, als spreche er von einer anderen Art. Sie fühlte, seltsamerweise, keinen inneren Widerstand.
Kurast war sehr nahe.
Auch wenn sie seine Bindung an die alte Stadt noch nicht ganz erfasste, begriff sie nun, warum er dort nach Antworten suchen wollte.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als er sie an sich zog, aber zugleich fühlte sie eine verwundernde Gewissheit im Innern. Schon einmal war sie in dieser Gegend gewesen, in Tagen rastloser Jagd, ohne mehr als ein flüchtiges Schauen nach rechts und links. Es hatte ihrem Leben entsprochen, und die Einsamkeit des Weges, gespickt mit herzzerreißenden Hoffnungen, war der Vorgeschmack auf ein friedloses Ende gewesen. Jetzt aber war nichts mehr wie damals.
Sie vermochte nun hinzusehen, ihretwegen, seinetwegen. Und für diesen Moment, in der neuen Gewissheit, verspürte sie keine Angst.
Sie erreichten die Außenbezirke der Stadt am Morgen nach ihrer seltsamen Begegnung, und dies war viel eher, als sie erwartet hatten.
Bereits hier zeigte sich, wie sich das Zentrum der östlichen Zivilisation gewandelt hatte.
Ein Kranz von verwitterten Steinbauten und Hütten längs der Hafenanlagen war seit jeher das Erste gewesen, was von Norden oder Westen Kommende erblickt hatten und zum Zeichen nehmen konnten, dass ihr Ziel erreicht war: Kurast, die Alte, die Schöne, der heilige Bezirk aller Götter, der hehre Traum der Hoffnungsvollen, der so Viele anzog und an dem die Meisten verzweifelten, niedergedrückt durch ihre Geburt, ihre Kaste, und doch immer aufs Neue versucht von einem Glanz, der aus abertausend Leben sich zusammenfügte.
Jetzt aber lagen die Hafenanlagen nicht mehr außerhalb der Stadt. Kurast hatte sich um sie geschlossen.
Ein schnell dichter werdender Strom von Menschen schluckte Eya und Hadan. Übergangslos, so schien es, tauchten sie aus der Weite des Urwalds in den Kessel der Stadt.
An einer Straßenecke blieben sie stehen, neben einer kleinen Garküche. Atemlos im Gewühl der Gassen hielten sie hier dankbar inne, und auch die Reismilch, die sie erstanden, diente eher dazu, den Moment des Verschnaufens auszudehnen.
Die Augen gingen wachsam und staunend über die Szenerie der belebten Kreuzung.
Hunderte Gestalten kamen an Eya vorbei, die sie nicht einordnen konnte – Kahlgeschorene in erdbraunen Gewändern, Bettelnde, einäugig, lahm, ein Alter mit einem fremdartigen Musikinstrument, schreiende Karrentreiber, Frauen wie Paradiesvögel. Hunderte fremder Bewegungen, unverständlicher Gesetzmäßigkeiten.
Sie sah zu Hadan.
Er fing ihren Seitenblick auf und hob die Hand zu ihrer glatten Wange, wie beruhigend, aber sein Gesicht war ernst.
Willkommen, formten seine Lippen. Er war besorgt. Und wie sich bald herausstellte, schien es reichlich Anlass zu geben.
Am Hafen fanden sie keinen ihrer alten, flüchtigen Bekannten.
Der Schmied Hratli war fortgezogen, hieß es, nein, krank geworden und gestorben, meinten Andere. Einige taten, als habe die Frage der beiden Fremden sie nicht erreicht. Hadans Erscheinung, die Menschen oft hinreichend einschüchterte, um mit einem Stück Wahrheit herauszurücken, bewirkte nur, dass die Gefragten sich murmelnd zurückzogen. Von Ormus und Alkor, dem Priester und dem niederen Schamanen, fanden sie noch weniger: kaum eine Spur, die verriet, dass sie jemals existiert hatten. Ashearas Name erinnerten die Leute, aber Viele spuckten dabei aus. Den Weg aller Aufwiegler war sie gegangen, und es war wohl Wille der Götter, dass ihr Verschwinden und die näheren Umstände in Vergessenheit gerieten.
Nachdenklich berieten sie sich nahe des Hafens in einer winzigen Schenke.
„Wir sollten nicht weiter herumfragen“, gab Hadan zu bedenken. „Besser, wenn wir in der Erinnerung der Leute nicht unnötig haften bleiben.“ Trotz aller Unwägbarkeiten erhellte ein inneres Licht seine Züge. Die Assassine ahnte, wie stark ihn das veränderte Kurast in einen Zwiespalt bringen musste, und dass er dennoch empfand wie ein Heimgekehrter. Kurast war Teil seines Herzens und Zentrum der Hoffnung, die er in den Osten setzte. Dass es gefahrvoll und unberechenbar geworden war, tat seiner Hingabe wenig Abbruch.
Hier war es an ihr, im Lärm der Schenke heimlich und vertraut eine Hand nach ihm auszustrecken und mit den Lippen einen lautlosen Liebesschwur zu formen. Ihre Augen glommen wie frisch gebrochene Kohle.
Sie standen auf und gingen.
Niemanden schien es zu kümmern, aber im Moloch der Stadt konnten sie sich nicht sicher sein.
Entsprechende Fragen im Hafen hatten ergeben, dass das nächste Schiff aus dem Westen innerhalb der folgenden zwei Tage erwartet wurde.
Langsam, sich gründlich umsehend, gingen sie stadteinwärts.
Durch überquellende Straßen und bunte Märkte, die über ihre alten Grenzen hinausgewachsen waren. Über das Häusermeer ragten die Tempel, und viele waren neu und unbekannt. Mehr als einmal mussten sie Prozessionen ausweichen, hitzigen, wahnwitzig sich verausgabenden Tanzenden, hageren Bußpilgern. Paladine sahen sie nirgends, und in den alten Wachhäusern befanden sich jetzt Läden oder Posten neuerrichteter Tempel.
Eya ging an Hadans Seite wie im Traum durch die pulsierende, gewaltig gewachsene Stadt.
Sie hatte Kurast kaum gekannt und konnte nur an seiner Anspannung ablesen, wie groß das Ausmaß der Veränderung war, das wuchernde Wachstum - und sein stiller Begleiter, das Elend.
Von der Höhe einer Tempelplattform herunter kippten Diener verfaulte Opfergaben, welke Blumen, Schlachtabfälle in eine Gasse – ein Schauer des Überflusses, in dem sich Frauen und Kinder um die Reste schlugen, Hunde wegtretend. Bettler streckten dürre Hände empor, wo man hinsah. Beißender Gestank aus Gerbereien zog in Schwaden durch ein Viertel, und vor ihren Türen warteten Dutzende auf die gefährlichste, erbärmlichste aller Arbeiten. Wo gebaut wurde, schufteten Kinder unter Körben mit Bruchsteinen. Aus Wassermühlen starrten große Augen die Vorbeigehenden an. Eya sah Hadans Gesicht sich verfinstern und dachte an die Geschichte seiner eigenen ausweglosen Jugend.
Bald wurde das Gedränge so dicht, dass sie kaum noch vorwärts kamen.
Nahe des großen Basars nahmen sie sich ein Zimmer. Oben, im ersten Stockwerk, fanden sie einander wieder, wortlos, und sahen aus dem Fenster hinunter auf die überfüllte Straße.
Den Basar würden sie auf der Suche nach Ifrah durchkämmen, sobald die Mittagshitze sich legte.
Bislang hatten sie keine Spur der Magierin gefunden.
Es war der Tag vor der Sonnenwende auf dem westlichen Kontinent.
„Das Schiff aus Lut Gholein wird um die Mittagszeit erwartet, Herr.“ Der Hofwächter wies mit einer Hand auf den Verschlag hinter sich, aus dem es scharrte und gurrte. „Die Schiffstaube ist bereits eingetroffen, seht Ihr?“ Mit einem umständlichen, aber hastigen Gruß unterstrich er, dass er nun Arbeit zu tun habe.
Die Kupfermünze, die auf seinem Tisch landete, griff er wie selbstverständlich. Er scherte sich nicht um Höflichkeit. Aber den Unmut eines Jüngers von Pakhra gedachte er dann doch nicht auf sich zu ziehen.
Hadan kam zu Eya zurück, die unweit gewartet hatte.
„Alle Lasten und Passagiere kommen hierher“, teilte er ihr mit. „Das Schiff fasst angeblich zwei Handelskarawanen. Am Hafen wird jetzt wegen der baldigen Ankunft ungeheures Gedränge entstehen. Wir können ebenso gut hier warten.“
„Gut.“ Sie reichte ihm einen Kupferbecher mit Tee, den sie von einem der Bauchladenhändler erstanden hatte, die sich im Hof der Karawanserei herumtrieben.
Der weite Hof lag, auf drei Seiten durch hohe Steinmauern von den umliegenden Straßen abgeschirmt, unmittelbar neben dem großen Basar. Außerhalb der Mauern erstreckte sich über die Fläche einer kleinen Stadt ein Labyrinth fester Häuser und Buden. Einstmals hatte man den Basar nachts verschlossen und bewachen lassen, um die Heerscharen der Diebe und Bettler abzuhalten. Das war nicht länger notwendig. Seit einem Jahr kannte das Viertel weder Tag noch Nacht mehr.
Hadan und Eya zogen sich unter die Überdachung am Rande des Hofes, nahe der Karawansereigebäude, zurück. In seiner Mitte wurden lautstark und auf für Fremde völlig undurchschaubare Weise Waren verladen, gezählt, verkauft. Buntes Volk drängte sich dazwischen, auch Kinder und Hunde, die eigens dafür angestellte Männer, meist selbst Bettler, mit Stockschlägen vertrieben.
Die in der Sonne lagernden Ballen und Kisten verströmten einen betäubenden Dunst, und vom nahen Basar wehte Marktgestank herüber. Unwillkürlich schwindelte es Eya. Die dichte, enge Stadt verschlug ihr oft den Atem, aber gleichzeitig, auch wegen des Mannes an ihrer Seite, versetzte es sie in einen fast elektrisierenden Zustand. Die halbe Nacht hatte sie wach gelegen, die erleuchtete, kaum ruhigere Stadt jenseits des offenen Fensters, hatte sich wie zwischen Traum und Wachen mit Hadan unterhalten, der ebenfalls wenig schlief.
Mit einem Mal entstand an der Eingangsseite des Hofes Unruhe.
Der Hofwächter kam hinter seinem Tisch hervor und scheuchte Leute und Packtiere aus dem Weg. Waren wurden eilig fortgezerrt.
„Die Karawane kommt“, sagte Hadan.
Eya vergaß die schwüle Hitze und die betäubenden Gerüche.
Ein Jahr. Ifrahs Brief steckte in ihrer Rüstung, aber mehr als dieses Blatt Papier, jetzt schon abgewetzt und weich durch Schweiß und Feuchtigkeit, besaßen sie von der alten Gefährtin nicht. Wenn sie in Kurast nicht aufeinander trafen, war ein Wiedersehen schwer zu bewerkstelligen.
Was, wenn sie nicht dabei ist? Wie sollen wir in Erfahrung bringen, was ihr widerfahren ist, und wo uns wiedersehen?
Die ersten Kamele bogen in den Hof ein, begleitet von Männern in Burnus und Kopftuch.
Rasch herrschte unübersichtliches Gedränge. Der Hof erwies sich als zu klein für alle ankommenden Menschen und Tiere.
Lärm schwoll zu beeindruckender Lautstärke. Die Wächter, Lastenträger und Händler würden den ganzen Tag und die halbe Nacht schreien, wuchten und schimpfen müssen, bis wieder halbwegs Ordnung einkehrte.
Hadan und Eya gingen langsam an der Seite des Hofes entlang.
In der Menge rülpsender, kollernd brüllender Kamele, durchdringend stinkender Leiber und gestikulierender Männer tat sich linker Hand eine Lücke auf. Eya sah Hadan, der einige Schritte vor ihr war, stehen bleiben. Ein seltenes Lächeln spann sich über seine Züge.
Dann war sie an seiner Seite.
In der Mitte der Lasttiere war ein freier Platz entstanden, wo man die Kamele auf die Knie zwang, damit reitende Passagiere absteigen konnten, und um Warenballen loszubinden.
Sie sahen sie sofort.
Die mittelgroße, dunkelhäutige Frau glitt eben von ihrem lebendigen Sitz herunter.
Sie wischte sich matt Schweiß von der Stirn, warf dann mit einer Kopfbewegung, die sein Gewicht verdeutlichte, das hüftlange schwarze Haar zurück. Dabei blieb ihr Blick an den zwei stumm Dastehenden haften.
Sie sahen sich an. Eine Sekunde verging einfach, weil es schwer zu fassen war.
Dann presste die Linke der Magierin sich vor den Mund.
Da Hadan im Hintergrund blieb, war Eya zuerst bei ihr. Kurz hielt sie die Spanne eines Jahres zurück, dann lagen sie sich in den Armen.
„Ifrah“, sagte die Assassine zitternd in das glänzende Haar, in das ihr Gesicht sich drückte. Die ältere Frau roch nach Sandelholz und dem unvermeidlichen Schweiß langer Reisen. Ihre Umarmung war kräftig und warm wie ehedem.
Hände hielten Eya etwas fort, damit sie eingehender betrachtet werden konnte. Im Tiefbraun des Antlitzes vor ihr leuchteten, vertraut irritierend, die silbrig-gelben Augen, jedes Mittelpunkt einer von der Stirn hinab zur Wange verlaufenden Narbe, so gleichmäßig wie eine beidseitige Gesichtsbemalung. „Eya! Kleines!“ Unter der dunklen Stimme tanzte Freude. „Du bist gesund und auf den Beinen, dem Himmel sei Dank!“ Ifrah sah an ihr hinab, dann an ihr vorbei zu Hadan, der herankam. Sie lächelte und raunte gedämpft, die Assassine anstrahlend: „Ihr seid zusammengekommen. Das sieht man gleich.“
Sie ließ Eya los und ergriff Hadans Unterarm, ebenso wie er ihren.
Mit demselben tiefen Respekt hatten sie voneinander Abschied genommen, am Hafen, vor einem Jahr.
„Binjawl, Pakrhi-La“, lächelte sie.
„Binjawl, Ifrah“, erwiderte der Nekromant.
Zu Dreien standen sie und genossen das Wiedersehen. „War deine Reise ohne Hindernisse?“ fragte Hadan. Die Magierin trug leichte Kleidung: weite Hosen und eine Tunika. Ihr Gepäck musste sich anderswo befinden.
„Im Großen und Ganzen“, bestätigte Ifrah.
„Obwohl du allein kaum in Gefahr geraten könntest“, warf Eya ein, „haben wir uns dennoch gesorgt.“
Die Augen der Älteren huschten zu ihr, dann zu Hadan, und fanden schließlich bei beiden keinen Platz. Die Aura gedankenloser Fröhlichkeit wich von ihr. Ihre Brust hob sich unter einem befangenen Atemzug. „Vielleicht“, gab sie leise zurück. „Aber diesmal bin ich nicht allein gekommen.“
Während sie sich umwandte und einen Namen rief, sah Eya irritiert zu Hadan. Er gab ihren Blick vielsagend zurück, und sie erkannte darin, über was nachzudenken sie versäumt hatte – sie beide vielleicht, auch hierin Unerfahrene des einfachen Lebens.
Ifrah wiederholte ihren Ruf: „Maysan!“
Aus dem Durcheinander der Tierleiber im Hintergrund löste sich eine kleine Gestalt.
Mit sich überstürzenden Gedanken blickte Eya erneut zur Seite.
Ifrahs kleine Tochter. Aus Hadans Gesicht war das Lächeln vollständig verschwunden. „Das hätte sie nicht tun dürfen“, sagte er leise.
Dann verharrten sie stumm und abwartend. Ifrah stand jetzt zwischen beiden Seiten und winkte die kleine Gestalt, die nicht recht näherkommen wollte, ungeduldig heran.
„Komm, Maysan.“ Ihre Stimme wackelte kurz, um eine Winzigkeit. „Ich möchte, dass du jemanden kennen lernst.“