@DameVenusia: danke und huhu! Danke auch an alle anderen.
Und weiter geht's mit Teil 2.
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XXII. Neue Gefährten
Von der Anstrengung so feucht, als habe er sie gewaschen, hingen ihm die Stirnhaare in die Augen. Mühselig verharrend, fühlte Menrad den Schweiß überall als nassen Film auf der Haut und in Bächen Schläfen und Rücken hinabrinnen.
Mit gebeugtem Kopf bei dem Stein zu knien, ging beinahe über seine Kraft. Aber er wollte beten. Und so lange noch auch nur ein Quäntchen Energie in ihm steckte, würde er dies wie alle Männer seines Ordens kniend tun.
Zum ersten Mal seit seiner Gefangennahme hatten sich die Schleier der Benommenheit weit genug gelüftet. Er konnte sich Konzentration abtrotzen, und ihm war klarer zumute – auch wenn mit der Klarheit Schmerzen und Erinnerungen stärker wurden und seine Erschöpfung noch vertieften.
Mach dir nichts vor. Verbissenheit allein hielt ihn aufrecht. Als er mit dem störenden Gedanken die Meditation beendete, zitterte er am ganzen Leib. Der geschiente Unterarm pulste fiebrig und ließ sich kaum zur Himmelsgeste bewegen.
Die Hand noch auf dem Herzen, kam er unter Schwierigkeiten in die Hocke und sank gegen den Stein. Schweiß drang ihm aus der Haut wie Wasser.
Ingrimmig, zugleich aber verstohlen, hob der Paladin den Blick. Sich einzureden, die Gegenwart Fremder störe ihn, half wenig gegen die Erkenntnis, dass sein Stolz weit mehr unter seinem Zustand litt.
Er wollte nicht, dass ihn jemand so sah. Am wenigsten diese Leute.
Erleichtert stellte er fest, dass keiner der Vier in seine Richtung blickte. Der Nekromant war einige Schritte entfernt mit dem Entfachen eines Feuers beschäftigt. Die Assassine kehrte mit einem Wasserschlauch vom Ufer des nahen kleinen Flusses zurück. Von der Magierin und ihrem Kind war nichts zu sehen, vielleicht wuschen sie sich an einer abgelegenen Stelle.
Die Waldlichtung bedeckte kurzes Gras, durchzogen von den Schlangenwurzeln naher Bäume. Nach den Mauern aus Grün der letzten beiden Tage tat die Helle unter dem freien Himmel wohl.
Menrad beobachtete den Nekromanten. Noch nie zuvor war ihm ein Mensch begegnet, dessen Äußeres das Auge derart abstoßend und beunruhigend fand. Der farblose Blick aus dem weißen Gesicht war unangenehm, wann immer er einen aus den unsichtbaren Schatten traf, die der hochgewachsene Mann um sich zusammenzog. Menrad zweifelte, ob wohl nur er dies sah, dank seiner Verbindung zum Licht. Alterslos wirkte der Andere, aber seinen Bewegungen fehlte die Elastizität der Jugend, und der Paladin schätzte ihn auf mindestens vierzig Lebensjahre.
Seine verinnerlichte Höflichkeit und der widerwillige Respekt vor den Dämonenjägern untersagten Menrad übelwollende Verwünschungen. Und der Nekromant hatte ihm geholfen, gewiss, sein Arm war besser geschient als durch jeden Feldarzt. Seine Abneigung blieb jedoch bestehen, sogar ohne das erinnerte Grauen ihrer Flucht.
Wenn ich hassen dürfte... wenn es mir gestattet wäre... du wärst der Erste, der mir einfiele. Finster verfolgte er das Aufflackern des Feuers. Dicker Rauch stieg davon auf, wie es bei den feuchten Hölzern hier oft der Fall war.
Menrad sah die Assassine den Schlauch ablegen. Sie war unzweifelhaft die Gefährtin des Nekromanten, und obwohl sie ihm nicht sonderlich gefiel, er sie zu blass, zu knabenhaft und zu mager fand, verstand er nicht, warum diese junge Frau sich freiwillig einen solchen Begleiter wählte. Das Paar begann ein leises Gespräch, und nach einer Weile, während etwas wie ein Aufatmen in gefundener Nähe und noch sehr unbeholfener Zärtlichkeit über ihnen schwebte, kauerte die Assassine sich in die Armbeuge des großen Mannes. Ein Bild fremder Leiber in selbst nie erfahrener, heimlicher und miteinander ringender Wildheit suchte ihn plötzlich heim, und Menrad wandte rasch die Augen ab.
Unbehaglich, den schmerzenden Arm im Schoß, fügte er sich in die Erschöpfung seines Körpers. Die Ruhe der Meditation war nur vorübergehend gewesen. Die bohrenden Fragen, was das Schicksal von ihm wolle, blieben.
So hast du früher nicht gedacht. Anders als viele Paladine in ihren langen Jahren der Ausbildung und Weihung, hatte Menrad sich selten für die leidenschaftlicheren Begriffe erwärmen können, die den anderen Tränen in die Augen trieben, sie nicht schlafen ließen, sie aufregten wie neue Erfahrungen junge Liebende.
Hingabe. Opfer. Berufung. Heilige Sühne. Man erlebte das zuweilen, ja, einen Zipfel davon, doch er, Menrad, war immer rasch aus solchen Gefühlen, die Verzückung ähnelten, zurückgekehrt. Auch das Schicksal war ihm eher als ein Begriff erschienen, den Menschen wählten, wenn sie ein von mächtigen Veränderungen geschütteltes, hilfloses Daseinsgefühl in ein Wort zwingen wollten.
Jetzt aber überkam ihn die Ahnung, Zeuge eines Weltenwandels zu werden, einer Zeit, über die man später vielleicht sprechen würde, wie man heute über den Untergang des letzten Königreiches oder über die Jahre der Großen Übel sprach.
Und mich hat etwas, das ich nicht anders benennen kann als mit Schicksal, gerade hierher geführt. Demut fühlte er indes nicht, eher Verbitterung. Anmaßende Zweifel und das Verlangen nach Aufklärung über die eigene Bestimmung standen einem Gläubigen nicht zu – dennoch fragte er sich, welche launische Macht ihn mit diesem Haufen Menschen zusammengeführt hatte, Vertretern all jener Klassen, gegen die das Licht seit Jahrhunderten geduldig vorging.
Er saß stumm da. Seine Abneigung war echt, verließ er sich auf sein Inneres. Er fühlte Widerwillen gegen diese Menschen, gegen den unwegsamen Riesenleib des Kontinents, gegen die Hitze und den Schweiß und das ganze unverständliche, finstere Gesicht des Ostens.
Als er aufsah, stand die Assassine vor ihm.
„Verzeiht, wenn ich Euch gestört habe. Ihr seid sicher auch durstig.“
Wie lautlos sie herangekommen war! Und nun hielt sie ihm eine kleine Flasche entgegen. Kurz war ihm ihre geduldige Art, von der alle in der Gruppe etwas an sich hatten, zutiefst zuwider, und ein böser Schleier vor seinem inneren Auge machte aus ihrer einfachen Geste eine kriecherische, rückgratlose Bewegung.
Als er die Flasche nicht nahm, reglos in ihre tiefschwarzen Augen starrend, stellte sie das kleine Behältnis einfach ab. Dann ging sie wieder, aber er spürte ihre leichte, halb bedauernde, halb einsichtige Unsicherheit. Sie hat den Schrecken von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden, von denen nur Legenden und wirre Berichte zum Rest der Menschheit gefunden haben. Irritiert hob er die Linke zur Stirn und wischte die nassen Haare fort. Das Gesicht der jungen Frau war aus der Nähe besehen beinahe kindlich, der Mund darin zart geblieben trotz aller Entbehrungen, und eigentlich recht hübsch.
Zweifelnd, ob nicht seine eigene bedauernswerte Lage ihn bereits ungerecht machte, unsicher über den Ursprung seiner Empfindungen und im Verborgenen zutiefst verwirrt, lehnte Menrad an dem Stein. Die Wasserflasche stand klein und trotzig vor ihm im Gras.
Eya erwachte aus einem Dämmerzustand, keinem richtigen Schlaf.
Eine Weile lang lag sie still unter Stoff, den sie tastend und mit der Nase als Hadans Mantel erkannte. Mittagslicht tauchte die Lichtung in helle, ruhige Farben, und das Ruhen war angenehm und längst überfällig gewesen. In der Luft hing der Geruch des Feuers und gekochter Linsen. Am vorigen Tag hatten sie einer im Wald lebenden Familie Vorräte abgekauft. Gegen großzügige Entlohung und die Segnung eines Pakhrajüngers hatten die Leute versprochen, die Gruppe gleich wieder zu vergessen.
Sie setzte sich auf.
Unweit lag der Paladin, zusammengesunken an einem Stein, und atmete tief. Das Gesicht unter dem hellbraunen Bart wirkte selbst im Schlaf nicht gelöst, sondern abgespannt, grau und zerquält.
Der erste Paladin, dem sie näher kam, war ein abweisender, verwundeter Mann, doch weniger fremd, als sie sich einen Lichtkrieger stets vorgestellt hatte. Seine Härte entsprang der unerfreulichen Randexistenz seines Ordens im Osten, war sie sich sicher. Er verachtete sie und ihre Klasse – wie die meisten Menschen auf Sanktuario – aber mit über Enttäuschung erhabener Ruhe wusste sie, dass ein paar geteilte Monate gemeinsamer Entbehrungen ihm die Augen für die Verwandtschaft zwischen ihnen öffnen würden.
Denn Zivilisationen wie Fadraîs haben eine Klasse wie die meine zum Schutz gegen Menschen der Magie ins Leben gerufen. Menschen wie Hadan oder Ifrah.
Ein tieferes Gewebe von Zusammenhängen verband sie alle miteinander.
Sie sah sich um. Ifrah hatte die Arme auf einer über Wurzeln gebreiteten Decke gekreuzt und schlief. Ihr langes schwarzes Haar breitete sich unter ihr aus, ein dichter Fächer. Mit einem freundschaftlichen Blick ging Eya an ihr vorbei und zum Ufer.
Hadan saß dicht am Wasser unter einer Mangrove, doch er war nicht allein, und der leichte Schritt der Assassine stockte und verhielt dann. Neben ihm saß das Mädchen.
Ihre Haltung verriet, dass sie sich eben erst niedergelassen hatte, und anstatt sich wie andere Kinder in ihrem Alter eine Beschäftigung zu suchen, schaute sie den Mann neben sich an, fast unverwandt, um dann seinem geradeaus gerichteten Blick zu folgen.
Die Assassine fühlte sich im Bann dieses Bildes stillstehen. Zum ersten Mal sah sie Hadan bewusst in Gesellschaft eines Kindes, und dieser Anblick rührte etwas in ihr, das weder in ihren Jahren als Sklavin und Todesbotin der Assassinen, noch in den Monaten der Gemeinschaft mit der vorwärtshastenden Gruppe Platz gehabt hatte. In ihrem zerrissenen Dasein, wurde ihr bewusst, war die vorsichtige Öffnung zwischen ihr und dem Nekromanten so gewichtig, dass sie Vieles verdrängte, was selbstverständlich zu anderen Liebenden kam. Kinder.
Kurz und heftig prägte sie sich ein, wie er dort saß: den geraden Rücken, das Gesicht, von dem sie nur eine Linie sah und das er nicht zur Seite wandte, vielleicht um das Mädchen nicht zu verschrecken.
Dann trat sie näher. Maysan drehte den Kopf nach ihr, schien aber nicht weglaufen zu wollen. Eya lächelte ihr zu und spürte Hadans Hand an ihrer, die sie zu sich herunterzog.
Eine Weile saßen sie zu dritt, schweigend und auf das bewegte Wasser lauschend. Die streichelnden Finger in ihrem Nacken sandten der jungen Frau leichte Schauer durch die Glieder.
Maysan, registrierte sie mit leiser Belustigung, blickte Hadan wieder an, ungehemmt, wie Kinder es oft taten. Sie wirkte hierin jünger, als sie war – vielleicht, weil sie so wenig sprach. In den vergangenen Tagen hatte Eya kaum ein Wort von ihr gehört. Plötzlich aber öffnete das Mädchen den Mund.
„Was hast du da um den Hals?“ Djadd, die Sprache der Wüsten des Westens, prägte ihre Stimme sehr deutlich.
Der Nekromant wandte dem Mädchen die farblosen Augen zu. Seine Linke löste den auffälligen Anhänger, den sie auf seiner Brust gesehen hatte, und hielt ihn ihr entgegen. „Das ist ein Pakhra-Symbol“, sagte er. „Ein Zeichen des Gottes, der mein Leben leitet.“ Sie schaute, nahm das Schmuckstück aber nicht.
Grüne Augen gingen hoch zu seinem Gesicht, und ein Schatten, nur ein Hauch, zog hindurch. „Was hast du mit dem toten Mann in der Zelle gemacht?“
Eyas Lächeln entglitt ihr. Die Hand in ihrem Nacken hielt an.
Sie muss doch etwas gesehen haben. Mit einem Mal war der schreiende Schrecken ihrer Flucht wieder gegenwärtig.
Hadans Körper hatte sich fast unmerklich versteift, vielleicht auch, weil sie unwillkürlich, ohne es bewusst zu wollen, in wiedergekehrtem Grauen ein wenig von ihm abgerückt war.
Für einen Augenblick herrschte Schweigen.
Als Hadan antwortete, hatte sich seine Stimme nur für ihr feines Gehör geändert. Unbehagen vernahm sie unleugbar darin. Und etwas in ihr wünschte sich auch Schuld hinein, oder zumindest Bedauern.
„Ich habe die Hülle, die von ihm noch übrig war, zerstört“, sagte er langsam und hielt das Kind in seinem Blick. „Ungern, und während ich seine Seele um Verzeihung bat. Aber anders hätten wir nicht hinaus gekonnt.“ Maysan regte sich nicht, doch Grauen und Furcht stiegen in ihrem Gesicht auf. „Du brauchst dich nicht zu ängstigen.“ Der Tonfall des Nekromanten war nahezu sanft. „Dass es dich graust, kann ich verstehen, aber weder von der Macht dahinter noch von mir hast du irgendetwas zu befürchten.“
Maysan sah jetzt unglücklich aus.
„Fürchtest du dich noch?“ hakte Hadan nach. An seiner Stimme hörte Eya, die sein Gesicht nicht sah, dass er lächelte.
„Vor dir nicht“, antwortete das Mädchen. Sie stand langsam auf, und ihre Züge waren bei aller Kindlichkeit plötzlich sehr alt geworden.
„Wovor dann?“
„Vor der Magie“, kam es leise. Dann wandte Maysan sich ab, ohne Eile, und trottete langsam das Flussufer entlang. An ihrer ganzen kleinen Gestalt hing Traurigkeit. Schließlich bog sie zum Lagerfeuer ab.
Sie hockten eine Weile stumm da.
Dann spürte Eya die Hand in ihrem Nacken sich wieder regen. Doch sie glitt ab, und still verharrend empfing sie verzweifelt eine große Angst, die sich langsam in ihr ausbreitete. Es war nicht nur die Befürchtung, Hadan habe ihren kurzen, unwillkürlichen Rückzug von ihm wahrgenommen. Mehr und vor allem waren es düstere, alte Ängste aus erinnerten Bildern, und neue, die in ihr aufgebrochen waren, je genauer sie den Mann an ihrer Seite seit ihrem Wiedersehen beobachtet hatte.
Ihr Staunen über die Erwiderung ihrer Liebe und das Bestrickende seiner Nähe ließen sie meist vergessen. Aber sie erinnerte sich dennoch richtig. Auch wenn es schmerzhaft gewesen war, hatte sie alles Vergangene wieder hervorgeholt – zunächst nur, um ihrer beider Wegen aufeinander zu noch einmal nachzuspüren.
Dann war es ihr aufgefallen, allmählich und immer beunruhigender.
Er hat sich verändert. Du wolltest es nicht sehen.
Der Nekromant war ebenso schwer verwundet worden auf ihrer Reise zum Gipfel der Welt wie jeder andere der Gruppe, sogar schwerer. Und er zählte mehr Jahre als sie alle.
Seine mühsame Art zu gehen, nach Meditation oder einem Kampf vollkommen ausgelaugt zu wirken, war jedoch verschwunden. Er war stärker als früher und wachte noch längere Stunden der Nacht. Seine Macht war gewachsen, aber er beschwor keinen Golem mehr.
Eya schluckte hart.
In diesem Augenblick stand er auf. „Womit man aufgewachsen ist und seit jeher gelebt hat, kann sehr schwer in Worte zu fassen sein, wenn man es einem Kind erklären will“, sagte er.
„Es war sicher richtig so“, murmelte Eya. Sie blickte empor und begegnete seinen Augen, die sie mit einem undeutbaren Ausdruck musterten.
Er hielt ihr eine Hand hin. „Komm mit.“
Fragenden Blickes und mit einem wachsenden Klumpen in der Magengegend ließ sie sich hochziehen und wanderte dann gemächlich neben ihm das Ufer entlang. Ihre Hand hatte er losgelassen.
Hadan führte sie ein Stück weit fort vom Lager.
Später sollte ihr aufgehen, dass er vorausgeahnt hatte, was sich ereignen würde, und dafür Abgeschiedenheit suchte.
Jetzt aber stand sie nur zaudernd da, als sie innehielten. Lianenüberwucherte Bäume ragten über ihnen auf, und für einige unwirklich stille Momente sahen sie einander nur an, vor dem Hintergrund des Flusses.
Schließlich sprach Hadan, sichtlich mit Überwindung, doch entschlossen und sehr ernsten Gesichts.
„Wir sind einander zu nah, Shatryindjah, um uns etwas vormachen zu können. Eben am Ufer habe ich deine Regung sehr wohl bemerkt.“ Stumm sah Eya ihn an, eine Bitte um Verzeihung auf den Lippen, aber ohne ein Wort herausbringen zu können.
„Ich kann mich an jeden deiner Blicke erinnern“, fuhr er mit flüchtiger Wärme fort. „Von dem Augenblick an, als du die Dünen vor dem Tal der Magier hinabgestolpert kamst, ohne Kopfschutz und ganz voller Flugsand.“ Sie begann zu zittern. „Aber von Anbeginn an hast du gehasst und gefürchtet, was ich tue. Es war immer in deinen Augen, und es ist auch heute noch darin, wenn du mich ansiehst.“
Eya stand wie erstarrt.
Es war das erste Mal, dass er so offen sprach. Die Mauern des Schweigens brachen ein, und sie fühlte die Haken, mit denen sie sie im Innern festgestemmt hatte, blutende Wunden reißen.
„Angst im Gesicht desjenigen, der dich liebt und den du liebst“, sprach Hadan weiter „- damit schläft es sich nicht gut, Shatryindjah. Die Wahrheit ist, dass ich dich zu verlieren fürchte.“ Ein Kratzen schabte in seiner Stimme. „Ich werde nicht zusehen, wie du aus Scheu das vielleicht Unerträgliche erträgst, bis es eines Tages aus dem Verborgenen kommt und dich mir wieder wegnimmt.“
Ein Druck zerriss ihr von innen her fast die Brust, und ein Schrei steckte ihr in der Kehle.
„Ich weiß, deine Angst gründet sich auf eine Hoffnung“, kam es unbarmherzig von vorn. „Die Hoffnung, dass sich ändert oder verschwindet, was du fürchtest.
Aber ich muss dir sagen, dass du dich irrst.“
„Warum?“ brach anstelle des Schreis ein Wort aus ihr hervor. Das Zittern hielt sie gepackt, und unter der Last des Augenblicks begannen ihre Augen zu brennen. Etwas Uraltes, Freigesetztes tobte jetzt, nicht mehr aufzuhalten, und alles dennoch Gültige begann auseinander zu fallen. Leise und flehend hörte sie sich sagen: „Warum kannst du es nicht beenden?“
Endlich, sagte sein Gesicht, endlich ist es heraus. Eya sah den zu Ermattung abgestumpften Schmerz darin, aber Bilder von Blut und unfassbarer, abgründiger Kraft schoben sich davor, und wie eine dunkle Gestalt ihnen in den Gängen des Berges hinterhergetaumelt war, sich an den Wänden abstützend.
„Warum kannst du es nicht ablegen?“ Ihre Kehle wehrte sich gegen ein Aufschluchzen. „Du gebrauchst den Golem nicht mehr, warum?“
Seine Züge verhärteten sich. „Darüber möchte ich nicht sprechen.“
Sie zuckte zurück, verletzt, aber gewarnt. „Vermagst du denn nicht anders weiterzukämpfen?“
„Und wie?“ Er breitete die Hände aus.
Wissend, dass es unnütz war, verstummte sie wieder und senkte den Kopf. Sie hatte ihn mit dem Dolch kämpfen sehen, einmal auch mit einem Schwert, und ihm zum Spaß ihre Wurfmesser geliehen. Er war geschickt, aber für einen Kampf mit Waffen weder schnell noch erfahren genug, und er würde es nicht mehr lernen.
Bevor sie in der Sturheit der Verzweiflung noch Abwegigeres vorbringen konnte, kam er ihr zuvor. Ein noch unbekannter Ernst in seiner Stimme ließ sie aufsehen.
„Ich kann es nicht nur nicht ablegen, Shatryindjah, weil es keine andere Lösung für den Kampf gibt“, begann er ruhig. „Sondern auch deshalb nicht, weil es zu mir gehört. Pakhra hat mich in seinem Licht aufwachsen lassen. Das ist, was ich geworden bin, und ich kann es nicht einfach wegwerfen wie ein schmutziges Kleid.“
Die Übermacht seiner Geschichte und der fast unbekannten Welt seiner Kaste stieß sie in eine machtlose Position, und Eya fühlte, wie Wut sie packte. Kam er ihr so, blieb ihr nichts mehr in der Hand. Ohne nachzudenken, entgegnete sie: „Hast du nicht trotz allem eine Wahl? Es gibt andere Kulte – andere Götter.“ Schon im Aussprechen erkannte sie ihren Fehler.
In den meist so unerschütterlichen und vor allem gegen sie ruhigen Augen flackerte es, und aus Hadans Erwiderung drang Kälte, kurz sogar Feindseligkeit. „Hältst du die Wege meiner Kaste für einen Beruf, den ich wechseln kann? Wovon du sprichst, ist ein Glaube.“
Der Ausdruck der Qual auf ihrem Gesicht, der Bände über den Ursprung ihrer Gefühle sprach, besänftigte ihn vielleicht wieder.
„Kannst du noch ablegen, was du bist?“ fuhr er fort, beinahe wie um Verständnis bittend. „Dabei hast du dich von der Lehre und den Pfaden deiner Klasse schon getrennt. Trotzdem würdest du aus freien Stücken deiner Herkunft nicht entsagen.“
Unfähig zu lügen, nickte sie, Tränen in den Augen, und sah zu Boden. Als sie wieder aufschaute, verriet sein Blick ein Mitleid, das ihr den Atem abschnürte. Sie kannte es. Es war das Mitleid mit einem Menschen, dem man mit der Wahrheit Schmerz zufügen muss.
Flüchtig wünschte sie, die Unterredung würde enden. Aber die Erkenntnis, dass sie nicht auf Schonung hoffen durfte, nur weil sie geliebt wurde, hatte sich bereits in ihrer erstickenden Angst eingerichtet.
„Dann sei es drum“, hörte sie sich kläglich sagen. „Aber verlang nicht von mir, dass mir gleichgültig ist, was die letzten Tage unter dem Berg aus dir gemacht haben.“ Woher sie den Mut zum Eingeständnis ihrer Beobachtung nahm, wusste sie nicht.
„Nicht der Berg oder das Schicksal haben bewirkt, was geschehen ist“, entgegnete er langsam. Ihr Stocken und ihr „Ich verstehe nicht...“, das nur ein Flüstern war, wurden mit einem tiefen Atemzug quittiert.
Unwirklich still und friedvoll stand die Welt ringsum.
„Warum hast du dich der Baalsmission damals angeschlossen?“ Groß und bleich ragte Hadan vor ihr auf. „Und warum bist du bis zum Ende mitgegangen? Es gibt zwei Dinge, die keiner von uns je zur Sprache gebracht hat – die Gründe für unser Mitgehen, und was in Baals Einflussbereich zuletzt jedem von uns widerfuhr.“
Baal. Das Entsetzen der letzten Stunde vor der bröckelnden, dröhnenden Fassade des Weltensteins – der seelische Ursprung ihrer Schwächen – und schließlich, tausend Alpträume wert, die Einsamkeit vor der Macht des Dämons, das Verhör, die Demütigung... Es kehrte mit einer Gewalt wieder, dass es sie beinahe auf die Knie riss.
Nimm das endlich weg von mir, hätte sie schreien mögen, der gleichmütigen Welt mitten ins Angesicht.
„Warum bist du mitgegangen, Eya?“
Ohne es zu merken, ballte sie die Fäuste. „Zunächst aus Einsamkeit“, brachte sie bebend hervor. „Schließlich, weil ich bei euch sein wollte. Auch aus Mitleid mit den belagerten Städten, aber mehr, um...“ Dann endete sie heiser, unter dem Stoß eines Schluchzens: „Und deinetwegen.“
Hadans Blick hielt sie fest, zu starr für ein sichtbares Gefühl.
„Was die Gefährten und unser beider Begegnung anbelangt, hatte ich dieselben Gründe“, sagte er. „Aber willst du erfahren“ – seine Stimme klang schärfer – „was daneben, und neben dem Hass, mein Antrieb war, Eya?
Macht.“
Entgeistert krallte sich ihr Blick an ihn.
Willst du erfahren, was mein Antrieb war? Macht.
Ihre Wangen brannten derart, dass die erste Träne aus ihren Augen sich beinahe kühl darauf anfühlte. Sie wusste, er sagte die Wahrheit.
Alle immer weiter verbliebene Fremdheit – verblieben trotz der mühsam erstrittenen Nähe zwischen ihnen, immer wieder aufgetaucht in wortlosen Momenten – rief sich ihr in Erinnerung. Sein freimütiges Zugeständnis, dass er ihr gehöre, hatte sie die eigentliche Fremdheit als nichtig erachten lassen.
Sein eigentliches Ich, das sie schwerlich wirklich kannte, schlug sich hier und jetzt vor ihr auf wie ein Buch, und sie blickte zitternd auf unlesbare Zeichen, und auf erschreckende unter den lesbaren.
Ungerufen hörte sie in der Mittagshelle von allen Stimmen ihrer Vergangenheit plötzlich wieder die eindringlichste, ein Organ der Durchtriebenheit und des bösen Willens, das jedoch nur über seine Opfer hatte triumphieren können, weil diese wussten, dass die verborgenen Ziele seiner Attacken in ihnen hässliche Wirklichkeit waren.
Am ruhigen Fluss, endlich wieder, vernahm Eya Baals Stimme. Sie tönte wider im fest in ihrem schmalen Leib verankerten Kern ihrer ureigensten Angst, und sie konnte nicht anders als lauschen.
Deine Angst war seit jeher weiser als du. Ihm liegt nichts an den Menschen. Macht ist das Einzige, wonach er strebt. Darum, und nur darum, ist er hier.
Nicht zu wissen, ob sie die Worte eines Dämons oder ihrer eigenen Seele vernahm, war beinahe so schlimm, wie in sein ruhiges Gesicht zu sehen.
„Was hat Baal dir auf dem Gipfel angeboten?“ fragte er, leiser vielleicht, weil es hierbei wieder um sie ging.
Ein Teil ihres Wesens ahnte die Ehrlichkeit seiner Sorge, aber die Ahnung blieb ohne ein begleitendes Gefühl – nichts drang durch ihr Zittern. Immer noch hatte sie die Fäuste geballt.
„Angeboten?“ Ihre Stimme war kaum zu verstehen. „Was... nichts... er hat mir nichts angeboten. Er...„ So viel Luft ringsum, und sie bekam doch nicht genug davon ab. „...er sprach zu mir... von meiner Angst.“
„Ich will dich nicht quälen“, sagte Hadan tonlos. „Vielleicht ist uns doch etwas Verwandtes widerfahren. Aber was Baal in uns angerührt hat, war in meinem Fall nicht Angst allein. Er bot mir Macht.“ Widerwille, Stolz, Überlegenheit, Gier fanden kurz einen Weg in die Züge des Nekromanten und endeten in einem scheinbar ruhigen Ernst. Aber sie waren da gewesen. Eya sah es. „Ich habe abgelehnt. Wenn du aber vermutest, dass sein Bestreben bei uns allen dasselbe war, wirst du sein Angebot vielleicht verstehen.“
Seine letzten Worte kamen etwas mühsam. Dann schwieg er.
Nach einer halben Ewigkeit fand sie die Kraft zum Sprechen. „Warum tust du das?“ Es war nur ein Wimmern.
„In vielen Dingen täuschst du dich nicht, aber in deinen... Erwartungen tust du es“, gab er zurück, merklich mit leisem Leid in der Stimme. „Als ich eben sagte, dass ich dich zu verlieren fürchte, war das mein Ernst, Eya.“ Der Kosename passte nicht mehr hierher, aber sein Ausbleiben schmerzte dennoch. „Du kannst mich nicht ändern.“
„Weil du dich dagegen wehrst“, hielt sie dagegen, schwach, ohne Überzeugung. Aufkommende verzweifelte Wut mischte sich in die Leere ihres Innern, irr vor Angst vor dem Verlust des Kostbarsten, das sie besaß – und sie sagte es dennoch nur, um etwas zu sagen. Sie war schon geschlagen.
„Nein. Weil ich es nicht will.“
Die Endgültigkeit seiner Antwort weckte vor der Verzweiflung vollends die Wut in ihr, gleißend hellen Zorn, der ihre Rede führte. „Du schiebst mir eine Wahl zu“, klagte sie ihn an, ihn und alles, was er war. „Dabei hast du dich zwischen uns und deinem Gott doch längst entschieden!“ Noch während sie es schrie, begriff sie die Ungerechtigkeit ihrer Worte.
Für die Dauer eines Atemzugs war es totenstill.
„Gnade dir Pakhra“, erwiderte Hadan heiser „wenn du mir das noch einmal ins Gesicht sagen solltest!“ Erstmals war in einem Wort, mit dem er sich an sie wandte, offene Drohung.
Zitternd stand sie noch kurz da.
Aus dem Schmerz wurde eine Ahnung, dass Schatten einer nicht restlos von ihnen selbstverschuldeten oder gewählten Vergangenheit sie endlich mit ganzer Last niederdrückten – aus der Ahnung wurde die Marter des Bewusstseins eigener Täuschung – aus der Marter Liebe in all ihrer Torheit und unbegreiflichen Kraft – aus der Liebe fiel die Finsternis der Verletzungen durch das Gegenüber, und darin blühten schließlich alle niedrigen, lebendigen kleinen Regungen auf, ineinandergetrieben und hochgerissen und wieder Schmerz zuletzt.
Dann ging sie.
Ging halb blind den Uferstreifen entlang, fort aus der widerwärtigen Kette von Augenblicken, die von hinten an ihr rissen und an der Erstarrung, die sie noch aufrecht hielt.
Sie kam an der weiten Öffnung zum Lagerplatz vorbei, blicklos, ohne Gedanken, und ging weiter, zu Seiten des hellen Flusses in das stickige Grün seiner Ufer.
Ifrah, die am Lagerfeuer saß, sah die Assassine am entfernten Fluss entlang laufen und verschwinden.
Die Magierin war aus erholsamem Schlaf aufgewacht, geweckt von Maysans Rückkehr, und hatte das Paar am Ufer gesehen. Während ihre Tochter eine Weile stumm und abweisend mit ein paar Grashalmen gespielt hatte und darüber schließlich eingenickt war, waren sie aufgestanden und nach rechts verschwunden.
Lächelnd in der Vermutung, warum die Liebenden Abgeschiedenheit suchen mochten, war sie ihnen nicht gefolgt und hatte sich stattdessen an das Feuer gesetzt.
Nun aber war Eya allein zurückgekehrt, ohne wieder zum Lager zu kommen, und von Hadan fehlte jede Spur.
Ifrah zog die dunklen Brauen zusammen. Man musste keine Hellseherin sein, um zu ahnen, dass das Paar sich gestritten hatte. Mit Bedauern erinnerte sie sich an die neben aller Freude für ihre Gefährten auch empfundene Sorge, die sie stets streifte, wenn sie über die Herkunft und Eigenart dieser beiden Menschen nachdachte. Eya blühte schüchtern auf, neigte aber sicherlich dazu, in der Dankbarkeit des endlich Erwählten Vieles schweigend zu ertragen.
Neben einem Mann wie Hadan mochte ihr das zum Verhängnis werden.
Ich kann dir mit ehrlichem Herzen keinen Anderen wünschen, dachte Ifrah. Aber eine leichte Wahl hast du nicht getroffen, Liebes.
Sinnend stocherte sie in den zusammengebackenen Linsen. Wenn nötig, doch nur bei einer Einladung der Gegenseite, würde sie mit der Assassine zu sprechen versuchen. Was Anlass des Zwistes sein mochte, konnte sie nicht wissen, aber die böse Vermutung einer Ursache schlich sich ein, die über die Spannungen zwischen zwei zu lange allein gewesenen Menschen hinausging.
Sie sah auf ihr schlafendes Kind. Neben dem schwierigen Los ihrer Vertrauten, hier, in der Gemeinschaft, kam ihr ihr eigenes und das Maysans plötzlich nicht mehr zu schwer vor. Wir werden es schaffen, kleines Mädchen, und behutsam strich sie der Schlafenden eine Haarsträhne aus der Stirn.
Die Hütten, auf Pfählen über das sumpfige Flussufer gebaut, standen mit ihren Blätterdächern bleich und krumm in der Mittagsschwüle. Der Urwald war durch Lianen und anderes, rankendes Gewächs fest mit ihren Rückwänden verwachsen.
Ihre spärlich bekleideten Bewohner – Flussfischer mit ihren Familien – saßen wartend und den kleinen Haufen Fremder nur sehr zurückhaltend beobachtend im Schatten. Ein Alter sprach gestenreich mit dem Nekromanten, während kleine Kinder neugierig Menrad beäugten, der unruhig an einem Pfahl hockte. Ifrah und Maysan ließen sich von einem Halbwüchsigen zeigen, wie eine fahlgrüne Kalebassenfrucht richtig zu zerhacken war.
Die Magierin sah auf.
Eine Verständigung war mit den Fischern – außer für Hadan – kaum möglich, denn für den Dialekt, den die Leute hier mehr nuschelten als sprachen, reichten ihre Kenntnisse des Jabhra kaum.
Shanghar war nahe.
Hinter der hohen Baumborte, eine Wegstunde entfernt vielleicht, lag der Arivati mit der Stadt an seinen Ufern. Die Menschen hier lebten ein wenig abseits von ihr, gelangten aber ein- oder zweimal in der Woche in die Stadt, um ihre Fänge zu verkaufen. Sie hatten die vorsichtige, eigenartige Gruppe freundlich empfangen und schienen vertrauenswürdig.
Es war eine Rast, mehr aber ein Warten auf Eya.
Von ihnen allen die Gewandteste, war sie unter der Führung eines Fischerjungen und in einen abgetragenen Sari gehüllt, vor Stunden in Richtung der Stadt verschwunden. Obgleich Shanghar fast sicher unter kurastischem Einfluss lag, musste die Gruppe sich vergewissern und die Lage erkunden. Die Flussleute hatten von dem Machtanspruch der Alten Zakarumitenstadt gehört, auch Krieger gesehen, aber die Änderungen betrafen sie kaum. Ihre Kaste genoss wenig Ansehen und lebte seit Generationen weitab der Geschicke der Städte für sich.
Als die Büsche längs des Pfades in den Wald sich regten und die Assassine samt ihrem Führer auftauchte, erhob sich die Magierin.
Direkt bei Menrad, der seiner immer noch schlechten Verfassung wegen sitzen blieb, sich aber mit glühenden Augen aufrichtete, versammelten sich die Gefährten. Der Alte und zwei weitere Hüttenbewohner kamen auch hinzu.
Als Eya sich das fremde, einheimische Kleid über den verschwitzten Kopf zog, fing Ifrah den Blick auf, den Hadan der Assassine rasch zuwarf. Fünf Tage lag der Rastplatz am Ufer des kleinen Arivatizulaufes zurück. Ifrah hatte es vermieden, das Paar zu beobachten, doch selbst ein Fremder musste die Mauer des Schweigens zwischen beiden wahrnehmen. Nun ertappte sie den Nekromanten bei einem heimlichen Ansehen, in dem sich Schmerz mit stiller Verzweiflung und Zärtlichkeit mischte.
Das Gesicht der Assassine wirkte bei aller Helle finster, aber es mochten auch die seltsam erloschenen dunklen Augen darin sein oder die tiefen Schatten darunter.
Bedauernd wandte sie sich an Menrad.
„Eure Mission steht leer, Paladin“, begann sie. „Sie ist ausgebrannt und wird bewacht. Die Mauern sind noch da, doch weiter nichts, und ich konnte keine Spur von euren Männern finden.“
Menrad starrte sie an.
„Vielleicht sind Viele geflohen, in Außenbezirke oder ins Umland.“ In Eyas Blick, den sie offenbar nicht von dem sichtlich Verzweifelnden zu lösen vermochte, trat Mitleid. „Das Stadtzentrum, oder was ich davon sah in der Eile, wird von Kurastern beherrscht.“
„Keine Spur?“ Der Paladin erbleichte.
Die Gruppe schwieg und tauschte ernste Blicke. Die Nachricht über eine weitere Stadt, die sie meiden mussten, war auch für sie nicht erfreulich. Der Mann aber, der ihr neuer, unfreiwilliger Begleiter war, hatte dort gelebt und innerhalb des Ordens Freundschaften und respektvolle Beziehungen gepflegt. Sie erinnerten sich, dass er schon in Kurast den Tod Vertrauter hatte hinnehmen müssen.
In das ungute Schweigen hinein sagte Hadan: „Die Lage ist ernst. Möge das Gute jene Eurer Männer schützen, die noch am Leben sind, Menrad.“
Der Angesprochene stand auf. Er schien nicht richtig zuzuhören. Hinter der abgezehrten Fassade seiner Züge zuckte die Sturheit derer, die den jüngsten Schicksalsschlag noch nicht kampflos einzustecken bereit sind. „Ich muss es mit eigenen Augen sehen“, sagte er zu niemand Bestimmtem. Ohne Übergang begann er auf die Pflanzenwand des Urwalds loszugehen.
„Wartet!“ Ifrah, die ihm am nächsten gestanden hatte, fiel ihm in den Arm. Er schien es kaum zu bemerken und zog sie einen Schritt weit mit, bis ihm Hadan und ein Mann aus den Hütten den Weg vertraten. Selbst die gleichmütigen Gesichter der Flussleute, die den eigenartigen, heruntergekommenen Krieger aufstehen und in sein sicheres Verderben gehen sahen, zeigten Mitgefühl. Der Alte wedelte mit knochigen Händen dazwischen.
„Ihr könnt nichts tun“, sagte der Nekromant betont ruhig. Ifrah hing dem Paladin immer noch am Arm. „Nicht auf diese Weise.“
„Das versteht Ihr nicht.“ Die Augen Menrads lösten sich vom Grün, das den Pfad umwucherte. Benommen, nah an einem Zusammenbruch, schien ihm nicht aufzufallen, mit wem er sprach. „Das war meine Kommandantur. Ich war für diese Männer verantwortlich.“
„Doch, wir verstehen es.“ Die Magierin ließ seinen Arm los. Vorsichtige Lockerung ging wie ein Aufatmen durch die Umstehenden. Im feinen Rauch, den der Alte umherpustete, damit Nari Unheil und Wahnsinn von ihnen allen abwendete, senkte sich Schweigen über die Gruppe. Mit aufgeklartem, unendlich müdem Blick wandte der Paladin sich ab, vielleicht aus Scham oder in unbefriedigter Auflehnung gegen den Lauf der Dinge.
Sie konnten nichts tun, als weiterzuziehen nach Süden.
Weiter und endgültig tief in den Urwald, in der Hoffnung, dass sie sich auf den Rückhalt aus der Welt eines der Gefährten verlassen konnten, dass das ferne, versunkene Reich seiner Berichte tatsächlich existierte.
In der Weite des Landes lauerten leicht Gedanken, die sich durch Not und Erschöpfung in Wahnsinn verwandeln konnten, nie deutlich zu sehen, immer gerade eben fort, wenn man die Aufmerksamkeit darauf richtete.
Ohne viele weitere Worte kehrten sie den Hütten den Rücken und tauchten zwischen den Bäumen am Ufer unter. Bis zum Einbruch der Nacht mussten sie noch viele Meilen zwischen sich und die Stadt bringen, um außer Gefahr ruhen zu können.
Ifrah, die Rechte auf Maysans Schulter, blickte sich noch einmal um. Rasch wurden die Hütten kleiner. Die braunen Gestalten zwischen ihnen besaßen schon keine Gesichter mehr.
Mit einem Reisballen in der Hand setzte sie sich auf den ausgeguckten Stein.
Er kauerte in Wassernähe, so dass sie den Fluss vor sich hatte, dazu die Borten des Waldes, aber noch den Feuerschein vom Lager nicht allzu weit weg zwischen den Stämmen glimmen sehen konnte. Weiter als so, hatten ihr alle gesagt, durfte sie nicht weggehen. Weiter hätte sie sich indes auch nicht getraut.
Anders als in der Wüste war die Nacht hier voller Leben, beinahe laut. Aus der Baumfinsternis pfiff es leise. Sie wusste, dass es Nachtvögel waren. Der große, blasse Mann, Hadan, hatte ihr die tags im Geäst schlafenden Leiber gezeigt, kaum zu sehen. Er kannte sie sicher so gut, weil auch er nachts wenig schlief. Es gab auch ein Flöten, manchmal, das sehr schön klang und traurig. Andere Laute hörten sich an wie schnelles Klappern.
Sie erschrak wohl davor, aber Angst hatte sie keine.
Lauschend biss sie vom Reis ab, der klebrig war und ein bisschen verschwitzt schmeckte.
Das Mondlicht auf dem Wasser veränderte sich mit jeder kleinen Welle, und eine Weile sah sie nur hin und war froh.
Von den Ereignissen in der großen Stadt hatte sie noch einmal und schrecklich geträumt, dann waren ihre Nachwehen vergangen. Wo sie mit Madji und den anderen hinging, wusste sie nicht genau. Alles war aber besser, als allein in Selthe zu sein. Morgens wachte sie neben Madji auf, und diese Augenblicke gehörten ihr. Böse war sie ihr noch. Dennoch barg jede Bewegung der dunklen Hände, jedes Wort von ihr eine Sicherheit in sich, mit der sie nachts warm einschlafen konnte, um am nächsten Tag wieder neben ihr herzulaufen. Es gab viel zu sehen, zuhören konnte sie in Ruhe und musste selbst nicht viel sagen. Die neuen Erwachsenen hatten ihr bisweilen etwas erzählt.
Zuletzt aber war nicht mehr viel gesprochen worden und mit der kurzhaarigen Frau, an die sie sich am ehesten heranwagte, die freundlichste Quelle sehr stark versiegt. Ein Schweigen hing zwischen ihr und dem großen Mann. Es kam ihr, Maysan, bekannt vor, und sie hätte sich gern gewünscht, dass es endete und am besten niemand mehr wieder lange und finster schweigen musste.
Darüber dachte sie noch nach, als eine Berührung am Fuß sie aufschreckte.
Maysan war, wie ihre Mutter oft sagte, ein Wüstenkind. Häufig in den Wadis um Sadr Hammath gewesen, wo die Karawanserei ihrer Mutter lag, wusste sie, dass kleine Lebewesen, die sich lautlos näherten, Skorpione, Nattern oder giftige Echsen sein konnten.
Mit einem leisen Aufschrei sprang sie voller Angst vom Stein fort, und der Reisballen fiel ins Gras.
Ihre Augen fanden trotz der Dunkelheit den schmalen, ringförmig gemusterten Leib im Gras. Die kleine Schlange war vielleicht drei Fuß lang. Hat sie mich schon gebissen? Kaum aus dem Sprung gelandet, vernahm sie das trockene Rascheln, mit dem das Tier ein Blatt verdrängte. In den widerwärtigen Windungen des dünnen Leibes ballte sich ein Zustoßen. Sie kam ihr hinterher!
Mit einem Fuß trat sie rückwärts ins Wasser.
Sie spürte die laue Nässe noch.
Dann brach ihre Panik mit einem Brennen aus, kochte hoch. Sie schwelte das entsetzte Erkennen und die Weigerung aus ihren Augen. Im Gras ringelten sich Halme und wurden schwarz. Starrend, im leisen Gestank, hätte sie aufschreien mögen. Es ging nicht. Das Brennen war immer stärker. Nein! Ich will dich nicht!
Feuer! Die Hitze ging ihr einmal quer durch den Leib.
Dann, mit einem Schlag, war sie weg.
Maysan hielt die Hände von sich. Äußerlich unversehrt, klopften sie vor Hitze.
Langsam, mit todbleichem Gesicht, nahm sie den Fuß aus dem Wasser.
Von der Schlange war nur noch ein verkohlter Streifen Fleisch übrig, der sich mit einem letzten Nervenzucken langsam wand, obwohl er schon auseinander bröckelte und weder Kopf noch Schwanz mehr besaß. Darunter schwelte das Gras noch.
Sie stand eine Weile und hörte das altvertraute Dröhnen in den Ohren. An ihrer Hand waren die Reiskörner getrocknet und fielen ab.
Zutiefst unglücklich hockte sie sich hin und begann zu weinen.