Wie es der Zufall so will, hat gerade mein 2. Betaleser das neue Kapitel freigegeben. Voilá! Es ist ein eher ruhiges, fast schon ein Zwischenstück. Trotzdem hoffentlich viel Spaß beim Lesen.
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XXIV. Rast ohne Ruhe
Licht weckte sie, oder auch eine spürbare Abbremsung des Floßes.
Eya schlug die Augen auf.
Zunächst sah sie wenig, nur vage die Fläche des Gefährts in dichtem Dunst, jemanden, der sich bewegte, und Hadans Beine. Er stand weiter vorn am Floß und ließ die Stakstange sich seitlich davon immer wieder am Grund verfangen. Träge blickte sie zwischen seinen Beinen hindurch, schaute, und in diesem Augenblick glitten sie wie aus einem Nebelpfuhl heraus, und sie setzte sich auf. Die Müdigkeit war vergessen.
Vor ihnen öffnete sich der schmale Fluss in einen weiten, kaum noch bewegten Strom, nein, beinahe ein See war es schon. Die Ufer traten zurück, weniger undurchdringlich jetzt, und die Enge des Waldes schien fern unter dem plötzlich triumphal wiedergekehrten Himmel. Es war noch früh am Morgen, das Licht kaum von dieser Welt, obwohl die Sonne schon niedrig am Himmel stand. Blasse, aber unerwartete Farben gab es, Silber, Weiß, schüchternes Gelb und Rosa. Ein Plätschern fiel in die Stille. Aus dem Irgendwo flog eine Schar langhalsiger Schattenfischer auf.
Ein Seitenblick zeigte Eya das schmal gewordene Gesicht des Paladins, der in einigem Abstand da kniete. Das Licht offenbarte, dass er struppig und verhärmt aussah, doch auch den staunenden, fast verklärten Ausdruck auf seinen Zügen. Er war bewegt, so wie sie.
Wie schön es hier ist.
Ruhig glitt das Floß in die Öffnung des Waldes hinaus, und erst nach einer Weile bemerkte die Assassine, dass es sich leicht nach rechts hielt.
Als ihr Gefährt im ufernahen Flachwasser Grund berührte, gingen sie an Land.
Maysan watete neben Hadan, der die schlafende oder bis zur Bewusstlosigkeit geschwächte Magierin auf den Armen ans Ufer trug, durch die Wasserpflanzen. Das Floß zogen sie ein Stück die Böschung hinauf. Dann machten sie sich daran, eine Bahre aus Ästen zu fertigen, denn ihr vorläufiges Ziel lag einige Stunden landeinwärts, und keiner von ihnen konnte Ifrah so weit allein tragen, die nicht groß, aber keine leichte Frau war. Mit dem Mantel des Nekromanten und den zähen Lianen der Umgebung brachten sie schnell eine einfache Konstruktion zustande.
Als der Paladin hinzutreten wollte, um das hintere Ende der Trage aufzunehmen, stellte sich Eya dazwischen.
„Erlaubt“, sagte sie. Hadan, der bereits das Kopfende hielt, wandte sich um, aber sie fixierte die grauen Augen des Lichtkriegers. „Ihr tragt an Euren Sachen schwer genug, und ich habe hier etwas zu vergelten.“
Der Paladin konnte nicht wissen, dass die Erfahrung einer langen Reise im Wundfieber sie mit der älteren Frau verband. Aber nach einem Blinzeln trat er beiseite, die Ruhe der Duldung in seinem äußerlich unbewegten Gesicht. Er akzeptierte ihre Bitte.
Der Uferwald war weniger dicht und dämmerig, und selbst mit der Trage kamen sie gut voran. Eya blickte immer wieder auf das Gesicht der Magierin. Gelegentlich hoben sich die dichten schwarzen Wimpern, aber sie lag vollkommen unbeweglich. Schweiß perlte ihr über die wächsern glänzende Haut.
Beinahe ebensoviel Sorge bereitete der Assassine jedoch Maysan. Seit dem Vorfall ohne ein Wort, war sie abwechselnd düsteren und verzweifelten Gesichts in Ifrahs Nähe geblieben. Indes war es keine Nähe unbeschwerter Zuneigung und einfacher Sorge.
Eines sah Eya deutlich: Maysan fürchtete die Magie. Sie fürchtet sie nicht nur, sie hasst sie geradezu. Magie ist, was Ifrah zum Kämpfen befähigt, und als Kämpferin ist sie in die Welt hinausgezogen. Sie streifte das neben ihnen hertrottende Kind mit einem mitleidigen Blick. Magie hat ihr die Mutter weggenommen.
Der Assassine wollte es jedoch so vorkommen, als ob des Mädchens Angst einen noch tieferen Ursprung hatte, dem sie, Eya, als Magieunbegabte schwerlich nachspüren konnte.
Während sie dachte, dass sie immer noch zu wenig von ihren Nächsten wusste, öffnete sich vor ihnen das Grün.
Überrascht weiteten sich Eyas Augen. Hier, mitten im Wald, lebten Menschen.
Sie sah ein halb aus Stein, halb aus Holz errichtetes Haus, das ebenso gut in eine der Städte gepasst hätte, einen lehmigen Hof unter Salbäumen davor, Umzäunungen, die den Urwald zurückhielten. Stimmen, Gestalten tauchten auf.
Dem Ort haftete eine solche Friedlichkeit alltäglichen Lebens an, dass sie nicht länger als einen Atemzug an Vorsicht dachte.
Als Erster kam ihnen ein älterer Mann sehr dunkler Hautfarbe entgegen. Aufleuchtende Augen hefteten sich auf Hadan, und mit sich hebenden Händen ging er auf den Nekromanten zu. Hinter ihm folgte in offenkundiger, erstaunter Erregung, was Ehefrauen, Kinder und andere Familienmitglieder sein konnten.
Tiefer, als Eya es bisher je gesehen hatte, bückte sich alles mit vor der Stirn zusammengelegten Händen. Es war eine Ehrbezeugung, ein Segenswunsch, und er galt eindeutig Hadan.
Verwundert versuchte sie das stark abgewandelte Jabhra zu verstehen und hörte ihn etwas erwidern. Sein Tonfall verriet, dass die Szene ihm unangenehm war und ihn beschämte.
Dann wandte er sich um. „Dies sind die Leute, von denen ich sprach. Sie gewähren uns gern ihre Gastfreundschaft, bis es Ifrah besser geht.“
Vorsichtig nahmen sie die Trage wieder auf und folgten den einladenden Gesten des Familienoberhauptes. Mittlerweile umstand sie mehr als ein Dutzend Personen. Unsichere, aber wohlwollende Blicke begegneten ihnen, zwei Frauen liefen schon zu einer Feuerstelle, man redete auf sie ein, Hände fassten helfend an Ifrahs Trage mit an. Betroffen von so viel plötzlicher Nähe, ließen die Gefährten sich zum Haus führen.
Ein Halbwüchsiger nahm Eya ihren Teil der Trage aus den Händen, bevor sie es abwehren konnte. Das Durcheinander aus Menschen und Stimmen war nach der Einsamkeit des Urwalds beinahe zuviel, man schob sie freundlich hierhin und dorthin, und auch wenn es respektvoll geschah – sie war fremde Berührungen nicht gewohnt.
Wie müssen wir für diese Leute aussehen, der abgerissene Haufen unbekannter Sonderlinge, der wir sind. Dass es hier, tiefer im Süden, sehr wohl einzelne Menschen oder auch Gruppen geben musste, die Kurast nicht hörig waren, und dass Kurast nicht das einzige Machtzentrum war, begann sie zu begreifen. Dennoch verwunderte sie das Verhalten der Familie.
Warum helfen sie uns, ohne auch nur zu zögern? Die Gefahren, die sie damit auf sich nehmen, scheinen sie nicht zu kümmern.
Eine junge Frau fiel der Assassine auf, die sich etwas abseits der Geschäftigkeit hielt. In den Händen trug sie eine Schüssel mit Wasser, und ihre Augen verfolgten jede von Hadans Bewegungen. Etwas Unterwürfiges, Ergebenes sprach aus ihrer ganzen Haltung. Als der Nekromant zufällig in ihre Richtung blickte, wechselten beide einen eigenartig bedeutungsvollen Blick.
Beunruhigung legte sich schwer auf Eyas Brust – Hadan und diese Frau kannten sich. Gewiss, er schien mit der gesamten Familie vertraut, aber hier las ihr Gespür mehr aus der eben beobachteten Begegnung als gute Bekanntschaft.
Abwesend betrat sie mit den Anderen das Haus.
Erst als die Familie, nachdem die Gäste versorgt und bedient worden waren, zurück an ihr Tagewerk ging, wurde es ruhiger. Hin und wieder kam jemand und brachte Tee oder andere bescheidene Aufmerksamkeiten, doch ansonsten blieben sie sich selbst überlassen. Ifrah ruhte in einem zum Hof offenen Zimmer.
Im üblichen Bedürfnis einer Assassine nach Überblick umging Eya das Haus einmal.
Der Versuch, sich einzureden, es sei die Harmlosigkeit des Ortes und die Nähe zu Baraidha, die sie beunruhigten, schlug indes fehl.
Sie lenkte ihre Schritte zum Haus zurück. Bevor sie es erreichte, sah sie den Paladin im Schatten einiger Bäume. Ohne Schild, den Kampfhammer in der Hand des verwundeten Arms, von dem er die Schiene abgenommen hatte, übte er. Kurz erhaschte sie einen Blick auf sein schmales, ruhig konzentriertes Gesicht, auf seine hohe Gestalt, die zwischen den Hausbäumen eines fremden Volkes mehr denn je wie gestrandet wirkte.
Sein Üben gemahnte sie an ihre eigene harte Zeit der Genesung, und dann, unwillkürlich, ging ihre Erinnerung weiter zurück, in die Einsamkeit und durch die Monate der Wanderung mit den damaligen Gefährten hindurch bis in die Zeit ihrer Ausbildung.
Ich bin immer allein gewesen. Mein Orden hat mich das Alleinsein noch gelehrt, hat es absichtlich verstärkt – Einsamkeit in Vollendung. Erst unter anderen Menschen, die meist ebenso allein waren wie sie, Abtrünnige, rastlose Krieger, Randexistenzen, hatte es geendet. Ich will nie wieder allein sein.
Entschlosseneren Schrittes ging sie weiter.
Hadan saß in einer der zahlreichen Türen des Hauses, die zum Lehmplatz hinausgingen, der es von zwei Seiten umrahmte. Er lehnte im Türrahmen und hatte seinen Mantel über die langen Beine gebreitet, mit einer Nadel dabei, das Gewebe zu flicken.
Der Schritt der Assassine stockte, denn unweit, an einem offenen Feuerplatz, kniete die junge Frau, die ihr bei der Ankunft aufgefallen war. Für die Dauer eines Gedankens mahnte eine innere Stimme sie, verschwinde. Geh einfach, zieh dich zurück. Fast so stark wie ein Instinkt war es.
Dann aber fragte sie sich, was sie eigentlich fürchtete. Sie hatte Nächte mit diesem Mann verbracht und kannte und sah Seiten, die allen anderen Menschen verborgen blieben.
Eben, als sie auf ihn zutrat, blickte er auf. Wenn seine unnatürlichen Augen, weiß, ohne die Wärme einer Farbe, zu lächeln imstande waren, taten sie es jetzt.
Eine Weile hockte sie neben ihm in der Tür, wusste nicht, wo sie ihre Hände lassen sollte, und schaute wirr seiner Arbeit zu. Der Mantel war kaum noch zu retten, fadenscheinig und zerrissen, der Saum verkohlt vom Feuer zahlloser Feinde.
Die junge Frau am Feuer formte mit den Händen Ballen aus Kichererbsen. Schlank und still sah sie aus in ihrem gelben Wickelkleid, schlicht und grazil, ein Tuch über dem Haar und im Nasenflügel einen kleinen Ring.
„Woher kennst du diese Leute?“ hörte Eya sich fragen.
„Ich bin jahrelang in diesem Teil des Ostens gewesen“, antwortete der Nekromant. „Der Tempel im Süden wegen, aber es hat hier auch Krieg gegeben. Es war ein Krieg zwischen Kasten. Eine schlimme Zeit.“ Er blinzelte in den grauhellen Mittag. „Nanda Varmas Frau – er ist unser Gastgeber - war eine der Vielen vor zwei Jahren, die durch eine Verwundung erkrankten. Dazu kam noch das von Heeren und siechen Verletzten verunreinigte Wasser. Sie baten mich um Hilfe, und ich konnte sie retten. Das ist alles.“
„Und... diese junge Frau?“ kam es der Assassine über die Lippen, während sie vorsichtig hinüberschaute, ob diese es auch nicht hörte.
Hadan folgte ihrem Blick. „Du kannst getrost lauter sprechen“, sagte er „sie versteht die gemeinsame Sprache kaum.“ Eya begegnete dem Perlmutt seiner Augen und fühlte sich ertappt. „Sie ist eine von Varmas Töchtern.“ Ein beinahe unmerkliches Zögern entstand, bevor er fortfuhr. „Sie wurde mir damals als Entgelt angeboten.“
Nicht ein Wort für eine Erwiderung fiel ihr ein, aber Hadans Ausdruck bezeugte, dass ihr Gesicht Bände sprach.
„Diese Leute sind arm, Shatryindjah“, sagte er. „Sie gehören einer Kaste an, die noch niedriger ist als die meinige. Einem Nekromanten gegenüber, der ihnen als Heiler oder als Vermittler mit Göttern erscheint, entsteht eine Schuld. Verstehst du das? Es ist eines der Gefängnisse dieser Kultur. Sie stehen weder Pakhra noch einem anderen höheren Gott des Lebens oder des Todes nah genug, um mich mit Gebeten entlohnen zu können. Sie haben keine Mittel, weder weltliche noch geistige, um mich zu entschädigen, und so boten sie mir etwas von dem Einzigen, über das sie verfügen: ein Menschenleben – eine zukünftige Gattin für mich, da sie sahen, dass ich allein war. Ich habe es ihnen auszureden versucht, aber ich kann es ihnen nicht vorschreiben.“
„Eine Lebensschuld“, murmelte Eya. Ihre Wangen glühten. „Das ähnelt einem System, das ich mühsam zu vergessen gelernt habe, aber ich erinnere mich und verstehe noch, was das bedeutet.“ Innerlich gespalten hörte sie sich selber zu, wie sie, Welten vergleichend, zu begreifen versuchte, während dies für ihr Herz gerade doch eigentlich nicht das Dringlichste war. „Und du hast...“, sie verschluckte den Rest des Satzes, um kläglich neu anzufangen: „Was war mit ihr, wäre sie... gern darauf eingegangen?“
Warum begann er zu lächeln? Er legte den Mantel weg.
„Du bist eifersüchtig“, stellte er fest, und unter seiner Belustigung klangen ein Erstaunen und eine ernste innerliche Bewegung an, die Erstere als nur oberflächlich enttarnten. Zwischen Furcht und, dank seiner Reaktion, zögerlicher Erleichterung schoss sie einen schrägen kohlschwarzen Blick nach ihm.
„Sie hatte Angst“, er sah kurz zu der jungen Frau hinüber. „Die Rettung ihrer Mutter, die Lage, in der ihre Leute waren, und dann ein Fremder, vor den sie hingestellt wurde... Als sei das nicht genug, wurde sie zurückgewiesen und konnte in ihrer vermutlichen Verzweiflung nicht einmal der Ehre ihrer Familie, so wie diese dies sah, dienlich sein. Sie sollte dir leid tun, Shatryindjah, anstatt dich zu beunruhigen.“
Nachdenklich, erleichtert, saß sie da und versuchte sich in ein Dasein hineinzudenken, in dem selbst die Zurückweisung durch einen beängstigenden Fremden nicht zuerst Anlass war, sich über die wiedergewonnene Freiheit zu freuen, sondern Scham einer Herabwürdigung, einer Nutzlosigkeit, zu empfinden.
„Deine Welt ist grausam“, sagte sie, ohne zu überlegen.
Mit derselben Aufmerksamkeit, die er ihr stets entgegengebracht hatte, schaute er sie an. Mittlerweile wusste sie, dass er ihren Blick auf alles sie Beide Umgebende schätzte und ihn selbst dort duldete, wo er sich vor anderen verschloss. Im Streit hatte sie dies vergessen.
„Ja“, sagte er. „Das Jahrtausende alte System ist unerbittlich.“
Überrascht blinzelte sie. Wie konnte er das über eine Welt sagen, die er ganz augenscheinlich verehrte? „Und trotzdem ist es dir heilig?“
„Die Götter sind mir heilig“, antwortete der große Mann. „Du warst erstaunt, zu bemerken, dass ich wirklich an sie glaube. Ich habe meine Gründe, vertraue mir. Aber die Kasten sind von Menschen ersonnen. Vielleicht würde ich sie ändern – aber selbst den Fürsten in Baraidha, den hochgeborenen, würde das mehr als ein Lebensalter kosten, und dazu womöglich noch seinen Kopf.“
Prüfend, die abgekühlte Schläfe seitlich auf die überm Knie verschränkten Arme gelegt, schaute sie ihn an.
Sie unterhielten sich lange, bis es sie drängte, nach Ifrah zu sehen.
In ihrer Nähe gackerte es.
Hühner, kam ein Wort aus dem Nichts.
Die sachte Verwunderung hob ihr Bewusstsein in ein Stadium, in dem sich ein umgebendes Außen vom Innern ihres Kopfes zu trennen begann. Es ging langsam.
Sie wusste nicht, wo sie war, und nichts ließ sich in einen Zusammenhang bringen. Wenn sie nur eines der Bruchstücke aus Bildern und Klängen zu fassen bekäme!
Als es ihr endlich gelang, die Augen zu öffnen, hing dort eine Zimmerdecke aus blassgelb gestrichenem Holz. Ächzend, weil ihr Nacken steif und der Schädel selbst schwer wie ein Stein war, drehte sie den Kopf. Ein Hof tauchte auf, hellbraun bis zu schattigem Wald, und da waren auch Perlhühner. Nach einer Weile begriff sie, dass sie in einem Raum ohne vierte Wand lag.
Ein Luftzug strich ihr angenehm lau um das glühende Gesicht, doch sie verspürte entsetzlichen Durst.
Schmerz brannte sich unvorbereitet in ihren Körper, blendete sie, als sie sich aufrichten wollte, von der Mattigkeit beinahe in eine Ohnmacht zurückgeworfen.
„Nein, nein“, ereiferte sich eine Stimme.
„Ihr müsst liegen bleiben“, sagte jemand anderes. Ifrah fühlte harte, kühle Hände, die ihren Kopf wieder auf eine weiche Unterlage betteten. Zwischen flatternden Lidern sah sie ein dunkles, rundes Antlitz mit zart faltigen Mundwinkeln, ergrauendes Haar. Die fremde Frau lächelte und murmelte etwas von Suthvaa, der stärker sei als die Flussdrachen.
Fieber. Ich hätte mich nicht bewegen dürfen. Flussdrachen. Ich erinnere mich.
Störrisch drehte sie den Kopf erneut, diesmal nach links.
Sie hatte seine Stimme, die zweite, nicht erkannt, da er selten sprach, und sah jetzt mit Erstaunen in sein bärtiges Gesicht. Menrad hockte neben ihrem Lager auf einem Sitzkissen, ein winziges Buch in der Hand.
Ihr seid der Letzte, den ich erwartet hätte, hätte sie sagen mögen, aber ihre Stimme litt noch zu sehr unter der lähmenden Mattigkeit, und so krächzte sie nur nach Wasser.
Die fremde Frau half ihr trinken, dann ging sie.
In Ifrahs Augen mochten sich langsames Erinnern und damit einhergehende Unruhe abzeichnen, denn der Paladin machte eine beruhigende Geste. „Euer Kind ist wohlauf“, beantwortete er die ungestellte Frage. „Ebenso eure Gefährten. Beunruhigt Euch also nicht“, fügte er dann steif hinzu.
Zurücksinkend, gab sie den Kampf gegen den Boden auf, der sie hartnäckig nach unten zog. Was allerdings der Paladin, ihr unfreiwillig hinzugekommener Gefährte, nun tat, hielt ihr die Augen offen.
Wie um sich eine Formel oder Ähnliches noch einmal einzuprägen, las er murmelnd einige Zeilen aus dem kaum handgroßen Buch, um es dann behutsam beiseite zu legen. Mit geschlossenen Augen kam er aus der Sitzhaltung auf die Knie herunter. Seine Rechte berührte die Stirn, dann die Brust dort, wo sich das Herz befand.
Eben wollte die Magierin bedenken, dass sie die Himmelsgeste der Lichtkrieger nie zuvor aus solcher Nähe gesehen hatte – da begann das Licht.
Beginnendes Licht.
Anders ließ es sich nicht beschreiben. Zunächst nur als Schein, ähnlich der schwachen Reflexion sonnenbeleuchteter Wasseroberfläche, trat es aus dem Nirgendwo und erhellte die Züge des Mannes. Dann aber begann es sich auszubreiten, sich sichtbar um die kniende Gestalt herum abzuzeichnen, das zurückhaltendste, denkbar klarste Glimmen. Flüchtig von ferner in den Raum Sehende hätten es vielleicht nicht einmal bemerkt. Es ähnelte einem Sonnenfleck auf einer Wand, nur dass es schwebte. Und seine Quelle war ein Mensch.
Eine Weile sah sie nur in Ergriffenheit hin, auch in Verwunderung, weil die Lichterscheinung, magieähnlich und weltfern in ihrer Natur, zu dem steifen, mürrischen Mann nicht recht passen wollte.
Dann spürte sie, wie sich die Beklemmung des Fiebers von ihrer Brust hob. Irritiert nahm sie die Erleichterung wahr. Der Paladin heilte sie. Er betete und übertrug, was auch immer seine Kraft war, auf ihren Leib.
Ihr müsst das nicht für mich tun, wollte sie sagen, doch etwas hieß sie schweigen, und die heilende Aura tat unendlich wohl.
„Danke“, flüsterte sie.
Er öffnete die Augen. Unverwandt traf sie ein Blick, nicht feindselig, aber ohne Wärme. Ein weiteres Dankeswort versiegte auf Ifrahs Lippen.
Dem Paladin geboten sein Kodex und sein Glaube, Verwundeten zu helfen, wo er es vermochte. Das wusste sie, und es unterschied sich kaum von ganz unpersönlichen, menschlichen Regungen wie Mitleid oder Barmherzigkeit mit den Schwächeren. Seine grauen Augen waren intelligent, lebendig, doch ihr Ausdruck konnte sehr wohl bedeuten, dass seine Handlung einem leeren Pflichtgefühl entsprang.
Paladine verfolgen uns Magier, seitdem ich denken kann, manchmal weniger, manchmal erbitterter, wie es nun im Westen wieder ist. Bilder kamen, einander finster gegenüberstehende Gruppen, die um die Schließung von Elementarschulen südlich von Fadraîs verhandelten, Bittsteller, zerfurchte Gesichter, greise Männer, voll Stolz und alter Müdigkeit gestikulierend, Blutvergießen in Lut Gholein, Jahrzehnte zurückliegend, getötete Magier und Gelehrte, getötete Paladine in der Wüste. Bilder aus meiner Jugend. Sie klagen uns an, Götzen zu dienen, schädlichen Elementarkräften, die Vergangenheit in den großen Handelsstädten festzuhalten, die Ordnung der Ordensstadt zu verhindern, die allen Menschen zum Vorteil wäre. Sie schloss die Augen, erschöpft plötzlich.
Was an unseren Klassen ist es, das uns so viel Hass aufeinander beschert? Er wird wiedergeboren, sobald gemeinsame Feinde besiegt sind.
Was könnten wir nicht alles erreichen, wenn dieser Hass nicht wäre.
Mit dem letzten Gedanken bei Maysan, mit der Frage, welche Welt ihrer Tochter später begegnen würde, im warmen Mittag und im Halbschatten des offenen Zimmers, schlief Ifrah ein.
Menrad beobachtete, wie das Gesicht der Magierin im Schlaf weicher wurde. Ohne ihren Stab und andere Ausrüstung, die an einer Wand des Zimmers lehnte, sah sie aus wie eine der abertausend Frauen aus der großen Wüste – dunkel, mit vollen, geschwungenen Lippen und ausgeprägten Wangenknochen. Zwei sonderbare Narben, symmetrisch fast, zierten ihre Augen.
Er sollte ihr stärkere Gefühle entgegenbringen, sagte er sich, tiefere Abneigung, Verachtung, Hochmut – Widersprüche zum gebotenen Menschenbild seines Ordens, die dennoch seit Jahrhunderten gang und gäbe waren. Diese Frau verkörperte alles, gegen das seine Brüder seit langem vorgingen. Sie lebte allein, ohne Mann, bediente sich der Elemente und alter, in den fadraîschen Hoheitsgebieten verbotener Magie.
Warum er knien blieb und die zerbrechlichen Kontakte zum Licht beschwor, einer Macht, derer er sich insgeheim nie sicher war, wusste er sich selbst nicht zu beantworten. Je länger er unter diesen Leuten weilte, desto deutlicher zog das Begreifen der unüberbrückbaren Fremdheit dieses Kontinents in ihn ein. Die Mission schien ihm immer mehr ein einziger, fataler Irrtum, auch wenn dies vielleicht Lästerung war. Dutzende Gelegenheiten hatte es gegeben, diese seltsame Gruppe zu verlassen, sich zur Küste durchzuschlagen oder es wenigstens zu versuchen.
Was hielt ihn noch hier?
Er spielte den Gedanken durch. Steh auf und geh. Lass dieses Land doch in seinem Chaos versinken, dieses Land, das Ordnung nicht nur nicht übernehmen kann, sondern sie gar nicht übernehmen will. Überlasse sie ihrem Schicksal und der eigenartigen Bedrohung in Kurast.
Ein Zucken ging durch seine Glieder. Auf dem Flur tappte das Kind der Magierin vorbei, stand kurz mit traurigen Augen in der Tür. Falls es ihn ansah, wollte er ein zuversichtliches Gesicht machen.
Und eigentlich nicht erst jetzt wusste er, dass er nicht gehen würde.
Drei Tage nach ihrer Ankunft begann sich der Zustand Ifrahs merklich zu bessern.
Die Verätzungen des Giftes waren nahezu abgeheilt, und mit dem Verschwinden des hässlichen Graus kehrte gleichzeitig ihre Kraft zurück.
Ich gönne ihr alle Ruhe, dachte Eya, doch es wird Zeit, dass wir weiterziehen.
Die junge Frau saß mit unterschlagenen Beinen neben der dösenden Gefährtin im Abendlicht, das durch die offene Wand fiel. Am dämmernden Himmel huschten Fledermäuse über die Scherenschnitte der Baumwipfel, und das nächtliche Zirpen des Waldes hatte bereits eingesetzt.
Ifrah und Maysan waren die einzigen, denen die Ruhe wirklich zu bekommen schien. Während seine Mutter sich erholte, spielte und radebrechte das Mädchen mit den Kindern des Hauses.
Hadan jedoch wurde zunehmend unruhiger. Er verlor zwar kaum ein Wort, begann aber mit rastloser Vorsicht durch die nahe Umgebung zu streifen oder saß, nicht ansprechbar für ihre Dauer, in Meditationen, die ihn sichtlich angriffen. Nachts fand sie ihn fast jedes Mal schlaflos neben sich, wenn sie erwachte.
Seine Unruhe übertrug sich auf ihr feines Gespür, und alle bösen Ahnungen und Erinnerungen – die Ränke der Viz-Jaq’Taar, die überall bis zum Irrsinn gesteigerte Furcht vieler Menschen, der Kindgott – kehrten allmählich zurück.
Die größte Sorge bereitete ihr jedoch Menrad. Sie selbst, Ifrah und Maysan duldete er mittlerweile und hatte der Verwundeten beigestanden. Aber die beiderseitige Abneigung zwischen ihm und Hadan trat wieder stärker zutage, je länger der Kampf am Fluss zurücklag, und mit wiederhergestellter Kraft würde der Paladin sich immer schwerer tun, den Nekromanten als augenblicklichen Anführer zu akzeptieren.
Ich weiß nicht mehr, welche Fügung uns vor einem Jahr als Gruppe hat handeln und kämpfen lassen, ging es der Assassine durch den Kopf. Doch Hadan taugt nicht zum Anführer. Meine Liebe darf mich hier nicht blind machen. Er ist zu unnahbar, und letztlich sogar hier ein Mann einer niederen Kaste.
Sie dachte an das geheimnisvolle Ziel im Süden. Wie ihr Gefährte dort eine Streitmacht mobilisieren wollte, die es mit Kurast aufnehmen konnte, wusste sie nicht.
Ihre Gedanken wanderten zurück zu den Männern. Noch hatte die Tatsache, dass sie sich nach Kräften mieden, einen ernsteren Zwist verhindern können, doch die erzwungene Rast und ihrer aller Situation erschwerte jeglichen Abstand. Baraidha war nicht weit. Ihren freundlichen Gastgebern zufolge stritt das dortige Fürstenhaus mit kurastischen Besatzern. Oft kamen Patrouillen und Unbekannte durch den Wald, und die Gefährten mussten sich zähneknirschend verborgen halten, so gut es eben ging.
So blieb ihnen seit vier Nächten wenig, als dicht aufeinander zu sitzen, ohne andere Beschäftigung, als von der Türschwelle aus in den schwülen Tag zu sehen, immer mit halbem Ohr auf eine Gefahr lauschend, den friedlichen Ort um sich wie eine lebende Illusion.
Eya sah aus ihren Gedanken auf, als Hadan das Zimmer betrat.
Der Nekromant kniete sich neben die Magierin und berührte sie leicht an einer der matt daliegenden Hände. Während Ifrah die Schläfrigkeit abschüttelte, wandte er sich an die Assassine: „Nanda hat Neuigkeiten aus Baraidha. Zeit für eine Lagebesprechung, Shatryindjah.“ Dann stand er auf und verschwand im Innern des Hauses, um den Paladin hinzuzubitten.
Besorgt blickte sie ihm nach. Die Spannung in der Luft war beinahe greifbar.
Ein weiteres Mal, sagte ihr die Ahnung, würde eine nahe Stadt, in der es eine paladinische Mission gab, umgangen werden müssen. Ein weiteres Mal würde ihr neuer Begleiter an seine Ohnmacht erinnert werden und sehen, dass er in der Tiefe des Landes gefangen war, an Entscheidungen von Menschen gebunden, denen er womöglich misstraute, die er aber ganz sicher nicht schätzte.
Kaltes Schweigen begleitete die Zurückkehrenden. Menrad blickte finster, den Mund zu einer Linie zusammengepresst.
„Baraidha ist besetzt und augenblicklich zu gefährlich für uns“, begann Hadan ohne Umschweife. „Es gibt keine Paladine mehr in der Stadt, die allem Anschein nach großenteils vertrieben wurden und deren Verbleib unbekannt ist. Unsere Gastgeber haben versucht, über Höhergestellte zum Fürstenhaus vorzudringen, aber dies erfordert Vorsicht und mehr Zeit, als wir haben. Wir müssen weiterziehen, sobald sich Ifrah dazu in der Lage fühlt.“ Er tauschte einen Blick mit der Magierin.
„Wenn es auf dem Floß ist“, sagte sie und richtete sich mit Mühe auf, „kann es von mir aus sofort sein. Ich werde es schon schaffen.“
„Wartet“, fiel Menrad ein.
Eya drehte den Kopf zu ihm, und auch die anderen fassten ihn mit einem Ausdruck ins Auge, der zeigte, dass sein Einwand nicht unerwartet kam. Die Fassung des Paladins war sichtlich nur noch ein Gerüst seiner erlernten Zurückhaltung, ausgehöhlt, und verbarg den darunter schwelenden Ausbruch kaum mehr.
Seine grauen Augen fraßen sich an den farblosen des Nekromanten fest. „Eine weitere Stadt soll nur auf Euer Wort hin, oder das Wort dieser Leute hier, nicht betreten werden?“ Flüchtig stand Zögern in seinem Gesicht – dann war es verschwunden. „Ihr führt uns an jedem Rest von Zivilisation vorbei in eine unbekannte Region, von der außer Euch niemand je etwas gehört zu haben scheint. Das ist Irrsinn!“
Langsam aufstehend, sah Eya Hadans Augen schmal werden und das Nachlassen der Geduld in seiner Mimik. Selbst ohne die, vielleicht nicht einmal beabsichtigte, Herabsetzung ihrer Umgebung und des Ziels stellten Menrads Worte einen offenen Angriff dar.
Der Nekromant atmete hörbar ein. „Es erstaunt mich nicht, dass Ihr mir misstraut, Paladin“, entgegnete er, „allerdings habt Ihr keinen Grund, die Existenz Pundars in Zweifel zu ziehen. Es mag Eurem großen und ruhmreichen Orden“ – die Betonung war nicht mehr weit entfernt von blankem Hohn – „meist nicht beachtenswert erschienen sein, aber es liegt dort, wo ich uns hinführe, und in ihm liegt unsere einzige Hoffnung.“
Feindseligkeit hing jetzt unverhohlen im Raum. Eya streifte Ifrahs Gesicht mit einem Blick. Nun sind wir soweit, sagte es. Das war nur eine Frage der Zeit.
Menrad hatte sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet. „Vor dem Hintergrund der Vertreibung meiner Brüder wirft Eure Häme ein doppelt schlechtes Licht auf Euch, Nekromant“, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. Er schien sich nur schwer von einer Drohung zurückhalten zu können.
Sein Gegenüber fasste den Lichtkrieger ins Auge wie eine unerfreuliche Kreatur, die man lange übersehen hat. „Die Vertreibung Eurer Brüder ist nicht meine oder meiner Kaste Angelegenheit“, antwortete der Nekromant eisig. „und das Vertrauen meiner Gefährten solltet Ihr besser ebenso wenig beleidigen wie die Gastfreundschaft, die Ihr erfahrt. Niemand hat Euch gezwungen, uns zu begleiten. Überlegt Euch gut, wem in diesem Land Ihr misstraut, und haltet uns nicht auf.“
Nach einem finsteren Blick voller Abneigung, der dann aber, im Abgleiten, etwas verborgen Verzweifeltes bloßlegte, wandte der Paladin sich der offenen Wand zu.
Bislang hatte sie nur dagestanden, ratlos vor dem Konflikt nicht nur zweier Männer, die sich nicht duldeten, sondern auch zweier Klassen ihrer Welt, die sich gegenseitig abstießen wie Wasser und Öl. Jetzt aber trat Eya dem großen, bärtigen Mann in den Weg, als er das Zimmer verlassen wollte.
„Geht nicht“, hörte sie sich sagen. „Ihr könnt doch nirgendwohin.“
Er blieb stehen.
Mit hochschlagendem Herzen wandte sie sich dem Nekromanten zu. „Hadan, bitte...“, stand ihre Stimme flehend und gleichsam entschlossen im Raum. Nie zuvor hatte sie es gewagt, ihn vor anderen zurechtzuweisen, doch jetzt kam von irgendwoher die Empfindung, im Recht zu sein – auch dazu, ihre Beziehung offen als Einfluss zu nutzen.
Er sah sie an, Zorn in den Augen, erwiderte aber nichts.
Ifrah hatte sich inzwischen aufgesetzt. Im Flur des Hauses waren Familienmitglieder aufgetaucht und wieder verschwunden, angelockt und dann eingeschüchtert durch die lauteren Stimmen.
Versteinerten Gesichts nahm Menrad seine vorige Position wieder ein, offenbar bereit, die Besprechung weiter zu verfolgen.
Die Assassine spürte erneut Bedauern, aber es war kein Leichtes, jemandem Mitleid entgegenzubringen, der von ihr und ihren Gefährten so wenig hielt. In einem Anflug verletzten Stolzes fragte sie sich, ob er über seine Abneigung und das gestrenge Urteil seines Ordens, was Menschen wie sie betraf, wohl vergessen haben konnte, dass ihre Entbehrungen vordem alle Länder – auch das seine – von den Erzübeln befreit hatten.
Hadan schien ähnlich zu empfinden, denn ruhiger, aber keineswegs arglos fuhr er in Menrads Richtung fort: „Verschwendet Eure Abneigung nicht auf die Außenseiter, die wir sind – auch dank der unerschütterlichen Einstellung einiger Kräfte im Westen, Paladin. Es wäre das erste Mal, dass unser Fortkommen an Solchem scheiterte. Ihr werdet unseren Weg nicht bestimmen und Euch nicht zwischen ihn und uns stellen – und nehmt dies getrost als Drohung, wenn Ihr so wollt.“
Beherrschung machte aus der Bewegung nur ein kaum merkliches Zucken, aber die Assassine hatte gesehen, dass Menrads Hand dorthin geruckt war, wo sonst seine Waffe hängen mochte. Wut ballte sich im Raum, und sie schluckte, plötzlich sich ausmalend, was geschehen würde, wenn die beiden Männer aufeinander losgingen. Das war unklug, schoss es ihr durch den Kopf. Der Paladin ist kein Mann, dem man drohen sollte.
„Der Lichtorden bemüht sich, die Menschen zu einigen“, antwortete Menrad zornblass auf die versteckte Anschuldigung. „Was Ihr Außenseiter nennt, Ihr und Euresgleichen“ – aus dem Augenwinkel bemerkte Eya, wie sich Ifrahs Züge verdüsterten – „sind Klassen, die dem Licht zuwiderhandeln, die sich unnatürlicher und unheiliger Kräfte bedienen. Dieser Kontinent ist eine Brutstätte des Chaos, und vielleicht ist es kein Zufall, was hier geschieht.“
„Vor einem Jahr“, knurrte Hadan „ist uns längs unseres Weges keine Streitmacht Eures Lichtordens aufgefallen, Paladin. Und was die niederen Methoden angeht, derer Ihr drei Viertel der wehrhafteren Menschen Sanktuarios bezichtigt, so haben diese dazu beigetragen, die Bedrohung zu tilgen.“
Der Lichtkrieger biss die Zähne aufeinander. „Die Länder waren überschwemmt von bösen Kreaturen“, entgegnete er, trotz sichtlicher Wut plötzlich leiser. „Wir verteidigten sie... und die Städte... so gut wir konnten.“
Stille trat ein.
„Alle Menschen haben das Übel bekämpft.“ Ifrah war auf die Beine gekommen. Schwach, aber aufrecht stand sie da. „Wenn die, die an verschiedenen Orten waren - einige hier, andere dort, aber alle, um zu kämpfen – sich sinnlos darüber streiten, dass sie waren, wo sie waren... dann lacht die Hölle.“
Die Assassine sah zuerst zu Hadan.
Er war verstummt, nachdenklich geworden. Blitzartig verrauchte Wut und ein matter Schatten der Beschämung desjenigen, der sich hat hinreißen lassen, hingen kurz um ihn, bevor er wieder in Unnahbarkeit erstarrte.
Menrad sah aus, als habe ihm jemand durch ein atem- und verstandesloses Toben hindurch einen schallenden Schlag versetzt.
Für eine Weile sagte niemand etwas. Das Abendlicht war heimelig, mit den verschwenderischen Farben des Ostens ausgekleidet, und im Haus entstanden die gelben Lichtkreise von entzündeten Windlaternen. In dieser Ruhe, spürte Eya, hing alles – die Ermattung der Vertriebenen, die Verzweiflung immer nur vager Hoffnungen und zerbrechender Ordnungen, die Hitze angesammelter Leidenslasten, und auch die uneingestandene Sehnsucht nach einem sehr fernen Ende aller Unterschiede.
„Berichte, was wir noch wissen müssen“, ließ sich Ifrah schließlich vernehmen. Sie griff nach Hadans Hand, der ihr half, sich auf einen Schemel zu setzen. „Und dann lasst uns aufbrechen.“ Sie sah zu dem blassen Mann hinauf. „Ich müsste noch mit unseren Gastgebern sprechen“, sagte sie. „Ich habe eine Bitte an sie.“
Noch bevor es vollständig dunkel war, waren sie bereit zum Aufbruch.
Die Verabschiedung von der freundlichen Familie nahm einige Zeit in Anspruch, aber als sie im Hof standen, ihre Ausrüstung und den zusätzlichen Proviant überprüfend, verstand Eya den weiteren Grund für die Verzögerung.
Ifrah stand mit Maysan und dem Nekromanten bei der ältesten Frau des Hauses, die Nanda Varmas Gattin war und deren Namen die Assassine sich nicht merken konnte. Neugierig trat sie etwas näher.
Dann begriff sie, und das Herz wurde ihr schwer.
Die Magierin kniete vor Maysan, gelb und silbrig in ihrer Kleidung, und sprach leise auf das steif dastehende Mädchen ein. „Du musst das verstehen, kleiner Stern“, hörte Eya ihre samtige Stimme. „Wo wir hingehen, ist es gefährlich, und die Leute hier nehmen dich gern auf, bis wir zurückkehren. Es wird nicht lange dauern.“
„Nein!“ Schwach wehrte das Mädchen die begütigende Hand der Baraidharin ab, die mitfühlend der ganzen Szene beiwohnte. Um Kummer zu verstehen, brauchte es keine gemeinsame Sprache.
„Aber dir gefällt es doch hier.“ Ifrahs Stimme bekam einen Sprung. „Schau, du spielst doch gern mit den Kindern. Ehe du es merkst, sind wir wieder da.“
„Nein“, Maysan begann zu weinen. Kläglich, einen uralten Schmerz in den Augen, plötzlich ganz ohne ihre übliche mürrische Abwehr der Mutter, hob sie den Blick zu der da knienden Magierin, fasste sogar mit einer Hand nach Hadans Mantel und sah zu ihm hoch. „Ich will bei euch bleiben!“
Obwohl ihre Haltung um kein Jota verrückte, sah Eya, und vielleicht nur vor ihrem inneren Auge, wie das ganze Gewicht der Welt auf die Magierin niederbrach.
„Es geht nicht, Maysan“, betonte sie. „Du hast doch gesehen, was in diesem Land geschieht. Erinnerst du dich an die Soldaten in Kurast und an das Gefängnis?“ Auf das stumme Nicken fuhr sie fort: „Dann wirst du sicher auch finden, genau wie wir, dass das so nicht bleiben darf, dass wir helfen müssen, und dass auch ich meinen Teil dazu beitragen will.“
Eya ging auf, dass Ifrah bereits zuvor mit Hadan besprochen haben musste, das Kind an dem sichersten Ort zu lassen, der ihnen bislang begegnet war. Sie sah Maysans Widerstand ermatten, weil dem Kind vor der Übermacht erwachsener Argumente nichts anderes übrig blieb. Gern hätte sie die sonderbare kleine Gefährtin verabschiedet, wagte aber nicht, sich einzumischen. Gerade jetzt, wo durch die gemeinsame Zeit und die Ereignisse am Fluss die Mauern zwischen Beiden fallen, wiederholt sich, was Maysan schon kennt. Es ist das Stigma ihrer Kindheit.
Ifrah hatte sich unterdessen wieder aufgerichtet und nahm jetzt unsicher das kleine Gesicht zwischen beide Hände, um ihre Tochter auf die Stirn zu küssen. „Hab keine Angst“, sagte sie. „Wir werden uns bald wiedersehen. Ich möchte nie wieder lange von dir getrennt sein.“
Durch das Letzte vielleicht sacht getröstet, ließ sich das Mädchen in die Arme von Varmas Frau ziehen.
Die Gefährten versammelten sich langsam um die Magiern, die zwischen ihnen plötzlich sehr klein wirkte. Um die letzten Blicke der Scheidenden nicht mit ansehen zu müssen, richtete Eya ihre Aufmerksamkeit auf Menrad. Er stand etwas abseits und wartete. Seine feste Haltung verriet seinen wieder guten körperlichen Zustand, und in seinem schwach angeleuchteten Gesicht glaubte sie den ruhigen Ernst bedächtiger innerer Auseinandersetzungen zu erkennen.
Schließlich schien Ifrah bereit.
Sie ging an ihnen allen vorbei, und wenngleich Schatten ihre Züge verbargen, verriet ihre Stimme, dass sie den Tränen nahe war.
„Kommt“, sagte sie. „Lasst uns gehen.“ Jetzt gleich – sonst schaffe ich es nicht.
Leise, heimlich wie sie gekommen waren, verschwand die kleine Gruppe im Wald.
Das erleuchtete Haus und der lehmige, friedliche Hof unter den Salbäumen blieben in der beginnenden Nacht hinter ihnen zurück.