XXIX. Travincal
Seit unausdenkbar langer Zeit lag Travincal inmitten eines künstlichen Wasserbeckens, auf gewaltige Sockel gebaut – ein steinernes Eiland zum Gedenken an die Macht der Herrscher.
Einst hatte es den Ostrand der menschlichen Bebauung gekrönt. Jetzt, seitdem Kurast unmäßig gewachsen war, war es das Zentrum der Stadt.
Hoch ragten die Tempel um das geweihte Areal in ihrer Mitte, eine Anordnung von Bauten, die Reisenden aus allen Weltgegenden den Atem verschlug. Über das Wasser hin konnten die Gläubigen an Festtagen die Opfergefäße und Blumen sehen, und den Rauch, der sich aus den Tempeln empor wand.
Travincal war niemals als Festung gedacht gewesen. Dennoch, wer in die Heilige Stadt wollte, konnte nur über den mehr als fünfhundert Schritte langen Damm das trennende Wasser überwinden. Kam man durch das zweite der beiden begrenzenden, freistehenden Tore, setzte man den Fuß auf geheiligten Boden.
Zweimal bereits hatte sie den Damm überschritten – das eine Mal auf der Suche nach einer kleinen Gruppe von Dämonenjägern, das andere Mal als Gefangene. Beim ersten Mal war das schnurgerade, mehr als fünfzehn Schritte hohe Bauwerk leer gewesen bis auf Überreste getöteter Kreaturen.
Nun war der Damm besetzt und wie jeder freistehende Zugang zu einem Bauwerk leicht vom Gegner zu verteidigen. Bolzen schlugen mit dumpfem Zischen in die Gruppe der Angreifer ein, die sich hinüberwagte.
Neben ihr stürzte ein getroffener Sibhakrieger von der Höhe hinab in das Wasser des riesigen Beckens. Ihr Atem klang Ifrah keuchend in den Ohren. Männer schrieen, rannten dicht an ihrer Seite über die erste Spanne des Damms, suchten sich verzweifelt zu schützen.
Weiter vorn erwarteten sie Kuraster, so viele, dass der Stein unter ihrem Rot verschwand.
Wir werden alle fallen. Hastig fasste die Magierin die nahenden, schwankenden Gebäude ins Auge. Näher rückten sie und waren doch noch so weit weg, und um sie herum würde es von Gegnern nur so wimmeln.
Trafen sie auf die wartenden Kuraster, waren sie ein noch leichteres Ziel für die Schützen, die von Travincal aus herüberschossen. Und wir müssen durchkommen. Es war keine Zeit, nach den Rändern des Sees zu schauen. Es gab nur diesen einen Zugang.
Grimm packte sie.
Zweimal bereits hatte sie die Heilige Stadt betreten. Sie würde sich das dritte Mal nicht ohne Weiteres von den Handlangern einer Schreckensherrschaft verbieten lassen.
Das Holz des Stabes bekam Kerben unter ihren gepanzerten Fingern. Ihr lauter Schrei mischte sich unter den Lärm.
Dann teleportierte sie.
Mitten auf dem Damm erschien sie wieder, den Stab zur Abwehr vor sich gehalten, die Beine gespreizt. Die Luft begann um sie zu knistern. Alle Muskeln angespannt, voller Furcht im freien Schussfeld für schnell reagierende Armbrustschützen, sah sie zornige Überraschung die Gesichter der gegnerischen Säbelkrieger verzerren.
Es waren viele, ein ganzer Wall aus Menschen. Ihr unerklärliches Auftauchen brachte ihn zum Erstarren, doch nur kurz. Nur für die Gelegenheit zu einer einzigen Attacke.
Im Lidschlag des Zögerns schlug etwas auf Höhe des Herzens gegen ihre Rüstung. Nach Luft schnappend, entließ sie das Blitzgewitter.
Wer von den Kämpfenden längs des Sees zufällig hinsah, dem schien es, als ob eine unsichtbare Sturmwolke auf Erden ihre Last ablade, zerrieben von den Spannungen des Himmels. Der steinerne Wall war mit einem Mal gleißend hell erleuchtet. Eine sich ausbreitende Pyramide tanzenden Lichts ging von einer allein stehenden, kleinen Gestalt aus und in Richtung des Tempelbezirks über die rote Menge hinweg.
Das Geschrei der Gegner war grauenhaft schrill. Ifrah versuchte mit hochschlagendem Herzen, die Entfernung zum zweiten Tor abzuschätzen. Doch der zwischen Bildern zerrissene Augenblick verhinderte es.
Taumelnd stürzten Krieger auf sie zu. Weit unten leckte das schwarze Wasser an dem Bauwerk, auf dem sie stand. Hinter ihr ermutigtes Brüllen.
Es ist zu weit.
Ein Bolzen flog so dicht an ihrem Kopf vorbei, dass sie den Luftzug spüren konnte. Auf den Plätzen hinter den Säulenreihen am Rande Travincals war es dunkel vor Schützen.
Wir sind zu wenige. Wir werden nicht durchkommen.
Bevor das Weggerissenwerden sie blind machte, waren die Dammtempel das Letzte, was sie sah. Sathrî und Bisra. Helft mir.
Später wusste sie nicht zu sagen, warum sie dies gedacht hatte, bevor sie teleportierte. Es war eine Bitte an fremde Götter, in hoher Bedrängnis, in der schwachen Hoffnung, nie gekannte Mächte würden ihr Ziel unterstützenswert finden.
Das Gefühl des Fallens war kurz übermächtig, als fester Boden sie wieder aufnahm.
Unbeholfen ging sie in die Knie, benommen und lauernd. Ihr Herz raste. Der Tribut an die Magie zog ihr solche Kraft aus den Gliedern, dass sie beinahe stürzte.
Dann aber zwangen Eile und Zorn ihr den Kopf hoch, und sie sah, wohin das Wagnis sie gebracht hatte.
Der Steinboden unter ihren zerschrammten, goldenen Knieschonern war tiefstes Dunkelgrau, von Mustern übersät. Rechter Hand hob sich eine Säulenreihe in den Himmel. Um sie herum standen braun und rot gewandete Männer, Armbrustschützen, Säbelkrieger, und starrten sie an. Wer noch nicht hersah, tat es, als sie aufstand und die Ersten Alarm gaben.
Bevor sie angriff, fiel der Blick der Magierin auf den Damm. Sie war auf der anderen Seite. Von hier aus konnte sie sehen, wie die Männer des aufständischen Heeres ihn entlang rannten und sich auf die Kuraster stürzten.
Siebzig, achtzig Verbündete mochten es noch sein. Bald würden sie sie erreicht haben.
So lange musste sie standhalten.
Die Kuraster Nahkämpfer hatten die Gestalt der fremden Magierin mit Entgeisterung aus dem Nichts auftauchen sehen, mitten unter der Verteidigung. Aber sie erholten sich von ihrem Schreck. Es war zudem nur eine Frau, eine einzelne, und eine Närrin obendrein. Nur Wenigen ging kurz etwas durch den Kopf, ein Gerücht, etwas, das sie über diese schon einmal aus Kurast Entflohene gehört hatten.
Doch jetzt sprangen sie bereitwillig auf sie zu, um sie nieder zu hacken.
Ein Knall, der alles in der Umgebung an sich zu reißen schien, ließ die Säbelkrieger im Sprung zusammenfahren. Die nachfolgende Nova schleuderte zwei von ihnen wild von den Füßen. Alle anderen, die der golden Gepanzerten zu nahe gekommen waren, fielen unter einer einzigen, unsichtbaren Klinge aus Energie. Sie schnitt ein Rund in den Pulk.
Viele hörten nicht einmal mehr das entsetzte Gellen ihrer Kameraden. Schwacher Metallgeruch gewittriger Luft kam auf.
Während der zweite Schreck die Näherkommenden noch starren ließ, wie die Magierin inmitten rauchender, langsam zur Seite kippender Leiber den Stock hob, stellten sich den Kurastern die Haare auf.
Ifrah riss die Hände hoch.
Ihr Kopf pulste, aber ihr Atem ging gleichmäßig und kraftvoll durch ihre Brust, die sich gegen den Harnisch schmiegte. Ich müsste längst am Ende meiner Kraft sein. Weißes Feuer sprang aus ihren gepanzerten Fäusten. Sie spürte das böse, nur ihr ungefährliche Brennen, die Hitze der Entladung.
Gib mir einen Augenblick, um mich auf den schönen Stufen niederzulassen. Männer drängten heran, rennend, Hass in den Augen. Dann werde ich merken, dass meine Haut schweißnass ist, meine Füße wund und mein Körper übersät mit Flecken von den Stößen der Rüstung. Erschöpfung und Elend werden kommen.
Aber ich bin nicht so müde, wie ich sein sollte.
Hinter sich hörte sie das Geschrei, das vom letzten Drittel des Dammes herüberklang.
Lauter wurde. Näher kam.
Kleine Schläge hörte man im Lärm – auftreffende Bolzen. Auf der anderen Seite des Tores standen noch einmal so viele Krieger, wie sich auf dieser Seite um sie drängten. Hier hoben viele jetzt die Hände, aus denen ihnen die Waffen fielen, schreiend zu den verbrannten Gesichtern. Ein Kettenblitz hatte sich durch die Menge gefressen, und wo er verknisterte, saßen den letzten Getroffenen zuckende kleine Abkömmlinge seiner zackigen Form in den Haaren und auf der Haut.
Vielleicht zwanzig Männer hatte sie kampfunfähig gemacht, aber drüben schoss man ohne Unterlass auf die Angreifer, und wie viele sich wutentbrannt vom Areal näherten, war unmöglich zu sagen. Travincal konnte nicht überblickt werden. Die Elemente mochten wissen, was auf dem Areal noch auf sie wartete.
Am Tor, von dem sie nur die obere Hälfte sah, schwoll der Lärm plötzlich an.
Die Gruppe hatte den Damm überwunden. Im schwarzen Wasser trieben rote, grüne, orangefarbene Gefallene. Man musste nicht nachschauen, um sich zu vergewissern, dass es Dutzende waren – die Schreie der Menschen, die vom umkämpften steinernen Eiland stürzten, verrieten es.
Ifrah machte einen Satz über mehrere Stufen hinweg. An einem Säbel vorbei, der über ihren Schulterpanzer schrammte, brach sie aus der halb wütend angreifenden, halb vor ihr zurückweichenden Menge.
Am Tor sah sie Menrad.
Er war, wie sie es erwartet und gehofft hatte, Vorderster der Gruppe, die sich jetzt durch das Tor und in ein schier unüberschaubares Chaos arbeitete. Sein bloßes Haupt ragte aus einem Zirkel, den er sich mit dem Hammer meist freihalten konnte.
Ist es nicht Wahnwitz, dass er hier mit uns kämpft? Sie hatte die wogende Menge erreicht und warf einen Funkenteppich über die Köpfe. Wenn wir überleben, muss ich ihm meine Anerkennung begreiflich machen. Er denkt nicht mehr nach. Er kämpft. Er hat mehr an Stolz und Gleichgültigkeit abgelegt als wir alle zusammen.
Wen er mit seiner wuchtigen Waffe nicht von den Füßen schmetterte, den stieß der Paladin einfach zu Boden. Seine Stiefel verließen nie den Boden, um zu straucheln, waren wie festgeklebt in sicherem Stand. Er hielt den Rücken gerade, setzte den zahlenmäßig weit überlegenen Gegnern nur das feste Gerüst seiner Knochen und Muskeln entgegen.
Jeder seiner Schläge, sah sie selbst in aller Bedrängnis, hatte Maß, beinahe Eleganz.
Sogar jetzt noch.
Ohne eine besondere Waffe, ohne Magie, konnte es im Nahkampf kein Mann mit ihm aufnehmen.
Als sie endlich an seiner Seite war, hatte sich die Menge der Kuraster stark gelichtet. Armbrustschützen sah man kaum noch.
Unweit aber formierte sich die nächste Welle der Verteidigung: in der Mitte des Areals, das die Magierin nun zum ersten Mal sehen konnte und wo sich schöne, erhöhte Plätze befanden, war alles ein Meer roter Gewänder. Und nahe der Tempel konnte man flüchtig viele Küster sehen.
Travincal.
Menrad stand frei.
Hinter ihnen klang noch vereinzelt Kampfeslärm, aber viele Verbündete – Pundarkrieger in zerfetztem Orange, Mandjabmänner, die Pfeile auflasen, blutende Zivilisten, zwei oder drei Paladine – traten jetzt näher.
Ihrer aller Keuchen stand allein vor dem Geschrei der Gegner und vor den fernen Lauten von den umkämpften Ufern.
„Wie sollen wir jetzt vorgehen?“ richtete Ifrah hastige Worte an den hochgewachsenen Lichtkrieger, der neben ihr einen blutunterlaufenen Blick über die nähere Umgebung wandern ließ und dann das Areal ins Auge fasste. Schweiß rann ihm in Bächen übers Gesicht, aber sein Atem ging gemessen, und bis auf Kerben in seiner Rüstung und wenige blutige Schnitte im pundarischen Kettenhemd war er unversehrt. Schwach strahlte eine übermittelte Empfindung der Sammlung und Konzentration von ihm ab – die Aura eines hochrangigen Paladins.
„Auf der anderen Seite sind wir.“ Menrad holte tief Luft. Seine Stimme war rau. Sie hatten alle seit Stunden kein Wasser mehr gesehen. „Was ist der Plan des Nekromanten? Travincal niederzuwerfen, denke ich doch. Wohlan, so lasst uns alle Gegner beseitigen.“
Die Feinde waren fast heran. Sie starteten einen Angriff.
Noch etwa fünfzig Aufständische standen am Tor. Travincal hatte, so sagte einem das Auge, weit mehr als das Fünffache an Kriegern.
Ifrahs Hände krampften sich um den Stab. Unbemerkt hatte sie sich auf die Zunge gebissen, und jetzt schmeckte sie Blut auf den brennenden Lippen.
In diesem Augenblick erschütterte ein Donnern die steinerne Insel. An ihrem Rand, verborgen vor den Blicken der zusammenschreckenden Menschen auf dem freien Areal, stieg Geschrei auf, Kriegslaute, tobendes Wasser.
„Hadan“, sagte Ifrah. „Sie kommen.“
„Von außerhalb der Insel? Aber wie?“ Die grauen Augen huschten, lauernd unter der Bedrohung näherkommender Feinde, rasch zu ihr.
„Fragt mich nicht. Aber sie kommen.“
Unter den Gegnern leuchteten flüchtig andersfarbene Gewänder auf. Noch ehe sie den letzten, hoffnungsvollen Satz beendet hatte, sah Ifrah sie. Küster.
“Standhalten!” Menrad schrie es der Gruppe am Tor zu, ohne den Kopf nach ihnen zu wenden. „Standhalten!“ Der Paladin schrie es auf Jabrah, dann auf Sandhaîn – mitten im Krieg ein Zugeständnis an die Zersplitterung der Menschenwelt.
Schneller, als es ihrer Schar lieb sein konnte, war die zweite Welle der Travincaler Verteidigung da. Rot und Bunt krachten ineinander. Auf den erhöhten Plätzen und Passagen des Areals rannten immer neue Kuraster näher, ein Heer von Zwillingen, alle gleich gekleidet, alle wild entschlossen, die steinerne Insel zu verteidigen.
An Menrads Seite hastete Ifrah zur Seite der kleinen Treppe, bei der sie auf die Verteidiger stoßen würden. Zu ihrem Glück waren augenscheinlich keine Armbrustschützen in der Nähe. Die kurastischen Säbelkrieger wurden ihrerseits von den verbliebenen Mandjabmännern unter Beschuss genommen, die sich mühten, schnelle, scharfe Schüsse abzugeben, ehe sie sich mit in den Nahkampf warfen.
Die Gegenseite aber hatte die Küster.
Ifrah suchte sie immer wieder verzweifelt im Gewühl.
Menrad fegte wie ein Derwisch durch die heranbrandenden Reihen. Er schien an Kraft zu gewinnen, jetzt, wo das Ziel vor Augen lag. Er war der Kopf ihrer Schar. Ihn musste sie schützen, denn er konnte im Kampf nicht alles im Auge behalten.
Da sah sie weiter links nackte, geschminkte braune Arme aus blauem Stoff hervorstoßen und sich zum Himmel erheben. Ohne den Küster deutlich ausmachen zu können, wusste sie, dass er das Zentrum des Kampfes attackieren würde – Menrad, sie selbst und ein halbes Dutzend der stärksten Pundarkrieger.
Weg von hier.
Es zuckte durch ihren Geist, ein Schrei, eine Warnung.
Der Eisregen zwang sie, sich zu ducken.
Die Augen zugepresst, erlag sie dem Instinkt, sich unter der grausamen Myriade glasharter Zapfen wegdrücken zu wollen - nach unten, wo es kein Entkommen gab. Schiere Wut und Angst ließen sie ein Blitzfeuer gebären. Ringsum prasselte das Eis herab, dazwischen, seltsam gedämpft, stoben Klagelaute auf.
Ihre Blitze fraßen sich zischend durch den niedergehenden Regen. Sie lag schon auf einem Knie, die Unterarme über dem Kopf, und es schlug so hart gegen ihren Rückenpanzer und ihre Armschienen, dass sie schreien musste. Es ist, als würde man gesteinigt.
Dann hörte es plötzlich auf.
Stille war um sie, als sie es wagte, den Kopf zu heben, Stille inmitten der Schlacht.
In ihrem Haar klebte Eis, dick und zäh. Ohne nachzudenken, streifte sie es ab, sah dann umher.
Neben ihr lag Menrad, nur einer von vielleicht acht Gefällten.
Unter den Getroffenen regte es sich sacht. Nicht alle waren tot. Der Eisregen war eine furchtbare Attacke, aber ungenau.
An den Rändern des Feldes, wo der Regen niedergegangen war, tobte der Kampf unvermindert weiter. Trotzdem war er eine Ewigkeit weit weg. Ifrah berührte den Schulterpanzer des Paladins. Er lag ganz still, fast, als schliefe er. Sein Gesicht war grau, als sie sich über ihn beugte, leblos, bedeckt mit gefrorenen Klumpen und gerinnendem Eis.
„Menrad!“ Sein Schädel schien unverletzt. Vorsichtig rüttelte sie ihn und hörte die Verzweiflung in ihrer eigenen Stimme. „Menrad!“ Eine Feuermagierin hätte mehr ausrichten können als sie, und hier, erstmalig, bereute sie ihre Wahl. Sie gebot nur über den Blitz.
Eine daliegende Hand des Paladins ballte sich zu einer Faust. Rasch und panisch aufsehend, suchte Ifrah das blaue Gewand des Küsters in der Nähe, aber er war nicht zu sehen. „Menrad, Ihr müsst aufstehen!“
Ausrutschend auf zerbröckelndem Eis, halfen sie sich gegenseitig hoch.
Erneut kam von der linken Seite der steinernen Insel Lärm. Er war jetzt näher. Wer auch immer Travincal über das trennende Wasser erreicht hatte, griff die Heilige Stadt jetzt von der Seite an. Die Verteidigung geriet in Bedrängnis.
Ifrah sammelte neue Energie, benommen noch, mit nassem Haar, Menrad neben sich, der seinen Hammer wieder fest packte.
Am Rand des künstlichen Sees setzte eine kleine schwarze Gestalt versprengten Feinden nach.
Erst als diese so tief in den Straßen der Stadt verschwanden, dass sie für eine Verfolgung den Hauptschauplatz der Schlacht hätte verlassen müssen, drehte sie um. Mit einem lockeren Trab, dem nur Vertraute die tiefere Müdigkeit hätten ansehen können, kehrte sie zu einem weitverstreuten Haufen Menschen zurück, der am Ufer kurz innegehalten hatte.
Tote lagen überall herum, bis weit ins Wasser hinein. Speere staken wie makabre Fahnenstangen aus der Menge regloser Körper. Zwischen ihnen suchten Verwundete nach einem Platz, an dem sie rasten oder sterben konnten.
„Shatryindjah.“ Hadan zog den rechten Handschuh aus und berührte ihre Wange, als sie bei ihm angelangt war.
Er stand nahe des Ufers, auf einen fremden Tulwar gestützt, und blickte prüfend über das Wasser. Schmutzig, schnell atmend, durstig bis zur Verzweiflung, legte Eya in dem eigentümlichen Augenblick der Vertrautheit den Kopf in seine hohle Hand.
Gierig trank sie einige Schlucke Wasser, die ein nahestehender Pundarkrieger allen anbot.
Es waren nur Momente, die sie innehalten durften.
Auf dieser Seite des Sees hatten die Angreifer, von den noch lebenden Nekromanten unterstützt, das Heer der Verteidiger aufgerieben und schließlich niedermachen können. Auf der anderen Seite jedoch stritt eine Hundertschaft Verbündeter gegen dortige Kräfte. Man konnte sie wegen des Dammes nicht sehen, hörte aber den Lärm über den See schallen.
Und zwischen den Ufern lag Travincal, auf dem der hitzigste Kampf tobte. Gelegentlich sah man sogar Kämpfende nahe der Ufer, weit oben zwischen den Rückwänden der Tempel.
Ein Pundarführer schrie nach allen, die noch weiterkonnten. Sie durften nicht lange zögern. Die Verbündeten brauchten Hilfe.
„Auf die andere Seite, Männer!“ Das raue Jabrah scheuchte die Erschöpften auf.
Eya sah Hadan zu dem Rufenden treten. Die Bewegung des Nekromanten war vorsichtig, da er sich einem Höherstehenden näherte, aber Eile und Ernst verwischten sie stark.
„Alle, die über den Damm schon in die Heilige Stadt gelangt sind, brauchen unsere Unterstützung, und das sofort“, sagte der Pakhrajünger leise, aber doch laut genug, dass es alle Näherkommenden verstehen konnten. „Bis zum anderen Ufer ist es weit, und wenn wir mit den Dortigen fertig sind, können alle in Travincal längst gefallen sein.“
„So sagst du“, fasste der Pundarführer den Nekromanten ins Auge. Er keuchte und schien befremdet, dass in aller Eile noch ein Mann mit anderen Vorschlägen kam. „Wie willst du so rasch in die Stadt kommen? Es gibt keinen anderen Weg als über den Damm“
„Es gibt einen anderen Weg.“
Hadan wandte sich ab.
Zwei betagte, hagere Männer waren herangekommen, Asketen, wie Eya sie in Pundar zuhauf gesehen hatte. Jetzt standen sie da und wirkten mit ihren fast nackten Leibern und knorrigen Stöcken neben dem viel größeren Mann aus Lhabarnah wie Großväter neben einem Geisterkönig.
Die Assassine hörte die Laute, in denen sie sich rasch unterhielten. Pacrann. Es klang dem Jabrah verwandt, aber älter, archaischer.
Unter den verständnislosen Blicken der Krieger traten sie ans Wasser. Nur auf einigen Gesichtern, so sah die junge Frau, malte sich heraufdämmernder Verdacht.
Dann riss, was geschah, Eyas ganze Aufmerksamkeit an sich.
Ein trockenes Knirschen ertönte, von überallher zugleich, aus dem Nichts.
Der Klang hatte nichts, was das menschliche Ohr schon einmal hätte vernehmen können, war eine Verdrehung und Übersteigerung bekannter Klänge, die an morsches Holz und an Beinhäuser denken ließen, und doch auf gespenstische Weise nicht unvertraut.
Vom Stein des Uferstreifens aus entstand, dass ein Ausruf des Erstaunens und des Schreckens aus der Menge hervorging, ein Steg.
Ein Pfad. Er fraß sich wie von selbst ins Wasser.
Die alten Nekromanten murmelten und machten kleine Bewegungen mit ihren Stöcken. Zwischen ihnen stand Hadan mit gesenktem Kopf und hatte die Arme ausgebreitet.
Der Pfad war unregelmäßig, scharfkantig an den Seiten und oben abgeflacht. Im schwarzen Wasser schimmerte er bleich.
Ein Knochenwall.
Eya wusste, dass Hadan auf Schlachtfeldern und überall dort, wo es Leichen gab, mit Knochenmagie kämpfen konnte. Zitternd erinnerte sie sich jetzt wieder deutlich, dass er dazu fremde Materie brauchte, und es war besser, sich nicht vorzustellen, woher diese Unmenge an Gebeinen hier stammte.
Mattweiß wanderte der Pfad über den See und stieß an den Sockel der steinernen Insel. Dort türmte er sich noch auf, bis auf halbe Höhe der mehr als fünfzehn Schritte weit aufragenden Steinmassen.
Dann endete das grausig anzusehende Entstehen der Gebeine, und auch das trockene Knirschen, das zuletzt immer leiser geworden war, verstummte.
Einen Augenblick lang stand die Menge am Ufer wie erstarrt.
Eya spürte das Gewicht der Hand ihres Gefährten auf der Schulter. „Gehst du als Erste, Shatryindjah?“
Ohne dass sie wusste, wie, stand sie auf dem Knochenpfad und lief los, weit über das schwarze Wasser hin. Hadan folgte, und dahinter, sagte ihr das Gehör, kamen die Krieger in einer langen Reihe. Es krachte und knackte unter ihren Stiefeln.
Nicht denken. Nur immer den nächsten Schritt.
Hastig, auch um von den Gebeinen wegzukommen, erkletterte die Assassine die Wand der steinernen Insel. Sie war nicht so glatt, wie es von fern aussah – Kerben und Witterungsrisse machten sie leicht zu ersteigen. Gewandt wie eine Katze klomm sie aufwärts, mit abgeschnallten Klingen. Hadan warf ihr ein Tau hinauf, als sie oben war, und bat sie mit einem kurzen Blick, vorsichtig zu sein.
Kampfeslärm schwappte zu den Verbündeten hinunter, die sich am Fuß Travincals sammelten gleich Affen auf einem Felsen.
Eya glitt über die Mauer. Hier war sie im rückwärtigen Teil einer Säulenhalle, die sich an einen großen Tempel anschloss. Sie konnte die kämpfenden Mengen in der Mitte des Areals sehen. Ein Mann rannte unweit vorbei, zwei Säbel gezückt. Er blieb wie angewurzelt stehen, als er sie sah.
Es gelang ihr eben noch, das glitschige, schmutzige Tau an einer Säule zu befestigen, dann griff sie in die Klingen und huschte auf den Kuraster zu. Er hatte schon Alarm geschrieen.
Zu spät. Hinter ihr kam Hadan über die Mauer, dann Mann um Mann die Krieger der Seitenattacke.
Auf leisen Sohlen schlich Eya am Standbild des Kindgottes vorbei in den großen Tempel.
Hinter ihr, auf der vielgestaltigen Fläche des Areals, jagten die Aufständischen die verbliebenen Kuraster und lieferten sich mit ihnen und den Küstern böse, zähe Kämpfe. Die Untergebenen der Heiligen Stadt fochten und wehrten sich mit einer Wildheit, die der Wut der Angreifer ins nichts nachstand. Schweigend schauten die großen Tempel auf das blutige Gemetzel in ihrer Mitte, unerschütterlich, Wachen eines Gezerres um die Geschicke einer begonnenen Zeit.
Es herrschte Chaos. Menrad war unermüdlich unter den Verfolgern der Kuraster, Ifrah hatte sie aus den Augen verloren. Zuletzt war Hadan noch bei ihr gewesen, doch ein fliehender Küster hatte den Nekromanten weggelockt. Sie vermutete, dass er durch die Tempel ging, auf der Suche nach den Obersten. Auf der Suche nach Antworten.
Sei vorsichtig, wenn du umherstreifst, Shatryindjah. Das waren seine letzten Worte gewesen.
Ja, umherstreifen musste sie.
Auf dem Areal zu bleiben war ihr unmöglich. Dicht vor dem Ziel standen sie, aber einem Ziel, das sich immer noch als Falle entpuppen konnte. Sie vermochte nicht über die mit grausam zugerichteten Leichen bedeckten Opfersockel zu tappen, während ihre zwei engsten Vertrauten vielleicht im weitverzweigten Innern der Tempel unvorhergesehenen Gefahren begegneten.
Kurz zuckte ihr Blick zu dem schwarzen Antlitz der Statue hinauf.
Vielleicht war sie töricht, hier allein hineinzugehen.
Die Erschöpfung beeinträchtigte sie bereits. Der Wahn des Immerweitergehens schliff die Sinne ab und machte unvorsichtig.
Eine Viz-Jaq’Taar lässt nicht zu, dass sie in gewöhnliches Gedränge gerät. Es ist dein Feind, dein Tod. Verstehst du das?
Ja, Meisterin.
Sprich deutlicher. Und beim nächsten Schlag will ich keine Tränen mehr sehen.
In der kleinen Halle hinter dem Durchgang war es kühl und hell.
Der Schmuckboden schimmerte wie poliert. Allein die Beläge in diesen Tempeln waren ein kleines Fürstentum wert. Solchen Reichtum hatte sie in den kleinen Tempeln draußen im Land oder in Pundar nicht bemerkt.
Niemand war hier.
Vorsichtig, die Großkralle und die Suwayyah fest in den Fäusten, tat sie zwei Schritte.
Als sie eben den Weg in die Tiefe der Gemächer des Kindgottes antreten wollte, hörte sie das Geräusch.
Es war nur ein kaum vernehmbares Huschen, bewegter Stoff vielleicht oder Leder, das sich auf einem Körper ausdehnt, der sich bewegt. Für gewöhnliche Ohren war es schwerlich laut genug, und auch ihren immer noch von der Explosion am Vortag getrübten Sinnen fiel es vielleicht nur auf, weil die Nähe von etwas Verwandtem sich selbst verriet. Von etwas lange Vertrautem.
Links. Geschwind lief sie, schneller werdend, in die Richtung des Geräusches, warf sich durch eine Tür, rollte ab, fast ohne einen Laut. Mit ausgefahrenen Klingen kam sie lauernd zum Stehen. Nichts.
Der Lärm von draußen erreichte sie nicht mehr. Alles war licht und still.
Im nächsten Raum gab es mehr Einrichtung: Lager mit Kissen, Truhen, Stellwände, mattgoldene Standbilder. Hier waren sie.
Ganz am Rand des großen Gemaches drückte sich eine schwarze Gestalt gegen eine silbern und weiß gemusterte Wand, und eine zweite kauerte auf einem schmalen Gesims unter einem hohen Fenster, fast unter der Decke.
Assassinen.
In den wenigen Augenblicken, die verstrichen, bevor sie angriffen, kehrte alle jüngere Vergangenheit mit solcher Macht zurück, dass Eya fühlte, wie ihr kalter Schweiß ausbrach. Sie stand wie angenagelt, totenblass, fror plötzlich und schluckte dennoch an heißer Wut, die ihr aus dem Unterleib ins Herz strömte.
Hier war der lebende Beweis für die Verbindung zwischen Travincal und dem Orden, der seinen Sitz auf der fernen Landbrücke hatte. Die Viz-Jaq’Taar hatten einen neuen Herren, Kurast, und hatten sie zu beseitigen versucht, so lachhaft ihr dies auch erschien. Wie unwichtig war sie denn? Und doch war sie von Camdra vertrieben worden, hatte man ihre Spur verfolgt, einen Attentäter auf sie angesetzt.
Bevor sie weiterdenken konnte, fiel die eine Assassine vom Sims.
Die Bewegung war ohne Schwere, mehr ein Herabtropfen. Es waren beides Frauen. Eya erkannte es an den schmalen Gliedern, der fast knochenlosen Geschmeidigkeit. Sie sprachen kein Wort.
Ihr eigener Atem klang abgehackt und laut.
Mit zweien konnte sie es nicht aufnehmen, ohne tödlich verwundet zu werden. Die harte Schule der Assassinen lag lange hinter ihr, und dies und die Verwundungen der vergangenen Kämpfe hatten ein Zwischenwesen aus ihr gemacht – brauchbar noch für die Welt, aber chancenlos gegen die gefährlichsten Nahkämpfer Sanktuarios.
Aber sie konnte nicht fliehen. Fliehen bedeutete, die Anderen zurücklassen in einem Gebäude mit den lautlosen Ordenskämpfern, die nur ein Messer oder einen Augenblick dauernde Unaufmerksamkeit benötigten, um eine Magierin oder einen Krieger zu töten, oder selbst Hadan, wenn sie ihn abgelenkt überraschten.
Zwei, drei tänzerische Schritte brachten die Assassine, die an der Wand gestanden hatte, in ihre Nähe. Eya wich zurück. Die Gesichter der Attentäterinnen waren unter Masken verborgen, die nur die Augen freiließen.
Ihre Rechte, die die kostbare Waffe hielt, welche Anya ihr in Harrogath verehrt hatte, glitt zu ihrem Plattengürtel. Im Zurückweichen riss sie den Arm hoch, und ein Wurfstern flog aus ihrer plötzlich freien Hand gegen die erste Angreiferin. Die Suwayyah stak in ihrer Scheide – so rasch hineingestoßen, dass das Auge den Bewegungen fast nicht folgen konnte. Ein Weniges zu langsam duckte sich die gegnerische Assassine. Der Stern schlug in ihren Brustpanzer ein.
Es war ein großes Geschoss mit fast halbfingerlangen Zacken, und befriedigt trotz aller Angst sah Eya die Getroffene taumeln. Ein Keuchen drang unter der Maske hervor.
Eya nahm Anlauf und sprang auf sie zu. Die Suwayyah zog sie nicht hervor.
Im Augenwinkel sah sie die zweite Assassine zucken und sich bereitmachen, aber auf sie konnte sie nicht achten. Große, dunkle Augen begegneten ihr fassungslos, als sie dicht vor der Ersten landete. So nah kamen Attentäter einander selten, und es war ein Schreck und ein Unbehagen für die dem Leben entfremdeten Mitglieder der mörderischen Zunft, dies zulassen zu müssen, aber nicht für mich.
Ich bin den Feinden und den Menschen wieder nah gekommen.
Aus der ganzen Kraft ihres Leibes hieb Eya der Gegnerin die Faust gegen das maskierte Gesicht. Als ihre Knöchel den verhassten, fremden Schädel trafen, wusste sie, warum sie die Suwayyah nicht hervorgeholt hatte, um rasch und leise zu töten, selbst wenn es vielleicht ihr letzter und endgültiger Fehler sein mochte.
Der Schlag war die reine Erfüllung und warf die andere Assassine rücklings zu Boden.
Schritte hinter ihr ließen Eya herumwirbeln. Die zweite Assassine war da – ein gestraffter Schatten in der unwirklichen Helle. Als Eya wegtänzelte, traf sie das Messer.
Aus dem unsicheren Spalt zwischen zwei Schritten kam sie ins Straucheln und taumelte rückwärts ohne Halt davon, den fiebrigen Blick verbissen auf die Gegnerin geheftet. Die Waffe stak zwischen Schlüsselbein und Schultermuskel und tat entsetzlich weh.
Etwas Hartes stoppte sie.
Eine dunkle, samtige Stimme sagte: „Vorsicht, Liebes.“
Neben ihr polterte der lange, mattgoldene Stab auf den Marmorboden. Die Assassine riss den Kopf über die Schulter. Ifrahs Gesicht wirkte konzentriert. Unter ihrer dunklen Haut zeugte Blässe von besorgter Anspannung, und sie biss sich auf die Unterlippe.
Eyas Warnung vor den Wurfwaffen der Gegnerinnen ging in einem Summen unter, das wild anschwoll und in ein so bedrohliches Knistern umsprang, dass es ihr die Hände zu den Ohren hochriss. Assassinen waren gegen Magie nahezu gefeit.
Fassungslos dachte die junge Frau noch, Ifrah müsse ebenso töricht geworden sein wie sie. Aber als die verbliebene Assassine ohne Angst einen gewaltigen Satz auf sie beide zu machte, traf sie mitten im Flug die Entladung. Es war der fürchterlichste Blitz, den sie je gesehen hatte.
Eingekerkert in vier Wänden, brüllte er von Vernichtung, stürzte den Raum in blendende Helligkeit, krachte, dass man schreien musste vor Entsetzen, schleuderte die schwarze Gestalt weit durch die Luft. Sie loslassend, zuckte er wie eine Götterfaust gegen die Wände und sprengte Stücke aus dem kostbaren Stein. Dicht am Boden lenkte eine unsichtbare Macht ihn um und über die eben wieder zu sich kommende zweite Assassine.
Ein schrilles Kreischen gellte. Dann lagen beide Viz-Jaq’Taar still.
Vom verkohlten Leder ihrer Rüstungen stieg Rauch auf.
Eya sah der älteren Frau suchend und noch wie halb versteinert ins Gesicht, während diese ihr vorsichtig das Messer aus der Schulter zog.
„Es scheint zum Glück nicht vergiftet“, sagte Ifrah und warf die Waffe fort. Dann begegnete sie Eyas Blick. Ihr Gesicht war über und über mit Schweiß und Dreck bedeckt. „Was hast du, Liebes?“
„Du hast an Macht gewonnen“, sagte Eya langsam. „Oder ich müsste mich sehr täuschen.“
„Mag sein.“ Ifrah wich aus, sichtlich unbehaglich. Als sie eben doch noch etwas hinzufügen wollte, raschelte und huschte es in einem Nachbarraum.
Die Frauen fuhren herum. Blaue und amethystfarbene Gewänder verschwanden in einem Gang hinter dem nächsten Raum, der von hier aus teilweise eingesehen werden konnte.
„Küster.“ Ifrah holte tief Atem und hob den Stab auf. „Gewiss werde ich einige davon wiedererkennen.“ Ingrimmig sah sie Eya an. „Ich sehe zu, dass ich das Gezücht zu fassen kriege. Du solltest auf das Areal zurückkehren, du bist verwundet. Es ist jetzt etwas ruhiger dort. Nein“, wehrte sie den Widerspruch der Jüngeren ab, „ich gehe allein. Sei vernünftig, Eya.“
Dann eilte sie davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Die Weite des Tempels schluckte sie und bald auch das Geräusch ihrer Schritte.
Eya stand einen Augenblick lang unbeweglich, horchend, nach innen wie nach außen.
Von sehr fern oder aus den unsichtbaren weiteren Räumen fand ein Klanggemenge zu ihr – Kämpfende, Suchende, Verfolger und Verfolgte. Irgendwo verbargen sich die obersten Küster, wenn sie nicht schon das Weite gesucht hatten, gewarnt durch die drohende, verheerende Niederlage Travincals. Die Heilige Stadt stand auf der Schwelle zwischen Widerstand und Fall.
Aber noch haben wir das Zentrum nicht gefunden. Das Zucken der Unentschlossenheit bewegte Eyas Glieder, deutlich selbst durch alle Erschöpfung und Angst hindurch. Noch haben wir die Quelle seiner Macht nicht ausfindig gemacht.
Sie war sich sicher: die schönen Räume standen nur trügerisch ruhig umher. Etwas, das nicht zu sehen war, das in den Wänden flüsterte, eine fremde Präsenz oder der Schatten einer bedeutenden Macht, befand sich hier. Rasch war die Wahrnehmung nicht mehr getrübt durch das Chaos der Schlacht draußen, und sie erkannte es wieder – dieselbe Drohung in der Luft, in Boden und Licht, die ihren ersten Aufenthalt hier bereits überschattet hatte.
Wo waren die anderen? Hadan würde sicher versuchen, den Kindgott zu finden, Bhavesh, den lebendigen Götzen des neuen Kurast.
Die Messerwunde schmerzte stark und beeinträchtigte ihren rechten Arm. Ifrah hatte Recht. Sie war besser beraten, nicht tiefer in den Tempel vorzudringen. Sie musste Verbündete suchen.
Reglos stand sie da.
Dann, wie einem Ruf folgend, der aus den weiten, ruhigen, scheinbar leeren Gemächern erging, tat sie einen ersten Schritt. Packte beide Klingen wieder fester und ging weiter, tiefer in den Sitz des ersten ihrer Feinde, der sich in der veränderten Welt zu erkennen gegeben hatte.