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[Story] Saqqara

Müssen wir uns langsam Sorgen um Ifrah machen, dass sie irgendwie mutiert?
Es ist schön, wie ihr und Eya so richtig Raum gegeben wurde. Wie gegenseiteiger Respekt zwischen Menrad und Ifrah entsteht. Wie Eya ihren Emotionen nachgibt.
 
XXX. Bhavesh, Herr der Welten




Bekümmere dich nicht, o Sohn des Bharata: [...] Diese denken: Ich bin von nobler Geburt, wer sonst ist wie Ich? Ich werde opfern, Geschenke machen, mich erfreuen. Darum getäuscht von ihrer Unwissenheit, herumgeworfen von zahllosen Gedanken, umgeben vom Netz der Täuschung, stürzen sie in den unreinen Abgrund.
(Die Bhagavad Rita)




Das milchige, für das Innere eines Gebäudes sehr helle Licht kam nicht durch Außenfenster, sondern durch die Decke. Sie war in fast jedem Raum durchbrochen und mit Kristallglas verschlossen, eine Seltenheit auf Sanktuario.
Er musste, bedeckt von Blut, Schlamm und Asche und mit der wuchtigen Rüstung, deren matter Glanz gespenstisch unter roten Schlieren und mehrfachen Schichten von Braun und Purpur hervorsah, in dieser Helle und Schönheit aussehen wie die Nachgeburt einer älteren, kriegerischeren Zeit.
Hadan schloss die Rechte fester um den Griff des Tulwars. Die fremde Waffe war ein ungewohntes, aber beruhigendes Gewicht. Langsam, Schritt für Schritt in seinen schweren Stiefeln – zu schwer, um lautlos zu sein – durchquerte er die Räume des Tempels.
Es waren zahllose. Über dem ehemaligen Kerker des Hasses hatten die neuen Herren Kurasts ein Gebäude bis weit hinein in den vergrößerten See gebaut, das eine immense Grundfläche besaß. Er war durch einen Seiteneingang gekommen.
Zuerst hatte er vorgehabt, den Thronraum sofort zu suchen. Jetzt aber bewegte er sich auf des Tempels linker Seite durch Nebenräume, aus Vorsicht und um zu sehen, was hinter den wichtigen Zimmern verborgen lag.
Antavaa herrschte hier. Ein Lichtfleck, durch den er schritt, ließ dem Nekromanten die Augen schmal werden, und er hielt die Waffe schlagbereit und horchte mit Geist und Ohren. Der Gott der Herrschenden war ihm nie nah gewesen, nicht im Gebet und nicht einmal in seiner langjährigen Bindung an diese Stadt. Die hohen Kasten hatten Antavaa größer gemacht, um ihre Stellung zu festigen in eben der Willkür, mit der die Menschen das Glaubensgefüge zu ihren Gunsten veränderten und umdeuteten.
Er hatte Antavaa nichts zu sagen. Jetzt, in seinem Tempel, war er flüchtig froh darüber. Er durfte sich seine Wachsamkeit nicht von Ehrfurcht beschneiden lassen, und auch nicht von der tief in seinen Eingeweiden gärenden Verzweiflung angesichts des Versagens seiner Welt.
Ein nächster Raum zeugte von Unordnung und hastiger Flucht. Herumgeworfene Gewänder, offene Truhen. Auf dem Boden blinkte, halb verdeckt von einem Kissen, ein Anhänger.
Der große Mann ging auf ein Knie nieder und hob ihn auf.
Blassgolden lag das Schmuckstück in seinem schwarzen Handschuh, gut gearbeitet, aber unbekannt. Keine Darstellung irgendeines Gottes, kein Kastensymbol, kein Zeichen einer Laut – oder Mysterienschrift. Ein massiver, goldener Kreis, darin ein kleinerer, und beide verbunden durch eine geschwungene, spitz zulaufende Form, einer Klinge nicht unähnlich. Oder einem Horn.
Als er aufstand, den nächsten Schritt machte, war es da.
Was vor Wochen schon unsichtbar, aber dunkel über der Heiligen Stadt gelegen und die Luft zwischen ihren uralten Bauten verändert hatte, konnte sich nicht länger verbergen, ebenso wenig wie der Rauch eines schlecht ausgetretenen Feuers. Für das Auge nicht wahrzunehmen, zog es in Schwaden aus den Räumen weiter innen, lagerte gleich niedrigem Frühnebel ringsum, ein Brodem, finster und kriechend.
Seine Rechte krampfte sich um den aufgehobenen Anhänger.
Den Tulwar ließ er nicht fallen, sank auch nicht auf die Knie, aber es fehlte nicht viel.
Lautlos sprach er einen Namen aus, doch Pakrah ließ sich nicht anrufen, blieb eine leere Beschwörung für den entsetzlichen Augenblick, hier, in der ersten Begegnung mit der Dunkelheit.
Er verharrte reglos, ohne sich noch genau zu erinnern, wo er war, ohne die Gefahr durch Gegner, Küster, Bewaffnete, ganz gleich welche Menschen, noch zu fühlen – weil eine viel größere, vollkommen andere Gefahr alles überdeckte und auslöschte.
Und obwohl jede Faser Fleisch und jede Regung seiner eigenen, lächerlich geringen, kleinen Person ihm gebot, zu fliehen, wenn es sein musste auf allen Vieren und blind aus dem Dunst zu kriechen, blieb er stehen. Das Knirschen seines Kiefers war ein Stöhnen, und unbemerkt trieb Schweiß Bahnen über seine blutige, schmutzbedeckte Haut.
Aber wir müssen wissen, was es ist.
Er sah hin, mit dem inneren Auge der Seele, so versenkt, dass die Empfindung für das Gewicht der eigenen Glieder zu vergehen begann und er wirklich in schwärzlichem Dunst stand, erst brusthoch, dann vollständig.
Es war keine Präsenz, oder wenn, dann nur der Nachklang einer solchen. Viel eher war es eine Empfindung so niederträchtiger Verunsicherung, dass es zweitrangig schien, woher sie stammte, wer sie auslöste. Man konnte nur stehen und starren, erkaltetes Blut in den Adern, und wie ein Fetzen um den absterbenden Dorn herumflattern, der, ohne dass man es geahnt hatte, Mitte und Quelle des eigenen Daseins gewesen war: das Wissen um das Gefüge der Welt.
Ich sehe in einen Abgrund.
Ich sehe die Grenzen meiner Welt, und dass sie Täuschungen waren.

Blicklos starrte Hadan in die ganz beliebige Anordnung von Wänden, Böden, von Materie, und obwohl alles fest um ihn stand, sich nicht verändert hatte, klaffte ein Loch darin. Und auch das traf es nicht. Das Gefühl, vor einem Spalt zu verharren, der sich plötzlich hinter einer vertrauten Umgebung auftut, vor einem Ende der Dinge, als könne man einen Schritt weiter durch sie hindurchfallen, senkte sich so tief in sein Inneres, dass er zu atmen vergaß.
Als er wieder zu sich kam, stand er vornüber gebeugt, auf den zitternden Tulwar gestützt, auf eine Hand gestützt, die auf seinem Schenkel lag.
Die Begegnung, die Vision, was immer es gewesen war, zog sich zurück, aber nicht vollständig, und er wusste, dass sie ihn gestreift hatte, um ihn nie wieder zu verlassen.
In der kurzen Spanne, in der eine leise innere Stimme wieder an geringere, doch unveränderte Gefahren mahnte, schien alles Trug: die glatten Wände, das Licht, ja selbst seine linke Hand, die sich in seinem Augenwinkel zur Faust ballte.
Da hörte er den Schrei.
So plötzlich kam er, von ferner aus den Tiefen der Tempelräume, dass Hadan zusammenfuhr.
Es war eine Männerstimme, die schrie, hoch wie die eines Eunuchen, todwund, dann abreißend.
Die Erinnerung an die Anderen kam mit erdrückender Gewalt. Nicht mehr erstarrt, den Anhänger noch in der Faust, in der anderen den Tulwar, begann er zu laufen. Dem Schrei nach, der aus der Mitte des Tempels gekommen war.






Sie erkannte den letzten Raum vor dem Thronsaal sofort wieder.
Zuletzt war sie immer behutsamer weitergeschlichen, lautlos aus Gewohnheit, obwohl die Begegnung unausweichlich war – wenn noch Gegner sich im Zentrum des Gebäudes aufhielten.
Doch aus unklaren Gründen zweifelte Eya nicht daran. Vielleicht war es eine Vorahnung, ein Gespür für menschliche Anwesenheit, oder ein wachsendes Begreifen der Art des Gegners, mit dem sie es zu tun hatte, das ihr sagte, dass er sein Heiligtum nicht verlassen würde.
Nein, ganz gewiss würden sie nicht alle fliehen.
Sie würden stolz und hartnäckig ausharren, mit einer aberwitzigen Entschlossenheit, die ihrer, Eyas, eigenen Entschlossenheit, gegen alle Angst keine Fußbreit dieses Bodens kampflos wieder der anderen Seite zu überlassen, vielleicht sogar eng verwandt war.
Dies ist kein einfacher Kampf um die Macht über eine bedeutende Stadt. Auch kein Streit um die Vorherrschaft über einen Kontinent.
Eben, als sie dies dachte, mit angespannten Muskeln vorwärtstappend, die Schultern eine gerade, verkrampfte Linie, sah sie den Küster.
Er stand vor der Stellwand, die eine Einsicht in den Thronsaal unmöglich machte. Noch hatte er sie nicht bemerkt, schien zu lauschen auf das ferne Geschrei, das hier wieder zu hören war.
Es würden nur Augenblicke vergehen, bis er sie entdeckte. Eya konnte sich nirgendwo verbergen. Ihr Atem wurde flach. Behutsam zog sie ein Messer aus einer Beinscheide.
Bevor sie es werfen konnte, zuckte der Mann zusammen. Er hatte sie gesehen.
Das Messer verfehlte seine Brust um Handbreite – Eya keuchte leise auf, als die Wurfbewegung ihr mit kurzer Verzögerung heißen Schmerz durch die Schulterwunde jagte – und blieb in seinem Arm stecken.
Der hagere, ältliche Mann riss die Waffe heraus und hob hastig, im Klirren der Schneide auf dem Fußboden, die Hände.
Bevor die erste Zeile der Beschwörung seine Lippen verlassen hatte, war sie bei ihm. Drei, vier riesige Sätze hatten genügt, getrieben von der rasenden Angst vor seiner Magie und möglicher Verstärkung aus dem Raum hinter der Stellwand. Überdeutlich verblieb der inzwischen tief verhasste Anblick des durch die hohe Stirn seltsam in die Länge gezogenen Gesichts, der dunkel geschminkten Lider, der reinlichen Haut.
Der Küster schrie noch, bevor sie ihm die Suwayyah über die Kehle ziehen konnte. Eine braune Hand griff in hervorschießendes Blut, die andere nach ihr, verfehlte sie – dann stürzte er rücklings und riss die Stellwand mit um. Das Geflecht aus geschnitztem Holzrahmen und Tuch verfing sich zwischen den Wänden des schmaleren Durchgangs, brach dann unter dem Gewicht des Sterbenden, sank und gab den Blick frei.
Der Thronsaal war leer.
Keine Gesandtschaft, kein Rat von Küstern erwartete den Eindringling, kein Pulk Bewaffneter stand zur Verteidigung hier.
Einzig der Kindgott saß auf dem flachen Sitz, klein und blass in dem weiten Raum.
Eya erstarrte im Schritt. Ihr Stiefel sank krachend in die Stellwand ein. Ohne den Blick von der einsamen Gestalt nehmen zu können, stand sie da, beide Klingen in den Händen, mit leicht geöffneten Lippen, aus denen noch hastiger Atem fuhr, und in diesem Moment erfassten sie die dunklen Augen.
Sie sahen einander an, die Assassine und das seltsam unkindliche Kind.
Dasselbe überschauerte Befremden hatte Eya wieder ergriffen. Es war still.
Der Kindgott saß, wie er schon beim letzten Mal gesessen hatte, um kein Jota verrückt, in seiner Reptilienruhe und bösartigen Schönheit. Wieder ließ seine Erscheinung zweifeln, ob er schlief wie ein Mensch, ob es sich überhaupt um einen Menschen handelte bei diesem lebendigen Standbild.
Im Augenblick des Gegenübertretens streifte Eya ein Gefühl, das halb Grauen und halb unwillkürliche Regung war, niederzuknien. Ein unguter Atem lag über diesem Ort, und gegen ihren Willen konnte sie sich in der bröckelnden Fassade ihrer Entschlossenheit nicht bewegen.
Dann aber atmete sie bebend aus.
Das war nur ein Kind. Bei allem sah sie doch, dass es nur ein Knabe war, und Bhavesh war sein Name, erinnerte sie sich.
Behutsam ging sie zwei, drei Schritte in den Raum hinein. Die Suwayyah steckte sie weg, langsam und so, dass ihr Gegenüber es sehen musste. „Du heißt Bhavesh“, ihre eigene Stimme klang ihr unsicher und hell in den Ohren.
Kein Muskel regte sich an ihm. Unbeweglich saß der Kindgott, den schmalen Leib schnurgerade, dass blassbraune Gesicht eine kühle Maske der Gelassenheit, die Hände flach nebeneinander auf den Falten seines Leibrocks.
Mit noch größerer Behutsamkeit, doch auch mit einem rätselhaften Gefühl des Bedauerns näherte sich die Assassine ein paar weitere Schritte. In die Angst mischte sich Widerwille, in seiner Nähe zu sein, doch haftete seiner einsamen Leblosigkeit auch etwas Mitleiderregendes an.
„Ist niemand mehr hier?“ sprach sie den Kindgott ein zweites Mal an. Der Thron glitt näher. Die Augen ruhten unbewegt auf ihr. „Wo sind deine Ratgeber?“
Schneller, als ihr entsetztes Zurückzucken ihre Muskeln erreichte, griff er an.
Aus dem Sitz abgestoßen, flog der kleine Körper auf sie zu, und stolpernd, einen überrumpelten Laut auf den Lippen, sah sie klar das Gesicht vor sich. Es hing lange genug zwischen Schreck und Aufeinandertreffen da. Der dünne Mund war geschlossen, die Stirn glatt, die Augen wie entseelt auf ihr Antlitz gerichtet. In einem Lichtfleck inmitten der irrsinnigen Attacke blinkte ein Dolch auf, nadeldünn fast, den er zwischen den Rockfalten verborgen haben musste.
Sie prallten aufeinander. Im Straucheln fühlte Eya mit der freien Hand, entgeistert zwischen Abwehr und dem Impuls, das Kind aufzufangen, den warmen, mageren Leib, Rippen wie gedrechselt. Sie roch bitteren Atem, die ganze nahe Ausdünstung eines Menschen. Die Großkralle hatte sie noch weggerissen, um ihn nicht zu verletzen.
Sie fielen hart auf den Boden.
Mit dem Aufprall ging eine Veränderung mit ihrem Angreifer vor. Plötzlich rasend, ein kleines und doch schweres Gewicht auf ihr, die sich über den Boden wand, hieb er mit dem Dolch nach ihrem Gesicht.
Sie hörte sich schreien. Es war ein Ausruf puren, leisen Entsetzens. Der Dolch schrammte über ihren Wangenknochen, verfehlte ihr rechtes Auge, als sie den Kopf zur Seite riss. Hastiger Atem streifte ihre Haut. Im Dunkel, das kam, als ihre Triebe die Oberhand gewannen, stach sie zu.
Als der Körper auf ihr erschlaffte, berührte das Gesicht, das fern und unerbittlich, rätselhaft in seiner Rolle allem Tun in Travincal vorgestanden hatte, ihren Hals. So übergraust, dass sie aufschluchzte, bäumte die junge Assassine sich auf und warf den Körper ab. Er rollte auf den Boden und lag still.
Ihre Suwayyah stak bis zum Heft darin. Sie konnte nicht einmal genau erkennen, wo.
Schritte ließen sie zusammenfahren, und als ob sich die Stahlfeder in ihrem schlanken Körper entfalte, schnellte sie hoch. Ihre Augen sprangen zu dem Seiteneingang, von wo sich jemand dem grauenhaften Schauplatz genähert hatte.
Hadan sah sie an, die farblosen Augen verdunkelt vor Sorge, eine schwarz behandschuhte Hand erhoben. Seine vertraute Erscheinung ließ sie erzittern, aber sie konnte sich nicht rühren.
„Shatryindjah.“ Mit ein paar Schritten war er bei ihr. Sein Blick ging zu dem daliegenden Körper, der jetzt sehr klein wirkte, ein Häufchen Glieder und Stoff. Eya folgte dem Blick, eine unsichtbare Faust um die Kehle, und als Hadan sie berühren wollte, zuckte sie zurück.
„Ruhig“, kam es leise. „Ruhig.“
„Er hat mich angegriffen“, fielen ihr die Worte verzweifelt aus dem Mund. An ihren Fingerspitzen klebte Blut, und als sie es ansah, fing Hadan ihre Hand ein. Im weiten, hellen Thronsaal holte er sie in seine Arme und ging neben ihr in die Hocke, als ihre Beine versagten. Sein großer Körper, seine Unerschütterlichkeit waren ein Fels, an den sie sich klammern konnte.
Aber auch dies vermochte nichts gegen das Grauen und den Ekel, gegen die Erkenntnis, die in der Stille nach dem Kampf übrig blieb.
Sie hatte ein Kind getötet.






Inmitten der auf das Areal blickenden Tempel stand ein Mann und starrte mit von Schweiß und Schmutz geröteten Augen auf das Schlachtfeld.
Nach einer Weile stieg er eine flache Treppe zu einem der Opfersockel hinauf. Hier oben bot sich ein leidlicher Überblick. Auf seinen Kriegshammer gestützt, sah er sich um. Er tat es prüfend, lautlos zählend, nach Soldatenart. Erschöpfung krümmte seinen hohen Wuchs, aber er hielt sich halbwegs aufrecht.
Seine Schulter- und Brustpanzerung war eingedellt. Ab dem Punkt der Schlacht, da sein Schild geborsten war, hatte sie zahlreiche Treffer einstecken müssen. Unter einem grauen Kettenhemd, das stellenweise in Fetzen hing, sah Stoff hervor, der einmal weiß und blau gewesen war. Er trug keinen Helm.
Menrad streifte einen Handschuh ab und fuhr sich mit der Hand über den schwarzroten Nacken und das völlig verdreckte Gesicht. Eine matte Brise ging.
Die Schlacht war vorüber, überlebt und gewonnen. Wenn auch nur knapp. Rauchend lag Travincal in seinem See, die Stadt um sich, aus der Schwaden von eben gelöschten Bränden und Steinstaub in den Himmel stiegen.
Das Areal war leichenübersät. Wo man hinschaute, lagen Tote. Die vorherrschende Farbe war Rot, das Rot kurastischer Gewänder und blutgetränkter anderer Stoffe. In seltsam weichen Haufen, unter denen die steinernen Kanten der vielfach unterteilten Fläche verschwanden, bedeckten die Opfer des Gemetzels die Böden, Treppen und Mauern. Hier und da regte sich etwas, wo Überlebende zwischen den Tempeln umhergingen, Verwundete suchten oder schlaff dasaßen, zu entkräftet, um den üblen Ort zu verlassen.
Auch Menrad spürte, dass der Weg über den Damm bis hinein in die Stadt über seine Kraft ging. Was machte es schon, dass die Toten hier nur noch etwas dichter lagen als drüben in den Straßen? Der leidvolle Anblick war überall derselbe. Wer überlebt hatte, konnte in der ersten Stunde nach dem Kampf ebenso gut hier rasten, hier leiden oder seiner Sinne mit Glück wieder Herr werden.
Nach dem Gebrüll und Waffengeklirr der vergangenen eineinhalb Tage erschien die Welt einem ruhig, aber sie war es nicht. Die Stadt, die sich mit schreckgeweiteten Augen aus den Kriegstrümmern erhob, brummte, und auch hier auf dem steinernen Eiland hörte man Stimmen.
Über den Damm kamen erste Männer, überlebende Krieger, Kuraster Bürger. Sie schlangen Seile um die Toten und zogen oder trugen sie mühselig zurück über den Steinwall. Es waren erst wenige. An den Seeufern häuften sich die Gefallenen oder trieben im Wasser. Es würde Tage brauchen, sie zu beseitigen, und noch hatte niemand das Kommando übernommen.
Menrad sah zum größten der Tempel, als dort eine Bewegung seine Aufmerksamkeit erregte. Zwei Männer, ein Pundarkrieger und ein Kuraster Freiwilliger, warfen ein Tau über den Kopf der doppelt mannshohen Statue des Kindgottes. Sie brauchten nicht viel Kraft und keine Steinmetzen, das Standbild war frei aufgerichtet. Nach einigen Rucken stürzte es. Mit einem dumpfen Krachen schlug die Statue auf der Tempeltreppe auf und zerbarst in zwei Teile.
Ein dritter Mann tauchte auf, den Tempel verlassend, vielleicht herausgelockt durch den Lärm.
Der Paladin beobachtete matt, wie der Nekromant auf dem Schlachtfeld umherging, langsam, sich ab und zu hinunterbückend. Suchte er etwas? Gab es für die verrufenen Männer seiner Kaste eine Verpflichtung den Gefallenen gegenüber, oder ein Interesse an ihnen? Er wartete auf ein Erschauern des Ekels, der Verachtung, aber es blieb aus.
Nach der Beseitigung der Gegner, als es nur noch wenige Scharmützel auf dem Areal gegeben hatte, war er schließlich in den großen Tempel gegangen, in das Refugium des Gegners. In dessen leise hallender Leere war er, ohne auf weitere Gegner zu stoßen, den drei Anderen begegnet: der Magierin, die die bleiche Assassine neben sich her aus dem Gebäude geführt hatte, und dem Nekromanten. Menrad hatte zuerst geglaubt, die Assassine habe eine schwere Verletzung erlitten, so leer war ihr Gesicht gewesen und so drückend und behutsam das Schweigen der Anderen. Dann aber hatte ihm der Nekromant den Thronsaal gezeigt, und was dort auf dem Boden lag.
So endet die einjährige Herrschaft des Götzen vorerst. Der Paladin stöhnte leise auf, als sich bei einer Bewegung die bei der ersten Explosion verwundete Schulter meldete. Ob die Söhne dieser Stadt vor einer Rückkehr ähnlicher Herrschaft sicher sein werden? Denn immer noch war ihm, als dem Fremden, die Entstehung dieser einjährigen Herrschaft unerklärlich. Auch wenn er das Gefüge dieser Gesellschaft nicht verstand und ihre Götter nicht achtete, begriff er doch, dass dieses Land nicht nur beherrscht hatte werden sollen, sondern auch neu geordnet, umgestellt von Grund auf. Die Unterdrückung des Volkes und die Hervorholung alter Kulte wiesen darauf hin.
Ein Versuch, tasteten sich seine Gedanken weiter, diesen Teil der Welt gleichsam zurückzustürzen in etwas Altes, und ihn zu erneuern. Ein Plan aus dem Nichts, so scheint es. Doch zu welchem Zweck oder aus welcher Idee heraus?
Und ebenso wenig, wie sich der Kindgott nur mit östlichen Ränkeschmiedereien erklären ließ, war seine Niederwerfung bloße Rache unterdrückter Kasten. Er hatte von den Kastenkriegen vergangener Tage gehört. Dies hier war keiner davon.
Der Paladin stieg vom Opfersockel herunter und ging langsam auf den linken der zwei direkten Seitentempel des größten Heiligtums zu.
Dort, auf den Stufen, lagen nicht so viele Tote, und die Schwäche in seinen Gliedern gebot ihm, sich niederzusetzen.
Gegen eine Säule gelehnt verfolgte er den Weg des Nekromanten durch das Schlachtfeld.
Der Pakrahjünger hielt einen kurastischen Zivilisten an, der mit Wasser und anderen Dingen aus der Stadt gekommen war – so wie einige Bürger, die nun versuchten, den Verwundeten zu helfen – sprach mit ihm und nahm ihm etwas ab.
Dann kam er auf Menrad zu.
Falls abgrundtiefe Erschöpfung den um Einiges älteren Mann belastete, so verbarg er dies gut.
Du bist ein zäher Hund, dachte Menrad ohne wirklichen Groll. Schlimm genug sah der Andere allerdings aus.
Die schwere, schwarzsilberne Rüstung war blind vor Blut und Asche, desgleichen die ledernen Hosen und Handschuhe unter den Gliederschonern, den zerschrammten Rüstungsteilen eines Nahkämpfers, nicht eines Mannes, der sich heraushält. Wie vermutlich sein eigenes auch, war das Gesicht des Nekromanten dunkel gefärbt: schwarzer Dreck hatte eine Schicht darauf hinterlassen, auf der das Blut aus Wunden, die man teils kaum noch sehen konnte, einer seltsamen und brutalen Bemalung glich.
In zwei Schritten Abstand ließ Hadan sich neben ihm nieder. Die Bewegung geschah schwerfällig und offenbarte nun doch den Tribut an die Schlacht.
Eine Weile saßen die Männer nur da, tief atmend.
„Wo sind die Frauen?“ fragte Menrad schließlich.
Der Nekromant legte den Kopf zurück an die Säule, an der er saß. „In die Stadt zurückgegangen.“
Menrad erwog kurz, sich nach dem Zustand der Assassine zu erkundigen, doch dann tat er es nicht, auch weil ein anderer Gedanke sich dazwischenschob, der mit dem Tod des Kindgottes verbunden war.
„Sind die Oberen dieser Stadt, als was auch immer sie sich bezeichnet haben mögen, nun beseitigt? Ich kann nicht behaupten, verstanden zu haben, gegen wen oder was der Kampf letztlich gewonnen wurde.“
Als er in die bleichen Augen blickte, die sich ihm zuwandten, fiel dem Paladin auf, dass sie zum ersten Mal ohne die Gegenwart Dritter miteinander sprachen. Und er wusste nicht zu sagen, ob das unveränderte leichte Abschätzen bei seinem Gegenüber Ausdruck des Misstrauens und somit Spiegel auch seiner, Menrad, Selbst war. Es mochte auch sein, dass der andere Mann nur etwas Zwingendes an sich hatte, das unwillkürlich Respekt hervorrief.
„Sie sind tot oder fort“, erwiderte der Nekromant. „Sicher sind einige entkommen, wer weiß wohin. In diesem Land wird man nicht leicht gefunden, wenn man nicht will. Sie werden lange geglaubt haben, dass ihr Stand ihnen Schutz gewährt und sie durch ihre Verehrung für ihren Gott unangreifbar sind.“ Er griff unter seinen Schulterpanzer und rückte etwas gerade. „Quellen für Kulte wie diesen, die in unsicheren Zeiten die Macht übernehmen, gibt es zahllose, und sie haben es hier nicht schwer. Aber ich glaube nicht, dass sie wiederkommen. Das wäre ein Erfolg, wären sie unser eigentliches Problem.“
Menrad horchte auf.
Da war es wieder, das schon einige Male in Aussprachen der Gefährten oder auch in seinen eigenen unsicheren Vermutungen Aufgetauchte. „Was meint Ihr?“ Dann, bevor der Andere etwas erwidern konnte, fügte er rasch hinzu: „Es ist unverkennbar, dass hinter den Ereignissen hier mehr stecken muss als nur eine... Hin- und Herbewegung von Macht. Solches gibt es überall und immer. Jeder Mensch weiß das und muss dazu die Geschichte und Eigenart eines Landes nicht kennen.
Aber das ist es nicht. Das ist nicht, was Ihr meint und wonach Ihr sucht, nicht wahr?“
„In Pundar“, entgegnete der Nekromant nach kurzem Schweigen, „wart Ihr bei der letzten Unterredung zu diesen Dingen nicht zugegen.“ Wieder hielt er inne, als müsse er etwas heraufbeschwören, was er lieber in den Bereichen des Vergessens belassen hätte. „Wir haben den Fall des Weltensteins miterlebt, und uns wurde prophezeit, dass eine Veränderung anstünde, ein Wandel der Welt von so unbekannter Art, dass nicht einmal eine Wesenheit aus dem Zwischenreich Art und Folge dieses Wandels vorhersagen konnte.“
Er sah Menrad ruhig und offen an, der jetzt spürte, wie sein Atem stockte. „Dieser Tempel dort“, fuhr der Nekromant fort und wies mit der Linken auf das Heiligtum, „gehört einem hochmütigen, einem parteiischen Gott, der die Herrschenden begünstigt und von ihnen begünstigt wird, weil sie so gegenseitig ihr Dasein rechtfertigen. Der Kult des Kindgottes, was auch immer er für sich selbst plante, hat sich diesen Tempel nicht zufällig gewählt. Doch das ist es nicht, was ich in seinem Innern wahrnehme, wenn ich hineingehe, Paladin.“
„Ihr werdet an die Prophezeiung erinnert“, sagte Menrad langsam, tonlos. Beinahe ohne sein eigenes Zutun hatten die Worte ihn verlassen.
„Ja.“ Der Andere betrachtete ihn prüfend. Dann sah er auf das verwüstete Areal. „Überall in der Welt wird an andere Bereiche geglaubt, in denen Götter leben, Dämonen, die Toten. Es hat Übertretungen gegeben. Sie sind bezeugt. Wir haben sie miterlebt.“
Menrad spürte sein Herz schwer und langsam schlagen. Die Möglichkeit, dass das Fremde außerhalb der gesetzten Grenzen der Welt auch anders auftauchen konnte als im Glauben, schien nahezu aus der ruhigen, chaotischen Umgebung zu sickern.
Es war, als ergäben viele Dinge einen Sinn, wenn man in Betracht zog, was sein Nachbar auf den Tempelstufen gesagt hatte. Dennoch war es schwer zu glauben.
Er betrachtete das Profil des Nekromanten. Auf eigentümliche Weise war für diese Momente ihrer Unterredung die Abneigung, die im Hass zwischen ihren beiden Klassen wurzelte, nicht mehr von Bedeutung.
„Was habt Ihr im Tempel gespürt?“ fragte er.
Hadan sah nicht herüber, aber sein sich senkender Blick verriet den Versuch, etwas in Worte zu fassen. „Ich weiß es nicht“, gab er dann zurück. „Eine Entgrenzung unserer Welt. Den Fall dieser Grenzen, auf die wir uns immer verlassen haben.“
„Das Licht“, sagte Menrad gedämpft, „ist eine Gnade aus einer anderen, höheren Welt. Vielleicht hat uns in Wahrheit etwas beschützt, oder geleitet.“
„Ihr vergesst, dass wir nach der Ursache einer Schreckensherrschaft suchen, und nach mehr.“ Der Nekromant machte die Augen schmal, die Menrad jetzt fixierten. „Betet besser, dass es nicht der Himmel und die Gnade der Lehre Eures Ordens war, was mir dort drin begegnet ist, egal in welcher Form.
Sollte das Licht nicht zu Mildtätigkeit und Klarheit anleiten? Wie heißt es in den Offenbarungsschriften der Ersten Paladine – Und es soll euch nichts verschleiert bleiben, und es soll sich keine Macht über euch bauen, die ihr nicht wahrhaft schauen dürft, auf dass das Gefüge eurer Städte und Länder ohne Lügen und Irrtümer entstehe? Dies hatten die Oberen in Travincal wohl kaum im Kopf, ganz gleich in welcher Art des Glaubens.“
„Ihr kennt unsere Lehren?“ Leise erstaunt beobachtete Menrad, wie der Andere einen Krug in zwei kleinere Holzgefäße leerte.
„Warum sollte ich sie nicht kennen?“ Hadan hatte sich ihm wieder zugewandt und reichte ihm eines der Gefäße, die aussahen wie sehr hohe Becher. „Hier, nehmt und trinkt. Eine Aufmerksamkeit der verschüchterten Stadt.“
Einen Augenblick lang saß Menrad noch starr, bemüht, seine Überraschung zu fassen. Dann griff er nach dem Gefäß. „Was ist das?“
„Bier.“ Der Andere hatte bereits einen Schluck getrunken und sah das Zögern des Paladins. „Kurastisches Bier. Ihr werdet es gewiss nicht so gut finden wie das Eurer Heimat.“ Ein Funken gutartiger Belustigung glomm in den schmalen, eigentümlichen Augen auf, doch Menrad konnte sich auch täuschen.
Er nahm einen Schluck. Das entschieden Seltsamste aller vergangenen Wochen war es, hier auf diesen Tempelstufen zu sitzen, blutbedeckt, schmutzstarrend, inmitten der halb in die Knie gegangenen Stadt, und der kräftige Muskel in seiner Brust erzitterte einmal heftig und fühlte sich dann leichter an.
„Das schmeckt wie Pferdepisse“, sagte er. Gegen seinen Willen musste er grinsen.
„Ihr müsst es ja wissen.“
Plötzlich lachten sie.
Frei und offen, geradeheraus, hustend im Schmutz ihrer Kehlen.
Menrad hatte den Anderen noch nie zuvor lachen sehen, und war es nicht auch eigenartig, am Rand des Schlachtfelds, in unmittelbarer Nähe zu Tod und Krieg? Aber auch der überstandene Kampf war nah, die Erleichterung, noch am Leben zu sein. Vielleicht lachten sie darum wie Männer vor einer Schenke und waren vom Zufall in diesen Augenblick gestoßen, in dem unter vorsichtigem Ansehen dieser ganz neuen Seite am Gegenüber Unterschiede und Unvereinbarkeiten nicht zählten.
Der Nekromant wurde wieder ernst. Er trank aus, stand etwas mühsam auf und ging die Stufen hinunter. Seine schwere Rüstung klirrte blechern, als er sich die Handschuhe auszog.
„Es gibt viel zu tun“, sagte er in Menrads Richtung. „Die Verluste sind schwer. Ich will wenigstens sehen, was für die Verwundeten getan werden kann.“
Der Paladin kam ebenfalls auf die Beine. Seine Schulter und ein halbes Dutzend anderer Blessuren schmerzten, aber keine davon blutete mehr stark. Er verstand, was Hadan meinte.
Kurast war übernommen, aber nicht gesichert.
Die verbliebenen Anführer aus Pundar mochten jetzt bereits in der Stadt mit der Bürgerschaft und Vertretern der Priesterkasten verhandeln.
Das Heer der Angreifer hatte über tausend Mann gezählt. Weniger als dreihundert waren übrig. Ein knappes Hundert hatte den Sturm auf Travincal überlebt, und Männer, die mit Nachrichten über die Schauplätze der Schlacht liefen, berichteten von etwa zweihundert versprengten Kriegern, die sich in der Stadt nach letzten Häuser- und Grabenkämpfen wieder zusammenfanden.
Vorerst waren es nur Zahlen und das Grauen noch zu frisch, um sie mit erschüttertem Begreifen zu füllen. Bald aber würde es kommen, womöglich schon hinter der nächsten Säule, hinter dem nächsten Anblick des Chaos.
Die Toten mussten zusammengetragen und beseitigt werden, um schnelle Seuchen zu vermeiden. Die Verwundeten brauchten Hilfe. Männer mussten abkommandiert werden zur Bewachung der Stadtgrenzen, falls Geflohene der vernichteten Obrigkeit noch treu genug waren, um einen Vergeltungsakt zu versuchen. Man musste sich der Gesinnung der Kuraster Bürger versichern und Übergriffe verhindern.
Von der Stadt waren inzwischen mehr Menschen herübergekommen, wuchteten an den Leichenbergen herum, besudelten sich, leise miteinander redend. Als sie der beiden Männer ansichtig wurden, die über das Areal kamen, verstummten sie. Einige machten verstohlene Zeichen und wichen Hadans Blick aus.
„Was haben die Leute?“ fragte Menrad, als sie vorüber waren.
Langsam rückte das Dammtor näher, alleinstehend gegen den grau und blau gefleckten Himmel.
„Sie befürchten, dass ich irgendetwas mit den Toten tue“, antwortete Hadan. „Zugleich bitten sie mich darum, bei Pakrah ein Wort für die Gefallenen einzulegen, wenn man so sagen kann.“
Doch Menrad hatte den zweiten Teil der Antwort kaum noch gehört.
Nicht Ekel, aber Furcht und eine Art von Erschütterung suchten ihn heim. Unter den Toten waren viele, die nicht durch Schwert oder Pfeil ihr Leben verloren hatten. Im künstlichen See lag ein Wall aus Gebeinen wie ein vom Fleisch gelöster Drachenhals. Er hatte ihn schon gesehen, an den Rändern Travincals nach dem Stand der Ufergefechte Ausschau haltend.
Schleichend kehrte ein inneres Schweigen zurück, und Menrad sah, am Tor angekommen, auf die ganzen chaotischen Überreste eines Krieges übertretener Grenzen.
Er hatte an der Seite von Wilden gekämpft, von Anbetern dunkler Götter, zusammen mit allen Menschen, die der Lehre und den Weisungen des Lichts in irgendeiner Weise zuwiderhandelten, und er wusste, dass es jetzt das Erbe seines Ordens war, das ihn plötzlich erschauern ließ. Aus dem Entsetzen trat auch wieder, wenn auch noch fern, die Erinnerung an den Westen, der Gefahren ausgesetzt sein mochte, die nur der Himmel kannte.
Finster zog er seine Handschuhe zurecht.
Wenn ihr umgeben seid von unheiligen und frevlerischen Dingen, sollt ihr um so standhafter den rechten Weg vertreten.
Er sah zu Hadan.
Der große Mann sprach mit einem Krieger Pundars, der eben den Damm entlanggekommen war. Die Erinnerung an brechende Mauern des Schweigens, an die Tempeltreppe, wenige Augenblicke her nur, durchfuhr Menrad, und er senkte den Kopf, ein Zucken auf den Zügen.
Zerrissene Bilder eines Zweikampfes hatten sein inneres Auge gestreift, vielleicht, weil der Andere immer noch die fremde Waffe, den Tulwar, in der Rechten trug. Leicht war er gewiss nicht zu töten.
Menrad schrak zusammen. Mit Mühe verbarg er die Erstarrung seiner Glieder, als Hadan an seine Seite zurückkehrte. Eine matte Brise bewegte das lange, blutverklebte Haar des Nekromanten.
Die Männer hoben die Gesichter hinein, als könne die Luft sie reinigen. Sie brachte kaum Erfrischung.
„Es wird Hitze kommen“, sagte Hadan. Er schritt merklich rascher aus, als sie das Dammtor passierten. „Uns bleibt nur eine Nacht, um die Toten zu verbrennen. Morgen wird uns die Sonne in die Quere kommen und vielleicht eine Seuche erwecken.“
Menrads Schweigen mochte er als Zermürbung deuten oder als Anzeichen für eine doch ernsthaftere Verwundung, denn er setzte noch hinzu: „Lasst Euch in der Stadt versorgen und entscheidet dann, wo Ihr helfen wollt.“
Der Paladin streifte das ihm im Gehen zugewandte Gesicht mit einem Blick. Ein Sonnenstrahl aus dem Himmel, an dem sich Dunst wie eine Glocke über die Stadt zu legen begann, tauchte kurz alles in dieselbe Helligkeit und löste die unnatürliche Blässe des Mannes neben ihm auf. Wenn die Farben fehlten, sprang die Regelmäßigkeit dieser Züge sofort ins Auge.
„Was werdet Ihr tun?“ hörte er sich fragen.
„Ich muss einige Dinge für die Behandlung der Verwundeten auftreiben. Und ich muss nach Eya sehen. Danach werdet Ihr mich am Ufer oder auf der Heiligen Stadt finden.“
Menrad straffte sich. „Gut. Ich werde da sein und bei der Beseitigung der Toten helfen.“
Am Ufer stockte sein Schritt.
Ich habe noch nicht gebetet. Nun, jenseits des Tempelbezirks fremder Götter, schien es ihm die richtige Gelegenheit.
Hadan wirkte nicht befremdet, als der Paladin dies ankündigte, und ging allein weiter, um im Gewirr der Straßen zu verschwinden.
Die Uferlinie erstreckte sich gerade. Dennoch wirkte sie krumm, verwundet, wie der Rand einer großen Fuhre Abfalls. Menschen gingen im Durcheinander umher, langsam begreifend vielleicht, dass der unmittelbare Schrecken vorüber war und das Schlachtfeld um sie herum kein böses Trugbild.
Bevor Menrad niederkniete, auf einem schmutzigen, beliebigen Fleck nahe des Wassers, das verdreckt an die Uferlinie schwappte, dachte er noch einmal an die kleine, allein daliegende Leiche drüben im größten Tempel. Der Name des Kindgottes, diese lange Reihe von Lobpreisungen und entliehenen anderen alten Namen, war unmöglich zu erinnern, aber Bhavesh hatte man ihn genannt.
Übersetzt in die gemeinsame Sprache bedeutete dies ’Herr der Welten’.
Menrad ließ sich auf ein Knie nieder und senkte die Stirn auf den Griff des Hammers, der schräg abgestützt vor ihm stand.
In dieser Zeit war nichts mehr ein Zufall. Nichts durfte unbeachtet bleiben. Auch nicht der Name eines toten Götzen.
Betend richtete er die Gedanken zum Himmel, innerlich schwankend in der schwachen, leise glühenden Hoffnung, dass die Welten hinter den Grenzen, was auch immer sie waren, von der Gnade des Lichts erfüllt sein mochten und diese Gnade bringen würden, und kein Unheil.
 
reeba hat dir schon mal jemand gesagt, dass du spitze bist??! Ich sag es dir jetzt auf jeden fall mal: Du bist spitze.

Weiter so :) Wir mögen dich
 
Wunderschön! Ich habe diese seltsame Stille nach der Schlacht buchstäblich gespürt, dies Verharren und Sammeln. Und ich habe mich riesig über das Gespräch zwischen Hadan und Menrad gefreut.
Ich habe nur Ifrahs Gedanken nach dieser Schlacht vermisst... wo ist sie geblieben? Nein, antworte darauf nicht!

Als er wieder zu sich kam, stand er vornüber gebeugt, auf den zitternden Tulwar gestützt, auf eine Hand gestützt, die auf seinem Schenkel lag.
Wie wäre es mit „gelehnt“, statt des ersten gestützt? Oder „Das Gleichgewicht durch den in den Boden gebohrten Tulwar haltend, auf eine Hand gestützt“...?

Und er wusste nicht zu sagen, ob ein unverändertes leichtes Abschätzen bei seinem Gegenüber Ausdruck des Misstrauens und somit Spiegel auch seiner, Menrad, Selbst war, oder ob der andere Mann nur etwas Zwingendes an sich hatte, dass unwillkürlich Respekt hervorrief.
Diesen Satz habe ich erst beim dritten Mal lesen verstanden, was erstens bedeuteten könnte, dass ich zu müde bin, oder zweitens dass eine Zweitteilung nicht schaden könnte... :) .... oder beides.

„Überall in der Welt wird an andere Bereiche geglaubt, in denen Götter leben, Dämonen, die Toten. Es hat Übertretungen gegeben. Sie sind bezeugt. Wir haben sie miterlebt.“
Menrad spürte sein Herz schwer und langsam schlagen. Die Möglichkeit, dass das Fremde außerhalb der gesetzten Grenzen der Welt auch anders auftauchen konnte als im Glauben, schien nahezu aus der ruhigen, chaotischen Umgebung zu sickern.
Oha :eek: da hast du dir aber was vorgenommen! Respekt!
Jetzt versteh ich, glaube ich, einen Teil unseres samstäglichen Gespräches. Ooooh, ist das spannend!

:hy: Insidias


Achja, Reeba, du bist spitze! :D
 
*G4nd4lf zustimm*

ich hoffe du bist mir nicht böse, wenn ich nicht viel schreibe, aber ich wollte dir auf jeden fall mitteilen, dass ich noch dabei bin und mich wie immmer aufs nächste up freue.

bis dahin lass dir gesagt sein, dass ich deine geschichten verschlinge und inzwischen auch deine kunst im insacred-bereich entdeckt habe. (aber dort werde ich mich gesondert nochmal melden)

Gruß, Helldog
 
Oh Mann, ich muß erst mal wieder auftauchen aus der Geschichte....

So, jetzt kann ich die Lobhudelei, äh ich meine Kritik, anbringen:

Was mir sehr gut gefällt sind die fließenden Wechsel der Foki, und deine Art die Sinneseindrücke zu beschreiben, aber etwas fehlt, ich glaube der Geruch. Ich weiß zwar nicht wie es auf dem Schlachtfeld riecht, aber irgendwie ist dieser Sinn ausgeblendet, kann das sein?

So, das wäre die einzige Kritik, ansonsten war das Update wieder mal eine Klasse für sich, mein Verehrung!

mfg

Scirocco
 
Ein Update, das einige Fäden beendet aber dennoch kaum Fragen beantwortet hat. :D Wer war nun dieser Kindgott? Was genau steckte hinter ihm, und wo ist es geblieben? Was müssen wir fürderhin von ihm fürchten? Hadan scheint ja einen gewissen Einblick zu haben, der uns aber mangels (Pakra-)Fachwissen nicht weiterhilft. Was ist mit Ifrah? Welche Mächte haben sich zum Eingreifen entschlossen und sie unterstützt? Viele Andeutungen – wenig Auflösungen. Nur eines zeichnet sich ab: etwas Großes wurde mit der Zerstörung des Weltsteins freigesetzt und bedroht die ganze bekannte Welt.

Bitte bald das nächste Update!
 
Dieser seltsame Kindgott schien mir mehr den Körper eines Kindes besessen zu haben, als ein Kind gewesen zu sein. Insofern sollte Eya hoffentlich schnell darüber hinwegkommen.
Was wird nach der Schacht kommen? Kurast hat jetzt keinerlei funktionierende Herrschaft mehr, womöglich mündet alles in einem endlosen Bürgerkieg, wie zu oft im wahren Leben.
Mach mal schnell weiter. :D
Außerdem vermisse ich unseren kleinen Stern so sehr.
 
@Lanx: alle Fragen werden beantwortet ;)
Hadan hat auch keine Ahnung, was genau vor sich geht.
@Stalker: Maysan wird wiederkommen, und nicht nur hier (siehe unsere Mails u.Diskussionen). *Spoiler*
@Scirocco: guter Einwand, siehe nächstes Kapitel.
@Insidias: den erwähnten Satz werde ich ändern, danke wie immer für den Hinweis :kiss: Das doppelte 'gestützt' war aber Absicht.
@the_holyman: das stimmt, Ifrah übernimmt Eya gegenüber zumindest oft eine Art ältere-Schwester-Rolle. Das kommt meiner Meinung nach daher, dass sie nicht so labil ist wie Eya.

@alle: vielen Dank für Aufmerksamkeit und Anregungen.
Sollte ich einmal auf eine Frage nicht antworten, ist das keine Absicht, einfach nochmal treten.
 
Auch mal wieder ein Lob von meiner Seite, ich lese meist nur still mit.
Sehr schöne und anschauliche Beschreibungen des Geschehens, ich bin von Deinem gewandten Umgang mit der Sprache fasziniert.

Weiter so.
 
XXXI. Nach der Schlacht





Wieder war ein Tag vergangen, ohne dass die Menschen in Kurast es bemerkt hatten.
Während die Stadt noch aus ihrer Kriegswundheit aufzuwachen versuchte, begann es zu dämmern. Die ersten größeren Arbeiten, die Verhandlungen und die Beseitigung der Gefallenen, würden im Dunkeln stattfinden.
Und wieder eine Nacht in Flammen und Rauch und ohne Schlaf.
Ifrah steckte dem diensteifrigen Chakk-Verkäufer sein Kupferstück zu und verließ den kleinen Stand, an dem sich Menschen drängten.
Es brannte nicht mehr wirklich in Kurast, doch im Dunkeln sahen die zahllosen Laternen, qualmenden Feuer und die Anzeichen der an den Ufern stattfindenden Leichenverbrennungen aus, als stünde das Häusermeer in Brand, einem Schwelbrand, der schwefelgelbes Licht auf die Gebäude und die aufsteigenden riesigen Rauchwolken warf.
Den gleich miterstandenen Kupferkessel in der Linken, ging sie die mit Gerümpel, Lagern und Menschen fast völlig verstopfte Straße entlang. Überall rasteten Leute, selbst die Stadtbewohner waren vor ihren Häusern, zu unruhig, um Schlaf zu finden. Zerstörtes Mobiliar wurde aus Fenstern gekippt, Gruppen standen zusammen, und dazwischen sah man immer wieder herumeilende Männer, Boten und Krieger oder Gesandte der Tempel, und die langsamen Trauerzüge in fleckigem, hellem Leinen.
Niemand wusste bislang die Zahl der Opfer unter der Bevölkerung, den Menschen, die nicht unmittelbar zu einem der beiden Heere gehört hatten. Es mochten fast ebenso viele sein wie aus den Kriegsparteien. Die Zerstörung der Tempel und Häuser und die grausamen Gemetzel in den Straßen hatten die Stadtbevölkerung ebenso ins Unheil gestürzt.
Wie viele der Angreifer ihren Mut mit dem Leben bezahlt hatten, war hingegen mittlerweile düstere Gewissheit. Man brauchte lediglich flüchtig zu überschlagen, wo man sie überhaupt noch in größeren Gruppen sah.
Später würde Ifrah zu den Ufern gehen und die Verbrennungsriten mitverfolgen. Erst aber wollte sie Eya und den kleinen Haufen Rastender aufsuchen, die in einem Haus in der Nähe für die Nacht untergekommen waren, und ihnen etwas zu essen bringen.
Sie beschleunigte ihren Schritt. Karren und Steinhaufen lagen herum, Menschen sahen aus den Fenstern, mit auf der Straße Stehenden redend, Frauen schleppten Wasser und Vorräte – ein bewegter, freudloser nächtlicher Markt, ein betäubtes, chaotisches Treiben.
Aufruhr zu ihrer Rechten ließ den Schritt der Magierin stocken.
Auf einem kleinen Platz herrschte Durcheinander, und die Stimmung der Gespanntheit und Bedrohung war mit Händen zu greifen. Die Menschen wirkten verängstigt. Frauen zerrten Kinder fort.
Sich an einigen Männern vorbeidrückend, erkannte Ifrah auf einen Blick, um was es ging.
Drei Männer knieten mit auf den Rücken gebundenen Händen im Staub. Einer war ein schwer verwundeter Kuraster Krieger in roten Gewändern, die nur noch in Fetzen um seinen Leib hingen. Die beiden anderen aber waren Leute aus der gewöhnlichen Bevölkerung. Auf dem Gesicht des Einen davon, der noch sehr jung schien, malte sich nacktes Entsetzen, gemischt mit verächtlicher Wut.
Ihre Bewacher und Peiniger setzten sich aus Pundarkriegern und wiederum Kuraster Bürgern zusammen. Einer der Bewacher war in einen erbitterten, schreienden Streit mit Umstehenden verwickelt.
Ohne die Szene länger als für die Dauer weniger Atemzüge verfolgt zu haben, wusste Ifrah, um was es sich hier handelte.
Eine Hinrichtung.
Wuchtig und matt blinkten gezogene Säbel.
Hastig stellte sie den Kessel ab. Mit ein paar Schritten war sie bei den Bewachern.
„Misch dich nicht ein, Frau“, bellte einer der Pundarkrieger sie an. Dann erkannte er sie augenscheinlich, und sein Tonfall änderte sich zu mühsamer Beherrschtheit. „Das geht Euch nichts an.“ Ifrah wusste, dass viele der Männer sie kannten, weil ihre Rolle bei der Erstürmung Travincals sich herumgesprochen hatte.
Der flüchtige Respekt schützte sie hier, doch weder konnte sie sich unter erregten Kriegern darauf verlassen, noch war sie vor den undurchsichtigen Übergriffen sicher, die zur Zeit allerorts in Kurast stattfanden und nur allmählich von Hauptleuten und Mittelsmännern in den Griff bekommen wurden.
Hinrichtungen hatte es bereits viele gegeben.
Zu schnell kam es dazu, zu eigenmächtig und wutentbrannt handelten die Beteiligten.
Ohne nachzudenken, hatte sie sich eingemischt und stand jetzt inmitten zornblinder Menschen.
„Die Bastarde da, shakshii“, der Mann spuckte aus und wies mit der blanken Klinge auf die Knienden, „haben sich in den Häusern versteckt und eine Patrouille hinterrücks angegriffen und abgeschlachtet. Einen Bijoodhipriester haben sie ebenfalls verwundet!“
Behutsam hob sie beide Hände und gab ihrer Stimme einen möglichst ruhigen Klang. „Was sie getan haben, wird sicher nicht ungesühnt bleiben, doch sie müssen einer allgemeinen Gerichtsbarkeit unterstellt werden. Ihr wisst doch, dass Eure Hauptleute solche Handlungen verboten haben.“
„Gerichtsbarkeit!“ Der Pundarkrieger schnaubte verächtlich. Ringsum ging ein Raunen und Reden durch die Zusehenden. „Das ist die einzige Gerichtsbarkeit, die in dieser Stadt von Verrätern etwas nützt!“ Er hob den Säbel.
Ifrah wich leicht zurück. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass bereits Männer hinter die Knienden getreten waren. In ihren Gesichtern bleckte zügelloser Hass die Zähne, Vergeltungssucht, angeheizt vom Wahnsinn des Krieges. Am Morgen würden viele von ihnen anders denken und Schuld auf sich geladen haben. Jetzt aber wollten sie nur töten.
Sie konnte nicht eingreifen, ohne ihrerseits Gewalt anzuwenden, und ändern würde es nichts, nur mehr Chaos und mehr Wut hervorrufen.
„Auseinander!“ Von hinten kam eine raue Stimme. Schritte stapften herbei. „Runter mit den Waffen!“
Ein alter, stark gerüsteter Mann schob sich in die Szenerie. Glänzende Augen fixierten den Wortführer.
„Parindra!“ Ifrah erkannte den betagten Haudegen wieder. Sie hatte nicht gewusst, dass er die Schlacht überlebt hatte, und sah ihn jetzt mit Erleichterung. Getrocknetes Blut aus einer Wangenwunde stockte in seinem Bart, aber er scheuchte die Dastehenden mit kräftigen, herrischen Bewegungen auseinander.
„Willst du deinen toten Fürsten beschämen?“ herrschte er den Anderen an. „Du Narr, ihr Narren alle! Wollt ihr diesen Bluttag noch schlimmer machen? Man wird euch wiederum vor den Kriegsrat zerren, wenn es euch nicht gelingt, euch besser aufzuführen als eure Gegner!“
Die Worte zeigten Wirkung. Immer noch zornig, aber mit der Starre des Zögerns auf den Zügen, murrten die Männer.
Der alte Kämpe wandte sich zu Ifrah um. „Ihr könnt nun gehen. Ich kümmere mich um alles. Eine Patrouille ist ohnedies hierher unterwegs.“
„Seid Ihr sicher?“ Ifrah maß die Szene mit einem angespannten Blick.
„Geht nur, geht“, und damit drehte sich Parindra wieder zu den Aufrührern.
Nach kurzem Zögern wandte die Magierin sich ab und ging zu dem Kessel zurück, der ein paar Schritte entfernt stand. Immer noch die Erregung der Menge im Nacken, aus der man nun den lauten, doch offenbar vernünftigeren Wortwechsel der Streitenden vernahm, verließ sie den Platz und tauchte in den tiefen, fleckigen Dämmer der nächsten Straße.
Als sie das Haus wiederfand, hatte sich ihr schneller Herzschlag wieder beruhigt.
Im Inneren herrschte Halbdunkel mit stillen Laternen und tieferen Schatten in den Ecken. In einem Winkel kauerte Eya inmitten der Reisesachen der Gefährten, die Knie bis ans Kinn gezogen. Männer, mehr als ein halbes Dutzend, lagen in dem Raum verteilt. Die meisten schliefen, ernst verwundet und von einem Alten mit langem Bart bewacht.
Ein Asket. Wo mag er hergekommen sein? Ifrah deutete, nicht wissend, wie sie der hageren Gestalt begegnen sollte, eine leichte Verbeugung an, als sie an ihm vorbei zum Lager der Assassine ging. Der Asket beachtete sie nicht. Unablässig murmelnd, bewegte er halb geschlossenen Auges eine Kette mit Holzperlen zwischen seinen langen Fingern. Krüge und blutige Binden waren um ihn herum verteilt. Ein Heiler, oder ein Nekromant mit Heilkräften.
Die Überlebenden mussten um diese seltsamen Männer froh sein. Ifrah hatte sie Erstaunliches leisten sehen, fast so erstaunlich wie das, was Hadan zu vollbringen imstande war, wenn er nicht der Vernichtung des Lebens, sondern seinem Erhalt diente.
Als sie sich neben Eya niederließ, sah die Assassine sie mit teilnahmslosem Blick an, in den nur die Wärme der Freundschaft ein wenig Glanz brachte.
Das im Feuer des Kampfes verdrängte Leid des Krieges brach jetzt auf sie alle nieder. Ifrah fühlte selbst, dass es gelegentlich in ihr zitterte, ein zurückgehaltenes Weinen der Schwäche. Wem es gelang, zu schlafen oder sich in Arbeit zu begraben, der konnte den wiederkehrenden Bildern der vergangenen zwei Tage entrinnen. Alle aber, die wachten und Gelegenheit zum Nachdenken hatten, mussten sie ertragen.
Mit einem schwesterlichen Gefühl der Liebe betrachtete Ifrah verstohlen, um die Andere nicht ihrem prüfenden, besorgten Blick auszusetzen, das blasse Gesicht. Das Morden vieler Gegner, ganz gleich aus welchen Gründen, machte hart und wund im Innern. Und Eya hat, unbedeutend unter welchen Umständen, etwas getan, was sie nie zuvor getan hat. Selbst sie, obwohl die Andere frei von Schuld war, überlief es grob und kalt bei der Vorstellung, einem Kind etwas zuleide zu tun, einem Knaben in diesem Falle, der nur Weniges älter gewesen war als Maysan. Rücksichtslosigkeit, völliges Aufgehen in ihrer Aufgabe, die grausame Stärke der Assassinen, fehlten Eya.
Du bist gar keine richtige Assassine mehr, Liebes, dachte Ifrah. Nicht menschenfremd genug mehr für Eine deiner Zunft, und noch nicht abgehärtet genug für einen Soldaten.
Vielleicht aber war auch die Abhärtung eine Illusion und unvereinbar mit einer Seele, die noch weich bleiben und den Tod als etwas unabwendbar Erschreckendes empfinden durfte.
„Iss etwas Suppe“, sagte sie leise und füllte der Jüngeren eine kleine Schale. „Doch“, beharrte sie, als diese den Kopf schüttelte. „Du musst etwas essen. Vor einer Weile habe ich Hadan noch gesehen. Er ging zu den Riten am Ufer, aber er wird bald zurückkommen. Er wird dir dann sicher dasselbe sagen.“
Eine schmale Hand wanderte zögernd zu der Schale.
Ifrah füllte auch dem Alten und den zwei Männern, die wachten, etwas ab und aß dann selbst. Die einfache Suppe aus Linsen, Sahne und Gewürzen stärkte sie rasch. Immer noch aber hatte die abgrundtiefe Müdigkeit sie nicht erfasst, auf die sie wartete.
Doch dies war genaugenommen meine erste Schlacht. Und die unsichere Lage in Kurast ließ sie offene Fragen erwägen. Die Überreste des Angreiferheeres würden hier nicht lange bleiben wollen und können und hatten keinen Fürsten mehr, der Kurast aus seiner Räteherrschaft in eine Stadt mit Fürstenhaus hätte verwandeln können. Bis die Nachricht vom Tod des Pundarherrschers Baraidha und seine Heimatstadt erreicht hatte, würde Zeit vergehen, schätzte sie, und selbst dann war nicht sicher, ob eine der Städte einen Fürsten entsenden wollte.
Sie hob den Kopf und blickte zu dem Fenster hinüber, das auf die Straße führte und vor dem pausenlos Bewegung und ein Spiel aus Licht und Schatten war.
Was tat man mit einer enthaupteten Stadt? Hadans langjährige, innerliche Bindung an Kurast kam ihr in den Sinn. Aber ob sein altes Vertrauen in die guten Seiten der Stadt noch bestand und ob er glaubte, dass sich aus den höheren Kasten eine neue Ratsherrschaft bilden konnte, erriet sie nicht.
Kurz erwog sie, mit Eya darüber zu sprechen, doch eben noch rechtzeitig erinnerte sie sich, dass eben diese Fragen Travincal wieder in den halbdunklen Raum holen würden.
„Was sollen wir jetzt nur tun?“ Die leise Stimme neben ihr schreckte sie auf.
Als sie sich Eya zuwandte, dachte Ifrah, ihr nur sagen zu können, dass sie es auch nicht wisse, dass überhaupt niemand von ihnen den alten Pfad seines Lebens wiederfinden würde, weil die Welt sich um sie erhoben hatte, ins Chaos stürzte, unwiederbringlich wegzubrechen begann. Aber sich in aller Müdigkeit der Verwirrung und Hoffnungslosigkeit zu überlassen, half noch weniger, als blind diese alten Pfade wieder zu suchen.
Eya hatte alles verloren und Neues, Ungewisses dazu gewonnen.
Menrad zauderte zwischen zwei Kontinenten und hastete seinem Orden hinterher, der angeschlagen unbekannte Wege beschritt.
Hadan hielt sich mit letzter Kraft auf den tönernen Füßen seiner Heimat aufrecht, die nachgaben und einsanken.
Und sie selbst durfte an den tiefen Süden nicht denken, oder an die friedlose Wüste auf der anderen Seite des Meeres, weil es sie sonst zerriss.
„Das wird sich finden“, gab sie endlich zurück, fester, als es der betäubenden Unsicherheit entsprach. „Denk nicht darüber nach.“
Ein Schatten bückte sich unter dem niedrigen Türsturz des kleinen Hauses hindurch.
Der Nekromant betrat den Raum. Er hatte seine Rüstung bis auf die Gliederschoner abgelegt, und im Lampenschein sah man sein langes, weißes Haar und die blutbefleckte Unterkleidung.
Als Erstes suchte er mit den Augen rasch die Frauen und kniete dann vor dem Alten nieder.
Der hagere Greis war aus seiner Starre erwacht, und völlig gefangen von der Eigentümlichkeit der fremdartigen Szene, sah Ifrah, wie eine knochige Hand das gesenkte Haupt des Mannes berührte, der vor dem Asketen doppelt groß und alterslos wirkte.
Nachdem Hadan die Segnung, oder was es auch gewesen war, empfangen hatte, kam er herüber. Suppe lehnte er ab.
„Danke, Ifrah“, sagte er gedämpft, als er sich neben sie beide setzte. „Aber mir ist eher danach, mich zu betrinken.“
So offen war er früher nie gewesen, und gespannt erkundigte sie sich nach der Lage in der Stadt und nach den Fortschritten der Verhandlungen.
„Schiffe nahen aus dem Süden“, begann er. Versteckt hatte sich seine Rechte um eine Hand der Assassine geschlossen. „Eilboten von der Küste haben dies vor einer Weile vermeldet. Einer der Söhne des Pundarfürsten naht mit Verstärkung.“
„Werden sie Kurast übernehmen?“
„Nein, oder zumindest nicht dauerhaft. Sie wollen nur sichergehen, dass aus dem Norden für Pundar keine Gefahr mehr droht. Über den Ausgang der Schlacht können sie noch nicht unterrichtet sein. Sie werden Truppen zur Bewachung stellen, bis Kurast seine Räte gebildet und eigene Leute eingesetzt hat, vermute ich.“
Ifrah zögerte kurz. „Freut dich das nicht?“ Denn die Miene des großen Mannes war hart, und Schatten lagen unter seinen Augen, die nicht nur der Erschöpfung durch den Kampf entstammen konnten. Eine Weile lang erwidert er nichts und starrte an den Gesichtern der Frauen vorbei auf einen unsichtbaren Punkt im Schatten des Raumes. Als er wieder sprach, war die Bitterkeit und Verachtung in seiner Stimme so deutlich, dass sie erschrak.
„Was für Feiglinge sie sind. Kurast, die Hochmütige, die selbsterklärte heilige Alte Stadt.“ Er senkte den Blick. „Unter einem alten Beherrscher zittern sie, bis er vernichtet ist. Wenn sie einen neuen Beherrscher wittern, der ihnen ihre Privilegien sichert, laufen sie in die Tempel und wissen sich kaum zu helfen vor Dankbarkeit.“
Leise erschüttert fing die Magierin die Worte ihres alten Kampfgefährten auf. Was er jetzt äußerte, kam einem Bruch mit seiner geistigen Heimat gleich. Täuschungen über die Anfälligkeit des gesellschaftlichen Gefüges der von ihm lange verehrten Stadt hatte er sich, so wusste sie aus Gesprächen, nie hingegeben, doch hatte er mit einer gewissen hartnäckigen Zuneigung zum vielfältigen Gemisch des Volkes und der Kasten auf die Vernunft der Obrigkeit vertraut.
Ifrahs eigene Heimat war ein vom Handel geprägtes Land, eine reiche Wüstenkultur unter der Autorität des Fürsten von Lut Gholein. Sie hing an der Wüste und an den Errungenschaften ihres Volkes, an den schönen Seiten, den Städten, wo zwischen den Karawansereien und im Reichtum der Besitzenden Sprache und Musik blühten.
Ich würde ebenso fühlen wie er, wenn ich das verlöre. Mitfühlend hielt sie dagegen: „Du urteilst zu hart. Die Menschen hier sind nicht verzagter als anderswo. Vielleicht braucht es nur Zeit, bis sie sich besinnen.“
Die farblosen Augen begegneten ihr. „Das würde ich gern glauben. Aber im Augenblick kann ich nur sehen, dass alle, die sich einer fanatischen Überhöhung der Kulte entgegengestellt haben, mit dem Leben dafür bezahlen mussten. Dass es keine Gerechtigkeit gibt, kein Ohr für die Belange aller.“
Eine Weile lang saßen sie nur schweigend da. Eya sah zwischen ihnen hin und her. Die Ablenkung von ihrem eigenen Schrecken hatte sie munterer werden lassen, und jetzt war sie es, die mit den Fingern Hand und Handgelenk ihres Gefährten umschloss.
„Aber das ist nicht von Bedeutung“, kam es schließlich von Hadan. Ein leichtes Lächeln, wenn auch freudlos, huschte über seine Züge. „An den Ufern der Kanäle beginnen die Verbrennungsriten. Ich muss zurück.“ Er sah die Frauen der Reihe nach an.
„Ich gehe mit“, sagte Ifrah. Sie würde ohnehin nicht schlafen können.
Eya blickte zu Boden.
Ihr Gefährte schien ihre Verfassung zu ahnen und neigte sich zu ihr, damit sie sich nicht im Zögern verbergen konnte. „Komm mit“, hörte Ifrah ihn leise, aber bestimmt sagen. In der Gesellschaft der anderen Menschen im Raum konnte das Paar keine Worte wechseln, die nicht für dritte Ohren bestimmt waren, und so schwieg die Assassine, schwankend zwischen Widerstreben und halber Überzeugung. Nach einem ermunternden Wort von Ifrah ließ sie sich endlich bewegen, mitzugehen.
Auf den Straßen war es unverändert lebendig.
Langsam, mit Kerzen oder anderen Lichtern, wanderten viele Menschen durch das Häusermeer dem künstlichen See zu.
Dort angekommen, blickte man auf ein verändertes Ufer. Wo sonst seine steinerne Begrenzung gerade und frei um den See lag, waren jetzt Dutzende um Dutzende Scheiterhaufen errichtet. Die Menschenmassen hielten respektvollen Abstand dazu, nur Einzelne – Priester mit ihren Helfern – umgingen die Holzstöße, die teils noch mit Öl besprengt wurden, teils schon lichterloh brannten, oder knieten betend davor. Rauch verbarg die Heilige Stadt. Verwischt, fern, schaute sie zwischen Schwaden und Lichtern hervor.
Der Gestank war immens, selbst wenn die Verrichtenden der Verbrennungen sich mühten, ihn mit Harzen und Duftwassern zu mildern.
Ifrah störte es wenig. All das lässt sich wieder abwaschen. Sie und ihre Gefährten trugen immer noch das fleckige Unterzeug des Kampfes. Gelegenheiten zum Waschen hatte es im Chaos der Stadt noch nicht viele gegeben. Und so waren die Hunderte Menschen ein uneinheitliches Bild aus rituellen Gewändern, Rüstungen und einfacher, verschmutzter Kleidung.
Vor einem großen Haus in der Nähe gewahrte die Magierin Menrad.
Er stand mit den verbliebenen Paladinen da, fünfzehn Männern vielleicht noch. Sie verfolgten die Riten aus der Distanz, geduldig, mit ruhigen Gesichtern.
Flüchtig hoffte Ifrah, dass Kurast sich der langen Zeit des Einvernehmens zwischen seinen alten Obersten und den Lichtkriegern erinnern und ihnen gestatten würde, ihren Orden aus seinen östlichen Ruinen wieder unter den zahllosen anderen Kulten aufzubauen.
Hadan verließ die Frauen für eine Weile. In der stickigen, rauchigen Nacht, in den getragenen Gesängen der Priester, ging er mit einer Fackel zwischen einer Reihe von Scheiterhaufen hin und her, auf denen die gefallenen Nekromanten ruhten.
Das Ufer schien in Brand zu stehen. Die Feuer würden lange die Nacht erhellen, und die Asche der Toten würde man in die Wasserarme Kurasts kippen. Bei den zuerst entzündeten Scheiterhaufen war es bereits soweit. Priester streuten die grauen Überreste in den See, und sofort wurden neue Tote auf das Holz gelegt. Die Tempeldiener warfen Blumen hinterher, wo die Asche versank oder auf der lichtgesprenkelten Oberfläche trieb.
Als Hadan zurückkehrte, hielt er den Frauen etwas hin. „Wenn ihr wollt“, sagte er. Im Schein der Feuer sah man die Blutflecken auf seinem Hemd und die Wunden in seinem Gesicht jetzt deutlich.
Die Blüten wirkten seltsam in den mitgenommenen Händen der Gefährten. Zwischen anderen Menschen, darunter vielen, denen sie noch vor Stunden vielleicht nicht hätten trauen dürfen, traten sie ans Ufer.
Als sie die Blüten ins Wasser warfen, war Ifrah sich sicher, dass sie in diesem Augenblick, jeder für sich, nicht nur die gefallenen Krieger ehrten, sondern auch von etwas Abschied nahmen.
Stunden danach, auf dem Weg zurück zu ihrer Unterkunft, erstand Hadan an einer Garküche eine gefüllte Kupferkaraffe.
In völligem Einverständnis betranken sie sich an diesem Abend, zusammensitzend im Halbdunkel des Raumes. Der Alkohol machte sie nicht gelassener, eher nachdenklicher, doch nach einer Weile, in der sie einfach die Gesellschaft der Anderen als Trost empfanden, ohne viel zu sprechen, fühlte Ifrah, dass sie endlich würde schlafen können.
Auf der Seite liegend, war das Letzte, was sie sah, Hadan, der an die Wand gelehnt dasaß und sinnend ins Dunkel starrte. Der Kopf der Assassine lag in seinem Schoß.
Ifrah schlief ein und träumte von Maysan.





Die Aufräumarbeiten hatten sich die ganze Nacht über hingezogen, und auch jetzt, am ersten Morgen nach dem Fall von Travincal, dauerten sie an.
Es wird lange brauchen, bis hier wieder Ordnung einkehrt. Menrad schritt durch die überfüllten Straßen.
Eine Reihe großer Häuser unweit der Hafenanlagen beherbergte, was man als das Hauptquartier des Angreiferheeres bezeichnen konnte.
Ein Heer war es indes nicht mehr zu nennen.
Unzählige waren gefallen, Pundarkrieger, seine eigenen Brüder, Bewaffnete aus allen Teilen des Landes. Von den seltsamen kleinen Männern der fernen Insel Mandjab war nur noch ein Häufchen übrig. Und nur ein Dutzend der langgliedrigen, schweigsamen Kämpfer aus der Sibhawüste würde in seine Heimat zurückkehren.
Ihr Stolz und ihr Mut im Kampf, und jetzt ihre ungeheuren Verluste, machten es schwer, sie noch als Wilde zu sehen. Wiederum war der Paladin innerlich, zwischen Verwirrung und verbliebenem Hochmut, halb gelähmt über die bröckelnden Pfeiler seiner Weltsicht gebeugt. Ich bin hilflos, hatte er sich eingestehen müssen. Hilflos wie die anderen hier. Es geschieht zu viel und zu rasch. Mit oftmaligem Ärger, nun aber zunehmend auch mit einem Gefühl wachsender Traurigkeit, musste er die irritierten Regungen seines Herzens gewähren lassen. Seit dem Ende des Kampfes war er mehrmals so müde gewesen, dass es ihn danach verlangt hatte, sich waffenlos zwischen die Säulen eines Tempels zu setzen.
Es schien fast ein Hohn, dass er wieder Trost im Gebet fand. Doch betete er jetzt anders als früher, ohne sagen zu können, auf welche Weise anders.
Als einziger Sinn alles Erlebten seit seinem Aufbruch aus Shanghar drängten sich Gemeinsamkeiten hervor, in denen er Altes, fest Geglaubtes nicht wiederfinden konnte, und sie boten ihm keinen Halt.
Menschen, die ihn anrempelten, sich hastig bei der ehrfurchtgebietenden Gestalt des heruntergekommenen Lichtkriegers entschuldigend, holten Menrad aus seinen Gedanken zurück.
Mit einem Ruck zog er den Gürtel fester, an dem der schwere Kampfhammer hing.
Das behelfsmäßige Hauptquartier war in Sicht gekommen. Dort, so hieß es, hatte man unter anderem Kunde nicht nur von den eingetroffenen Schiffen aus Pundar, sondern auch von Seglern aus dem Westen. Paladine waren nicht an Bord, doch er hoffte, Neuigkeiten aus der Besatzung herausbringen zu können, und war darum an diesem Morgen eilig dorthin aufgebrochen. Dass der Westen immer noch keine Verstärkung für seine bedrohten Missionen schickte, ließ nichts Gutes ahnen.
Männer, ein buntes Leutegemisch, nickten ihm teils erkennend zu, als er sich durch die Gruppen vor den Gebäuden einen Weg in das größte Haus bahnte. Flüchtig gewahrte er vor einem nahen Tempel die unverkennbare Gestalt des Nekromanten. Auch Hadan war unablässig unterwegs, um die schwierige Lage der Stadt und die Versuche, eine neue Obrigkeit einzusetzen, mitzuverfolgen.
Als Menrad nach einer Weile den überfüllten Raum wieder verließ, nahm er das Gedränge nur noch schattenhaft wahr.
Die Schiffe hatten Händler befördert, Begleiter des Warenaustauschs zwischen den Kontinenten. Ihre Sicht auf die Dinge war lückenhaft, doch durch die Gespräche mit mehreren ergab sich ein Bild, bei dem Menrads ganzes Selbst augenblicklich über die Weite des Meeres hin zu den Gestaden seiner Heimat flog.
Ich muss hinüber.
Im Westen herrschte Krieg.
Den Berichten nach war Fadraîs an mehreren Fronten in Auseinandersetzungen mit dem Norden und dem Süden verwickelt, und Truppen überzogen das Land mit Kämpfen.
Es hieß nicht, dass die alte Königsstadt angegriffen worden sei, oder zumindest bislang nicht. Eher schien sie Männer in Gebiete zu senden, in denen Verhandlungen mit den Einheimischen in Kämpfe umgeschlagen hatten. Aber Kämpfe um was? Verhandlungen um was? Das hatte ihm niemand sagen können, und die Unwissenheit der Befragten war echt, keine bloße Angst vor der Reaktion eines Bruders des Ordens, um den es ging. So weit vertraute Menrad seiner Menschenkenntnis noch.
Stillstehend, aber innerlich rastlos, dass es ihn drängte, sofort auf dem erstbesten der Schiffe anzuheuern, die zurücksegelten, stand er zwischen den Menschen.
Sein Schicksal, sah er jetzt, war keine Laune des unergründlichen Himmels, sondern an viel größere Ereignisse geknüpft. Alle Unterredungen mit seinen unfreiwilligen Gefährten fielen ihm wieder ein. Sie erlebten eine Zeitenwende.
Hier, im Osten, konnte nicht einmal ein Mann wie der Nekromant, der dem Gefüge dieses Weltteils zutiefst verbunden war, Ursprung und Richtung der Ereignisse völlig enträtseln. Und er, Menrad, der bis vor einem oder zwei Jahren alle Entwicklungen im mittleren Westen in Sinn und Blut getragen hatte, wusste nicht mehr, was drüben vor sich ging. Und es liegt nicht allein daran, dass ich zu lange fort war.
„Paladin“, sprach ihn jemand von der Seite an. Er schrak zusammen.
Die Assassine stand neben ihm, ihre schwarze Rüstung unter einheimischer Kleidung halbwegs verborgen. Sie wirkte weniger versteinert durch die Schrecken der Schlacht, stattdessen wachsam, gesammelt.
„Wir bereden, was als Nächstes geschehen soll“, sagte sie. Ihre schwarzen Augen streiften die Menschen ringsum beiläufig, doch entging ihr wenig, vermutete Menrad. „Wollt Ihr hinzukommen?“
Sein Zögern, das seiner Ruhelosigkeit entsprang, mochte sie als Zweifel über den Sinn einer solchen Besprechung missdeuten, denn sie fügte hinzu: „Vielleicht hört Ihr etwas, das auch Euch einem Entschluss näher bringt.“
„Geht nur vor“, murmelte er nickend.
Oben auf der Treppe des Tempels standen die Anderen zusammen. Alle machten ernste Gesichter, doch die Blässe der Magierin sprang geradezu ins Auge.
„Menrad“, grüßte ihn der Nekromant. Im Gegensatz zu seinen Begleiterinnen trug er offen Rüstung und Waffen, seine Dolche und auch ein Kurzschwert. Ihm half Verkleidung wenig gegen Misstrauen und möglichen Hass der uneinigen Bevölkerung. Sein Äußeres ließ sich schlecht durch ein paar Alltagssachen verstecken. „Ihr habt die Neuigkeiten aus dem Westen ebenfalls vernommen?“ Dem Tonfall nach war es eher eine Feststellung als eine Frage.
Menrad nickte. Seine Besorgnis in scheinbare Nüchternheit zu kleiden, misslang ihm unter den forschenden Augen der Abenteurer. Sie bemühten sich, ihn nicht zu erwartungsvoll anzusehen, spürte er, aber seine Meinung galt viel, nun da die Nachrichten aus Übersee den allerorts herrschenden Unfrieden stärker ins Licht rückten.
„Was haltet Ihr davon?“ Der Nekromant fixierte ihn.
Bevor Menrad antwortete, traf ihn der Gedanke, dass die drei Menschen vor ihm Fadraîs, die ferne, schöne, befestigte Stadt, nicht als Ansammlung der Gassen ihrer Kindheit kannten und auch nicht als Verwalter einer Ordnung, in der sie geduldet wurden.
„Ich weiß es nicht“, sagte er steif. „Ich bin mit den Zielen des Ordens nicht mehr allzu vertraut.“ Schweigend, ohne Wertung, wurde sein Eingeständnis aufgenommen. Noch vor wenigen Monaten hättest du dich eher steinigen lassen, als dies zuzugeben. „Aber wenn die Berichte von den Truppenbewegungen und Unruhen stimmen, muss es völlig neue Order aus Fadraîs geben“, fuhr er fort. „Welche Order, entzieht sich allerdings meiner Vorstellung.“
Sie alle indes wussten, was eine Ausweitung kriegerischer Aktivitäten in den Norden und den Süden hinein bedeuten musste.
Lange hatte die dortige Ordensgesellschaft in halbem Frieden mit den Nordvölkern gelebt, den Barbaren und den Nachkommen der Druiden, und im Süden die Magierschulen zwar überwacht, doch nicht mit Waffengewalt bedrängt. Ein Gleichgewicht aber gab es nicht, geschweige denn eine Einigung. Zu tief war die Kluft zwischen Vorstellungen über das rechte Leben, die Ordnung des Landes und Glaubensdinge.
Nun schien der Westen in Aufruhr.
„Beunruhigend ist“, meldete sich die Assassine zu Wort, „dass sich in den Aussagen der Leute kein Ereignis finden lässt, das die Unruhen eingeleitet haben könnte. Wenn keine Stadt angegriffen wurde, muss es sich doch um viele einzelne Vorfälle handeln, welche die Menschen gegeneinander aufbringen.“
Nicht zum ersten Mal ertappte sich Menrad dabei, dass er die geistige Beweglichkeit der Attentäterin nicht ungern sah. Man konnte bei diesen beiden Frauen fast meinen, mit Gleichrangigen aus einer Truppe zu sprechen.
„Die Händler berichten von uneinheitlichen Auseinandersetzungen“, kam es von Seiten des Nekromanten, „aber schwerer wiegt in meinen Augen noch, dass sie behaupten, Grausamkeiten mitangesehen zu haben. Dinge, die sie sich nicht erklären konnten. Einige von ihnen sind selbst angeblich knapp dem Tode entronnen.“
„Wie viele Menschen hier“, warf die Magierin leise ein.
„Der Krieg ist immer erbarmungslos“, sagte Menrad ohne echte Überzeugung.
„Wahr“, der Nekromant sah den Paladin fest, aber auch auf eine suchende Art an. „Aber es gibt einen Unterschied zwischen dem Unvermeidlichen und unnötiger Grausamkeit.“
Menrad spürte die Unrast wieder, diesmal so heftig, dass sie ihm nachgerade die Luft abschnürte.
Ein leichter Wind ging aus der Richtung des Hafens. Kurast hing noch als Gewicht an ihm. Cedric. Basruth. Chana. Ihre Leichen sanken in den zertretenen Riesenleib des Kontinents, ohne Würdigung ihrer Standhaftigkeit, ohne Beachtung ihrer Versuche, Brücken zwischen Fremden zu schlagen.
Er konnte das schmerzhafte Brennen in seiner Kehle nicht unterdrücken und sah zu Boden, den Hafenwind im Haar. Die Sonne schien heute viel zu hell.
„Ich muss hinüber“, sagte er dann zu niemand Bestimmtem. Wieder aufsehend, fuhr er fort: „Eine Handvoll meiner Brüder, Männer aus dieser Gegend zumeist, wird hier ausharren.“ Die halbe Nacht lang, zwischen dem Scharren in Asche und der Schlepperei von Steinen, hatten die wenigen Paladine beschlossen, wer von ihnen, wenn auch mit wenig Hoffnung, welche Aufgabe übernehmen sollte.
„Eure Entscheidung gemahnt auch uns daran, dass wir eine Wahl treffen müssen“, sagte Hadan. Ein kaum merklicher Seitenblick streifte die Magierin, die der Unterredung bislang beigewohnt hatte, ohne mehr als ein paar Worte zu sprechen.
Sie schauderte jetzt zusammen. Die ungewöhnlichen Augen der Frau waren verdunkelt, und anders als meist wirkte sie nun klein und verloren. Den mitfühlenden, ernsten Blicken ihrer Gefährten wich sie noch kurz aus, um dann den Widerstand gegen einen Ausbruch ihres Dilemmas aufzugeben.
„Was soll ich bloß tun?“ sagte sie leise. „Unser Weg führt nach Westen, das sehe ich wohl, und ich habe dort ebenfalls eine Heimat, die mir am Herzen liegt. Aber ich kann doch mein Kind nicht allein im Süden lassen.“
„Eine Gruppe von Pundarkriegern und Männern der Tempel reist morgen zurück in den Süden.“ Hadan legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Du kannst dich ihnen anschließen und mit Maysan dort bleiben oder eine der Schiffspassagen nehmen, die Pundar plant. Es wird Segler geben, die nach Dâurdh oder sogar nach Lut Gholein Fahrt aufnehmen. Der Sohn des Fürsten will Erkundigungen über die Lage an den Westufern einziehen. Von dort aus gibt es auch einen Weg in den mittleren Westen oder in die Wüste.“
„Doch bis dahin seid ihr schon weit fort.“ Die Stimme der Magierin schwankte. „Wie soll ich euch in den Kriegsgebieten wiederfinden?“
Alle Anwesenden schwiegen.
Dann hörte Menrad sich selber sprechen. „Vielleicht kann ich helfen. Einer meiner Ordensbrüder hat neben mir als einziger Westmarschener die Schlacht überlebt. Es ist abgesprochen, dass er sich Pundars und Baraidhas Zusage über die Duldung unseres Ordens im Osten versichert und dann folgt, so rasch er es vermag.“ Der von Sorge umschattete Blick der Magierin heftete sich auf sein Gesicht. „Mein Rang gestattet es mir, Aufträge zu verteilen“, fuhr er fort. Auch wenn dies lächerlich anmutet bei den Wenigen, die wir noch sind. „Der Mann ist gut und zuverlässig. So Ihr wollt, Ifrah, wird er eure Tochter aus Pundar mitnehmen und über das Meer bringen, an jeden Ort, der Euch im Westen sicher scheint und der nicht zu weit ab von seinem Weg liegt.“
Ohne eigenes Zutun fast hatte sein Angebot den Paladin verlassen. Jetzt begegnete er, bei aller Strenge unsicher, ausgerechnet Hadans Ausdruck. Mit neuem Ernst schien er den Lichtkrieger zu betrachten, ohne die unsichtbare, frische Erschütterung der Fremdheit zwischen diesem und der Gruppe durch ein Wort zu stören.
„Das würdet Ihr tun?“ Ifrah atmete zitternd ein.
Sie zögerte, sah Menrad klar. Bei aller Einsamkeit, die das Gelübde eines Paladins bedeutete, der nicht fest in einer Stadt lebte und eine Erlaubnis zur Familiengründung erhielt, neidete er der älteren Frau ihre zusätzliche Verantwortung nicht. Er konnte ihr nur sein Schweigen als Zusicherung geben, dass es ihm ernst mit seinem Angebot war.
Er hatte ihren Wert für die kleine Gemeinschaft mehr als einmal gesehen. Jenseits seines tiefverwurzelten Misstrauens gab es, ob er es wollte oder nicht, eine Empfindung der Verpflichtung diesen Menschen gegenüber, ein Band aus gegenseitiger Hilfe und Errettung aus misslichen Situationen.
Die Gefährten warteten ab, wie Ifrah sich entscheiden würde.
Schließlich, wenn auch widerstrebend und sichtlich zerrissen, nahm sie an. „Lasst mich mit dem Mann sprechen, dann will ich mich endgültig entscheiden.“ Eine tiefe Sorgenfalte hatte sich in ihre Stirn gegraben, und im unbarmherzigen Licht zeigten sich Tränen in ihren Augen.
„Ihr findet ihn bei der großen Karawanserei nahe des Basars“, sagte Menrad.
Steif und schweigend stand die Magierin unter den Gefährten. Dann zog sie ihr Stoffoberteil zusammen, als fröre sie, obwohl es warm war und immer stickiger wurde.
„Soll ich dich begleiten?“ Die Assassine war neben sie getreten.
Die Ältere schüttelte den Kopf. „Nein. Ihr müsst ein Schiff für uns finden. Es gibt noch so viel zu tun. Ich will mir den Mann, Euren Bruder“ – ihr Blick ging zu Menrad – „nur ansehen.“ Bei den letzten Worten brach ihre Stimme. „Ich danke Euch, Menrad.“
Hastig wand sie sich aus dem kleinen Kreis der Dastehenden und ging die Tempelstufen hinunter. Sie sahen zu, wie der Menschenstrom auf der Straße sie in sich aufnahm.
Eine Bewegung neben sich ließ Menrad zur Seite blinzeln. „Lass sie“, hörte er den Nekromanten leise zu der Assassine sagen, die Anstalten machte, der Älteren hinterher zu eilen. „Lass sie etwas allein sein.“
Hiernach wandte er sich wieder Menrad zu. „Unser Weg wird also noch eine Zeitlang derselbe sein, Paladin. Länger in Kurast zu bleiben, wenn wir nicht ganz bleiben, ist weder uns noch der Stadt von Nutzen. Wenn Ihr also gestattet, folgen wir Euch in den Westen.“
Es war keine Bitte um Erlaubnis, nur eine Höflichkeit. Dennoch nickte Menrad, gestrafft, fast soldatisch.
Auf seine Frage hin, welchen Plan die drei Anderen für den Zeitpunkt nach der Überfahrt hätten, äußerten sie, dort durch vorsichtiges Umhören zunächst mehr über die Schauplätze und die Art der Konflikte herausfinden zu wollen, so das Glück ihnen gewogen war. Ebenso wie er hielten sie es mit Santére als anzulaufender Küstenstadt, nicht mit dem südlicheren und größeren Lut Gholein.
Santére war der Haupthafen für den Handelsbetrieb zwischen dem mittleren Westen und dem Osten, ein Knotenpunkt vieler Wege und ein Ort vielfältigen, sich immer wandelnden Betriebs. Fadraîs hatte dort nie jene Übersichtlichkeit in das bunte Kommen und Gehen zu bringen vermocht, die in anderen Städten seines Einflussbereiches herrschte.
Nun würde eben diese Unordnung sie vielleicht schützen. Unter Händlern, Reisenden von allen Küsten rings um das Mittlere Meer, Söldnern und zwielichtigem Volk würden ein paar weitere Gestalten wie die ihren nicht auffallen.
Menrad gab an, baldmöglichst nach Fadraîs gehen zu wollen. Hier hielten sich seine Schicksalsgefährten jedoch zurück. Ihr Interesse galt, wie er nun hörte, neben dem Erkunden der Lage im Westen noch einem anderen Ziel. Sie suchten einen einzelnen Mann, das vierte Mitglied ihrer Gemeinschaft aus den Zeiten ihres Kampfes gegen die Übel des vergangenen Jahres.
„Ihr wollt einen einzigen Mann im Westen finden?“ Menrad konnte sein Erstaunen nicht verbergen.
„Ohne viel Hoffnung.“ Nachdenklich schlug der Nekromant die Augen nieder. „Wir haben seine Spur schon vor langem verloren, und wenn er die Gebiete seiner Geburt verlassen hat und weit in andere Teile der Welt gewandert ist, werden wir ihn kaum wiedersehen. Bevor wir uns hier in Kurast trafen, sandte Ifrah einen Brief in die Gegend, in der wir ihn zuletzt vermuteten, doch es ist wenig wahrscheinlich, dass er ihn je erhielt.“
„Wer ist dieser Mann? Jemand von Rang?“
„Nicht in den besiedelteren Gebieten“, antwortete Hadan, und dann, nach einer kleinen Pause, in der seine bleichen Augen Menrad prüften: „Ein Hochlandbarbar aus dem Norden.“
Als er Menrads Befremden bemerkte, hob er eine Hand. „Gewiss gehört er nicht zu den Gegnern Eures Ordens, Paladin. Er ist ein ehrenhafter Mann, so Ihr mir diese Einschätzung zutrauen wollt, und uns ein Begleiter von unschätzbarem Wert gewesen. Er ist jung und hat im Kampf gegen die Feinde aller Menschen viel verloren.“
Doch der Paladin war seiner unwillkürlichen Regung, die ihm selbst mehr Unbehagen als innere Festigkeit brachte, bereits wieder Herr geworden. Ein Mann aus anderen, wilderen Weltteilen musste noch kein Gegner sein.
Wiederum erschien es wie ein Hohn, dass eben der Wandel der Zeit, in dem Fadraîs von allen Menschen außerhalb seiner hehren Ideale abrückte, das Denken über diese Anderen herumwälzte und alter Festigkeiten beraubte.
Sie kamen überein, Vorbereitungen für ihre Überfahrt zu treffen und sich dann wieder zusammenzufinden, wenn der Abend nahte.
Als sie den Ort ihrer Besprechung verließen, drang die Unordnung der Straßen wieder zu Menrad durch.
„Wir lassen eine ungesicherte Stadt zurück“, sagte er im Gehen zu dem Nekromanten, der das Gewühl unablässig beobachtete. Diesem musste es nicht leicht fallen, Kurast den Rücken zu kehren, das jeden Augenblick in neue Ränkespiele oder einen Bürgerkrieg stürzen konnte, uneins unter dem Bann nicht gemilderter Unruhe und Zerstrittenheit.
„Wir können hier nichts mehr tun“, gab Hadan zurück. Kurz konkurrierte offene, wenn auch leise Verachtung auf seinen Zügen mit etwas anderem. Etwas wie Schuldbewusstsein., ging es dem Paladin auf. „Wir haben nur einen Sturm losgetreten, der später oder anders, aber unvermeidlich erfolgt wäre. Sobald sie sich wieder aufgerafft und an das Alte erinnert haben, wird unser Einfluss schwinden, und die Zügel haben längst Andere in die Hand genommen.“
Flüchtig erwog Menrad, den Anderen zu fragen, was er für das Beste für seine Heimat hielt. Was würdest du tun? Wen würdest du einsetzen, hättest du die Macht dazu, wen, um dieses überquellende, chaotische Land zu beherrschen?
Ein Trauerzug kreuzte ihren Weg, und mit der Erinnerung an die zahllosen toten, zerstörten Gesichter der vergangenen Nacht ging sein Geist zu seinen gefallenen Brüdern zurück, und von ihnen aus hinaus auf das Meer, und der Gedanke riss ab.
Die Stadt stank.
Der Dunst der Leichenfeuer, die immer noch am Ufer des Sees von Travincal brannten, hing in den Straßen. Selbst nachts, wenn man sich schlafen legte und zuvor gewaschen hatte, kam er wieder und haftete in Haar und Kleidung, und kein Feuer dieser Welt hätte den Totengeruch auszumerzen vermocht. Und es war Hitze gekommen, die aus einem bleiernen Himmel herabsackte, an dem sich riesige Gewitterwolken ballten. Der frische Schweiß bei allen noch so kleinen Verrichtungen brannte in den Verletzungen und auf der wunden Haut.
Bei allen zurückgelassenen, noch nicht überstandenen Erinnerungen, bei allen offenen Fragen und Befürchtungen, die das Innere an den gewaltigen, aufgerissenen Leib des Kontinents banden, ob man ihn nun liebte oder nicht, würde das offene Meer eine Erleichterung sein.





Am folgenden Mittag betraten Reisende eines der großen Schiffe, die im Hafen zu Kurast lagen.
Es waren gut hundert Passagiere, die der damit fast überladene Segler aufnahm – Händler und ihre Helfer, doch auch Männer mit unbekannten Aufträgen und vereinzelte Flüchtlinge.
Ablegend, langsam, schob sich das Schiff unter dem Geschrei von Besatzungsmitgliedern, die in der Takellage herumkletterten und von den Seiten aus mit den Besitzern kleiner Boote schimpften, durch Dschunken und Kähne, zwischen denen verdrecktes Wasser schwappte.
Als der offene Arivati erreicht war, hatte die Besatzung den Reisenden ihre Plätze zugewiesen, und das Deck war voller Menschen, die die Fahrt zwischen den Säumen des Urwalds nutzten, um an der Reling zu stehen. Im Knarren der Taue, sich an die leise Bewegung des Decks gewöhnend, das für die Dauer von zwei oder drei Wochen den Boden ihres Lebens bilden würde, reihten sie sich palavernd an den Seiten auf.
Schmale Fischerboote wichen dem segelnden Ungetüm aus, das Platz für seine Ruder brauchte, solange der stärkere Wind der offenen See noch fehlte.
Auch Eya stand an der Reling, nahe des Hecks.
Ein Rundgang hatte ihr die nötigen Einschätzungen vom Aufbau des Gefährts und von den Mitreisenden verschafft, und jetzt verhielt sie hier, unter anderem Volk, in leisem Abstand zu den Menschen und seltsam ins Bild der vorübergleitenden Flussufer versunken.
Ein Jahr.
Eine lang zurückliegende Nacht kehrte wieder.
Ifrah war, in bunte, etwas fadenscheinige Reisekleidung gehüllt, vorne am Bug. Der Paladin sprach unweit von der Assassine mit einem der drei Steuermänner. Aber für diesen Augenblick war die Nähe ihrer Gefährten ihr verwischt, nur eine sachte Quelle der Sicherheit.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, dann ein Arm um sie, und bevor sie seine Gegenwart ganz begriffen hatte, war Hadan neben sie getreten und zog sie an sich. Beide trugen sie keine Rüstungen mehr. Sie spürte seinen Körper durch den Stoff ihrer Kleidung.
Von der Seite her sah sie in sein Gesicht hinauf.
Er blickte nach Westen, wo über dem Saum des Urwalds und fern über der noch unsichtbaren See die Sonne ihren höchsten Stand bereits wieder zu verlassen begann. Kurast sank hinter ihnen in die Umbettung des Ostens, verschwunden schon seit einer Weile. Nur Siedlungen im Uferwald und Boote gemahnten noch an die Nähe der großen Stadt.
Hatte er lange zurückgeschaut auf den Ort, an dem ihm so viel lag?
Eya erinnerte sich an seine Worte im Halbdunkel ihrer letzten Unterkunft. Er hatte Travincal nicht wieder betreten. „Bist du nicht traurig“, fragte sie leise, „Kurast zurücklassen zu müssen?“
Er sah zu ihr hinab, Ströme tieferer Regungen auf den Zügen, die er nur ihr unverhohlen zeigte. Dann kehrten seine Augen auf das Ufer zurück. „Nein“, sagte er. „Sein Geschick wird mich nicht loslassen, solange ich lebe, aber traurig? Nein, Shatryindjah.“ Unmerklich beinahe verändert sich sein Tonfall, verlor an Munterkeit. „Einst dachte ich, dort leben zu wollen, mit dir, irgendwo an seinem Rand. Aber jetzt nicht mehr. Es wurde zu einem hohen Preis aus einer halben Sklaverei zurückgekauft, und er wird mit der Zeit vielleicht in Vergessenheit geraten, doch nicht für mich.“
Unsicher, wie sie ihrem Wunsch, ihm Trost und Mut zu spenden, Ausdruck verleihen sollte, schwieg sie und verschränkte ihre Finger mit seinen.
„Und warum sitzt du hier auf der Reling und regst dich nicht, schwarzer Vogel?“ fragte er dann und sah lächelnd auf sie herab.
Sie drückte sich behutsam an ihn, plötzlich erschauernd, und wich seinen Augen aus. „Ich dachte zurück“, entgegnete sie, „an die Zeit... vor einem Jahr.“ Zum ungezählten Male empfand sie den Wunsch, sich in ihn hineinzukauern, dass er sie ganz und gar umgebe, jetzt wieder ohne den Schrecken ihrer letzten Auseinandersetzung. „Das war fast dasselbe Bild... derselbe Fluss, die gleiche Fahrtrichtung. Ich wusste nicht, ob ich dich je wiedersehen würde. Ich war allein.“
Hadan legte den anderen Arm um sie, hinter sie tretend, so dass sein Kinn ihre Schläfe berührte. „Aber jetzt nicht mehr.“
Nun konnte sie sein Gesicht nicht mehr sehen, nur die Sonne am endlosen Himmel über dem Dunst des Kontinents, und in seiner engen Umarmung atmen.
Sie war gestürzt, gelandet, und endlich frei.





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....omg... ein Up ohne Forenbug... dass ich das noch erleben darf o_0
 
Hi Reeba!


Wollte mich auch mal wieder melden!

Nur sind mir die Worte abhanden gekommen!Bin einfach nur sprachlos!
Finde es super wie du die gefühle und zweifel der gefährten rüber bringst!

Hoffe das es noch weiter so spannent weiter geht!

stelle mich jetzt erstmal auf da ungeduldige warten auf das nächste up ein :cry:

Gruss Atera
 
*drückt sich ne Träne aus dem Gesicht*

Das war mal wieder spektakulär geschrieben...........................................

Finde es super das du wieder zu deinem "alten" Schreibstyl zurückgefunden hast und nicht mehr so kompliziert am schreibseln bist wie in ein paar Kapitel davor............................hatte zumindest den subjektiven eindruck das du die letzten Upps davor einfach alles zu sehr komplizierst hast[rein vom Styl nicht vom Inhalt)................................................................................................

Hoffe mal das hält auch an *zwinker* und das wir im Neuen Up...........das wäre dann das sagenhafte 32zigste "Kapitelchen": Das wir da mal auf unseren Barbar zusprechen kommen......................irgendwie hat man ihn schon einwenig vermisst und es lockert die Story auf jedenfall wieder ein wenig auf ...........................die letzten Schilderungen zogen sich meines eigen Empfindens nach ein wenig zu lange hin, ich sage ja nichtdas es nicht schlüssig/nicht vertretbar oder irgendwas in der Form war das Thema nicht so ausführlich zu behandeln wie du es eben herausgestellt hast, aber NE KLEINE UNTERBRECHUNG UND UMSCHWENKEN AUFEN BARB WÄRE MAL ANGEBRACHT*grinz*!!

Aber ehrlich gesagt das hab ich jetzt auch irgendwie angenommen..........da wir ja nun eigentlich erstmal fertig sind in Kurast................guter Abschluss um nen neuen Einschnitt mit was anderem zu machen!

Mfg Chaos
 
oha krass krass ^^

ich glaub das is der längste beitrag den ich je gesehen hab ^^
nur bin ich immer so faul und hab kb die zu lesen , gerade erst um fast 3 uhr nicht ^^
vielleicht halt morgen oda so...

aba gz für die gedult so viel zu schreiben :D
 
Die Ruhe nach der Schlacht fand ich gut. Das ist die Ernüchterung nach der Schlacht, wenn die Gedanken wieder frei fließen können.
Da bekommt der Ordensbruder ja eine Aufgabe, um die ihn niemand beneidet. Ein Kind durch ein von Bürgekriegen zerrissenes Land über eine solch weite Strecke zu bringen.
Auf ein Wiedersehen mit der Druidin freue ich mich jetzt schon. Marej strahlt noch am meisten Lebensfreude aus.
 
hallo, ich wollte nur, wie mitlerweile schon üblich, danke sagen.

Ich freue mich auf die weitere entwicklung. der labile frieden im osten und die ausbrechenden grausamkeiten im westen bieten ein großes potential für die weiterentwicklung. ich traue dir zu dieses auszuschöpfen und, wie gesagt, ich freue mich drauf.

Gruß, Helldog
 
Hi,

wyso hab ich diese bloede geschichte nicht erst in 1 2 monaten gefunden??!! :cry: Jetzt muss ich auch ungeduldigst warten wies weiter geht *grrrrrrrrrr* als gieriger schnellleser hasse & liebe ich solche Geschichten, aber es macht mich narrisch darauf zu warten wies weitergeht *argl* :wand:


@ reeba: ganz ganz gang ganz grossartige geschichte :) konnt mich in den letzten tagen gar nicht davon losreissen :) Stilistisch wunderbar und die charaktere so einfuehlsam ausgearbeitet.... selten eine geschichte gelesen die so fesselnd, romantisch, grausam, lustig, mitreissend, ... *mir fehlen die worte* ... ist :top:

lass dich ja nicht von kleinkartierten wortglaubern einschuechtern aus denen sicher nur der blanke neid spricht ;) .. wenn wir grad bei kleinkartiert sind hab ich da vielleicht auch ne klitzekleine kleinigkeit anzumerken... in dem kapitel wo ifrah von der flusschlange erwischt wird basteln ihre kameraden ne "bahre" zusammen... nuja... den ausdruck "bahre" verwendet man nur fuer tote :/ .. verletzte traegt man auf einer "trage" :rolleyes:

... und ausserdem will ich auch mal wieder hoeren was mit dem tapferen einhaendigen barbaren passiert und mit seiner druidin .. und sowieso und ueberhaupt will ich sofort die fortsetzung lesen :cry: :angel:

also danke noch mal fuer die tolle geschichte & ich froy mich schon drauf zu lesen wies weitergeht :kiss: tigerle
 
Danke für eure Kommentare, ihr Lieben :)
Dass jetzt auch das tigerle zur Leserschaft gehört, freut mich riesig.
Um so mehr werd ich mich um eine schnellstmögliche Fortsetzung bemühen (aber irgendwann muss der Mensch ja auch Brötchen verdienen).

Zu Urel: keine Sorge, den seht ihr bald wieder.
 
Urel? Ja? Wann denn? *hechel*

Ich weiß noch gar nicht recht, was ich schreiben soll - bin noch ganz gefangen in den Gedanken deiner Helden.
Das Kapitel hat mich irgendwie traurig gemacht. Der Sieg ist unser... aber zu welchem Preis? ... und was wird es nützen?


Deine nachdenkliche Insidias


P.S. Na, ob die kleine Hexe sich so einfach von einem fremden Pala als Gepäck mitnehmen lassen wird?
 
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