XXXI. Nach der Schlacht
Wieder war ein Tag vergangen, ohne dass die Menschen in Kurast es bemerkt hatten.
Während die Stadt noch aus ihrer Kriegswundheit aufzuwachen versuchte, begann es zu dämmern. Die ersten größeren Arbeiten, die Verhandlungen und die Beseitigung der Gefallenen, würden im Dunkeln stattfinden.
Und wieder eine Nacht in Flammen und Rauch und ohne Schlaf.
Ifrah steckte dem diensteifrigen Chakk-Verkäufer sein Kupferstück zu und verließ den kleinen Stand, an dem sich Menschen drängten.
Es brannte nicht mehr wirklich in Kurast, doch im Dunkeln sahen die zahllosen Laternen, qualmenden Feuer und die Anzeichen der an den Ufern stattfindenden Leichenverbrennungen aus, als stünde das Häusermeer in Brand, einem Schwelbrand, der schwefelgelbes Licht auf die Gebäude und die aufsteigenden riesigen Rauchwolken warf.
Den gleich miterstandenen Kupferkessel in der Linken, ging sie die mit Gerümpel, Lagern und Menschen fast völlig verstopfte Straße entlang. Überall rasteten Leute, selbst die Stadtbewohner waren vor ihren Häusern, zu unruhig, um Schlaf zu finden. Zerstörtes Mobiliar wurde aus Fenstern gekippt, Gruppen standen zusammen, und dazwischen sah man immer wieder herumeilende Männer, Boten und Krieger oder Gesandte der Tempel, und die langsamen Trauerzüge in fleckigem, hellem Leinen.
Niemand wusste bislang die Zahl der Opfer unter der Bevölkerung, den Menschen, die nicht unmittelbar zu einem der beiden Heere gehört hatten. Es mochten fast ebenso viele sein wie aus den Kriegsparteien. Die Zerstörung der Tempel und Häuser und die grausamen Gemetzel in den Straßen hatten die Stadtbevölkerung ebenso ins Unheil gestürzt.
Wie viele der Angreifer ihren Mut mit dem Leben bezahlt hatten, war hingegen mittlerweile düstere Gewissheit. Man brauchte lediglich flüchtig zu überschlagen, wo man sie überhaupt noch in größeren Gruppen sah.
Später würde Ifrah zu den Ufern gehen und die Verbrennungsriten mitverfolgen. Erst aber wollte sie Eya und den kleinen Haufen Rastender aufsuchen, die in einem Haus in der Nähe für die Nacht untergekommen waren, und ihnen etwas zu essen bringen.
Sie beschleunigte ihren Schritt. Karren und Steinhaufen lagen herum, Menschen sahen aus den Fenstern, mit auf der Straße Stehenden redend, Frauen schleppten Wasser und Vorräte – ein bewegter, freudloser nächtlicher Markt, ein betäubtes, chaotisches Treiben.
Aufruhr zu ihrer Rechten ließ den Schritt der Magierin stocken.
Auf einem kleinen Platz herrschte Durcheinander, und die Stimmung der Gespanntheit und Bedrohung war mit Händen zu greifen. Die Menschen wirkten verängstigt. Frauen zerrten Kinder fort.
Sich an einigen Männern vorbeidrückend, erkannte Ifrah auf einen Blick, um was es ging.
Drei Männer knieten mit auf den Rücken gebundenen Händen im Staub. Einer war ein schwer verwundeter Kuraster Krieger in roten Gewändern, die nur noch in Fetzen um seinen Leib hingen. Die beiden anderen aber waren Leute aus der gewöhnlichen Bevölkerung. Auf dem Gesicht des Einen davon, der noch sehr jung schien, malte sich nacktes Entsetzen, gemischt mit verächtlicher Wut.
Ihre Bewacher und Peiniger setzten sich aus Pundarkriegern und wiederum Kuraster Bürgern zusammen. Einer der Bewacher war in einen erbitterten, schreienden Streit mit Umstehenden verwickelt.
Ohne die Szene länger als für die Dauer weniger Atemzüge verfolgt zu haben, wusste Ifrah, um was es sich hier handelte.
Eine Hinrichtung.
Wuchtig und matt blinkten gezogene Säbel.
Hastig stellte sie den Kessel ab. Mit ein paar Schritten war sie bei den Bewachern.
„Misch dich nicht ein, Frau“, bellte einer der Pundarkrieger sie an. Dann erkannte er sie augenscheinlich, und sein Tonfall änderte sich zu mühsamer Beherrschtheit. „Das geht Euch nichts an.“ Ifrah wusste, dass viele der Männer sie kannten, weil ihre Rolle bei der Erstürmung Travincals sich herumgesprochen hatte.
Der flüchtige Respekt schützte sie hier, doch weder konnte sie sich unter erregten Kriegern darauf verlassen, noch war sie vor den undurchsichtigen Übergriffen sicher, die zur Zeit allerorts in Kurast stattfanden und nur allmählich von Hauptleuten und Mittelsmännern in den Griff bekommen wurden.
Hinrichtungen hatte es bereits viele gegeben.
Zu schnell kam es dazu, zu eigenmächtig und wutentbrannt handelten die Beteiligten.
Ohne nachzudenken, hatte sie sich eingemischt und stand jetzt inmitten zornblinder Menschen.
„Die Bastarde da, shakshii“, der Mann spuckte aus und wies mit der blanken Klinge auf die Knienden, „haben sich in den Häusern versteckt und eine Patrouille hinterrücks angegriffen und abgeschlachtet. Einen Bijoodhipriester haben sie ebenfalls verwundet!“
Behutsam hob sie beide Hände und gab ihrer Stimme einen möglichst ruhigen Klang. „Was sie getan haben, wird sicher nicht ungesühnt bleiben, doch sie müssen einer allgemeinen Gerichtsbarkeit unterstellt werden. Ihr wisst doch, dass Eure Hauptleute solche Handlungen verboten haben.“
„Gerichtsbarkeit!“ Der Pundarkrieger schnaubte verächtlich. Ringsum ging ein Raunen und Reden durch die Zusehenden. „Das ist die einzige Gerichtsbarkeit, die in dieser Stadt von Verrätern etwas nützt!“ Er hob den Säbel.
Ifrah wich leicht zurück. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass bereits Männer hinter die Knienden getreten waren. In ihren Gesichtern bleckte zügelloser Hass die Zähne, Vergeltungssucht, angeheizt vom Wahnsinn des Krieges. Am Morgen würden viele von ihnen anders denken und Schuld auf sich geladen haben. Jetzt aber wollten sie nur töten.
Sie konnte nicht eingreifen, ohne ihrerseits Gewalt anzuwenden, und ändern würde es nichts, nur mehr Chaos und mehr Wut hervorrufen.
„Auseinander!“ Von hinten kam eine raue Stimme. Schritte stapften herbei. „Runter mit den Waffen!“
Ein alter, stark gerüsteter Mann schob sich in die Szenerie. Glänzende Augen fixierten den Wortführer.
„Parindra!“ Ifrah erkannte den betagten Haudegen wieder. Sie hatte nicht gewusst, dass er die Schlacht überlebt hatte, und sah ihn jetzt mit Erleichterung. Getrocknetes Blut aus einer Wangenwunde stockte in seinem Bart, aber er scheuchte die Dastehenden mit kräftigen, herrischen Bewegungen auseinander.
„Willst du deinen toten Fürsten beschämen?“ herrschte er den Anderen an. „Du Narr, ihr Narren alle! Wollt ihr diesen Bluttag noch schlimmer machen? Man wird euch wiederum vor den Kriegsrat zerren, wenn es euch nicht gelingt, euch besser aufzuführen als eure Gegner!“
Die Worte zeigten Wirkung. Immer noch zornig, aber mit der Starre des Zögerns auf den Zügen, murrten die Männer.
Der alte Kämpe wandte sich zu Ifrah um. „Ihr könnt nun gehen. Ich kümmere mich um alles. Eine Patrouille ist ohnedies hierher unterwegs.“
„Seid Ihr sicher?“ Ifrah maß die Szene mit einem angespannten Blick.
„Geht nur, geht“, und damit drehte sich Parindra wieder zu den Aufrührern.
Nach kurzem Zögern wandte die Magierin sich ab und ging zu dem Kessel zurück, der ein paar Schritte entfernt stand. Immer noch die Erregung der Menge im Nacken, aus der man nun den lauten, doch offenbar vernünftigeren Wortwechsel der Streitenden vernahm, verließ sie den Platz und tauchte in den tiefen, fleckigen Dämmer der nächsten Straße.
Als sie das Haus wiederfand, hatte sich ihr schneller Herzschlag wieder beruhigt.
Im Inneren herrschte Halbdunkel mit stillen Laternen und tieferen Schatten in den Ecken. In einem Winkel kauerte Eya inmitten der Reisesachen der Gefährten, die Knie bis ans Kinn gezogen. Männer, mehr als ein halbes Dutzend, lagen in dem Raum verteilt. Die meisten schliefen, ernst verwundet und von einem Alten mit langem Bart bewacht.
Ein Asket. Wo mag er hergekommen sein? Ifrah deutete, nicht wissend, wie sie der hageren Gestalt begegnen sollte, eine leichte Verbeugung an, als sie an ihm vorbei zum Lager der Assassine ging. Der Asket beachtete sie nicht. Unablässig murmelnd, bewegte er halb geschlossenen Auges eine Kette mit Holzperlen zwischen seinen langen Fingern. Krüge und blutige Binden waren um ihn herum verteilt. Ein Heiler, oder ein Nekromant mit Heilkräften.
Die Überlebenden mussten um diese seltsamen Männer froh sein. Ifrah hatte sie Erstaunliches leisten sehen, fast so erstaunlich wie das, was Hadan zu vollbringen imstande war, wenn er nicht der Vernichtung des Lebens, sondern seinem Erhalt diente.
Als sie sich neben Eya niederließ, sah die Assassine sie mit teilnahmslosem Blick an, in den nur die Wärme der Freundschaft ein wenig Glanz brachte.
Das im Feuer des Kampfes verdrängte Leid des Krieges brach jetzt auf sie alle nieder. Ifrah fühlte selbst, dass es gelegentlich in ihr zitterte, ein zurückgehaltenes Weinen der Schwäche. Wem es gelang, zu schlafen oder sich in Arbeit zu begraben, der konnte den wiederkehrenden Bildern der vergangenen zwei Tage entrinnen. Alle aber, die wachten und Gelegenheit zum Nachdenken hatten, mussten sie ertragen.
Mit einem schwesterlichen Gefühl der Liebe betrachtete Ifrah verstohlen, um die Andere nicht ihrem prüfenden, besorgten Blick auszusetzen, das blasse Gesicht. Das Morden vieler Gegner, ganz gleich aus welchen Gründen, machte hart und wund im Innern. Und Eya hat, unbedeutend unter welchen Umständen, etwas getan, was sie nie zuvor getan hat. Selbst sie, obwohl die Andere frei von Schuld war, überlief es grob und kalt bei der Vorstellung, einem Kind etwas zuleide zu tun, einem Knaben in diesem Falle, der nur Weniges älter gewesen war als Maysan. Rücksichtslosigkeit, völliges Aufgehen in ihrer Aufgabe, die grausame Stärke der Assassinen, fehlten Eya.
Du bist gar keine richtige Assassine mehr, Liebes, dachte Ifrah. Nicht menschenfremd genug mehr für Eine deiner Zunft, und noch nicht abgehärtet genug für einen Soldaten.
Vielleicht aber war auch die Abhärtung eine Illusion und unvereinbar mit einer Seele, die noch weich bleiben und den Tod als etwas unabwendbar Erschreckendes empfinden durfte.
„Iss etwas Suppe“, sagte sie leise und füllte der Jüngeren eine kleine Schale. „Doch“, beharrte sie, als diese den Kopf schüttelte. „Du musst etwas essen. Vor einer Weile habe ich Hadan noch gesehen. Er ging zu den Riten am Ufer, aber er wird bald zurückkommen. Er wird dir dann sicher dasselbe sagen.“
Eine schmale Hand wanderte zögernd zu der Schale.
Ifrah füllte auch dem Alten und den zwei Männern, die wachten, etwas ab und aß dann selbst. Die einfache Suppe aus Linsen, Sahne und Gewürzen stärkte sie rasch. Immer noch aber hatte die abgrundtiefe Müdigkeit sie nicht erfasst, auf die sie wartete.
Doch dies war genaugenommen meine erste Schlacht. Und die unsichere Lage in Kurast ließ sie offene Fragen erwägen. Die Überreste des Angreiferheeres würden hier nicht lange bleiben wollen und können und hatten keinen Fürsten mehr, der Kurast aus seiner Räteherrschaft in eine Stadt mit Fürstenhaus hätte verwandeln können. Bis die Nachricht vom Tod des Pundarherrschers Baraidha und seine Heimatstadt erreicht hatte, würde Zeit vergehen, schätzte sie, und selbst dann war nicht sicher, ob eine der Städte einen Fürsten entsenden wollte.
Sie hob den Kopf und blickte zu dem Fenster hinüber, das auf die Straße führte und vor dem pausenlos Bewegung und ein Spiel aus Licht und Schatten war.
Was tat man mit einer enthaupteten Stadt? Hadans langjährige, innerliche Bindung an Kurast kam ihr in den Sinn. Aber ob sein altes Vertrauen in die guten Seiten der Stadt noch bestand und ob er glaubte, dass sich aus den höheren Kasten eine neue Ratsherrschaft bilden konnte, erriet sie nicht.
Kurz erwog sie, mit Eya darüber zu sprechen, doch eben noch rechtzeitig erinnerte sie sich, dass eben diese Fragen Travincal wieder in den halbdunklen Raum holen würden.
„Was sollen wir jetzt nur tun?“ Die leise Stimme neben ihr schreckte sie auf.
Als sie sich Eya zuwandte, dachte Ifrah, ihr nur sagen zu können, dass sie es auch nicht wisse, dass überhaupt niemand von ihnen den alten Pfad seines Lebens wiederfinden würde, weil die Welt sich um sie erhoben hatte, ins Chaos stürzte, unwiederbringlich wegzubrechen begann. Aber sich in aller Müdigkeit der Verwirrung und Hoffnungslosigkeit zu überlassen, half noch weniger, als blind diese alten Pfade wieder zu suchen.
Eya hatte alles verloren und Neues, Ungewisses dazu gewonnen.
Menrad zauderte zwischen zwei Kontinenten und hastete seinem Orden hinterher, der angeschlagen unbekannte Wege beschritt.
Hadan hielt sich mit letzter Kraft auf den tönernen Füßen seiner Heimat aufrecht, die nachgaben und einsanken.
Und sie selbst durfte an den tiefen Süden nicht denken, oder an die friedlose Wüste auf der anderen Seite des Meeres, weil es sie sonst zerriss.
„Das wird sich finden“, gab sie endlich zurück, fester, als es der betäubenden Unsicherheit entsprach. „Denk nicht darüber nach.“
Ein Schatten bückte sich unter dem niedrigen Türsturz des kleinen Hauses hindurch.
Der Nekromant betrat den Raum. Er hatte seine Rüstung bis auf die Gliederschoner abgelegt, und im Lampenschein sah man sein langes, weißes Haar und die blutbefleckte Unterkleidung.
Als Erstes suchte er mit den Augen rasch die Frauen und kniete dann vor dem Alten nieder.
Der hagere Greis war aus seiner Starre erwacht, und völlig gefangen von der Eigentümlichkeit der fremdartigen Szene, sah Ifrah, wie eine knochige Hand das gesenkte Haupt des Mannes berührte, der vor dem Asketen doppelt groß und alterslos wirkte.
Nachdem Hadan die Segnung, oder was es auch gewesen war, empfangen hatte, kam er herüber. Suppe lehnte er ab.
„Danke, Ifrah“, sagte er gedämpft, als er sich neben sie beide setzte. „Aber mir ist eher danach, mich zu betrinken.“
So offen war er früher nie gewesen, und gespannt erkundigte sie sich nach der Lage in der Stadt und nach den Fortschritten der Verhandlungen.
„Schiffe nahen aus dem Süden“, begann er. Versteckt hatte sich seine Rechte um eine Hand der Assassine geschlossen. „Eilboten von der Küste haben dies vor einer Weile vermeldet. Einer der Söhne des Pundarfürsten naht mit Verstärkung.“
„Werden sie Kurast übernehmen?“
„Nein, oder zumindest nicht dauerhaft. Sie wollen nur sichergehen, dass aus dem Norden für Pundar keine Gefahr mehr droht. Über den Ausgang der Schlacht können sie noch nicht unterrichtet sein. Sie werden Truppen zur Bewachung stellen, bis Kurast seine Räte gebildet und eigene Leute eingesetzt hat, vermute ich.“
Ifrah zögerte kurz. „Freut dich das nicht?“ Denn die Miene des großen Mannes war hart, und Schatten lagen unter seinen Augen, die nicht nur der Erschöpfung durch den Kampf entstammen konnten. Eine Weile lang erwidert er nichts und starrte an den Gesichtern der Frauen vorbei auf einen unsichtbaren Punkt im Schatten des Raumes. Als er wieder sprach, war die Bitterkeit und Verachtung in seiner Stimme so deutlich, dass sie erschrak.
„Was für Feiglinge sie sind. Kurast, die Hochmütige, die selbsterklärte heilige Alte Stadt.“ Er senkte den Blick. „Unter einem alten Beherrscher zittern sie, bis er vernichtet ist. Wenn sie einen neuen Beherrscher wittern, der ihnen ihre Privilegien sichert, laufen sie in die Tempel und wissen sich kaum zu helfen vor Dankbarkeit.“
Leise erschüttert fing die Magierin die Worte ihres alten Kampfgefährten auf. Was er jetzt äußerte, kam einem Bruch mit seiner geistigen Heimat gleich. Täuschungen über die Anfälligkeit des gesellschaftlichen Gefüges der von ihm lange verehrten Stadt hatte er sich, so wusste sie aus Gesprächen, nie hingegeben, doch hatte er mit einer gewissen hartnäckigen Zuneigung zum vielfältigen Gemisch des Volkes und der Kasten auf die Vernunft der Obrigkeit vertraut.
Ifrahs eigene Heimat war ein vom Handel geprägtes Land, eine reiche Wüstenkultur unter der Autorität des Fürsten von Lut Gholein. Sie hing an der Wüste und an den Errungenschaften ihres Volkes, an den schönen Seiten, den Städten, wo zwischen den Karawansereien und im Reichtum der Besitzenden Sprache und Musik blühten.
Ich würde ebenso fühlen wie er, wenn ich das verlöre. Mitfühlend hielt sie dagegen: „Du urteilst zu hart. Die Menschen hier sind nicht verzagter als anderswo. Vielleicht braucht es nur Zeit, bis sie sich besinnen.“
Die farblosen Augen begegneten ihr. „Das würde ich gern glauben. Aber im Augenblick kann ich nur sehen, dass alle, die sich einer fanatischen Überhöhung der Kulte entgegengestellt haben, mit dem Leben dafür bezahlen mussten. Dass es keine Gerechtigkeit gibt, kein Ohr für die Belange aller.“
Eine Weile lang saßen sie nur schweigend da. Eya sah zwischen ihnen hin und her. Die Ablenkung von ihrem eigenen Schrecken hatte sie munterer werden lassen, und jetzt war sie es, die mit den Fingern Hand und Handgelenk ihres Gefährten umschloss.
„Aber das ist nicht von Bedeutung“, kam es schließlich von Hadan. Ein leichtes Lächeln, wenn auch freudlos, huschte über seine Züge. „An den Ufern der Kanäle beginnen die Verbrennungsriten. Ich muss zurück.“ Er sah die Frauen der Reihe nach an.
„Ich gehe mit“, sagte Ifrah. Sie würde ohnehin nicht schlafen können.
Eya blickte zu Boden.
Ihr Gefährte schien ihre Verfassung zu ahnen und neigte sich zu ihr, damit sie sich nicht im Zögern verbergen konnte. „Komm mit“, hörte Ifrah ihn leise, aber bestimmt sagen. In der Gesellschaft der anderen Menschen im Raum konnte das Paar keine Worte wechseln, die nicht für dritte Ohren bestimmt waren, und so schwieg die Assassine, schwankend zwischen Widerstreben und halber Überzeugung. Nach einem ermunternden Wort von Ifrah ließ sie sich endlich bewegen, mitzugehen.
Auf den Straßen war es unverändert lebendig.
Langsam, mit Kerzen oder anderen Lichtern, wanderten viele Menschen durch das Häusermeer dem künstlichen See zu.
Dort angekommen, blickte man auf ein verändertes Ufer. Wo sonst seine steinerne Begrenzung gerade und frei um den See lag, waren jetzt Dutzende um Dutzende Scheiterhaufen errichtet. Die Menschenmassen hielten respektvollen Abstand dazu, nur Einzelne – Priester mit ihren Helfern – umgingen die Holzstöße, die teils noch mit Öl besprengt wurden, teils schon lichterloh brannten, oder knieten betend davor. Rauch verbarg die Heilige Stadt. Verwischt, fern, schaute sie zwischen Schwaden und Lichtern hervor.
Der Gestank war immens, selbst wenn die Verrichtenden der Verbrennungen sich mühten, ihn mit Harzen und Duftwassern zu mildern.
Ifrah störte es wenig. All das lässt sich wieder abwaschen. Sie und ihre Gefährten trugen immer noch das fleckige Unterzeug des Kampfes. Gelegenheiten zum Waschen hatte es im Chaos der Stadt noch nicht viele gegeben. Und so waren die Hunderte Menschen ein uneinheitliches Bild aus rituellen Gewändern, Rüstungen und einfacher, verschmutzter Kleidung.
Vor einem großen Haus in der Nähe gewahrte die Magierin Menrad.
Er stand mit den verbliebenen Paladinen da, fünfzehn Männern vielleicht noch. Sie verfolgten die Riten aus der Distanz, geduldig, mit ruhigen Gesichtern.
Flüchtig hoffte Ifrah, dass Kurast sich der langen Zeit des Einvernehmens zwischen seinen alten Obersten und den Lichtkriegern erinnern und ihnen gestatten würde, ihren Orden aus seinen östlichen Ruinen wieder unter den zahllosen anderen Kulten aufzubauen.
Hadan verließ die Frauen für eine Weile. In der stickigen, rauchigen Nacht, in den getragenen Gesängen der Priester, ging er mit einer Fackel zwischen einer Reihe von Scheiterhaufen hin und her, auf denen die gefallenen Nekromanten ruhten.
Das Ufer schien in Brand zu stehen. Die Feuer würden lange die Nacht erhellen, und die Asche der Toten würde man in die Wasserarme Kurasts kippen. Bei den zuerst entzündeten Scheiterhaufen war es bereits soweit. Priester streuten die grauen Überreste in den See, und sofort wurden neue Tote auf das Holz gelegt. Die Tempeldiener warfen Blumen hinterher, wo die Asche versank oder auf der lichtgesprenkelten Oberfläche trieb.
Als Hadan zurückkehrte, hielt er den Frauen etwas hin. „Wenn ihr wollt“, sagte er. Im Schein der Feuer sah man die Blutflecken auf seinem Hemd und die Wunden in seinem Gesicht jetzt deutlich.
Die Blüten wirkten seltsam in den mitgenommenen Händen der Gefährten. Zwischen anderen Menschen, darunter vielen, denen sie noch vor Stunden vielleicht nicht hätten trauen dürfen, traten sie ans Ufer.
Als sie die Blüten ins Wasser warfen, war Ifrah sich sicher, dass sie in diesem Augenblick, jeder für sich, nicht nur die gefallenen Krieger ehrten, sondern auch von etwas Abschied nahmen.
Stunden danach, auf dem Weg zurück zu ihrer Unterkunft, erstand Hadan an einer Garküche eine gefüllte Kupferkaraffe.
In völligem Einverständnis betranken sie sich an diesem Abend, zusammensitzend im Halbdunkel des Raumes. Der Alkohol machte sie nicht gelassener, eher nachdenklicher, doch nach einer Weile, in der sie einfach die Gesellschaft der Anderen als Trost empfanden, ohne viel zu sprechen, fühlte Ifrah, dass sie endlich würde schlafen können.
Auf der Seite liegend, war das Letzte, was sie sah, Hadan, der an die Wand gelehnt dasaß und sinnend ins Dunkel starrte. Der Kopf der Assassine lag in seinem Schoß.
Ifrah schlief ein und träumte von Maysan.
Die Aufräumarbeiten hatten sich die ganze Nacht über hingezogen, und auch jetzt, am ersten Morgen nach dem Fall von Travincal, dauerten sie an.
Es wird lange brauchen, bis hier wieder Ordnung einkehrt. Menrad schritt durch die überfüllten Straßen.
Eine Reihe großer Häuser unweit der Hafenanlagen beherbergte, was man als das Hauptquartier des Angreiferheeres bezeichnen konnte.
Ein Heer war es indes nicht mehr zu nennen.
Unzählige waren gefallen, Pundarkrieger, seine eigenen Brüder, Bewaffnete aus allen Teilen des Landes. Von den seltsamen kleinen Männern der fernen Insel Mandjab war nur noch ein Häufchen übrig. Und nur ein Dutzend der langgliedrigen, schweigsamen Kämpfer aus der Sibhawüste würde in seine Heimat zurückkehren.
Ihr Stolz und ihr Mut im Kampf, und jetzt ihre ungeheuren Verluste, machten es schwer, sie noch als Wilde zu sehen. Wiederum war der Paladin innerlich, zwischen Verwirrung und verbliebenem Hochmut, halb gelähmt über die bröckelnden Pfeiler seiner Weltsicht gebeugt. Ich bin hilflos, hatte er sich eingestehen müssen. Hilflos wie die anderen hier. Es geschieht zu viel und zu rasch. Mit oftmaligem Ärger, nun aber zunehmend auch mit einem Gefühl wachsender Traurigkeit, musste er die irritierten Regungen seines Herzens gewähren lassen. Seit dem Ende des Kampfes war er mehrmals so müde gewesen, dass es ihn danach verlangt hatte, sich waffenlos zwischen die Säulen eines Tempels zu setzen.
Es schien fast ein Hohn, dass er wieder Trost im Gebet fand. Doch betete er jetzt anders als früher, ohne sagen zu können, auf welche Weise anders.
Als einziger Sinn alles Erlebten seit seinem Aufbruch aus Shanghar drängten sich Gemeinsamkeiten hervor, in denen er Altes, fest Geglaubtes nicht wiederfinden konnte, und sie boten ihm keinen Halt.
Menschen, die ihn anrempelten, sich hastig bei der ehrfurchtgebietenden Gestalt des heruntergekommenen Lichtkriegers entschuldigend, holten Menrad aus seinen Gedanken zurück.
Mit einem Ruck zog er den Gürtel fester, an dem der schwere Kampfhammer hing.
Das behelfsmäßige Hauptquartier war in Sicht gekommen. Dort, so hieß es, hatte man unter anderem Kunde nicht nur von den eingetroffenen Schiffen aus Pundar, sondern auch von Seglern aus dem Westen. Paladine waren nicht an Bord, doch er hoffte, Neuigkeiten aus der Besatzung herausbringen zu können, und war darum an diesem Morgen eilig dorthin aufgebrochen. Dass der Westen immer noch keine Verstärkung für seine bedrohten Missionen schickte, ließ nichts Gutes ahnen.
Männer, ein buntes Leutegemisch, nickten ihm teils erkennend zu, als er sich durch die Gruppen vor den Gebäuden einen Weg in das größte Haus bahnte. Flüchtig gewahrte er vor einem nahen Tempel die unverkennbare Gestalt des Nekromanten. Auch Hadan war unablässig unterwegs, um die schwierige Lage der Stadt und die Versuche, eine neue Obrigkeit einzusetzen, mitzuverfolgen.
Als Menrad nach einer Weile den überfüllten Raum wieder verließ, nahm er das Gedränge nur noch schattenhaft wahr.
Die Schiffe hatten Händler befördert, Begleiter des Warenaustauschs zwischen den Kontinenten. Ihre Sicht auf die Dinge war lückenhaft, doch durch die Gespräche mit mehreren ergab sich ein Bild, bei dem Menrads ganzes Selbst augenblicklich über die Weite des Meeres hin zu den Gestaden seiner Heimat flog.
Ich muss hinüber.
Im Westen herrschte Krieg.
Den Berichten nach war Fadraîs an mehreren Fronten in Auseinandersetzungen mit dem Norden und dem Süden verwickelt, und Truppen überzogen das Land mit Kämpfen.
Es hieß nicht, dass die alte Königsstadt angegriffen worden sei, oder zumindest bislang nicht. Eher schien sie Männer in Gebiete zu senden, in denen Verhandlungen mit den Einheimischen in Kämpfe umgeschlagen hatten. Aber Kämpfe um was? Verhandlungen um was? Das hatte ihm niemand sagen können, und die Unwissenheit der Befragten war echt, keine bloße Angst vor der Reaktion eines Bruders des Ordens, um den es ging. So weit vertraute Menrad seiner Menschenkenntnis noch.
Stillstehend, aber innerlich rastlos, dass es ihn drängte, sofort auf dem erstbesten der Schiffe anzuheuern, die zurücksegelten, stand er zwischen den Menschen.
Sein Schicksal, sah er jetzt, war keine Laune des unergründlichen Himmels, sondern an viel größere Ereignisse geknüpft. Alle Unterredungen mit seinen unfreiwilligen Gefährten fielen ihm wieder ein. Sie erlebten eine Zeitenwende.
Hier, im Osten, konnte nicht einmal ein Mann wie der Nekromant, der dem Gefüge dieses Weltteils zutiefst verbunden war, Ursprung und Richtung der Ereignisse völlig enträtseln. Und er, Menrad, der bis vor einem oder zwei Jahren alle Entwicklungen im mittleren Westen in Sinn und Blut getragen hatte, wusste nicht mehr, was drüben vor sich ging. Und es liegt nicht allein daran, dass ich zu lange fort war.
„Paladin“, sprach ihn jemand von der Seite an. Er schrak zusammen.
Die Assassine stand neben ihm, ihre schwarze Rüstung unter einheimischer Kleidung halbwegs verborgen. Sie wirkte weniger versteinert durch die Schrecken der Schlacht, stattdessen wachsam, gesammelt.
„Wir bereden, was als Nächstes geschehen soll“, sagte sie. Ihre schwarzen Augen streiften die Menschen ringsum beiläufig, doch entging ihr wenig, vermutete Menrad. „Wollt Ihr hinzukommen?“
Sein Zögern, das seiner Ruhelosigkeit entsprang, mochte sie als Zweifel über den Sinn einer solchen Besprechung missdeuten, denn sie fügte hinzu: „Vielleicht hört Ihr etwas, das auch Euch einem Entschluss näher bringt.“
„Geht nur vor“, murmelte er nickend.
Oben auf der Treppe des Tempels standen die Anderen zusammen. Alle machten ernste Gesichter, doch die Blässe der Magierin sprang geradezu ins Auge.
„Menrad“, grüßte ihn der Nekromant. Im Gegensatz zu seinen Begleiterinnen trug er offen Rüstung und Waffen, seine Dolche und auch ein Kurzschwert. Ihm half Verkleidung wenig gegen Misstrauen und möglichen Hass der uneinigen Bevölkerung. Sein Äußeres ließ sich schlecht durch ein paar Alltagssachen verstecken. „Ihr habt die Neuigkeiten aus dem Westen ebenfalls vernommen?“ Dem Tonfall nach war es eher eine Feststellung als eine Frage.
Menrad nickte. Seine Besorgnis in scheinbare Nüchternheit zu kleiden, misslang ihm unter den forschenden Augen der Abenteurer. Sie bemühten sich, ihn nicht zu erwartungsvoll anzusehen, spürte er, aber seine Meinung galt viel, nun da die Nachrichten aus Übersee den allerorts herrschenden Unfrieden stärker ins Licht rückten.
„Was haltet Ihr davon?“ Der Nekromant fixierte ihn.
Bevor Menrad antwortete, traf ihn der Gedanke, dass die drei Menschen vor ihm Fadraîs, die ferne, schöne, befestigte Stadt, nicht als Ansammlung der Gassen ihrer Kindheit kannten und auch nicht als Verwalter einer Ordnung, in der sie geduldet wurden.
„Ich weiß es nicht“, sagte er steif. „Ich bin mit den Zielen des Ordens nicht mehr allzu vertraut.“ Schweigend, ohne Wertung, wurde sein Eingeständnis aufgenommen. Noch vor wenigen Monaten hättest du dich eher steinigen lassen, als dies zuzugeben. „Aber wenn die Berichte von den Truppenbewegungen und Unruhen stimmen, muss es völlig neue Order aus Fadraîs geben“, fuhr er fort. „Welche Order, entzieht sich allerdings meiner Vorstellung.“
Sie alle indes wussten, was eine Ausweitung kriegerischer Aktivitäten in den Norden und den Süden hinein bedeuten musste.
Lange hatte die dortige Ordensgesellschaft in halbem Frieden mit den Nordvölkern gelebt, den Barbaren und den Nachkommen der Druiden, und im Süden die Magierschulen zwar überwacht, doch nicht mit Waffengewalt bedrängt. Ein Gleichgewicht aber gab es nicht, geschweige denn eine Einigung. Zu tief war die Kluft zwischen Vorstellungen über das rechte Leben, die Ordnung des Landes und Glaubensdinge.
Nun schien der Westen in Aufruhr.
„Beunruhigend ist“, meldete sich die Assassine zu Wort, „dass sich in den Aussagen der Leute kein Ereignis finden lässt, das die Unruhen eingeleitet haben könnte. Wenn keine Stadt angegriffen wurde, muss es sich doch um viele einzelne Vorfälle handeln, welche die Menschen gegeneinander aufbringen.“
Nicht zum ersten Mal ertappte sich Menrad dabei, dass er die geistige Beweglichkeit der Attentäterin nicht ungern sah. Man konnte bei diesen beiden Frauen fast meinen, mit Gleichrangigen aus einer Truppe zu sprechen.
„Die Händler berichten von uneinheitlichen Auseinandersetzungen“, kam es von Seiten des Nekromanten, „aber schwerer wiegt in meinen Augen noch, dass sie behaupten, Grausamkeiten mitangesehen zu haben. Dinge, die sie sich nicht erklären konnten. Einige von ihnen sind selbst angeblich knapp dem Tode entronnen.“
„Wie viele Menschen hier“, warf die Magierin leise ein.
„Der Krieg ist immer erbarmungslos“, sagte Menrad ohne echte Überzeugung.
„Wahr“, der Nekromant sah den Paladin fest, aber auch auf eine suchende Art an. „Aber es gibt einen Unterschied zwischen dem Unvermeidlichen und unnötiger Grausamkeit.“
Menrad spürte die Unrast wieder, diesmal so heftig, dass sie ihm nachgerade die Luft abschnürte.
Ein leichter Wind ging aus der Richtung des Hafens. Kurast hing noch als Gewicht an ihm. Cedric. Basruth. Chana. Ihre Leichen sanken in den zertretenen Riesenleib des Kontinents, ohne Würdigung ihrer Standhaftigkeit, ohne Beachtung ihrer Versuche, Brücken zwischen Fremden zu schlagen.
Er konnte das schmerzhafte Brennen in seiner Kehle nicht unterdrücken und sah zu Boden, den Hafenwind im Haar. Die Sonne schien heute viel zu hell.
„Ich muss hinüber“, sagte er dann zu niemand Bestimmtem. Wieder aufsehend, fuhr er fort: „Eine Handvoll meiner Brüder, Männer aus dieser Gegend zumeist, wird hier ausharren.“ Die halbe Nacht lang, zwischen dem Scharren in Asche und der Schlepperei von Steinen, hatten die wenigen Paladine beschlossen, wer von ihnen, wenn auch mit wenig Hoffnung, welche Aufgabe übernehmen sollte.
„Eure Entscheidung gemahnt auch uns daran, dass wir eine Wahl treffen müssen“, sagte Hadan. Ein kaum merklicher Seitenblick streifte die Magierin, die der Unterredung bislang beigewohnt hatte, ohne mehr als ein paar Worte zu sprechen.
Sie schauderte jetzt zusammen. Die ungewöhnlichen Augen der Frau waren verdunkelt, und anders als meist wirkte sie nun klein und verloren. Den mitfühlenden, ernsten Blicken ihrer Gefährten wich sie noch kurz aus, um dann den Widerstand gegen einen Ausbruch ihres Dilemmas aufzugeben.
„Was soll ich bloß tun?“ sagte sie leise. „Unser Weg führt nach Westen, das sehe ich wohl, und ich habe dort ebenfalls eine Heimat, die mir am Herzen liegt. Aber ich kann doch mein Kind nicht allein im Süden lassen.“
„Eine Gruppe von Pundarkriegern und Männern der Tempel reist morgen zurück in den Süden.“ Hadan legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Du kannst dich ihnen anschließen und mit Maysan dort bleiben oder eine der Schiffspassagen nehmen, die Pundar plant. Es wird Segler geben, die nach Dâurdh oder sogar nach Lut Gholein Fahrt aufnehmen. Der Sohn des Fürsten will Erkundigungen über die Lage an den Westufern einziehen. Von dort aus gibt es auch einen Weg in den mittleren Westen oder in die Wüste.“
„Doch bis dahin seid ihr schon weit fort.“ Die Stimme der Magierin schwankte. „Wie soll ich euch in den Kriegsgebieten wiederfinden?“
Alle Anwesenden schwiegen.
Dann hörte Menrad sich selber sprechen. „Vielleicht kann ich helfen. Einer meiner Ordensbrüder hat neben mir als einziger Westmarschener die Schlacht überlebt. Es ist abgesprochen, dass er sich Pundars und Baraidhas Zusage über die Duldung unseres Ordens im Osten versichert und dann folgt, so rasch er es vermag.“ Der von Sorge umschattete Blick der Magierin heftete sich auf sein Gesicht. „Mein Rang gestattet es mir, Aufträge zu verteilen“, fuhr er fort. Auch wenn dies lächerlich anmutet bei den Wenigen, die wir noch sind. „Der Mann ist gut und zuverlässig. So Ihr wollt, Ifrah, wird er eure Tochter aus Pundar mitnehmen und über das Meer bringen, an jeden Ort, der Euch im Westen sicher scheint und der nicht zu weit ab von seinem Weg liegt.“
Ohne eigenes Zutun fast hatte sein Angebot den Paladin verlassen. Jetzt begegnete er, bei aller Strenge unsicher, ausgerechnet Hadans Ausdruck. Mit neuem Ernst schien er den Lichtkrieger zu betrachten, ohne die unsichtbare, frische Erschütterung der Fremdheit zwischen diesem und der Gruppe durch ein Wort zu stören.
„Das würdet Ihr tun?“ Ifrah atmete zitternd ein.
Sie zögerte, sah Menrad klar. Bei aller Einsamkeit, die das Gelübde eines Paladins bedeutete, der nicht fest in einer Stadt lebte und eine Erlaubnis zur Familiengründung erhielt, neidete er der älteren Frau ihre zusätzliche Verantwortung nicht. Er konnte ihr nur sein Schweigen als Zusicherung geben, dass es ihm ernst mit seinem Angebot war.
Er hatte ihren Wert für die kleine Gemeinschaft mehr als einmal gesehen. Jenseits seines tiefverwurzelten Misstrauens gab es, ob er es wollte oder nicht, eine Empfindung der Verpflichtung diesen Menschen gegenüber, ein Band aus gegenseitiger Hilfe und Errettung aus misslichen Situationen.
Die Gefährten warteten ab, wie Ifrah sich entscheiden würde.
Schließlich, wenn auch widerstrebend und sichtlich zerrissen, nahm sie an. „Lasst mich mit dem Mann sprechen, dann will ich mich endgültig entscheiden.“ Eine tiefe Sorgenfalte hatte sich in ihre Stirn gegraben, und im unbarmherzigen Licht zeigten sich Tränen in ihren Augen.
„Ihr findet ihn bei der großen Karawanserei nahe des Basars“, sagte Menrad.
Steif und schweigend stand die Magierin unter den Gefährten. Dann zog sie ihr Stoffoberteil zusammen, als fröre sie, obwohl es warm war und immer stickiger wurde.
„Soll ich dich begleiten?“ Die Assassine war neben sie getreten.
Die Ältere schüttelte den Kopf. „Nein. Ihr müsst ein Schiff für uns finden. Es gibt noch so viel zu tun. Ich will mir den Mann, Euren Bruder“ – ihr Blick ging zu Menrad – „nur ansehen.“ Bei den letzten Worten brach ihre Stimme. „Ich danke Euch, Menrad.“
Hastig wand sie sich aus dem kleinen Kreis der Dastehenden und ging die Tempelstufen hinunter. Sie sahen zu, wie der Menschenstrom auf der Straße sie in sich aufnahm.
Eine Bewegung neben sich ließ Menrad zur Seite blinzeln. „Lass sie“, hörte er den Nekromanten leise zu der Assassine sagen, die Anstalten machte, der Älteren hinterher zu eilen. „Lass sie etwas allein sein.“
Hiernach wandte er sich wieder Menrad zu. „Unser Weg wird also noch eine Zeitlang derselbe sein, Paladin. Länger in Kurast zu bleiben, wenn wir nicht ganz bleiben, ist weder uns noch der Stadt von Nutzen. Wenn Ihr also gestattet, folgen wir Euch in den Westen.“
Es war keine Bitte um Erlaubnis, nur eine Höflichkeit. Dennoch nickte Menrad, gestrafft, fast soldatisch.
Auf seine Frage hin, welchen Plan die drei Anderen für den Zeitpunkt nach der Überfahrt hätten, äußerten sie, dort durch vorsichtiges Umhören zunächst mehr über die Schauplätze und die Art der Konflikte herausfinden zu wollen, so das Glück ihnen gewogen war. Ebenso wie er hielten sie es mit Santére als anzulaufender Küstenstadt, nicht mit dem südlicheren und größeren Lut Gholein.
Santére war der Haupthafen für den Handelsbetrieb zwischen dem mittleren Westen und dem Osten, ein Knotenpunkt vieler Wege und ein Ort vielfältigen, sich immer wandelnden Betriebs. Fadraîs hatte dort nie jene Übersichtlichkeit in das bunte Kommen und Gehen zu bringen vermocht, die in anderen Städten seines Einflussbereiches herrschte.
Nun würde eben diese Unordnung sie vielleicht schützen. Unter Händlern, Reisenden von allen Küsten rings um das Mittlere Meer, Söldnern und zwielichtigem Volk würden ein paar weitere Gestalten wie die ihren nicht auffallen.
Menrad gab an, baldmöglichst nach Fadraîs gehen zu wollen. Hier hielten sich seine Schicksalsgefährten jedoch zurück. Ihr Interesse galt, wie er nun hörte, neben dem Erkunden der Lage im Westen noch einem anderen Ziel. Sie suchten einen einzelnen Mann, das vierte Mitglied ihrer Gemeinschaft aus den Zeiten ihres Kampfes gegen die Übel des vergangenen Jahres.
„Ihr wollt einen einzigen Mann im Westen finden?“ Menrad konnte sein Erstaunen nicht verbergen.
„Ohne viel Hoffnung.“ Nachdenklich schlug der Nekromant die Augen nieder. „Wir haben seine Spur schon vor langem verloren, und wenn er die Gebiete seiner Geburt verlassen hat und weit in andere Teile der Welt gewandert ist, werden wir ihn kaum wiedersehen. Bevor wir uns hier in Kurast trafen, sandte Ifrah einen Brief in die Gegend, in der wir ihn zuletzt vermuteten, doch es ist wenig wahrscheinlich, dass er ihn je erhielt.“
„Wer ist dieser Mann? Jemand von Rang?“
„Nicht in den besiedelteren Gebieten“, antwortete Hadan, und dann, nach einer kleinen Pause, in der seine bleichen Augen Menrad prüften: „Ein Hochlandbarbar aus dem Norden.“
Als er Menrads Befremden bemerkte, hob er eine Hand. „Gewiss gehört er nicht zu den Gegnern Eures Ordens, Paladin. Er ist ein ehrenhafter Mann, so Ihr mir diese Einschätzung zutrauen wollt, und uns ein Begleiter von unschätzbarem Wert gewesen. Er ist jung und hat im Kampf gegen die Feinde aller Menschen viel verloren.“
Doch der Paladin war seiner unwillkürlichen Regung, die ihm selbst mehr Unbehagen als innere Festigkeit brachte, bereits wieder Herr geworden. Ein Mann aus anderen, wilderen Weltteilen musste noch kein Gegner sein.
Wiederum erschien es wie ein Hohn, dass eben der Wandel der Zeit, in dem Fadraîs von allen Menschen außerhalb seiner hehren Ideale abrückte, das Denken über diese Anderen herumwälzte und alter Festigkeiten beraubte.
Sie kamen überein, Vorbereitungen für ihre Überfahrt zu treffen und sich dann wieder zusammenzufinden, wenn der Abend nahte.
Als sie den Ort ihrer Besprechung verließen, drang die Unordnung der Straßen wieder zu Menrad durch.
„Wir lassen eine ungesicherte Stadt zurück“, sagte er im Gehen zu dem Nekromanten, der das Gewühl unablässig beobachtete. Diesem musste es nicht leicht fallen, Kurast den Rücken zu kehren, das jeden Augenblick in neue Ränkespiele oder einen Bürgerkrieg stürzen konnte, uneins unter dem Bann nicht gemilderter Unruhe und Zerstrittenheit.
„Wir können hier nichts mehr tun“, gab Hadan zurück. Kurz konkurrierte offene, wenn auch leise Verachtung auf seinen Zügen mit etwas anderem. Etwas wie Schuldbewusstsein., ging es dem Paladin auf. „Wir haben nur einen Sturm losgetreten, der später oder anders, aber unvermeidlich erfolgt wäre. Sobald sie sich wieder aufgerafft und an das Alte erinnert haben, wird unser Einfluss schwinden, und die Zügel haben längst Andere in die Hand genommen.“
Flüchtig erwog Menrad, den Anderen zu fragen, was er für das Beste für seine Heimat hielt. Was würdest du tun? Wen würdest du einsetzen, hättest du die Macht dazu, wen, um dieses überquellende, chaotische Land zu beherrschen?
Ein Trauerzug kreuzte ihren Weg, und mit der Erinnerung an die zahllosen toten, zerstörten Gesichter der vergangenen Nacht ging sein Geist zu seinen gefallenen Brüdern zurück, und von ihnen aus hinaus auf das Meer, und der Gedanke riss ab.
Die Stadt stank.
Der Dunst der Leichenfeuer, die immer noch am Ufer des Sees von Travincal brannten, hing in den Straßen. Selbst nachts, wenn man sich schlafen legte und zuvor gewaschen hatte, kam er wieder und haftete in Haar und Kleidung, und kein Feuer dieser Welt hätte den Totengeruch auszumerzen vermocht. Und es war Hitze gekommen, die aus einem bleiernen Himmel herabsackte, an dem sich riesige Gewitterwolken ballten. Der frische Schweiß bei allen noch so kleinen Verrichtungen brannte in den Verletzungen und auf der wunden Haut.
Bei allen zurückgelassenen, noch nicht überstandenen Erinnerungen, bei allen offenen Fragen und Befürchtungen, die das Innere an den gewaltigen, aufgerissenen Leib des Kontinents banden, ob man ihn nun liebte oder nicht, würde das offene Meer eine Erleichterung sein.
Am folgenden Mittag betraten Reisende eines der großen Schiffe, die im Hafen zu Kurast lagen.
Es waren gut hundert Passagiere, die der damit fast überladene Segler aufnahm – Händler und ihre Helfer, doch auch Männer mit unbekannten Aufträgen und vereinzelte Flüchtlinge.
Ablegend, langsam, schob sich das Schiff unter dem Geschrei von Besatzungsmitgliedern, die in der Takellage herumkletterten und von den Seiten aus mit den Besitzern kleiner Boote schimpften, durch Dschunken und Kähne, zwischen denen verdrecktes Wasser schwappte.
Als der offene Arivati erreicht war, hatte die Besatzung den Reisenden ihre Plätze zugewiesen, und das Deck war voller Menschen, die die Fahrt zwischen den Säumen des Urwalds nutzten, um an der Reling zu stehen. Im Knarren der Taue, sich an die leise Bewegung des Decks gewöhnend, das für die Dauer von zwei oder drei Wochen den Boden ihres Lebens bilden würde, reihten sie sich palavernd an den Seiten auf.
Schmale Fischerboote wichen dem segelnden Ungetüm aus, das Platz für seine Ruder brauchte, solange der stärkere Wind der offenen See noch fehlte.
Auch Eya stand an der Reling, nahe des Hecks.
Ein Rundgang hatte ihr die nötigen Einschätzungen vom Aufbau des Gefährts und von den Mitreisenden verschafft, und jetzt verhielt sie hier, unter anderem Volk, in leisem Abstand zu den Menschen und seltsam ins Bild der vorübergleitenden Flussufer versunken.
Ein Jahr.
Eine lang zurückliegende Nacht kehrte wieder.
Ifrah war, in bunte, etwas fadenscheinige Reisekleidung gehüllt, vorne am Bug. Der Paladin sprach unweit von der Assassine mit einem der drei Steuermänner. Aber für diesen Augenblick war die Nähe ihrer Gefährten ihr verwischt, nur eine sachte Quelle der Sicherheit.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, dann ein Arm um sie, und bevor sie seine Gegenwart ganz begriffen hatte, war Hadan neben sie getreten und zog sie an sich. Beide trugen sie keine Rüstungen mehr. Sie spürte seinen Körper durch den Stoff ihrer Kleidung.
Von der Seite her sah sie in sein Gesicht hinauf.
Er blickte nach Westen, wo über dem Saum des Urwalds und fern über der noch unsichtbaren See die Sonne ihren höchsten Stand bereits wieder zu verlassen begann. Kurast sank hinter ihnen in die Umbettung des Ostens, verschwunden schon seit einer Weile. Nur Siedlungen im Uferwald und Boote gemahnten noch an die Nähe der großen Stadt.
Hatte er lange zurückgeschaut auf den Ort, an dem ihm so viel lag?
Eya erinnerte sich an seine Worte im Halbdunkel ihrer letzten Unterkunft. Er hatte Travincal nicht wieder betreten. „Bist du nicht traurig“, fragte sie leise, „Kurast zurücklassen zu müssen?“
Er sah zu ihr hinab, Ströme tieferer Regungen auf den Zügen, die er nur ihr unverhohlen zeigte. Dann kehrten seine Augen auf das Ufer zurück. „Nein“, sagte er. „Sein Geschick wird mich nicht loslassen, solange ich lebe, aber traurig? Nein, Shatryindjah.“ Unmerklich beinahe verändert sich sein Tonfall, verlor an Munterkeit. „Einst dachte ich, dort leben zu wollen, mit dir, irgendwo an seinem Rand. Aber jetzt nicht mehr. Es wurde zu einem hohen Preis aus einer halben Sklaverei zurückgekauft, und er wird mit der Zeit vielleicht in Vergessenheit geraten, doch nicht für mich.“
Unsicher, wie sie ihrem Wunsch, ihm Trost und Mut zu spenden, Ausdruck verleihen sollte, schwieg sie und verschränkte ihre Finger mit seinen.
„Und warum sitzt du hier auf der Reling und regst dich nicht, schwarzer Vogel?“ fragte er dann und sah lächelnd auf sie herab.
Sie drückte sich behutsam an ihn, plötzlich erschauernd, und wich seinen Augen aus. „Ich dachte zurück“, entgegnete sie, „an die Zeit... vor einem Jahr.“ Zum ungezählten Male empfand sie den Wunsch, sich in ihn hineinzukauern, dass er sie ganz und gar umgebe, jetzt wieder ohne den Schrecken ihrer letzten Auseinandersetzung. „Das war fast dasselbe Bild... derselbe Fluss, die gleiche Fahrtrichtung. Ich wusste nicht, ob ich dich je wiedersehen würde. Ich war allein.“
Hadan legte den anderen Arm um sie, hinter sie tretend, so dass sein Kinn ihre Schläfe berührte. „Aber jetzt nicht mehr.“
Nun konnte sie sein Gesicht nicht mehr sehen, nur die Sonne am endlosen Himmel über dem Dunst des Kontinents, und in seiner engen Umarmung atmen.
Sie war gestürzt, gelandet, und endlich frei.
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....omg... ein Up ohne Forenbug... dass ich das noch erleben darf o_0