Reeba
Member
- Registriert
- 30 November 2003
- Beiträge
- 90
- Punkte Reaktionen
- 0
Und weiter geht's
XXXII. Helle Gestade
Einen lichteren, strahlenderen Sommer hatte der mittlere Westen nicht gesehen, so lange die Erinnerung der Alten zurückreichte.
Im vorigen, unglückseligen Jahr noch heimgesucht von Schrecken, die aus dem Unerklärlichen das Land überfluteten, lagen die weiten Marschen und Grasebenen, die Felder und geregelten Siedlungen nach einem Frühling wiedereingekehrter Ruhe bereit für die Blüte und die Ernte. In den langen Nächten des Winters hatten die Menschen Zeit gehabt, das Überstandene zu bereden, und im Frühling waren sie zuversichtlich auf ihre Felder und über ihre Straßen gegangen.
Der Unruhe weit Herumkommender und Empfindsamerer hatten sie nicht viel Bedeutung zugemessen. Es gab immer Wolken am Horizont, Gerüchte aus unbefestigteren Gebieten.
Doch mit den wärmeren Monaten, mit dem Wind aus der fernen Wüste, der über die Ebenen strich, kam die Besorgnis auch zu den Festesten und Unverzagtesten. Kunde, die alte Königsstadt habe Einheiten in den hohen Norden entsenden müssen, erreichte die Dörfer. Im Süden zogen Männer des heiligen Lichtordens gegen aufbegehrende Gruppen, Magier, wie man sich flüsternd erzählte. Herolde aus den Ordensstädten bestätigten dies, wenn sie Rast bei den Weilern machten, und beruhigten die Bauern. Dennoch liefen viele Leute in die Gebetshäuser, rastlos plötzlich, ohne mehr zu finden als Empfehlungen zu leidenschaftlichem Glauben. Antworten hatte niemand.
Und als am Horizont vieler Gegenden, meist der südlichen und nördlichen Randgebiete, langsame Staubwolken wie von Stürmen aufzogen und nicht wieder vergingen, und erste Flüchtlinge das Land überquerten, wussten die Menschen, dass die zögerliche Unruhe nur ein Vorbote gewesen war.
Nicht lange, nachdem sie wieder begonnen hatten, alte Geschichten und Gerüchte über die Völker außerhalb des Ordensbereiches zu erinnern – die unbezähmbaren, hartgesichtigen Barbaren aus den tiefen Wäldern des Hochlandes, das schamanische Volk, das sich uneinsichtig der Eingemeindung in die fadraîsche Ordnung widersetzte, die frevlerischen Magierkulte aus den ungangbaren Sandmeeren – zogen die ersten Truppen über die Ebenen. Stark gerüstete Männer, Lichtkrieger und Söldner waren es. Man jubelte ihnen auf den Straßen zu oder schaute, beruhigt vorerst, auf ihre Einheiten. Gern gewährten die Weiler den rastenden Paladinen, was sie an Nahrung und Diensten geben konnten. Schließlich aber wurden es mehr, zu viele, und sie zogen rascher vorbei.
Den einfachen Leuten versicherten sie, die Grenzen des mittleren Westens gegen jede Bedrohung zu sichern. Sie sollten indes getrost weiterarbeiten, sich nicht sorgen, aber dies wurde schwierig, weil die ersten männlichen Burschen eingezogen wurden. Dann schickte man auch nach den Familienvätern, noch nicht oft, doch oft genug, dass ein Raunen im Land anhob: es ist Krieg.
Und viel zu bald überschwemmten Kämpfe die äußeren Dörfer. Die Menschen flohen, andere harrten aus, solange sie konnten. Denn sich die wenigen Habseligkeiten auf den Rücken zu packen und mit weinenden Kindern und lahmen Alten ins Ungewisse zu ziehen, mochte kaum besser sein, als Haus und Hof zu verteidigen.
Die riesigen Staubwolken erreichten die dichter besiedelten Gebiete. Mit ihnen kamen Schreckgestalten, heruntergekommene Paladine, deren Ziel nicht mehr sicher schien, oder Reiter mit barschen Befehlen. Söldner, die den Höfen abforderten, was sie noch besaßen, und Hand an die Frauen legten. Und dann nahten auch riesige, wild aussehende Männer, Hünen im gelben Schatten der aufgewirbelten Erde.
Angstvoll, verzweifelt verbargen sich die Menschen in ihren von Heeren umspülten Höfen. Das Beben des Bodens unter stampfenden Füßen riss kaum noch ab. Mutige warfen sich auf ihre Klepper und suchten in nahen Städten oder Ordensposten nach Hilfe, doch selbst wenn man sie anhörte, scheuchte man sie wieder fort. An den Ufern des großen Mittleren Meeres irrten Flüchtlinge umher. Es verbreitete sich die Schreckensbotschaft, der hohe Norden fahre mit viehischem Hass gegen die Westmarsch, um zu morden und zu brandschatzen, und wo immer die Menschen der hünenhaften Männer aus dieser fernen Gegend ansichtig wurden, rannten sie um ihr Leben.
Alles Beten schien nicht zu helfen. Es hieß in den elenden Flüchtlingslagern, in den überrannten Küstendörfern, fürchterliche Kriegsherren seien unter den kommenden Barbaren, halbe Dämonen einer älteren, verdrängten Zeit. Sie beherrschten nachts die Angstträume der Kinder, hatten keine Namen, so dass die Menschen ihnen welche gaben, besonders einem, von dem die verwehten Truppen sprachen. Den Schlächter nannte man ihn, oder auch andere, niemand wusste Genaueres.
An den Küsten starrten die Leute auf das Meer, doch auch von dort war keine Hilfe zu erwarten.
Über das Meer kamen nur einzelne Schiffe.
Mitten auf der spiegelnden Fläche des Meeres steuerte das Schiff in gerader Linie nach Westen. Aufgefrischter Ostwind hielt seit Tagen an, und es machte gute Fahrt.
Die Männer oben in der Takellage oder im Ausguck vermuteten Land in der Nähe nur noch einer Woche, doch noch war die See eine grenzenlose Weite silbrigen Hellblaus, die sich am Horizont leicht wölbte.
Den Mitfahrenden blieb nicht viel zu tun, als sich die Zeit mit Vorbereitungen für die Landung, Unterhaltungen, Würfelspiel und Musik zu vertreiben. Im Schiffsbauch gab es neben den Lagerräumen nur wenige Schlafplätze, und so lebte und ruhte die Mehrzahl der Menschen an Deck. In Gruppen zusammenhockend, lauschten sie den Erzählungen weit Herumgereister oder den Klängen der Musikinstrumente, den Trommeln, der Dshudra, einem Saiteninstrument aus der westlichen Wüste, und den überall verbreiteten Sackpfeifen. Andere hielten sich große Teile des Tages oder auch der Nacht, wenn das Meer unter Tausenden heller Sterne einem leise bewegten, endlosen schwarzen Tuch glich, an der Reling auf. Die, die im Osten verwundet worden waren, kauerten geduldig an Masten und in schattigen Winkeln und harrten ihrer Genesung.
Ein Besatzungsmitglied verdrängte sie mürrisch von ihrem Platz, und Eya wich dem Mann aus, um sich einen anderen Ort an der Reling zu suchen. Ein Stück weiter, in der hinteren Mitte der Schiffsseite – nicht vorne, wo der Bug gegen den Westen und die ungewissen folgenden Zeiten vorstieß, und auch nicht am Heck, wo das zurückfallende Meer noch zu deutlich einen Bogen nach Kurast spannte – lehnte sich die Assassine wieder an das sonnenwarme Holz.
Man konnte Stunden um Stunden in die klare Weite starren, dieses helle, zweigeteilte Bild, nur Himmel und Wasser, bis es einem tief in die Sinne drang. In der Enge des Schiffes war ihr diese Klarheit und Grenzenlosigkeit ringsum eine Erleichterung.
Unzählige Male war sie unter der Besatzung herumgegangen, hatte nach verborgenen Waffen gespäht, den Äußerungen der Männer gelauscht, doch es schien niemand Verdächtiges darunter. Sie konnte ihr geschultes Misstrauen nicht ablegen. Zumindest aber durfte sie hier, für die Dauer dieser Tage, vielleicht rasten.
Der Wind fuhr ihr durch das Haar, das sie mit einem Messer wieder auf Halbfingerlänge gestutzt hatte, es nur im Nacken etwas länger lassend. Unbewusst, streifte es sie warm. Hadan pflegte hineinzugreifen, am Tage oder auch, wenn sie sich liebten, fest, als wolle er immer wieder sichergehen, dass sie Wirklichkeit war.
Mit lichten Flecken vom langen Hinausstarren in das ewige Silber und Blau vor den Augen, sah sie auf ihre Hände. Schmal und feingliedrig lagen sie auf der Reling. Die Kämpfe hatten sie muskulös gemacht. Ein Ringfinger, einst gebrochen, war ein wenig krumm, und die Knöchel zeigten hellere Haut von den ständigen Stößen gegen die Griffe und Verstrebungen ihrer Großkrallen.
Hier auf dem Schiff ging sie mittlerweile ohne Waffen, bis auf zwei Messer, die so eng an ihre Hüfte und an einen Schenkel gebunden waren, dass man sie unter den groben, weiten Hosen nicht sah.
Aufblickend bemerkte sie Hadan, der durch den Gang zwischen Reling und Schiffsaufbau auf sie zukam. Auch seine Rüstung, die schweren, düsteren Panzer, lag unter Deck in einer fest verschlossenen Truhe, wie fast alle Dinge der Gefährten. Das offene Kurzschwert an seiner Seite fiel unter den Menschen an Bord des Schiffes nicht weiter auf. Viele trugen irgendetwas, Dolche, Säbel, die üblichen, wenig bedrohlichen Waffen Reisender.
Sie wusste, dass er die stickigen, feuchtwarmen Tiefen des Urwalds freieren Landschaften vorzog, dass er zu offenes, zu helles Licht nicht mochte, aber es stand ihm gut. Als er neben sie trat, wollte sie sagen, lass uns die schwarzen Rüstungen ablegen, das ganze sperrige Gewicht der Waffen und Amulette. Lass uns nicht mehr kämpfen, irgendwohin gehen, nur so, wie wir sind. Doch der Tag, an dem sie auf dies hoffen konnte und in der schwachen, zärtlichen, verzweifelten Hoffnung solche Worte wagen, war fern und vielleicht für sie beide nicht mehr zu erreichen.
„Gibt es Neuigkeiten über den Zeitpunkt unserer Ankunft?“ fragte sie stattdessen, ein paar Trockenfrüchte annehmend, die er ihr reichte.
„Wenn das Schiff weiterhin so gute Fahrt macht, vermuten sie, in fünf Tagen Land zu sehen“, antwortete er. „Bis dahin sollten wir jede Gelegenheit nutzen, um uns auszuruhen, denn ich glaube nicht, dass uns der Westen allzu freundlich empfangen wird.“
Schweigend bedachte Eya, dass sie selbst die Westmarsch einst nur in großer Hast und gewohnter Heimlichkeit durchquert hatte, dann weit südlich, fast schon in der Wüste, nach einem Auftrag dort gestrandet war, um wenig später von der Bedrängnis Lut Gholeins zu hören und von einer Schar Abenteurer, die sich angeblich auf die Verfolgung der Quellen des Übels im Land begeben hatte. Sie selbst kannte nirgendwo viel mehr als Vorsicht und Misstrauen, doch für die Anderen mochte der Westen ein Weltteil sein, in dem sie offener als anderswo angefeindet wurden.
Wie sich die damaligen Mitglieder der Gruppe in der Westmarsch gefunden hatten, wusste sie nicht. Sie war erst mitten in der Wüste zu ihnen gestoßen.
Ohne dass sie es wollte, brachte das Zurückdenken die Erinnerung an vertraute, schon verblasste Gesichter wieder, längst zu Staub geworden im Sog der Zeit.
Hadan spürte ihre plötzliche Bedrückung wohl, denn er legte eine Hand auf ihre Rechte und fragte: „Was bekümmert dich, Shatryindjah?“
„Die Vielen, die wir schon verloren haben“, gab sie heiser zurück. Dann sah sie zu ihm auf. „Nach unserem Abschied... warst du nicht betraut damit, ihre Heimatorte aufzusuchen, um ihren Hinterbliebenen von ihrem Tod zu berichten?“
Er schwieg eine Weile. „Willst du, dass ich dir davon erzähle?“
Vor all der Übermacht an Befürchtungen und Unwägbarkeiten geriet jedes Ausweichen auf andere Dinge zu seltsamer, weil doch vergeblicher Ablenkung, doch für diesen Augenblick ließen die fernen Gefallenen Eya nicht los. Sie wollte nicht über das sprechen, was vor ihnen allen lag, ihm für eine Weile entrinnen.
Weiter hinten auf dem Schiff, unter anderen Reisenden, doch weit genug von ihnen entfernt, setzten sie sich zu Füßen einiger fest aufgebockter Kisten.
Hadan erzählte ihr von Malenas Heimatort, Malena, der Amazone, die weit mit der Gruppe mitgereist und vor den Toren des belagerten Harrogath gefallen war.
Auf der anderen Seite des westlichen Kontinents, weit im Süden, lag die Insel Varda, von der sie gestammt hatte.
Nach der Reise zu den Menschen im Hochland und zu dem Dorf in der äußeren Wüste, wo er die Vertrauten zweier weiterer Verstorbener mit Mühe gefunden hatte, war Hadan mit einem der Boote nach Varda übergesetzt, die zwischen dem Amazoneneiland und der Küste verkehrten.
Die Überfahrt war gut verlaufen, auch wenn die Fischer, die Besitzer des Bootes, sich lange geweigert hatten, den seltsamen, düsteren Mann mitzunehmen, der im Bug des Nachens gestanden hatte, für die Dauer der ganzen Fahrt, und sich selber gefühlt hatte wie ein Todesbote, schwarz im lichtdurchfluteten Glast des Meeres und der weiten, felsigen Küsten.
Doch kaum an Land, hatte er gewusst, dass er beobachtet wurde. Die Menschen in dem kleinen, ärmlichen Küstendorf hatten ihm den Weg ins Innere der Insel gewiesen, dann die Türen vor ihm verschlossen. Zwei Tage lang war er durch steiniges, fast baumloses Gebiet gewandert, in flirrender Hitze, ohne mehr zu sehen als von weißen Steinmauern umzogene Felder und ohne mehr zu hören als den leisen Gesang des trockenen, glühenden Landes und nachts das Zirpen zahlloser Zikaden. Und dennoch waren sie da gewesen, unsichtbar. Ihre Anwesenheit hatte ihn begleitet, eine Ahnung scharfer Augen nur, endlich dann Schatten auf einem Hügelkamm, als er an einer Quelle zum Trinken niedergekniet war.
„Ich glaube, es verging kein Augenblick seit ich den Fuß auf ihre Erde gesetzt hatte, in dem nicht Pfeilspitzen auf mich gerichtet waren“, sagte der Nekromant. „Bis zu einer Ansammlung von Dörfern ließen sie mich vor, um mich dann einzukreisen. Ohne den Armreif, den ich ihnen zeigte, hätten sie mich getötet, und selbst als sie das Schmuckstück wiedererkannten, glaubten sie offenbar zuerst, ich hätte Malena umgebracht.“
„Aber warum hättest du sie dann aufsuchen sollen?“ fragte Eya überrascht.
„Das ging ihnen glücklicherweise auch bald auf.“ Hadan blickte auf das Deck. „Aber sie waren fast wild vor Kummer. Du hättest sie sehen sollen. Nie zuvor und nie wieder habe ich unnahbare Frauen so bitterlich klagen hören. Malena war nie redselig gewesen, und wir hatten angenommen, dass man sie verstoßen oder dass es andere missliche Gründe gegeben hatte, aus denen heraus sie ganz allein in die vom Übel bedrohten Gebiete aufgebrochen war. Doch hier schien es eher, dass man sie hoch geehrt hatte und schon lange schmerzlich vermisste.“
Vor Eyas innerem Auge erstand noch einmal das Bild der nicht mehr jungen, sehnigen, flachsblonden Kriegerin. Durch Hadans Erzählung gesellte sich nun das ferne Varda hinzu, in seinen Worten aus dem Meer tauchend. Sie konnte das felsige Eiland beinahe vor sich sehen, das sie nie erblickt hatte, seine ausgebleichten, erdigen Farben, und fast den Duft von Korkeichen und Kräutern riechen.
Wiederum sprengte das Sehnen nach einem anderen Leben ihr nahezu die Brust, der Wunsch, weithin durch die Welt zu wandern, sich mit Nächten unter freiem Himmel zuzudecken, ohne Angst vor Verfolgung, ohne die Hast eines Auftrags.
Sie sah auf, als sich Ifrah zu ihr und Hadan gesellte.
Nach der Schlacht um Kurast zunächst ohne sichtbare schwerere Anzeichen von Erschöpfung, war die Magierin nach dem Betreten des Seglers regelrecht zusammengebrochen. Fast immer schweigend, müde, war sie unruhig auf Deck herumgestrichen, um dann für einige Tage in einen Dauerschlaf zu versinken, einem Dahindämmern, das nur die Anderen besorgt und still überwacht hatten.
Eya ahnte, dass Ifrahs Verfassung nichts mit einer Auszehrung durch ihre Magie zu tun hatte, sondern mit ihrer Zerrissenheit zwischen ihrer selbstgewählten Verpflichtung und dem Süden des Kontinents, den sie verließen. Das Schicksal ihrer Tochter lag jetzt wiederum in den Händen anderer Menschen. Erst allmählich hatte sie begonnen, wieder munterer zu werden, und suchte die Nähe der Gefährten.
Hadan reichte ihr eine Hand zur Hilfe, als sie sich niedersetzte, und die Magierin wehrte es nicht ab.
Unsere Berührungen sind selbstverständlicher geworden, ging es Eya durch den Kopf. Vor einem Jahr noch beinahe Fremde, sind wir uns jetzt vertraut. Sie war unendlich dankbar dafür.
Ifrah dankte dem Nekromanten ihrerseits und sagte seufzend: „Alle Rast dieser Welt bringt mir meine Jugend nicht wieder zurück, das muss ich wohl einsehen.“
„Kennst du das Jahr deiner Geburt genau?“ erkundigte sich der Nekromant.
„Ich zähle diesen Sommer als meinen einundvierzigsten“, entgegnete Ifrah mit einem Ausdruck, der das Bedauern zeigte, das sich selbst nicht ganz ernst nimmt.
Die Assassine blickte zu ihrem Gefährten, der ein nachrechnendes Gesicht machte. Seitdem sie zusammen waren, hatte er mehrmals versucht, den ungefähren Zeitpunkt seiner Geburt wenigstens bezüglich des Jahres herauszufinden.
„Vierundvierzig“, sagte er dann, als habe er ein Spiel gewonnen, und sein Lächeln galt Ifrah, oder auch beiden Frauen, und war dem dünnen Verziehen der Lippen aus früheren Tagen sehr unähnlich.
„Damit hast du mich wohl ausgestochen, alter Mann!“ gab Ifrah zurück. Es war der erste Scherz seit langer Zeit, den sie von ihr hörten. Sie lachten.
Haben wir damals je gelacht? Ich kann mich nicht erinnern. Eya schmiegte sich an ihren Gefährten und atmete den Seewind ein, der sich mit seinem Geruch vermengte.
Unvermeidlich kamen sie, da sie nun auf einem Fleck saßen, noch einmal auf die Ursache der Unruhen im Osten zu sprechen und auf ihre Vermutungen über den Krieg in jenem Weltteil, dem sie sich jetzt näherten.
Selbst Menrad hatte vor Tagen den Verdacht auf rätselhafte Gemeinsamkeiten geäußert, auch wenn er sich weiterhin stolz anzunehmen weigerte, dass die Westmarsch von einem ähnlichen Verfall der Ordnung und des festen Glaubens heimgesucht war wie der östliche Kontinent. Doch die Unruhe der Menschen ließ sich nicht länger als bloße Überspanntheit abtun.
Die drei Gefährten sammelten noch einmal, was sie wussten oder zu wissen meinten. Travincal konnten sie dabei nicht meiden, und nach einigem Zögern sagte auch Eya ein paar Worte über ihre Wahrnehmung innerhalb des Tempels.
„Eine Macht hat den Kult des Kindgottes unterstützt und war auch mit dem Orden der Assassinen verbunden, vielleicht, um die Landbrücke zu kontrollieren“, äußerte der Nekromant finster. „In Anbetracht unserer Empfindungen, die sich, wenn auch unterschiedlich in ihrer Stärke, in Bezug auf etwas Bedrohliches gleichen, drängt sich der Fall des Weltensteins wieder in den Vordergrund. Wenn es nicht das alte Übel ist, und darauf gibt es keinen Hinweis, ist es etwas Neues, womöglich ebenso Schlimmes... oder Schlimmeres.“
„Was ist mit -„, Ifrah sah den großen Mann an, vorsichtig, brach dann im Satz ab und blickte bedeutsam auf seine Brust, ihre eigene mit der Rechten berührend.
„Nein“, sagte er. „Das nicht.“ Er versteifte sich kurz, als müsse er sich unbehaglich um eine in ihm wuchernde Masse schließen. „Dort hat sich nicht mehr gerührt als sonst auch.“ Er wich den Augen Eyas aus, die von unten her in sein Gesicht blickte, hielt aber ihre Hand, die nach ihm griff, fest. „Die Herren des Mondes waren eine Streitmacht alter Dämonen, Baal untertan und mit ihm untrennbar verbunden. Sollte seine Essenz mir je wieder begegnen, wovor Pakrah mich bewahren möge, werde ich es wissen.“
„Wenn sich mit der Zerstörung des Steins Grenzen geöffnet haben zu Ebenen, die einen solchen Schatten vorauszuwerfen imstande sind“, fasste Ifrah zusammen und drückte ihre rechte, braune Faust mit der linken, „dann Gnade uns das Schicksal.“
Schweigen senkte sich über ihre kleine Gruppe.
Benommen gingen ihre Blicke zu den ringsum außer Hörweite sitzenden, redenden, dösenden Passagieren, ihren fremden, so menschlichen Gesichtern, ihren Kleidern, die sich im leichten Wind bauschten und vertraute Gerüche von Schweiß, Rauchwerk und Lebensmitteln ausströmten.
Nach einer Weile, als wolle die Gesellschaft der Menschen sie aus ihren bedrückten Gedanken erlösen, erklang vom mittleren Teil des Schiffes her Musik, lauter als das fast nie gänzlich verstummende Tönen kleinerer Instrumente überall. Einige der Reisenden standen auf und gingen gutgelaunt nach vorne, um zu sehen, welche Gruppe das Schiff unterhielt.
Die Gefährten sahen auf. Ifrah rang sich ein Lächeln ab. „Das sind Trommeln aus dem nördlichen Osten, wenn mich nicht alles täuscht“, sagte sie und erhob sich. „Lasst uns hingehen und zuhören.“
„Du hast Recht“, Hadan stand ebenfalls auf und reckte die breiten Schultern.
Gemeinsam mit den zwei Anderen näherte sich Eya dem großen, freien Raum auf der Schiffsmitte. Allerhand Mitreisende drängten sich hier schon in einem weiten Kreis um mehrere dunkelgesichtige Männer, die auf dem Boden sitzend ein wahres Feuer ineinandergreifender Rhythmen spielten. Doch spielten sie sich erst warm, erriet die Assassine, die den Klang aus Hadans Heimat kannte.
Selbst die Besatzung störte den Kreis nicht durch ihr übliches, halb notwendiges, halb willkürliches Herumkommandieren. Das ganze Schiff, abgesehen von Steuermännern und Vereinzelten, die lieber für sich blieben, sah und hörte zu, froh um jede Unterbrechung der eintönigen Fahrt.
Die vielfältigen, noch wild umherlaufenden Einzelrhythmen verschmolzen nach wenigen Augenblicken zu einer einzigen Klangspur, eingängig und treibend.
Neben den Gefährten löste sich eine der wenigen Frauen, die noch unter den Passagieren waren, mit einem leichten Zögern aus den Umstehenden. Ihr Tonfall verriet, dass sie wie Ifrah aus der westlichen Wüste stammte, als sie ihren Begleitern, Männern in hellem Burnus und mit Kopftüchern, zurief: „Ich tanze!“ Sie breitete beide Arme aus und lachte.
Die hellen, seltsamen Augen Ifrahs trafen Eya, die vor Hadan stand, der beide Hände auf ihren Schultern ruhen ließ. Ein Funke lief über das Gesicht der Älteren.
Dann zwinkerte sie.
Was soll es, schien das Zwinkern zu bedeuten.
Ein Lächeln fasste ohne ihr eigenes Zutun nach Eyas Gesicht. Mit einer warmen, lebendigen Regung im Innern sah sie die fremde Frau unter dem Raunen einiger Zuschauer in die Mitte des Kreises gehen. Keiner der Trommler unterbrach sein Spiel, im Gegenteil, sie bleckten sogar freudig die Zähne.
Mitten auf dem Schiff, unter den knatternden Segeln, begann die Frau aus der Wüste zu tanzen.
Es hätte Ifrah sein können, dachte Eya. Die Magierin stand neben ihr und hielt den bernsteinfarbenen Blick auf die Tänzerin gerichtet, und ein Wechselspiel aus begleitender Freude und Traurigkeit lief über ihre schönen Züge.
Auch die andere dort mochte nicht leichten Herzens tanzen. Vielleicht hatte auch sie Menschen verlassen müssen, die jetzt fern waren, und eine Heimat, von der sie nicht wusste, ob sie noch zu den friedlichen Gegenden der Welt gehörte oder schon zu jenen, über die die Unruhe der Zeit hinwegfuhr. Vielleicht tanzte sie nicht aus Freude allein, tat es eher, um sich den Kummer von der Seele zu treiben.
Und doch konnte man nicht anders, als ihr hingerissen zusehen.
Eine Hand umfasste Eyas Leib und zog sie sacht nach hinten, und sie lehnte sich an Hadan.
Ja, was soll es. Dann tanzen wir eben, lachen und leben weiter, kämpfen für unser Leben. Tanzen, so lange es geht.
Die Musik lockte auch Menrad auf das mittlere Deck.
Langsam, halb widerstrebend, weil ihm der Sinn wenig nach Gesellschaft stand, ging er entlang der Reling nach vorne. Seine Rastlosigkeit hatte beständig zugenommen, seit das Schiff ausgelaufen war.
Noch außer Sicht zum Ort des Geschehens, blickte der Paladin auf das Meer hinaus.
Der Segler war ein schweres, bauchiges Gefährt, tief im Wasser liegend und nahezu überladen, so dass man um die ruhige See froh sein konnte. Mit jeder vergangenen Stunde schätzte er sich glücklich über die reibungslos verlaufende Überfahrt und wünschte dennoch, sich den friedlosen Küsten seiner Heimat nicht nur in einem besseren Frachtkahn zu nähern.
Gib mir eine Flotte und fünfhundert gut gerüstete Krieger, mit denen ich über das Meer komme. Lass mich, Himmel, in mein Land nicht zurückkehren wie ein halb vergessener Bettler.
Gegen seinen Willen ging ihm die fremdartige Musik, wiewohl ihm die Klänge seiner Heimat, die Zimbel, die Laute, das Horn, lieber gewesen wären, nun doch ein. Dann erreichte er das offene Deck, sah die umherstehenden Menschen und in ihrer Mitte eine Frauengestalt, die sich zu den Trommeln bewegte, als habe sie ihr Leben lang nichts anderes getan.
Es war eine Frau, die Ifrah sehr ähnlich sah, so ähnlich, dass sie eine jüngere Schwester hätte sein können.
Verwundert verhielt er.
Der große Mann hatte beide Arme um den schlanken Leib der vor ihm stehenden Frau gelegt, eng und mit einer offenen Leidenschaftlichkeit, die sich seltsam von seinem sonstigen strengen, fast herrischen Auftreten abhob.
Ifrah stand daneben, hatte ihr langes schwarzes Haar gelöst, mit dem der Seewind sein Spiel aufnahm.
Nicht wissend, ob es die Musik war, die ungebetene Erinnerung an eine zurückliegende Nacht in einer befreiten Stadt oder der Anblick der Tanzenden und des Paares, das aus seinem gegenseitigen Begehren in dieser Situation kein Hehl machte, spürte Menrad plötzlich die Schwere seines Fleisches, durch das sein Blut quälend drängte.
Kurz stand er reglos, ohne sich der Szenerie entziehen zu können, bevor er sich mit einem Ruck abwandte und einige Schritte zurücktat. Beschämt, zornig, war er sich seines Neides für einen unbehaglichen Moment lang bewusst. Die Keuschheit eines familienlosen Ordensbruders hatte er im Osten selten als schwere Bürde empfunden, hatte das gelegentlich aufkommende Verlangen im Gebet, in Aufgaben oder in körperlicher Ertüchtigung niederzwingen können.
Abrupt drehte er der Menge den Rücken und ging zum Heck zurück. Hier hinten hielt sich fast niemand mehr auf, nur ein Besatzungsmitglied, ein magerer, ältlicher Kerl, kauerte über frisch gedrehten Seilen und bestrich sie mit einer zähen Masse.
Menrad ließ einen der Bottiche, die an der Reling hingen, in das schäumende Heckwasser hinab und holte ihn gefüllt wieder herauf. Süßwasser wurde zum Waschen nicht mehr ausgegeben, so wuschen sich die meisten Passagiere überhaupt nicht oder beliehen höchstens, so wie er jetzt, das Meer.
Der Paladin zog das ausgebleichte, halb zerrissene Ordenshemd über den Kopf und leerte den Bottich über Gesicht und Oberkörper. Das Wasser lief ihm kühl den Leib hinunter. Das Gefäß abstellend, stemmte er beide Hände geschlossenen Auges auf die Reling, atmend in der willkommenen Erfrischung, während es von seinem Haupt zu Boden tropfte.
Schritte, dann ein Plätschern, ließen ihn die Augen öffnen und zur Seite wenden.
Hadan holte den Bottich ein und trat in den Schatten des Schiffsaufbaus.
Stumm verfolgte Menrad, wie der Andere ebenfalls sein Hemd ablegte und das Meerwasser über sich ausleerte, abgewandt, als wolle er der gnadenlosen Sonne und dem unerschütterlichen Blick des Himmels etwas nicht zumuten.
Aber Menrad sah es doch – ein halb von langem Haar verdecktes Geflecht zusammengezogener Haut, das die Muskeln des fremden Schulterblattes unterbrach, als sei ein gewaltiger Hieb dort hineingefahren. Wir wurden alle verwundet, ich und meine Gefährten. Ihr seht es ihnen vielleicht nicht an, aber keiner von uns ist unversehrt geblieben. Dann drehte der Nekromant sich um, nachlässig, sich das nasse Haar über den Kopf zurückstreichend, und das Licht offenbarte seine Vorderseite.
Menrad stockte der Atem. Die Brust des anderen Mannes war auf einer Seite verunstaltet von der schlimmsten Verletzung, die er je gesehen hatte. Verheilt war sie, doch seltsam unvollständig und ohne sich der schneeweißen Haut farblich wieder angeglichen zu haben. Kein Irrtum war möglich, obwohl ihr Besitzer doch vor ihm stand, lebte und atmete – er blickte auf die Verheerungen eines tödlichen Schlages.
Du solltest dreimal tot sein. Erst als der Paladin sich seines starren Blickes bewusst wurde, zuckten seine Augen fort. Nicht die oft fühlbare Aura fremder Macht und auch nicht die entsetzlichen Auswirkungen seiner Fähigkeiten, sondern diese Narben bewiesen, dass man es bei dem Anderen nicht mit einem gewöhnlichen Mann zu tun hatte.
Das Schweigen zwischen ihnen konnte das Offenbarte nicht mehr überdecken. Darum, versteift, sich nur langsam und ohne hinunterzusehen nach seinem eigenen Kleidungsstück bückend, hörte Menrad sich fragen: „Wie... konntet Ihr diese Verletzung überleben?“
Sein Gegenüber blickte ihn ausdruckslos an. „Durch eine Entscheidung, die mich viel gekostet hat. Das Fleisch, das Ihr seht, ist nicht das meine.“
Ohne noch den Stoff in seiner Hand zu fühlen oder die sachte Bewegung des Schiffes und den Wind, sagte Menrad: „Dann habt Ihr Euch versündigt. Der Himmel sei Eurer Seele gnädig.“ Übergraust, tiefernst und bar jeder Feindseligkeit sprach er es aus.
Die Augen des Nekromanten verdunkelten sich, bis ihr Blick kaum mehr an das geisterhafte Weiß erinnerte, das ihnen sonst zu Eigen war, und kurz rechnete Menrad fest damit, der Andere werde sich vergessen.
„Das Meiste dessen, was ich getan habe und an das ich glaube, würde Eurer Orden als Sünde oder als Frevel verurteilen, Paladin“, entgegnete er dann mit sichtlicher Beherrschung.
Die Männer schwiegen. Über ihnen knarrten die Taue.
Dann, ruhig plötzlich, setzte der Nekromant hinzu: „Aber Ihr habt Recht. Was uns unterschiedet, Euch und mich, ist nicht von Belang.“ Lauernd, spürte Menrad, hing zwischen ihnen die Fremdheit getrennter Menschenpfade, unüberbrückbar, älter als sie beide, doch er spürte auch, dass der Andere es müde war. „Ihr könnt gewiss sein, dass ich dafür bezahle, auch in der Beurteilung meiner eigenen Kaste.“
Stumm warteten sie, bis der Seewind sie getrocknet hatte, und kleideten sich dann wieder an.
Plötzlich streifte Menrad leises Bedauern. War es nicht so, dass er selbst erlebte, wie eine Übermacht an Prüfungen, an Kämpfen, die sich dem eigenen Einfluss entzogen, vorher fest gesetzte und gewahrte Grenzen einriss?
Selbst und gerade in der ärgsten Bedrängnis soll euer Glaube nicht wanken. Einer der lichten Fäden der Ordenslehre durchzog seinen Geist, aber er nahm ihn jetzt wie ein zerbrechliches Kind anderer, friedlicherer Zeiten, in denen kein Mann an seinen Idealen härter geprüft wurde als durch die Befestigung seines Landes und das vernünftige Ausfüllen seiner schicksalsgegebenen Stellung.
Um das Schweigen zu beenden, sagte er ablenkend: „Ich bete dafür, dass sich der Grund für alle Unruhen bald offenbart und die Befähigten sie zu beenden wissen, so der Himmel will.“
„Betet lieber für Euer und mein Seelenheil“, gab sein Gegenüber zurück. „Und ich bete derweil dafür, dass Ihr wiederfindet, was Ihr verloren glaubt, Paladin.“
Du Bastard, durchfuhr es Menrad. Aber Groll ließ sich nicht in ihm finden. Du siehst ebenso in mich hinein wie ich in dich.
Sich abwendend, stützte er sich wieder auf die Reling.
Möwen umkreisten die Masten des Seglers. Erst jetzt bemerkte er sie und hörte ihre Schreie. Er hob die Augen zu ihren schwerelos im Wind hängenden weißen Leibern, die gelegentlich in blitzschnellen Stürzen durch das freieste aller Elemente tauchten. Vögel – untrügliches Zeichen dafür, dass Land nahte.
So blieb er stehen, ging nicht auf das mittlere Deck zurück, wartete auf die Dämmerung, die einen weiteren Tag von der Zeit des Ausharrens abtrennen würde, und dachte an seine Rüstung und seine Waffen, die unter Deck verschlossen lagen.
Die Stadt, die das Schiff bei seinem Einlaufen vorfand, war völlig überlaufen und platzte aus allen Nähten.
Am Morgen des achtzehnten Tages nach seinem Aufbruch aus dem Osten näherte sich der Segler, schwerfällig im seichteren Gewässer, dem weiten, flachen Ufer des Westens. Grauhelle überstrich den wolkenlosen Himmel. Sich aufrappelnd, Befehle schreiend, auf der Suche nach ihren Habseligkeiten, bevölkerten die Passagiere das Deck und schauten auf die Küstenlinie und das Gewirr flacher Häuser, das sich zur Rechten erstreckte. Der Hafen von Santére stockte vor Booten aller Art und Größe, ärmlichen Nachen und Kähnen zumeist.
Da es sich absehen ließ, dass der große Segler lange auf einen Anlegeplatz würde warten müssen, befahl der Eigner und Kapitän des Schiffes schließlich verdrossen, man möge am unbefestigten Ufer unweit der Stadt auf Grund laufen lassen und dort notgedrungen aussteigen und abladen. Die Mühe schien ihm offenbar gering im Vergleich zu der misslichen Wartezeit, die er für einen günstigeren Landeplatz in Kauf nehmen musste. Fluchend trieb die Besatzung den Segler, den sie später nur unter großem Aufwand wieder vom Sand des Ufers herunterbekommen würde, in die Landung.
Eine breite Laufplanke fiel ins Flachwasser, über die die Händler ihre Waren herunterschaffen ließen. Alle Passagiere, die ihre Dinge auf dem Rücken tragen konnten und es wagten, sprangen vom Deck hinab, sechs oder sieben Fuß hinunter in die kaum bewegte Brandung.
Die Gefährten sammelten sich auf dem grauen Sand.
Mit dem Schiff und seiner menschlichen Fracht verband sie nichts mehr, und so, froh, wieder festen Boden unter den Stiefeln zu haben, schlugen sie den kurzen Weg längs der Küste zur Ortschaft ein.
Ifrah, die unter ihrer Reisekleidung Teile ihrer Rüstung wieder angelegt hatte, blickte zu Menrad.
Er stand eine Weile lang reglos da, den Rücken zum Meer, das die Welten trennte, und sah landeinwärts, wo der Uferstreifen in flaches Grasland überging. Bis auf die Geräusche des Schiffes, das abgeladen wurde, und das noch ferne Klanggewebe aus der Küstenstadt war es seltsam still.
Die hochaufgerichtete Gestalt des Paladins in ihren mitgenommenen Gewändern, in halber Rüstung, schien im Lauschen erstarrt. Schließlich schloss er zu den Gefährten auf, die schon einige Schritte getan hatten.
Beim Näherkommen verstärkte sich der Eindruck, dass in Santére kein gewöhnlicher Betrieb herrschte, und wurde zur Gewissheit.
Zelte und Windschutze lagen um die Stadt wie die Lager eines rastenden Heeres. Überall waren Menschen, duckten sich unter Planen hindurch, sammelten sich in Gruppen, saßen am Ufer. Weder Gemeinsamkeit noch Ordnung waren zu erkennen.
Versprengte Söldner, sagte Ifrahs Gefühl ihr, Flüchtlinge. Vereinzelt gingen schwer Bewaffnete umher.
Vor den ersten Häusern, in den Straßen, die auf den überfüllten Hafen blickten, wurde das Gedränge dichter. Kaum merklich verstärkte die Gruppe ihre Wachsamkeit. Eya zog sich die Kapuze ihres Oberteils tiefer in die Stirn. Menrad und Hadan legten leise die Hände auf ihre Waffen.
Zwei oder drei Leute mussten sie vorsichtig ansprechen, bis ein Standbesitzer ihnen Auskunft über die Lage in Santére zu erteilen bereit war. Hastig ließ der Mann das dicke Kupferstück in den Falten seines Umhangs verschwinden, bevor er Menrad gegenüber eine knappe Verbeugung andeutete.
„Nein, von der alten Königsstadt erfahren wir hier wenig, Ordenskrieger“, murrte er. „Seht selbst, was für ein Durcheinander hier ist. Wenig tiefer im Landesinneren gab es eine Schlacht zwischen Euren Brüdern und den Hochlandmännern, die Pest soll sie holen.“ Er spuckte aus.
„Was ist mit dem Durchkommen nach Fadraîs oder nach Sevarh?“ erkundigte sich der Paladin ernst.
„Versucht es“, zuckte der Händler die Schultern. Ein unfreundlicher Blick streifte Ifrah und die beiden Anderen. „Aber seid auf der Hut. Komisches Volk habt Ihr da bei Euch.“ Er dämpfte seine Stimme kaum.
„Meine Begleiter sind meine Angelegenheit“, entgegnete Menrad.
Ifrah konnte eine Regung der Genugtuung nicht unterdrücken. Absichtlich deutlich funkelte sie den Händler an, der sich unter der Zurechtweisung des Paladins duckte, und warf ihr langes Haar zurück.
„Welche Kunde habt Ihr von den Unruhen in der Umgebung oder weiter im Westen?“ bohrte Menrad weiter, doch der Mann winkte ab.
„Kunde? Schlechte Kunde, wie zu jeder Zeit in diesen Tagen.“ Der Befragte knurrte missgelaunt. „Heere aus der Königsstadt, Mordbuben aus den wilden Randgebieten, wer kann das schon sagen? Niemand weiß Genaueres. Ihr seht ja das elende Pack überall in unserer Stadt. Wo sind die wohl alle hergekommen? Aus eben den Gebieten, in die Ihr wollt.“
Der Paladin wandte sich ab, schließlich offenbar überzeugt, dass aus dem Mann wenig mehr herauszubringen war. Mit umwölkter Stirn gesellte er sich zu den wartenden Gefährten, während Ifrah beobachtete, wie Hadan an den Stand trat.
Der Händler schrak sichtlich vor dem großen, bleichen Mann zurück, blickte dann aber mit widerwilligem Interesse auf den schweren Silberanhänger, den der Nekromant ihm auf den Ladentisch warf. „Was ist das für ein frevlerischer Tand?“ erkundigte er sich misstrauisch. „Das kann ich nicht weiterverkaufen.“
„Ihr könnt es einschmelzen lassen“, hörte Ifrah Hadans Stimme, der soeben, wie sie mit Bestürzung bemerkte, eines seiner Amulette weggab. „Was gebt Ihr mir dafür?“
Die Hand des Händlers griff nach einem Zögern zu und wog das Schmuckstück. „Das ist massive Arbeit“, äußerte er eher begehrlich als anerkennend. Als er aufblickte, zuckte er unter den starren Augen des wartenden Mannes regelrecht zusammen. „Drei Silberunzen und einen Kleinbeutel Kupfer“, beeilte er sich.
Die Magierin sah Hadan nicken, obwohl das Schmuckstück damit weit unter Wert verkauft war. Doch die Gefährten benötigten Zahlungsmittel. Aus Kurast waren sie ohne Lohn fortgegangen, nur mit ihren Habseligkeiten, und die Schiffspassage hatte ihre Barschaft erheblich verringert.
Betreten verfolgte die Magierin, wie der Händler rasch im Dunkel seines Standes verschwand. Hadan stand reglos und blickte auf den Ladentisch, dann aber wandte er ihr das Gesicht zu, eben als der Händler murmelnd wiederkehrte, und hob eine Braue.
Die knappe Bewegung ließ sie kurz stutzen, erneut überrascht über bislang unbekannte Seiten ihres alten Weggefährten, dann hob sich ihre Stimmung, und sie blickte mit einem kleinen Auflachen rasch zu Boden, damit der Händler ihre erheiterte Miene nicht sah.
Die Gefährten sammelten sich hiernach, um zu beraten, was sie als Nächstes tun sollten.
Menrad war der Einzige, den es drängte, geraden Weges nach Fadraîs zu gehen, doch als die drei Anderen an die Berichte von den Kämpfen im Landesinneren gemahnten, die einen vorsichtigen Aufbruch in die Westmarsch nahe legten, stimmte er nach einigem Wanken einem anderen Plan zu.
Sevarh, das etwas weiter südlich gelegen und ein Knotenpunkt der bekannten Überlandwege war, erschien ihnen als ein gutes Ziel.
„Sollten wir dort halbwegs sicher eintreffen, könnt Ihr immer noch rasch nach Fadraîs gelangen“, sagte Ifrah ernst, als sie die schlecht unterdrückte Unruhe des Paladins erneut bemerkte. Endlich an den Gestaden seiner Heimat angelangt, mit den unseligen Erfahrungen seiner Mission auf dem Herzen, musste es den Lichtkrieger mit Macht in die Hauptstadt seines Ordens ziehen.
Hier ist er nun derjenige, der die meisten Fragen hat, Fragen an seine eigene Gemeinschaft. Vielleicht ist seine Sorge auch mit Verbitterung gemischt. Was immer auch im Westen vor sich geht – die Vernachlässigung der Missionen muss für ihre überlebenden Männer wie ein Schlag ins Gesicht wirken. Sie erinnerte sich, dass ein alter Freund des Paladins, dem Anschein nach etwas wie ein väterlicher Vertrauter, im Osten gefallen war.
Verstohlen betrachtete sie sein schmales, angespanntes Antlitz, in dem die blasse Sonne Schatten und neue, harte Linien offenbarte.
„Lasst uns rasch aufbrechen“, beendete er die Unterredung, über den Hafenbetrieb blickend und ohne sein Drängen noch einmal zu erwähnen.
Ins Stadtinnere gehend, aufmerksam, statteten sie sich noch mit unverzichtbaren Dingen aus. So erstand Menrad einen schmucklosen, aber massiven Schild. Auch Wasserschläuche und Vorräte gingen in den Besitz der Gruppe über.
Mit sichtlichem Unbehagen, doch ohne Widerworte, nahm der Lichtkrieger hin, dass der Nekromant und Ifrah für alles Notwendige aufkamen, denn seine fadenscheinige Rüstung, seine Waffen und das graue Kettenhemd aus Pundar waren alles, was er noch besaß.
Hadan schwieg zu der stolzen Versicherung des anderen Mannes, ihnen das Aufgewendete zurückzuzahlen, sobald er seine Barschaft, die in Fadraîs lagerte, erreichen konnte. „Ihr seid ein Krieger, der uns mit seinen Fähigkeiten Dienste erwiesen hat, die sich nicht mit Geld aufwiegen lassen“, äußerte er schließlich, ohne den Paladin dabei lange anzusehen. „Im Landesinneren wird uns wenig Erfreuliches erwarten. Wir sind auf Eure Waffen und Eure Erfahrung angewiesen.“
Der kurze Wortwechsel verlief nüchtern und steif, und es schwang immer noch darin mit, dass besonders die beiden Männer sich immer aufs Neue zu akzeptieren lernen mussten. Freunde würden sie kaum jemals werden, aber Einer hatte gegen alle Widrigkeiten des Anderen Wert erkannt.
Die Bedrängnis führt uns zusammen, dachte Ifrah. Sie ging hinter den drei Anderen her, die Augen forschend auf das bunte Volk ringsum gerichtet. Fahrigkeit, Unsicherheit hing den Menschen an. Immer, wenn wir bedroht werden, ist es so. Und sie bewegte behutsam die Hoffnung im Inneren, dass eine bessere Zeit keine Unmöglichkeit war, in der die wenigen Gemeinsamkeiten wichtigere Bedeutung erlangten als alle Unterschiede.
Vor solchen Gedanken stand es sich närrisch und unbeholfen angesichts der Geschichte der Menschheit, der in so viele Richtungen verlaufenden Wege, die nie wieder zu einem engeren Pfad zusammenlaufen würden. Dennoch, im Kleinen hatte sie schon erlebt, was möglich war.
Die Uneinigkeit der Welt war ihr eigener größter Fluch und zugleich ihre größte Stärke.
Als die Mitte der Handelsstadt in flachere Bebauung, durchmischt mit weiteren Feldlagern, überzugehen begann und hinter den Häusern bereits die gewellte, gelblich-grüne Marsch sichtbar wurde, verlangsamte die Gruppe ihren Schritt.
Es hatte sie alle seltsam gedrängt, das Meeresufer rasch hinter sich zu lassen, doch nun schauten sie nachdenklich auf das weite Land, das ihnen seine Ausdehnung entgegenwarf.
Aus länger zurückliegenden Tagen, da sie noch zuvorderst Karawaneneignerin und keine Kampfmagierin gewesen war, wusste Ifrah, dass man zu Fuß von hier nach Sevarh wenigstens zehn Tage unterwegs war. Zehn Tage in ruhigen Zeiten.
Menrad schien ähnliche Gedanken zu haben, denn er verhielt und wandte sich zu den Anderen um. „Zu Fuß sind wir langsamer, als wir sein dürfen, und gegen Berittene, wenn wir ihnen begegnen und sie sich als Gegner herausstellen sollten, gefährlich unterlegen.“
„Das ist richtig“, meldete sich die Assassine zu Wort. „Wir brauchen Pferde.“
Linker Hand fand sich ein Haufen Zelte mit behelfsmäßigen Gattern, in denen Zugtiere, meist Ochsen einfacher Bauern, aber auch Pferde untergebracht waren.
Nachdem sie ihre Barschaft noch einmal gezählt hatten, übernahm der Paladin die Führung und steuerte auf eine Gruppe von Männern zu. Viele, die hier in Santére gestrandet waren, wussten nicht weiter und boten zum Verkauf, was sie nicht unbedingt behalten mussten. Die Angebote an Waren zeigten dies, unter denen man von mittelmäßigen Waffen über Hausrat bis zu persönlichen Dingen, die ihre Besitzer in der Not weggaben, um weitere Tage in den Lagern ausharren zu können, alles fand. Auch Tiere wurden verkauft, und zahlungskräftigen Abenteurern würde man gegen bare Münze sicherlich Pferde überlassen.
XXXII. Helle Gestade
Einen lichteren, strahlenderen Sommer hatte der mittlere Westen nicht gesehen, so lange die Erinnerung der Alten zurückreichte.
Im vorigen, unglückseligen Jahr noch heimgesucht von Schrecken, die aus dem Unerklärlichen das Land überfluteten, lagen die weiten Marschen und Grasebenen, die Felder und geregelten Siedlungen nach einem Frühling wiedereingekehrter Ruhe bereit für die Blüte und die Ernte. In den langen Nächten des Winters hatten die Menschen Zeit gehabt, das Überstandene zu bereden, und im Frühling waren sie zuversichtlich auf ihre Felder und über ihre Straßen gegangen.
Der Unruhe weit Herumkommender und Empfindsamerer hatten sie nicht viel Bedeutung zugemessen. Es gab immer Wolken am Horizont, Gerüchte aus unbefestigteren Gebieten.
Doch mit den wärmeren Monaten, mit dem Wind aus der fernen Wüste, der über die Ebenen strich, kam die Besorgnis auch zu den Festesten und Unverzagtesten. Kunde, die alte Königsstadt habe Einheiten in den hohen Norden entsenden müssen, erreichte die Dörfer. Im Süden zogen Männer des heiligen Lichtordens gegen aufbegehrende Gruppen, Magier, wie man sich flüsternd erzählte. Herolde aus den Ordensstädten bestätigten dies, wenn sie Rast bei den Weilern machten, und beruhigten die Bauern. Dennoch liefen viele Leute in die Gebetshäuser, rastlos plötzlich, ohne mehr zu finden als Empfehlungen zu leidenschaftlichem Glauben. Antworten hatte niemand.
Und als am Horizont vieler Gegenden, meist der südlichen und nördlichen Randgebiete, langsame Staubwolken wie von Stürmen aufzogen und nicht wieder vergingen, und erste Flüchtlinge das Land überquerten, wussten die Menschen, dass die zögerliche Unruhe nur ein Vorbote gewesen war.
Nicht lange, nachdem sie wieder begonnen hatten, alte Geschichten und Gerüchte über die Völker außerhalb des Ordensbereiches zu erinnern – die unbezähmbaren, hartgesichtigen Barbaren aus den tiefen Wäldern des Hochlandes, das schamanische Volk, das sich uneinsichtig der Eingemeindung in die fadraîsche Ordnung widersetzte, die frevlerischen Magierkulte aus den ungangbaren Sandmeeren – zogen die ersten Truppen über die Ebenen. Stark gerüstete Männer, Lichtkrieger und Söldner waren es. Man jubelte ihnen auf den Straßen zu oder schaute, beruhigt vorerst, auf ihre Einheiten. Gern gewährten die Weiler den rastenden Paladinen, was sie an Nahrung und Diensten geben konnten. Schließlich aber wurden es mehr, zu viele, und sie zogen rascher vorbei.
Den einfachen Leuten versicherten sie, die Grenzen des mittleren Westens gegen jede Bedrohung zu sichern. Sie sollten indes getrost weiterarbeiten, sich nicht sorgen, aber dies wurde schwierig, weil die ersten männlichen Burschen eingezogen wurden. Dann schickte man auch nach den Familienvätern, noch nicht oft, doch oft genug, dass ein Raunen im Land anhob: es ist Krieg.
Und viel zu bald überschwemmten Kämpfe die äußeren Dörfer. Die Menschen flohen, andere harrten aus, solange sie konnten. Denn sich die wenigen Habseligkeiten auf den Rücken zu packen und mit weinenden Kindern und lahmen Alten ins Ungewisse zu ziehen, mochte kaum besser sein, als Haus und Hof zu verteidigen.
Die riesigen Staubwolken erreichten die dichter besiedelten Gebiete. Mit ihnen kamen Schreckgestalten, heruntergekommene Paladine, deren Ziel nicht mehr sicher schien, oder Reiter mit barschen Befehlen. Söldner, die den Höfen abforderten, was sie noch besaßen, und Hand an die Frauen legten. Und dann nahten auch riesige, wild aussehende Männer, Hünen im gelben Schatten der aufgewirbelten Erde.
Angstvoll, verzweifelt verbargen sich die Menschen in ihren von Heeren umspülten Höfen. Das Beben des Bodens unter stampfenden Füßen riss kaum noch ab. Mutige warfen sich auf ihre Klepper und suchten in nahen Städten oder Ordensposten nach Hilfe, doch selbst wenn man sie anhörte, scheuchte man sie wieder fort. An den Ufern des großen Mittleren Meeres irrten Flüchtlinge umher. Es verbreitete sich die Schreckensbotschaft, der hohe Norden fahre mit viehischem Hass gegen die Westmarsch, um zu morden und zu brandschatzen, und wo immer die Menschen der hünenhaften Männer aus dieser fernen Gegend ansichtig wurden, rannten sie um ihr Leben.
Alles Beten schien nicht zu helfen. Es hieß in den elenden Flüchtlingslagern, in den überrannten Küstendörfern, fürchterliche Kriegsherren seien unter den kommenden Barbaren, halbe Dämonen einer älteren, verdrängten Zeit. Sie beherrschten nachts die Angstträume der Kinder, hatten keine Namen, so dass die Menschen ihnen welche gaben, besonders einem, von dem die verwehten Truppen sprachen. Den Schlächter nannte man ihn, oder auch andere, niemand wusste Genaueres.
An den Küsten starrten die Leute auf das Meer, doch auch von dort war keine Hilfe zu erwarten.
Über das Meer kamen nur einzelne Schiffe.
Mitten auf der spiegelnden Fläche des Meeres steuerte das Schiff in gerader Linie nach Westen. Aufgefrischter Ostwind hielt seit Tagen an, und es machte gute Fahrt.
Die Männer oben in der Takellage oder im Ausguck vermuteten Land in der Nähe nur noch einer Woche, doch noch war die See eine grenzenlose Weite silbrigen Hellblaus, die sich am Horizont leicht wölbte.
Den Mitfahrenden blieb nicht viel zu tun, als sich die Zeit mit Vorbereitungen für die Landung, Unterhaltungen, Würfelspiel und Musik zu vertreiben. Im Schiffsbauch gab es neben den Lagerräumen nur wenige Schlafplätze, und so lebte und ruhte die Mehrzahl der Menschen an Deck. In Gruppen zusammenhockend, lauschten sie den Erzählungen weit Herumgereister oder den Klängen der Musikinstrumente, den Trommeln, der Dshudra, einem Saiteninstrument aus der westlichen Wüste, und den überall verbreiteten Sackpfeifen. Andere hielten sich große Teile des Tages oder auch der Nacht, wenn das Meer unter Tausenden heller Sterne einem leise bewegten, endlosen schwarzen Tuch glich, an der Reling auf. Die, die im Osten verwundet worden waren, kauerten geduldig an Masten und in schattigen Winkeln und harrten ihrer Genesung.
Ein Besatzungsmitglied verdrängte sie mürrisch von ihrem Platz, und Eya wich dem Mann aus, um sich einen anderen Ort an der Reling zu suchen. Ein Stück weiter, in der hinteren Mitte der Schiffsseite – nicht vorne, wo der Bug gegen den Westen und die ungewissen folgenden Zeiten vorstieß, und auch nicht am Heck, wo das zurückfallende Meer noch zu deutlich einen Bogen nach Kurast spannte – lehnte sich die Assassine wieder an das sonnenwarme Holz.
Man konnte Stunden um Stunden in die klare Weite starren, dieses helle, zweigeteilte Bild, nur Himmel und Wasser, bis es einem tief in die Sinne drang. In der Enge des Schiffes war ihr diese Klarheit und Grenzenlosigkeit ringsum eine Erleichterung.
Unzählige Male war sie unter der Besatzung herumgegangen, hatte nach verborgenen Waffen gespäht, den Äußerungen der Männer gelauscht, doch es schien niemand Verdächtiges darunter. Sie konnte ihr geschultes Misstrauen nicht ablegen. Zumindest aber durfte sie hier, für die Dauer dieser Tage, vielleicht rasten.
Der Wind fuhr ihr durch das Haar, das sie mit einem Messer wieder auf Halbfingerlänge gestutzt hatte, es nur im Nacken etwas länger lassend. Unbewusst, streifte es sie warm. Hadan pflegte hineinzugreifen, am Tage oder auch, wenn sie sich liebten, fest, als wolle er immer wieder sichergehen, dass sie Wirklichkeit war.
Mit lichten Flecken vom langen Hinausstarren in das ewige Silber und Blau vor den Augen, sah sie auf ihre Hände. Schmal und feingliedrig lagen sie auf der Reling. Die Kämpfe hatten sie muskulös gemacht. Ein Ringfinger, einst gebrochen, war ein wenig krumm, und die Knöchel zeigten hellere Haut von den ständigen Stößen gegen die Griffe und Verstrebungen ihrer Großkrallen.
Hier auf dem Schiff ging sie mittlerweile ohne Waffen, bis auf zwei Messer, die so eng an ihre Hüfte und an einen Schenkel gebunden waren, dass man sie unter den groben, weiten Hosen nicht sah.
Aufblickend bemerkte sie Hadan, der durch den Gang zwischen Reling und Schiffsaufbau auf sie zukam. Auch seine Rüstung, die schweren, düsteren Panzer, lag unter Deck in einer fest verschlossenen Truhe, wie fast alle Dinge der Gefährten. Das offene Kurzschwert an seiner Seite fiel unter den Menschen an Bord des Schiffes nicht weiter auf. Viele trugen irgendetwas, Dolche, Säbel, die üblichen, wenig bedrohlichen Waffen Reisender.
Sie wusste, dass er die stickigen, feuchtwarmen Tiefen des Urwalds freieren Landschaften vorzog, dass er zu offenes, zu helles Licht nicht mochte, aber es stand ihm gut. Als er neben sie trat, wollte sie sagen, lass uns die schwarzen Rüstungen ablegen, das ganze sperrige Gewicht der Waffen und Amulette. Lass uns nicht mehr kämpfen, irgendwohin gehen, nur so, wie wir sind. Doch der Tag, an dem sie auf dies hoffen konnte und in der schwachen, zärtlichen, verzweifelten Hoffnung solche Worte wagen, war fern und vielleicht für sie beide nicht mehr zu erreichen.
„Gibt es Neuigkeiten über den Zeitpunkt unserer Ankunft?“ fragte sie stattdessen, ein paar Trockenfrüchte annehmend, die er ihr reichte.
„Wenn das Schiff weiterhin so gute Fahrt macht, vermuten sie, in fünf Tagen Land zu sehen“, antwortete er. „Bis dahin sollten wir jede Gelegenheit nutzen, um uns auszuruhen, denn ich glaube nicht, dass uns der Westen allzu freundlich empfangen wird.“
Schweigend bedachte Eya, dass sie selbst die Westmarsch einst nur in großer Hast und gewohnter Heimlichkeit durchquert hatte, dann weit südlich, fast schon in der Wüste, nach einem Auftrag dort gestrandet war, um wenig später von der Bedrängnis Lut Gholeins zu hören und von einer Schar Abenteurer, die sich angeblich auf die Verfolgung der Quellen des Übels im Land begeben hatte. Sie selbst kannte nirgendwo viel mehr als Vorsicht und Misstrauen, doch für die Anderen mochte der Westen ein Weltteil sein, in dem sie offener als anderswo angefeindet wurden.
Wie sich die damaligen Mitglieder der Gruppe in der Westmarsch gefunden hatten, wusste sie nicht. Sie war erst mitten in der Wüste zu ihnen gestoßen.
Ohne dass sie es wollte, brachte das Zurückdenken die Erinnerung an vertraute, schon verblasste Gesichter wieder, längst zu Staub geworden im Sog der Zeit.
Hadan spürte ihre plötzliche Bedrückung wohl, denn er legte eine Hand auf ihre Rechte und fragte: „Was bekümmert dich, Shatryindjah?“
„Die Vielen, die wir schon verloren haben“, gab sie heiser zurück. Dann sah sie zu ihm auf. „Nach unserem Abschied... warst du nicht betraut damit, ihre Heimatorte aufzusuchen, um ihren Hinterbliebenen von ihrem Tod zu berichten?“
Er schwieg eine Weile. „Willst du, dass ich dir davon erzähle?“
Vor all der Übermacht an Befürchtungen und Unwägbarkeiten geriet jedes Ausweichen auf andere Dinge zu seltsamer, weil doch vergeblicher Ablenkung, doch für diesen Augenblick ließen die fernen Gefallenen Eya nicht los. Sie wollte nicht über das sprechen, was vor ihnen allen lag, ihm für eine Weile entrinnen.
Weiter hinten auf dem Schiff, unter anderen Reisenden, doch weit genug von ihnen entfernt, setzten sie sich zu Füßen einiger fest aufgebockter Kisten.
Hadan erzählte ihr von Malenas Heimatort, Malena, der Amazone, die weit mit der Gruppe mitgereist und vor den Toren des belagerten Harrogath gefallen war.
Auf der anderen Seite des westlichen Kontinents, weit im Süden, lag die Insel Varda, von der sie gestammt hatte.
Nach der Reise zu den Menschen im Hochland und zu dem Dorf in der äußeren Wüste, wo er die Vertrauten zweier weiterer Verstorbener mit Mühe gefunden hatte, war Hadan mit einem der Boote nach Varda übergesetzt, die zwischen dem Amazoneneiland und der Küste verkehrten.
Die Überfahrt war gut verlaufen, auch wenn die Fischer, die Besitzer des Bootes, sich lange geweigert hatten, den seltsamen, düsteren Mann mitzunehmen, der im Bug des Nachens gestanden hatte, für die Dauer der ganzen Fahrt, und sich selber gefühlt hatte wie ein Todesbote, schwarz im lichtdurchfluteten Glast des Meeres und der weiten, felsigen Küsten.
Doch kaum an Land, hatte er gewusst, dass er beobachtet wurde. Die Menschen in dem kleinen, ärmlichen Küstendorf hatten ihm den Weg ins Innere der Insel gewiesen, dann die Türen vor ihm verschlossen. Zwei Tage lang war er durch steiniges, fast baumloses Gebiet gewandert, in flirrender Hitze, ohne mehr zu sehen als von weißen Steinmauern umzogene Felder und ohne mehr zu hören als den leisen Gesang des trockenen, glühenden Landes und nachts das Zirpen zahlloser Zikaden. Und dennoch waren sie da gewesen, unsichtbar. Ihre Anwesenheit hatte ihn begleitet, eine Ahnung scharfer Augen nur, endlich dann Schatten auf einem Hügelkamm, als er an einer Quelle zum Trinken niedergekniet war.
„Ich glaube, es verging kein Augenblick seit ich den Fuß auf ihre Erde gesetzt hatte, in dem nicht Pfeilspitzen auf mich gerichtet waren“, sagte der Nekromant. „Bis zu einer Ansammlung von Dörfern ließen sie mich vor, um mich dann einzukreisen. Ohne den Armreif, den ich ihnen zeigte, hätten sie mich getötet, und selbst als sie das Schmuckstück wiedererkannten, glaubten sie offenbar zuerst, ich hätte Malena umgebracht.“
„Aber warum hättest du sie dann aufsuchen sollen?“ fragte Eya überrascht.
„Das ging ihnen glücklicherweise auch bald auf.“ Hadan blickte auf das Deck. „Aber sie waren fast wild vor Kummer. Du hättest sie sehen sollen. Nie zuvor und nie wieder habe ich unnahbare Frauen so bitterlich klagen hören. Malena war nie redselig gewesen, und wir hatten angenommen, dass man sie verstoßen oder dass es andere missliche Gründe gegeben hatte, aus denen heraus sie ganz allein in die vom Übel bedrohten Gebiete aufgebrochen war. Doch hier schien es eher, dass man sie hoch geehrt hatte und schon lange schmerzlich vermisste.“
Vor Eyas innerem Auge erstand noch einmal das Bild der nicht mehr jungen, sehnigen, flachsblonden Kriegerin. Durch Hadans Erzählung gesellte sich nun das ferne Varda hinzu, in seinen Worten aus dem Meer tauchend. Sie konnte das felsige Eiland beinahe vor sich sehen, das sie nie erblickt hatte, seine ausgebleichten, erdigen Farben, und fast den Duft von Korkeichen und Kräutern riechen.
Wiederum sprengte das Sehnen nach einem anderen Leben ihr nahezu die Brust, der Wunsch, weithin durch die Welt zu wandern, sich mit Nächten unter freiem Himmel zuzudecken, ohne Angst vor Verfolgung, ohne die Hast eines Auftrags.
Sie sah auf, als sich Ifrah zu ihr und Hadan gesellte.
Nach der Schlacht um Kurast zunächst ohne sichtbare schwerere Anzeichen von Erschöpfung, war die Magierin nach dem Betreten des Seglers regelrecht zusammengebrochen. Fast immer schweigend, müde, war sie unruhig auf Deck herumgestrichen, um dann für einige Tage in einen Dauerschlaf zu versinken, einem Dahindämmern, das nur die Anderen besorgt und still überwacht hatten.
Eya ahnte, dass Ifrahs Verfassung nichts mit einer Auszehrung durch ihre Magie zu tun hatte, sondern mit ihrer Zerrissenheit zwischen ihrer selbstgewählten Verpflichtung und dem Süden des Kontinents, den sie verließen. Das Schicksal ihrer Tochter lag jetzt wiederum in den Händen anderer Menschen. Erst allmählich hatte sie begonnen, wieder munterer zu werden, und suchte die Nähe der Gefährten.
Hadan reichte ihr eine Hand zur Hilfe, als sie sich niedersetzte, und die Magierin wehrte es nicht ab.
Unsere Berührungen sind selbstverständlicher geworden, ging es Eya durch den Kopf. Vor einem Jahr noch beinahe Fremde, sind wir uns jetzt vertraut. Sie war unendlich dankbar dafür.
Ifrah dankte dem Nekromanten ihrerseits und sagte seufzend: „Alle Rast dieser Welt bringt mir meine Jugend nicht wieder zurück, das muss ich wohl einsehen.“
„Kennst du das Jahr deiner Geburt genau?“ erkundigte sich der Nekromant.
„Ich zähle diesen Sommer als meinen einundvierzigsten“, entgegnete Ifrah mit einem Ausdruck, der das Bedauern zeigte, das sich selbst nicht ganz ernst nimmt.
Die Assassine blickte zu ihrem Gefährten, der ein nachrechnendes Gesicht machte. Seitdem sie zusammen waren, hatte er mehrmals versucht, den ungefähren Zeitpunkt seiner Geburt wenigstens bezüglich des Jahres herauszufinden.
„Vierundvierzig“, sagte er dann, als habe er ein Spiel gewonnen, und sein Lächeln galt Ifrah, oder auch beiden Frauen, und war dem dünnen Verziehen der Lippen aus früheren Tagen sehr unähnlich.
„Damit hast du mich wohl ausgestochen, alter Mann!“ gab Ifrah zurück. Es war der erste Scherz seit langer Zeit, den sie von ihr hörten. Sie lachten.
Haben wir damals je gelacht? Ich kann mich nicht erinnern. Eya schmiegte sich an ihren Gefährten und atmete den Seewind ein, der sich mit seinem Geruch vermengte.
Unvermeidlich kamen sie, da sie nun auf einem Fleck saßen, noch einmal auf die Ursache der Unruhen im Osten zu sprechen und auf ihre Vermutungen über den Krieg in jenem Weltteil, dem sie sich jetzt näherten.
Selbst Menrad hatte vor Tagen den Verdacht auf rätselhafte Gemeinsamkeiten geäußert, auch wenn er sich weiterhin stolz anzunehmen weigerte, dass die Westmarsch von einem ähnlichen Verfall der Ordnung und des festen Glaubens heimgesucht war wie der östliche Kontinent. Doch die Unruhe der Menschen ließ sich nicht länger als bloße Überspanntheit abtun.
Die drei Gefährten sammelten noch einmal, was sie wussten oder zu wissen meinten. Travincal konnten sie dabei nicht meiden, und nach einigem Zögern sagte auch Eya ein paar Worte über ihre Wahrnehmung innerhalb des Tempels.
„Eine Macht hat den Kult des Kindgottes unterstützt und war auch mit dem Orden der Assassinen verbunden, vielleicht, um die Landbrücke zu kontrollieren“, äußerte der Nekromant finster. „In Anbetracht unserer Empfindungen, die sich, wenn auch unterschiedlich in ihrer Stärke, in Bezug auf etwas Bedrohliches gleichen, drängt sich der Fall des Weltensteins wieder in den Vordergrund. Wenn es nicht das alte Übel ist, und darauf gibt es keinen Hinweis, ist es etwas Neues, womöglich ebenso Schlimmes... oder Schlimmeres.“
„Was ist mit -„, Ifrah sah den großen Mann an, vorsichtig, brach dann im Satz ab und blickte bedeutsam auf seine Brust, ihre eigene mit der Rechten berührend.
„Nein“, sagte er. „Das nicht.“ Er versteifte sich kurz, als müsse er sich unbehaglich um eine in ihm wuchernde Masse schließen. „Dort hat sich nicht mehr gerührt als sonst auch.“ Er wich den Augen Eyas aus, die von unten her in sein Gesicht blickte, hielt aber ihre Hand, die nach ihm griff, fest. „Die Herren des Mondes waren eine Streitmacht alter Dämonen, Baal untertan und mit ihm untrennbar verbunden. Sollte seine Essenz mir je wieder begegnen, wovor Pakrah mich bewahren möge, werde ich es wissen.“
„Wenn sich mit der Zerstörung des Steins Grenzen geöffnet haben zu Ebenen, die einen solchen Schatten vorauszuwerfen imstande sind“, fasste Ifrah zusammen und drückte ihre rechte, braune Faust mit der linken, „dann Gnade uns das Schicksal.“
Schweigen senkte sich über ihre kleine Gruppe.
Benommen gingen ihre Blicke zu den ringsum außer Hörweite sitzenden, redenden, dösenden Passagieren, ihren fremden, so menschlichen Gesichtern, ihren Kleidern, die sich im leichten Wind bauschten und vertraute Gerüche von Schweiß, Rauchwerk und Lebensmitteln ausströmten.
Nach einer Weile, als wolle die Gesellschaft der Menschen sie aus ihren bedrückten Gedanken erlösen, erklang vom mittleren Teil des Schiffes her Musik, lauter als das fast nie gänzlich verstummende Tönen kleinerer Instrumente überall. Einige der Reisenden standen auf und gingen gutgelaunt nach vorne, um zu sehen, welche Gruppe das Schiff unterhielt.
Die Gefährten sahen auf. Ifrah rang sich ein Lächeln ab. „Das sind Trommeln aus dem nördlichen Osten, wenn mich nicht alles täuscht“, sagte sie und erhob sich. „Lasst uns hingehen und zuhören.“
„Du hast Recht“, Hadan stand ebenfalls auf und reckte die breiten Schultern.
Gemeinsam mit den zwei Anderen näherte sich Eya dem großen, freien Raum auf der Schiffsmitte. Allerhand Mitreisende drängten sich hier schon in einem weiten Kreis um mehrere dunkelgesichtige Männer, die auf dem Boden sitzend ein wahres Feuer ineinandergreifender Rhythmen spielten. Doch spielten sie sich erst warm, erriet die Assassine, die den Klang aus Hadans Heimat kannte.
Selbst die Besatzung störte den Kreis nicht durch ihr übliches, halb notwendiges, halb willkürliches Herumkommandieren. Das ganze Schiff, abgesehen von Steuermännern und Vereinzelten, die lieber für sich blieben, sah und hörte zu, froh um jede Unterbrechung der eintönigen Fahrt.
Die vielfältigen, noch wild umherlaufenden Einzelrhythmen verschmolzen nach wenigen Augenblicken zu einer einzigen Klangspur, eingängig und treibend.
Neben den Gefährten löste sich eine der wenigen Frauen, die noch unter den Passagieren waren, mit einem leichten Zögern aus den Umstehenden. Ihr Tonfall verriet, dass sie wie Ifrah aus der westlichen Wüste stammte, als sie ihren Begleitern, Männern in hellem Burnus und mit Kopftüchern, zurief: „Ich tanze!“ Sie breitete beide Arme aus und lachte.
Die hellen, seltsamen Augen Ifrahs trafen Eya, die vor Hadan stand, der beide Hände auf ihren Schultern ruhen ließ. Ein Funke lief über das Gesicht der Älteren.
Dann zwinkerte sie.
Was soll es, schien das Zwinkern zu bedeuten.
Ein Lächeln fasste ohne ihr eigenes Zutun nach Eyas Gesicht. Mit einer warmen, lebendigen Regung im Innern sah sie die fremde Frau unter dem Raunen einiger Zuschauer in die Mitte des Kreises gehen. Keiner der Trommler unterbrach sein Spiel, im Gegenteil, sie bleckten sogar freudig die Zähne.
Mitten auf dem Schiff, unter den knatternden Segeln, begann die Frau aus der Wüste zu tanzen.
Es hätte Ifrah sein können, dachte Eya. Die Magierin stand neben ihr und hielt den bernsteinfarbenen Blick auf die Tänzerin gerichtet, und ein Wechselspiel aus begleitender Freude und Traurigkeit lief über ihre schönen Züge.
Auch die andere dort mochte nicht leichten Herzens tanzen. Vielleicht hatte auch sie Menschen verlassen müssen, die jetzt fern waren, und eine Heimat, von der sie nicht wusste, ob sie noch zu den friedlichen Gegenden der Welt gehörte oder schon zu jenen, über die die Unruhe der Zeit hinwegfuhr. Vielleicht tanzte sie nicht aus Freude allein, tat es eher, um sich den Kummer von der Seele zu treiben.
Und doch konnte man nicht anders, als ihr hingerissen zusehen.
Eine Hand umfasste Eyas Leib und zog sie sacht nach hinten, und sie lehnte sich an Hadan.
Ja, was soll es. Dann tanzen wir eben, lachen und leben weiter, kämpfen für unser Leben. Tanzen, so lange es geht.
Die Musik lockte auch Menrad auf das mittlere Deck.
Langsam, halb widerstrebend, weil ihm der Sinn wenig nach Gesellschaft stand, ging er entlang der Reling nach vorne. Seine Rastlosigkeit hatte beständig zugenommen, seit das Schiff ausgelaufen war.
Noch außer Sicht zum Ort des Geschehens, blickte der Paladin auf das Meer hinaus.
Der Segler war ein schweres, bauchiges Gefährt, tief im Wasser liegend und nahezu überladen, so dass man um die ruhige See froh sein konnte. Mit jeder vergangenen Stunde schätzte er sich glücklich über die reibungslos verlaufende Überfahrt und wünschte dennoch, sich den friedlosen Küsten seiner Heimat nicht nur in einem besseren Frachtkahn zu nähern.
Gib mir eine Flotte und fünfhundert gut gerüstete Krieger, mit denen ich über das Meer komme. Lass mich, Himmel, in mein Land nicht zurückkehren wie ein halb vergessener Bettler.
Gegen seinen Willen ging ihm die fremdartige Musik, wiewohl ihm die Klänge seiner Heimat, die Zimbel, die Laute, das Horn, lieber gewesen wären, nun doch ein. Dann erreichte er das offene Deck, sah die umherstehenden Menschen und in ihrer Mitte eine Frauengestalt, die sich zu den Trommeln bewegte, als habe sie ihr Leben lang nichts anderes getan.
Es war eine Frau, die Ifrah sehr ähnlich sah, so ähnlich, dass sie eine jüngere Schwester hätte sein können.
Verwundert verhielt er.
Der große Mann hatte beide Arme um den schlanken Leib der vor ihm stehenden Frau gelegt, eng und mit einer offenen Leidenschaftlichkeit, die sich seltsam von seinem sonstigen strengen, fast herrischen Auftreten abhob.
Ifrah stand daneben, hatte ihr langes schwarzes Haar gelöst, mit dem der Seewind sein Spiel aufnahm.
Nicht wissend, ob es die Musik war, die ungebetene Erinnerung an eine zurückliegende Nacht in einer befreiten Stadt oder der Anblick der Tanzenden und des Paares, das aus seinem gegenseitigen Begehren in dieser Situation kein Hehl machte, spürte Menrad plötzlich die Schwere seines Fleisches, durch das sein Blut quälend drängte.
Kurz stand er reglos, ohne sich der Szenerie entziehen zu können, bevor er sich mit einem Ruck abwandte und einige Schritte zurücktat. Beschämt, zornig, war er sich seines Neides für einen unbehaglichen Moment lang bewusst. Die Keuschheit eines familienlosen Ordensbruders hatte er im Osten selten als schwere Bürde empfunden, hatte das gelegentlich aufkommende Verlangen im Gebet, in Aufgaben oder in körperlicher Ertüchtigung niederzwingen können.
Abrupt drehte er der Menge den Rücken und ging zum Heck zurück. Hier hinten hielt sich fast niemand mehr auf, nur ein Besatzungsmitglied, ein magerer, ältlicher Kerl, kauerte über frisch gedrehten Seilen und bestrich sie mit einer zähen Masse.
Menrad ließ einen der Bottiche, die an der Reling hingen, in das schäumende Heckwasser hinab und holte ihn gefüllt wieder herauf. Süßwasser wurde zum Waschen nicht mehr ausgegeben, so wuschen sich die meisten Passagiere überhaupt nicht oder beliehen höchstens, so wie er jetzt, das Meer.
Der Paladin zog das ausgebleichte, halb zerrissene Ordenshemd über den Kopf und leerte den Bottich über Gesicht und Oberkörper. Das Wasser lief ihm kühl den Leib hinunter. Das Gefäß abstellend, stemmte er beide Hände geschlossenen Auges auf die Reling, atmend in der willkommenen Erfrischung, während es von seinem Haupt zu Boden tropfte.
Schritte, dann ein Plätschern, ließen ihn die Augen öffnen und zur Seite wenden.
Hadan holte den Bottich ein und trat in den Schatten des Schiffsaufbaus.
Stumm verfolgte Menrad, wie der Andere ebenfalls sein Hemd ablegte und das Meerwasser über sich ausleerte, abgewandt, als wolle er der gnadenlosen Sonne und dem unerschütterlichen Blick des Himmels etwas nicht zumuten.
Aber Menrad sah es doch – ein halb von langem Haar verdecktes Geflecht zusammengezogener Haut, das die Muskeln des fremden Schulterblattes unterbrach, als sei ein gewaltiger Hieb dort hineingefahren. Wir wurden alle verwundet, ich und meine Gefährten. Ihr seht es ihnen vielleicht nicht an, aber keiner von uns ist unversehrt geblieben. Dann drehte der Nekromant sich um, nachlässig, sich das nasse Haar über den Kopf zurückstreichend, und das Licht offenbarte seine Vorderseite.
Menrad stockte der Atem. Die Brust des anderen Mannes war auf einer Seite verunstaltet von der schlimmsten Verletzung, die er je gesehen hatte. Verheilt war sie, doch seltsam unvollständig und ohne sich der schneeweißen Haut farblich wieder angeglichen zu haben. Kein Irrtum war möglich, obwohl ihr Besitzer doch vor ihm stand, lebte und atmete – er blickte auf die Verheerungen eines tödlichen Schlages.
Du solltest dreimal tot sein. Erst als der Paladin sich seines starren Blickes bewusst wurde, zuckten seine Augen fort. Nicht die oft fühlbare Aura fremder Macht und auch nicht die entsetzlichen Auswirkungen seiner Fähigkeiten, sondern diese Narben bewiesen, dass man es bei dem Anderen nicht mit einem gewöhnlichen Mann zu tun hatte.
Das Schweigen zwischen ihnen konnte das Offenbarte nicht mehr überdecken. Darum, versteift, sich nur langsam und ohne hinunterzusehen nach seinem eigenen Kleidungsstück bückend, hörte Menrad sich fragen: „Wie... konntet Ihr diese Verletzung überleben?“
Sein Gegenüber blickte ihn ausdruckslos an. „Durch eine Entscheidung, die mich viel gekostet hat. Das Fleisch, das Ihr seht, ist nicht das meine.“
Ohne noch den Stoff in seiner Hand zu fühlen oder die sachte Bewegung des Schiffes und den Wind, sagte Menrad: „Dann habt Ihr Euch versündigt. Der Himmel sei Eurer Seele gnädig.“ Übergraust, tiefernst und bar jeder Feindseligkeit sprach er es aus.
Die Augen des Nekromanten verdunkelten sich, bis ihr Blick kaum mehr an das geisterhafte Weiß erinnerte, das ihnen sonst zu Eigen war, und kurz rechnete Menrad fest damit, der Andere werde sich vergessen.
„Das Meiste dessen, was ich getan habe und an das ich glaube, würde Eurer Orden als Sünde oder als Frevel verurteilen, Paladin“, entgegnete er dann mit sichtlicher Beherrschung.
Die Männer schwiegen. Über ihnen knarrten die Taue.
Dann, ruhig plötzlich, setzte der Nekromant hinzu: „Aber Ihr habt Recht. Was uns unterschiedet, Euch und mich, ist nicht von Belang.“ Lauernd, spürte Menrad, hing zwischen ihnen die Fremdheit getrennter Menschenpfade, unüberbrückbar, älter als sie beide, doch er spürte auch, dass der Andere es müde war. „Ihr könnt gewiss sein, dass ich dafür bezahle, auch in der Beurteilung meiner eigenen Kaste.“
Stumm warteten sie, bis der Seewind sie getrocknet hatte, und kleideten sich dann wieder an.
Plötzlich streifte Menrad leises Bedauern. War es nicht so, dass er selbst erlebte, wie eine Übermacht an Prüfungen, an Kämpfen, die sich dem eigenen Einfluss entzogen, vorher fest gesetzte und gewahrte Grenzen einriss?
Selbst und gerade in der ärgsten Bedrängnis soll euer Glaube nicht wanken. Einer der lichten Fäden der Ordenslehre durchzog seinen Geist, aber er nahm ihn jetzt wie ein zerbrechliches Kind anderer, friedlicherer Zeiten, in denen kein Mann an seinen Idealen härter geprüft wurde als durch die Befestigung seines Landes und das vernünftige Ausfüllen seiner schicksalsgegebenen Stellung.
Um das Schweigen zu beenden, sagte er ablenkend: „Ich bete dafür, dass sich der Grund für alle Unruhen bald offenbart und die Befähigten sie zu beenden wissen, so der Himmel will.“
„Betet lieber für Euer und mein Seelenheil“, gab sein Gegenüber zurück. „Und ich bete derweil dafür, dass Ihr wiederfindet, was Ihr verloren glaubt, Paladin.“
Du Bastard, durchfuhr es Menrad. Aber Groll ließ sich nicht in ihm finden. Du siehst ebenso in mich hinein wie ich in dich.
Sich abwendend, stützte er sich wieder auf die Reling.
Möwen umkreisten die Masten des Seglers. Erst jetzt bemerkte er sie und hörte ihre Schreie. Er hob die Augen zu ihren schwerelos im Wind hängenden weißen Leibern, die gelegentlich in blitzschnellen Stürzen durch das freieste aller Elemente tauchten. Vögel – untrügliches Zeichen dafür, dass Land nahte.
So blieb er stehen, ging nicht auf das mittlere Deck zurück, wartete auf die Dämmerung, die einen weiteren Tag von der Zeit des Ausharrens abtrennen würde, und dachte an seine Rüstung und seine Waffen, die unter Deck verschlossen lagen.
Die Stadt, die das Schiff bei seinem Einlaufen vorfand, war völlig überlaufen und platzte aus allen Nähten.
Am Morgen des achtzehnten Tages nach seinem Aufbruch aus dem Osten näherte sich der Segler, schwerfällig im seichteren Gewässer, dem weiten, flachen Ufer des Westens. Grauhelle überstrich den wolkenlosen Himmel. Sich aufrappelnd, Befehle schreiend, auf der Suche nach ihren Habseligkeiten, bevölkerten die Passagiere das Deck und schauten auf die Küstenlinie und das Gewirr flacher Häuser, das sich zur Rechten erstreckte. Der Hafen von Santére stockte vor Booten aller Art und Größe, ärmlichen Nachen und Kähnen zumeist.
Da es sich absehen ließ, dass der große Segler lange auf einen Anlegeplatz würde warten müssen, befahl der Eigner und Kapitän des Schiffes schließlich verdrossen, man möge am unbefestigten Ufer unweit der Stadt auf Grund laufen lassen und dort notgedrungen aussteigen und abladen. Die Mühe schien ihm offenbar gering im Vergleich zu der misslichen Wartezeit, die er für einen günstigeren Landeplatz in Kauf nehmen musste. Fluchend trieb die Besatzung den Segler, den sie später nur unter großem Aufwand wieder vom Sand des Ufers herunterbekommen würde, in die Landung.
Eine breite Laufplanke fiel ins Flachwasser, über die die Händler ihre Waren herunterschaffen ließen. Alle Passagiere, die ihre Dinge auf dem Rücken tragen konnten und es wagten, sprangen vom Deck hinab, sechs oder sieben Fuß hinunter in die kaum bewegte Brandung.
Die Gefährten sammelten sich auf dem grauen Sand.
Mit dem Schiff und seiner menschlichen Fracht verband sie nichts mehr, und so, froh, wieder festen Boden unter den Stiefeln zu haben, schlugen sie den kurzen Weg längs der Küste zur Ortschaft ein.
Ifrah, die unter ihrer Reisekleidung Teile ihrer Rüstung wieder angelegt hatte, blickte zu Menrad.
Er stand eine Weile lang reglos da, den Rücken zum Meer, das die Welten trennte, und sah landeinwärts, wo der Uferstreifen in flaches Grasland überging. Bis auf die Geräusche des Schiffes, das abgeladen wurde, und das noch ferne Klanggewebe aus der Küstenstadt war es seltsam still.
Die hochaufgerichtete Gestalt des Paladins in ihren mitgenommenen Gewändern, in halber Rüstung, schien im Lauschen erstarrt. Schließlich schloss er zu den Gefährten auf, die schon einige Schritte getan hatten.
Beim Näherkommen verstärkte sich der Eindruck, dass in Santére kein gewöhnlicher Betrieb herrschte, und wurde zur Gewissheit.
Zelte und Windschutze lagen um die Stadt wie die Lager eines rastenden Heeres. Überall waren Menschen, duckten sich unter Planen hindurch, sammelten sich in Gruppen, saßen am Ufer. Weder Gemeinsamkeit noch Ordnung waren zu erkennen.
Versprengte Söldner, sagte Ifrahs Gefühl ihr, Flüchtlinge. Vereinzelt gingen schwer Bewaffnete umher.
Vor den ersten Häusern, in den Straßen, die auf den überfüllten Hafen blickten, wurde das Gedränge dichter. Kaum merklich verstärkte die Gruppe ihre Wachsamkeit. Eya zog sich die Kapuze ihres Oberteils tiefer in die Stirn. Menrad und Hadan legten leise die Hände auf ihre Waffen.
Zwei oder drei Leute mussten sie vorsichtig ansprechen, bis ein Standbesitzer ihnen Auskunft über die Lage in Santére zu erteilen bereit war. Hastig ließ der Mann das dicke Kupferstück in den Falten seines Umhangs verschwinden, bevor er Menrad gegenüber eine knappe Verbeugung andeutete.
„Nein, von der alten Königsstadt erfahren wir hier wenig, Ordenskrieger“, murrte er. „Seht selbst, was für ein Durcheinander hier ist. Wenig tiefer im Landesinneren gab es eine Schlacht zwischen Euren Brüdern und den Hochlandmännern, die Pest soll sie holen.“ Er spuckte aus.
„Was ist mit dem Durchkommen nach Fadraîs oder nach Sevarh?“ erkundigte sich der Paladin ernst.
„Versucht es“, zuckte der Händler die Schultern. Ein unfreundlicher Blick streifte Ifrah und die beiden Anderen. „Aber seid auf der Hut. Komisches Volk habt Ihr da bei Euch.“ Er dämpfte seine Stimme kaum.
„Meine Begleiter sind meine Angelegenheit“, entgegnete Menrad.
Ifrah konnte eine Regung der Genugtuung nicht unterdrücken. Absichtlich deutlich funkelte sie den Händler an, der sich unter der Zurechtweisung des Paladins duckte, und warf ihr langes Haar zurück.
„Welche Kunde habt Ihr von den Unruhen in der Umgebung oder weiter im Westen?“ bohrte Menrad weiter, doch der Mann winkte ab.
„Kunde? Schlechte Kunde, wie zu jeder Zeit in diesen Tagen.“ Der Befragte knurrte missgelaunt. „Heere aus der Königsstadt, Mordbuben aus den wilden Randgebieten, wer kann das schon sagen? Niemand weiß Genaueres. Ihr seht ja das elende Pack überall in unserer Stadt. Wo sind die wohl alle hergekommen? Aus eben den Gebieten, in die Ihr wollt.“
Der Paladin wandte sich ab, schließlich offenbar überzeugt, dass aus dem Mann wenig mehr herauszubringen war. Mit umwölkter Stirn gesellte er sich zu den wartenden Gefährten, während Ifrah beobachtete, wie Hadan an den Stand trat.
Der Händler schrak sichtlich vor dem großen, bleichen Mann zurück, blickte dann aber mit widerwilligem Interesse auf den schweren Silberanhänger, den der Nekromant ihm auf den Ladentisch warf. „Was ist das für ein frevlerischer Tand?“ erkundigte er sich misstrauisch. „Das kann ich nicht weiterverkaufen.“
„Ihr könnt es einschmelzen lassen“, hörte Ifrah Hadans Stimme, der soeben, wie sie mit Bestürzung bemerkte, eines seiner Amulette weggab. „Was gebt Ihr mir dafür?“
Die Hand des Händlers griff nach einem Zögern zu und wog das Schmuckstück. „Das ist massive Arbeit“, äußerte er eher begehrlich als anerkennend. Als er aufblickte, zuckte er unter den starren Augen des wartenden Mannes regelrecht zusammen. „Drei Silberunzen und einen Kleinbeutel Kupfer“, beeilte er sich.
Die Magierin sah Hadan nicken, obwohl das Schmuckstück damit weit unter Wert verkauft war. Doch die Gefährten benötigten Zahlungsmittel. Aus Kurast waren sie ohne Lohn fortgegangen, nur mit ihren Habseligkeiten, und die Schiffspassage hatte ihre Barschaft erheblich verringert.
Betreten verfolgte die Magierin, wie der Händler rasch im Dunkel seines Standes verschwand. Hadan stand reglos und blickte auf den Ladentisch, dann aber wandte er ihr das Gesicht zu, eben als der Händler murmelnd wiederkehrte, und hob eine Braue.
Die knappe Bewegung ließ sie kurz stutzen, erneut überrascht über bislang unbekannte Seiten ihres alten Weggefährten, dann hob sich ihre Stimmung, und sie blickte mit einem kleinen Auflachen rasch zu Boden, damit der Händler ihre erheiterte Miene nicht sah.
Die Gefährten sammelten sich hiernach, um zu beraten, was sie als Nächstes tun sollten.
Menrad war der Einzige, den es drängte, geraden Weges nach Fadraîs zu gehen, doch als die drei Anderen an die Berichte von den Kämpfen im Landesinneren gemahnten, die einen vorsichtigen Aufbruch in die Westmarsch nahe legten, stimmte er nach einigem Wanken einem anderen Plan zu.
Sevarh, das etwas weiter südlich gelegen und ein Knotenpunkt der bekannten Überlandwege war, erschien ihnen als ein gutes Ziel.
„Sollten wir dort halbwegs sicher eintreffen, könnt Ihr immer noch rasch nach Fadraîs gelangen“, sagte Ifrah ernst, als sie die schlecht unterdrückte Unruhe des Paladins erneut bemerkte. Endlich an den Gestaden seiner Heimat angelangt, mit den unseligen Erfahrungen seiner Mission auf dem Herzen, musste es den Lichtkrieger mit Macht in die Hauptstadt seines Ordens ziehen.
Hier ist er nun derjenige, der die meisten Fragen hat, Fragen an seine eigene Gemeinschaft. Vielleicht ist seine Sorge auch mit Verbitterung gemischt. Was immer auch im Westen vor sich geht – die Vernachlässigung der Missionen muss für ihre überlebenden Männer wie ein Schlag ins Gesicht wirken. Sie erinnerte sich, dass ein alter Freund des Paladins, dem Anschein nach etwas wie ein väterlicher Vertrauter, im Osten gefallen war.
Verstohlen betrachtete sie sein schmales, angespanntes Antlitz, in dem die blasse Sonne Schatten und neue, harte Linien offenbarte.
„Lasst uns rasch aufbrechen“, beendete er die Unterredung, über den Hafenbetrieb blickend und ohne sein Drängen noch einmal zu erwähnen.
Ins Stadtinnere gehend, aufmerksam, statteten sie sich noch mit unverzichtbaren Dingen aus. So erstand Menrad einen schmucklosen, aber massiven Schild. Auch Wasserschläuche und Vorräte gingen in den Besitz der Gruppe über.
Mit sichtlichem Unbehagen, doch ohne Widerworte, nahm der Lichtkrieger hin, dass der Nekromant und Ifrah für alles Notwendige aufkamen, denn seine fadenscheinige Rüstung, seine Waffen und das graue Kettenhemd aus Pundar waren alles, was er noch besaß.
Hadan schwieg zu der stolzen Versicherung des anderen Mannes, ihnen das Aufgewendete zurückzuzahlen, sobald er seine Barschaft, die in Fadraîs lagerte, erreichen konnte. „Ihr seid ein Krieger, der uns mit seinen Fähigkeiten Dienste erwiesen hat, die sich nicht mit Geld aufwiegen lassen“, äußerte er schließlich, ohne den Paladin dabei lange anzusehen. „Im Landesinneren wird uns wenig Erfreuliches erwarten. Wir sind auf Eure Waffen und Eure Erfahrung angewiesen.“
Der kurze Wortwechsel verlief nüchtern und steif, und es schwang immer noch darin mit, dass besonders die beiden Männer sich immer aufs Neue zu akzeptieren lernen mussten. Freunde würden sie kaum jemals werden, aber Einer hatte gegen alle Widrigkeiten des Anderen Wert erkannt.
Die Bedrängnis führt uns zusammen, dachte Ifrah. Sie ging hinter den drei Anderen her, die Augen forschend auf das bunte Volk ringsum gerichtet. Fahrigkeit, Unsicherheit hing den Menschen an. Immer, wenn wir bedroht werden, ist es so. Und sie bewegte behutsam die Hoffnung im Inneren, dass eine bessere Zeit keine Unmöglichkeit war, in der die wenigen Gemeinsamkeiten wichtigere Bedeutung erlangten als alle Unterschiede.
Vor solchen Gedanken stand es sich närrisch und unbeholfen angesichts der Geschichte der Menschheit, der in so viele Richtungen verlaufenden Wege, die nie wieder zu einem engeren Pfad zusammenlaufen würden. Dennoch, im Kleinen hatte sie schon erlebt, was möglich war.
Die Uneinigkeit der Welt war ihr eigener größter Fluch und zugleich ihre größte Stärke.
Als die Mitte der Handelsstadt in flachere Bebauung, durchmischt mit weiteren Feldlagern, überzugehen begann und hinter den Häusern bereits die gewellte, gelblich-grüne Marsch sichtbar wurde, verlangsamte die Gruppe ihren Schritt.
Es hatte sie alle seltsam gedrängt, das Meeresufer rasch hinter sich zu lassen, doch nun schauten sie nachdenklich auf das weite Land, das ihnen seine Ausdehnung entgegenwarf.
Aus länger zurückliegenden Tagen, da sie noch zuvorderst Karawaneneignerin und keine Kampfmagierin gewesen war, wusste Ifrah, dass man zu Fuß von hier nach Sevarh wenigstens zehn Tage unterwegs war. Zehn Tage in ruhigen Zeiten.
Menrad schien ähnliche Gedanken zu haben, denn er verhielt und wandte sich zu den Anderen um. „Zu Fuß sind wir langsamer, als wir sein dürfen, und gegen Berittene, wenn wir ihnen begegnen und sie sich als Gegner herausstellen sollten, gefährlich unterlegen.“
„Das ist richtig“, meldete sich die Assassine zu Wort. „Wir brauchen Pferde.“
Linker Hand fand sich ein Haufen Zelte mit behelfsmäßigen Gattern, in denen Zugtiere, meist Ochsen einfacher Bauern, aber auch Pferde untergebracht waren.
Nachdem sie ihre Barschaft noch einmal gezählt hatten, übernahm der Paladin die Führung und steuerte auf eine Gruppe von Männern zu. Viele, die hier in Santére gestrandet waren, wussten nicht weiter und boten zum Verkauf, was sie nicht unbedingt behalten mussten. Die Angebote an Waren zeigten dies, unter denen man von mittelmäßigen Waffen über Hausrat bis zu persönlichen Dingen, die ihre Besitzer in der Not weggaben, um weitere Tage in den Lagern ausharren zu können, alles fand. Auch Tiere wurden verkauft, und zahlungskräftigen Abenteurern würde man gegen bare Münze sicherlich Pferde überlassen.