Dein Wunsch sei mir Befehl
Dieses Kap. ist mal ein wenig länger, also was für die Leser, denen die sonstigen zu kurz sind.
Es ist auch eine Widmung dabei diesmal:
an Insidias, meine gute Freundin, und an Matthis, den kleinen Zauberer, der viel zu früh von uns gegangen ist.
.......
XXXVII. Wüstenwind
Noch bevor der erste Streifen Dämmerung im Osten erschien, brachen sie auf.
Es war ein Zug von über hundert Menschen, der das Barbarenlager in der Marsch südöstlich von Fadraîs verließ. Die meisten von ihnen hatten über Nacht kaum ein Auge zugetan. Ruhig und wachsam, in voller Rüstung und die Waffen griffbereit, setzten sich die Krieger in Bewegung, deren Weg nach Süden gehen sollte. Unter ihnen war eine Handvoll Menschen anderer Völker. Die wenigen Pferde trugen Gepäck und Wasser.
So ließen sie das Lager hinter sich, das zurückfiel – ein Fleck in der graublauen Weite der Nacht, gesprenkelt von kleinen feurigen Punkten. Schließlich sank es hinter eine Bodenwelle, und nur noch die besorgten Gedanken der Weiterziehenden verbanden sie noch damit. Es war ungeschützter noch als sie. Darum würde man es wenig später abbrechen, auflösen in einen zweiten Zug, der in die entgegengesetzte Richtung wanderte.
Sie aber gingen nach Süden, die Sonne, die bald aufgehen würde, zur Linken.
Ifrah blieb kurz stehen und trank einen Schluck aus ihrer ledernen Wasserflasche.
Es war dunkel, doch nicht mehr ganz. Der erste Vorbote der Dämmerung, ein denkbar schwaches Licht, reichte schon hin, dass sie die Umrisse des Zuges sehen und Einzelne unterscheiden konnte.
Man bewegte sich langsam, wollte sich nicht zu rasch von der Ebene entfernen, um wenigstens auf zwei oder drei Tagesmärsche hinaus für mögliche Boten noch erreichbar zu sein.
Für die, die in der Schlacht gegen die Paladine verwundet worden waren, war dies ein Glück.
Unweit von ihr machte sie Hadan aus. Der Nekromant hinkte. Er hielt sich etwas abseits, eine einsame, hohe Gestalt mit schlaff hängendem Mantel. Kaum ein Wind regte sich, und die Luft war mild.
Eya konnte sie nirgends entdecken, vermutete aber, dass sie weite Kreise um die große Gruppe zog, wie es ihre Gewohnheit war. Die Assassine hatte sich rasch erholt und ihre schwerelos anmutende Leichtfüßigkeit zurückgewonnen.
Menrad sah sie, als sie sich umdrehte. Er bildete mit drei Barbarenkriegern das Schlusslicht des Zuges, und sie erkannte ihn nur an seiner schmaleren Statur. Es war nicht auszumachen, ob die anderen Männer seine Nähe duldeten oder ob sie ihn mit verbliebenem Misstrauen im Auge behalten wollten. Niemand tat ihm etwas, einige verfolgten ihn gar mit nachdenklichem Ausdruck, wenn er schweigend unter den Barbaren umherging. Aber er war für sie nach wie vor ein Westmarschener, und vielleicht fürchteten manche, er könne sich davonmachen und die Krieger schließlich doch verraten.
Die Magierin blickte wieder nach vorn und setzte ihren Weg fort.
Die weite, sachte gewellte Ebene, in sich immer ein wenig gleichförmig, brachte ihr die Erinnerung an den vorigen Tag zurück. Sie erschauerte. Bevor das Bild ausgebreiteter, leuchtender Schwingen sich in ihr verfestigen konnte, stieß sie es fort.
Ich will jetzt nicht daran denken. Erst wieder, wenn wir in kleinem Kreis davon sprechen... wenn es unumgänglich ist.
Einen Blick unbestimmter, lähmender Furcht hinauf zum Himmel konnte sie nicht unterdrücken, und sie war froh, nicht allein auf diesem Fleck Erde zu sein. Dann warf sie ihre Gedanken mit aller Kraft nach Süden.
Die Wüste.
Hoffentlich erweist sich unsere Entscheidung als richtig.
Doch selbst wenn es nicht so war, würde sie nicht wieder nach Norden gehen.
Denn von Süden dämmerte nicht nur die Gegend ihrer Heimat herauf, vielleicht schon in Unruhen gefangen – von Süden würde auch Maysan kommen.
Wo bist du jetzt, kleiner Stern? Ich bete jeden Morgen und jeden Abend zu Badr, der Sonne, und zum Nachtgestirn Junah für deine Sicherheit.
Sie begann fester auszuschreiten, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.
Für die Hünen, die sie überholte, waren diese Schritte von ähnlichen Hoffnungen begleitet: Antworten zu finden, Dinge zu durchschauen, um das eigene Land besser schützen zu können. Sie aber ging, wenn das Schicksal es wollte, auch einem Wiedersehen mit ihrem Kind entgegen.
Fast meinte sie, obwohl der mittlere Westen sie noch fleckenlos umgab, Musik zu hören – die Trommeln der zwischen riesigen Dünen aufgebauten Nomadenzelte, den Gesang des Windes.
Die Männer, an denen die nicht sehr große Frau in der eigentümlichen Rüstung vorbeischritt, warfen ihr erstaunte Blicke zu. Sie waren fremd hier, doch sie ahnten, dass die Wüste, von der sie noch viele Tagesmärsche trennten, den warmen Wind gebar, der ihnen tags entgegenwehte und der auch jetzt allmählich anhob. Die Frau schien in ihn hineinzustreben, zuversichtlich und entrückt, als habe sie ihn lange missen müssen.
Ifrah mischte sich unter den großen Pulk, den die Krieger in der Mitte des Zuges bildeten.
Hier fand sie Marej.
Die junge Druidin wandte ihr das Gesicht zu, eben als das erste wirkliche Licht über den Horizont kroch. Es berührte die Gestalt der Frau, ihr hübsches, herzförmiges Antlitz, mit blassem Grau und Orange.
„Nun gehen wir in deine Heimat“, sprach sie die Magierin von selbst an.
Ifrah nickte nur. Sie wollte der Anderen, die sich jetzt ihrerseits von den nördlichen Wäldern entfernte, ihre Freude nicht zu deutlich zeigen, ängstlich, es könne diese betrüben.
Stattdessen blickte sie auf den Leib der Druidin.
„Willst du nicht eines der Pferde nehmen?“ fragte sie und strich sich eine Haarsträhne aus den Augen. Marej mochte im vierten oder fünften Monat schwanger sein, und Ifrah bedachte, dass ein langer Marsch sie sehr ermüden musste.
„Sie bieten es mir immer wieder an“, gab Marej leise zurück. Mit einer Kopfbewegung wies sie vorsichtig auf die ringsum vorangehenden Männer. Man roch ihren Schweiß, hörte sie gelegentlich miteinander reden – raue, beruhigende Gesellschaft. „Aber es wiegt noch leicht.“
Sie ist stark, dachte Ifrah mit Wärme und Besorgnis.
Das ist keine gute Zeit für eine Frau ihres Zustandes und ihrer Gesinnung. Sie ließ zu, dass sich ihre Augen kurz mit denen der Druidin verschränkten.
Nein, für niemanden ist es eine gute Zeit.
„Du hast ebenfalls ein Kind“, sprach Marej nach einem Zögern weiter. „Wo ist es?“
Der leichte Schreck bewirkte, dass Ifrah nicht sofort antwortete.
Urel konnte seiner Gefährtin davon erzählt haben. Aber sie glaubte es nicht. War Marejs Fähigkeit, Leben und Blutsverbindungen in anderen Menschen wahrzunehmen, so hoch entwickelt? Sie hatte in der jungen Frau, die sie jetzt wartend und unsicher ob des kurzen Schweigens anschaute, keine Gestaltwandlerin vor sich, und ihre Erdmagie war gleichmäßig, aber nicht übermäßig stark ausgeprägt.
Vielleicht aber meisterte sie im Stillen eine ganz andere Art von Magie, ein Gespür, das weit über die Sinne hinausreichte, ähnlich wie das Hadans.
„Meine Tochter“, sagte sie schließlich „hat mich in den Osten begleitet.“ Maysan stand ihr plötzlich so deutlich vor Augen, dass sie ein schmerzliches Zucken ihrer Züge nicht verbergen konnte. Es glitt in ein bekümmertes Lächeln über. „Wir ließen sie an einem sicheren Ort, bevor wir in den Krieg zogen. Sie folgt uns nach, aber von Südspitze zu Südspitze der Kontinente. Ich hoffe, dass es dort weniger gefährlich ist als hier.“
Nun wird sie mich für eine sehr seltsame und gleichgültige Frau halten, für eine Rabenmutter. Ifrah wich dem Blick der Druidin aus.
Bin ich es nicht auch?
Aber als Marejs Stimme sie aus der heranbrandenden Welle von Schuldbewusstsein und alter, leiser Verzweiflung holte, war nichts Abgekühltes oder Vorwurfsvolles daran. „Das muss kein leichtes Schicksal für euch Beide sein... ohne Vater, ohne Gefährte.“
Ifrah sah auf.
„Verzeih“, Marej machte bedrückt die Lippen schmal. „Ich vermutete nur, dass es ihn nicht gibt. Sonst hättest du von ihm gesprochen.“
Sie kann ihn nicht in mir fühlen. Ein Brennen stieg der Magierin in die Augen, und sie blinzelte es weg.
Weil er tot ist. Weil er uns lange vor der Zeit verlassen hat.
Mit fest um ihren Stab geschlossener Hand ging sie dicht neben der Druidin her, ohne ihre Schritte oder die sie umgebenden Männer noch wahrzunehmen.
Marej beobachtete sie eine Weile lang schweigend. „Sie muss sehr stark sein, deine Tochter“, kam es dann von ihr. „Mutig und klug.“
„Ja“, hörte Ifrah sich sagen. Wie ein Lächeln wieder auf ihre Lippen fand, wusste sie nicht. „Das ist sie.“
Ich wünschte, ich könnte in die Zukunft schauen, kleiner Stern. Was für ein Leben erwartet dich?
„Ihr werdet euch sicher wiedersehen“, setzte Marej hinzu und sah erleichtert aus, als spüre sie, dass Ifrah ihr die vertraulichen Worte nicht übel genommen hatte. „Und dann wird Freude... oh“, sie stockte mit einem Mal und griff sich mit beiden Händen an den Bauch.
Bevor Ifrah über eine ernste Bewegung der Sorge hinauskam, löste ein Ausdruck des Staunens auf Marejs Zügen die Gespanntheit zwischen den Frauen.
„Es bewegt sich.“ Die zuvor feste Stimme war jetzt ein Flüstern.
Sie lächelten sich an, einander noch beinahe fremd und doch bereits Gefährtinnen in derselben unruhigen Zeit, mit Sorgen und mit Dingen des Lebens betraut, die sich kaum unterschieden.
Ifrah zuckte zusammen, als sich Marejs warme Finger um ihre eigene, etwas kleinere, kühle Hand schlossen. Das leise Ziehen endete auf einer weichen, aber von innen her gespannten Wölbung. Unter ihrer Hand, unter der nachgiebigen Oberfläche aus Stoff und Fleisch, stieß es. Deutlich stieß es gegen ihre Berührung, kräftig und entschlossen. Urels Kind.
„Es ist gesund“, lächelte sie in Marejs grüne Augen. Eine Freude, der sie nicht bis zu ihrem Ursprung nachspüren konnte, verschloss ihr die Lippen für weitere Worte.
Doch die Unterhaltung der Frauen wurde ohnedies unterbrochen.
Unruhe ging durch den sie umgebenden Trupp. Noch bevor Ifrah die Richtung, in welche die Köpfe sich drehten, sicher ausmachen konnte, löste sich aus der graublauen Dämmerung ein Schatten.
Jemand eilte herbei. Eya.
Der Zug war in weiten Teilen stehen geblieben. Die junge Assassine schlüpfte zwischen den Kriegern hindurch und gelangte in die Mitte. Dort traf sie auf Urel, und Ifrah sah beide einige Worte miteinander wechseln.
Vom Rand des Zuges kam auch Hadan heran. „Was kann geschehen sein?“ hörte die Magierin Marejs Stimme, während einer der flach übers Land sich breitenden Sonnenstrahlen das bleiche Haupt des Nekromanten hervorhob wie einen unvermuteten Fleck Helligkeit.
„Sie wird etwas ausgespäht haben“, murmelte Ifrah. Vor ihnen riss man einem der Pferde die Packtaschen samt Sattel herunter. Die Assassine warf sich auf seinen Rücken und preschte davon, dass den Zurückbleibenden die Erde um die Ohren flog.
Sie sahen die gewandte Reiterin rasch kleiner werden und mit der frühmorgendlichen Marsch verschmelzen.
Der gesamte Zug war jetzt alarmiert. Waffen wurden bereitgehalten. Ifrah hielt sich nah bei Marej.
Die verdrängte Angst des Vortages kam zurück. Unwillkürlich, bis ins Mark erbebend, sandte sie einen neuen Blick zum allmählich wie von Asche und Sand gestreiften Himmel empor. Seine Kuppel war stets ein unermessliches, doch sicheres Oben gewesen, ein vertrautes Dach über der Welt, und seine unfreundlichsten Regungen nur Eis, Gewitterstürme oder sengende Sonne. Nun aber drohte er mit jenen, die seine Gesandten genannt wurden, mochten sie auch nicht direkt aus ihm kommen. Wie sie Zugang zur Erde erlangten, war unbekannt, doch ebenso allgegenwärtig wie die Luft schienen auch sie.
Eya indes kehrte rasch wieder.
In der wartenden Menge sprach sie rasch erneut mit Urel und kam dann zu den Frauen hinüber. Hadan folgte ihr auf dem Fuße.
„Nur eine kleine Gruppe Wandernder“, beantwortete die Assassine die Fragen der Gefährten. „Vielleicht Flüchtlinge. Fünf konnte ich zählen.“
Dennoch zogen die Krieger mit allen Anzeichen der Vorsicht weiter.
Bald kamen die Menschen in Sicht, die Eya gesehen hatte.
Ifrah erkannte an der Bewegung der Gestalten Unruhe. Sie verhielten, wichen zögernd und hoffnungslos nach einer Seite aus, kamen dann zum Stehen. Wenn es tatsächlich nur Leute waren, die über die Ebene zogen oder flohen, so mussten diese angesichts des Heeres nun weit mehr Anlass zur Furcht haben als sie und ihre Mitstreiter selbst.
Die Barbaren hielten geradewegs auf die Gestalten zu – fünf waren es, fünf Menschen in leidlich ordentlichen Gewändern, dazu ein Hund, der den Zug der Krieger laut verbellte. Im aufhellenden Dämmer erklang eine Frauenstimme, die das Tier zurückrief.
Im Abstand von einem Dutzend oder mehr Schritten trafen die ungleichen Gruppen aufeinander und rührten sich nicht mehr.
„Ihr da“, Urel löste sich aus der Masse der Krieger. „Wer seid ihr?“
Die Sonne kroch über den Horizont. Ihr Licht zeigte ihnen die Wanderer genauer. Es waren drei Frauen, ein alter Mann und ein junger Kerl, fast noch ein Knabe. Er hielt eine zu einer schlechten Waffe umgebaute Forke schlagbereit – eine verzweifelte Drohgebärde gegen die Hundertschaft schwer gerüsteter Barbaren.
„Nimm das runter, Zaid“, ertönte dieselbe Frauenstimme, die schon dem Hund befohlen hatte. Sie zitterte kaum merklich. Dann trat ihre Besitzerin vor.
Ifrahs Anspannung schwand mit einem Mal. An der Fremden war etwas, etwas lange nicht Gefühltes.
Fast ohne Übergang fand sich die Magierin an Urels Seite wieder.
„Wir sind Vertriebene“, rief die Frau herüber. Sie schien die kleine Gruppe anzuführen. „Ich bin Azizah Beren al-Mahir. Wir kommen aus den Dörfern am Nordrand.“
Nordrand. Die Frau, wusste Ifrah, meinte die oft namenlosen Ansiedlungen zwischen den trockenen Ausläufern der Westmarsch und der tieferen Wüste. Ihr Name bestätigte dies, er zeugte von vermischter südlicher und mittelwestlicher Abstammung.
Und plötzlich ging ihr auf, was sie an der Fremden wiedererkannte. Sie raunte Urel ihre Vermutung zu und spürte kurz seine wuchtige Hand auf der Schulter. Der Barbar hatte sein riesiges Schwert wieder weggesteckt. Fünf Menschen waren keine Bedrohung. Er hieß Ifrah sprechen, funkelte die Gruppe aber unter gesenkten Brauen hervor an.
Ifrah trat vor. „Binjawl, Schwester.“ Das Licht fiel jetzt warm und beinahe blendend über sie her und zeigte ihre Rüstung, ihren Stab, ihre offene Linke.
Die Frau kam näher, zögernd, während die anderen Vier sich zu einem starrenden, stummen Haufen zusammendrängten. „Eine Magierin?“ Sie streifte die Kapuze ihres langen Reisemantels ab und enthüllte die nur leicht gebräunte Haut und das oft noch nicht dunkle Haar der Menschen der äußersten Wüstengebiete.
Ifrah nannte ihren Namen. „Ihr habt von uns nichts zu befürchten“, fügte sie hinzu. „Wohin zieht ihr?“
Aus der Nähe war die Frau besser zu erkennen. Sie war größer, als es Frauen der Wüste zumeist waren. Aus einem glatten Gesicht sprang eine kurze Nase keck hervor. Ihre Augen besaßen eine Farbe zwischen Blau und Graugrün und blickten mit klugem, ängstlichem Ausdruck auf die zahllosen Menschen der seltsamen Begegnung.
„Die Westmarschener haben alle Magiekundigen unserer Gegend offen zum Gehen aufgefordert oder vertrieben“, sagte Azizah. Eine Brise flocht ihr eine dunkelblonde Strähne aus dem festen Haarknoten. „Dort seht ihr noch meine Schwester und ihren Sohn, und eine weitere Frau aus unserem Dorf und ihren betagten Vater. Wir ziehen Richtung Norden, zu den Hügellanden nahe Selthe, wo es noch ruhiger ist, wie man sagt.“
„Warum habt ihr nicht Zuflucht in der Wüste gesucht?“ Ifrah spürte die Aufmerksamkeit der schweigenden Hünen im Rücken.
Bedrücktes Kopfschütteln antwortete ihr. „Lut Gholein ist unsicher“, Azizah heftete den Blick auf Ifrahs fragendes Gesicht. „Niemand weiß, was in der Wüste vor sich geht. Man hört seltsame, beängstigende Berichte. Eins aber ist sicher: Die Stadt hält ganze Horden von Söldnern neben ihren Soldaten. Selbst wilde Nomaden sollen darunter sein.“ Zwischen ihren Brauen erschien eine senkrechte Linie. „Kein Ort für Heimatlose. Daher haben wir uns in den Norden aufgemacht.“
„Auch dort herrscht Unruhe“, ließ sich jetzt Urel vernehmen. Die fremde Magierin schrak sichtlich vor dem Hünen und seiner dunklen Stimme zurück. „Ihr werdet in den Krieg geraten, wenn ihr nicht Acht gebt.“
„Das wissen wir“, entgegnete Azizah gedämpft. „Aber wir haben dort Verwandte, gute Leute. Sie werden uns Unterschlupf gewähren.“
Ifrah sah die Sprecherin den Kopf nach ihren Begleitern wenden. So verloren die fünf Menschen in der Weite wirkten, so beredt zeugte ihr Wagnis dennoch von Hoffnung.
Es ist uns wirklich eigen, uns neue Wege zu suchen. Verurteilt und verlacht wegen seiner Zerstrittenheit und seiner mehr verzweifelten als machtvollen Versuche, sich über die Eingriffe anderer Kräfte hinwegzuretten, wogte das Menschengeschlecht hin und her über die Erde. Jetzt aber, an diesem Morgen, hielt sie dieses Bild fest, anstatt sich seiner zu schämen.
Das ist immer noch unsere Welt. Hadans trotzige Worte fielen ihr ein.
„Hütet euch vor Fadraîs, Azizah“, sagte sie zu der fremden Magierin. „Sie sind mit den Vertretern einer anderen Sphäre im Bunde. Umgeht die Städte so weiträumig, wie ihr könnt.“
Um sie herum dauerte es auch ihre Gefährten, spürte sie, die Flüchtlinge nicht besser beraten zu können.
Doch nicht einmal ihr Zug bot jetzt noch Schutz, um so weniger, als er eben in die Richtung ging, aus der die fünf Wandernden flohen.
„Ich danke dir, Schwester.“ Azizah zog sich die Kapuze wieder über den Kopf. Der aufgekommene warme Morgenwind blähte sie, und ein letztes Mal waren die wachen, ernsthaften Augen der Frau zu sehen.
Dann trennten sich die ungleichen Gruppen.
Über die Schulter blickte Ifrah noch einmal zurück. Die fünf Gestalten verwandelten sich wieder in Mantelträger, weitergetrieben vom Wind, fortgezogen von der grenzenlosen Landschaft, gesichtslos, beinahe namenlos. Der Hund bellte noch einmal – ein dünner, einsamer Laut.
Dann wandte sie sich um.
Aus dem Westen zogen Wolkenberge der aufgehenden Sonne entgegen. Ihre Unterseite war dunkel, bald würde es regnen – ein warmes Sommergewitter.
Ja, die Wüste ist nah. In die behutsame Vorfreude der Magierin mischte sich Beklemmung.
Wenn selbst zu den abgelegenen Siedlungen zwischen der Marsch und der Wüste Kunde von beunruhigenden Vorgängen bei Lut Gholein gedrungen war, wartete kein letzter Zufluchtsort auf sie und ihre Begleiter.
Auf den breiten Gesichtern der Barbaren bemerkte sie Nachdenklichkeit. Auch ihnen war dies klar. Wohin sie auch gingen, das neue Zeitalter erwartete sie bereits.
Der Morgen war noch nicht weit fortgeschritten, als sich das Gewitter über ihnen zusammenzog. Als habe es sich den Heereszug dafür auserkoren, entlud es seinen Regen, gleichmäßig und nur unter wenigen Blitzen.
Nach kurzer Zeit waren sie völlig durchnässt.
Sauberer aber fühlte sich Eya dadurch nicht.
Klamme, wenn auch warme Feuchtigkeit drang durch ihr Lederzeug bis auf ihre Haut, doch die letzte Waschgelegenheit lag Tage zurück. Die junge Assassine strich sich tropfende Stirnhaare aus den Augen und spähte umher. Hadan ging mit gesenktem Kopf an ihrer Seite, und obwohl ihn das Wasser, das ihm aus den Haaren über das Gesicht rann, nicht zu stören schien, strahlte er leichte Verdrossenheit aus.
Sie lächelte in sich hinein.
Wir sind ein schmutziger Haufen. Da hilft auch kein Regenguss.
Das Wetter verwandelte den weichen Grasboden schnell in halmübersäten Schlamm. Bis zu den Knien hinauf waren sie mit Erde und Gras bespritzt.
Doch ebenso rasch, wie das Gewitter gekommen war, verging es wieder. Die hervorbrechende Sonne lockte Dampf aus Kleidern und Boden.
Weiter vorn verlangsamte sich der Zug, und Eya schaute durch die losen Reihen der Krieger.
Quer durch die vor ihnen liegende Ebene zog sich ein Fluss, blitzend im starken Licht, das Gewittern folgt – ein flacher Strom mit lehmigen, unbefestigten Ufern, wie man es in der Marsch abseits von Städten häufig sah.
Bald, in wenigen Tagen schon, würden Flussläufe seltener werden, dann ganz ausbleiben.
Hier aber gibt es Wasser noch überreichlich, von oben wie von unten.
Erleichtert bemerkte sie, dass der Zug Anstalten machte, kurz am Ufer zu rasten. Die Krieger würden ihre Schläuche auffüllen und sich säubern.
Sie vertraute Hadan ihre Waffen und die schwereren Rüstungsteile an und lief dann zum Rand des Wassers. Ifrah und Marej waren bereits hineingegangen, etwas abseits der Männergruppen, die sich auf dem lehmigen Ufer verteilten.
Eya watete zu ihnen hinaus.
Die Frauen wuschen sich Gesicht, Haare und Ausschnitt. Dass ihre Beinkleider dabei nass wurden, mussten sie in Kauf nehmen. Eyas Augen begegneten den bernsteinfarbenen und grünen der beiden Anderen. Sie drehte den Kopf.
Sie und ihre Gefährtinnen waren unweigerlich Anzugspunkt der Aufmerksamkeit, das brachte das Wandern unter Kriegsheeren von Männern mit sich. Die Barbaren hielten Abstand, doch man konnte sich im nahezu baumlosen Land nicht voreinander verbergen, und sie waren nicht weit genug von ihnen entfernt, um leichtsinnig werden zu dürfen – nicht einmal unter einem Volk, das halbnackte oder nackte Leiber freizügiger tolerierte als andere Menschen.
Manche der Krieger wandten den badenden Frauen merklich den Rücken zu, viele aber sahen durchaus her, ebenso unverblümt, wie die anderen rücksichtsvoll waren.
Hadan hatte sich am Ufer aufgebaut und stand zwischen dem Wasser und den Männern, und obwohl Eya sein Gesicht nicht sehen konnte, vermochte sie sich die finsteren Blicke vorzustellen, die er den Kriegern zuwarf.
Sie musste lachen. Der Nekromant wirkte wie ein eifersüchtiger Wachhund.
Marej und Ifrah folgten ihren Augen, dann brachen auch sie in unterdrücktes Gelächter aus.
„Einen eifrigen Beschützer hast du da“, die Druidin zwinkerte Eya zu. Das Wasser hatte sich bis zu ihrer Leibesmitte in das braune Hemd hineingesogen, das sie trug, und die Rundung ihres Bauches drückte sich anmutig heraus.
Ifrah holte ihren Mantel vom Ufer. Immer zu Zweien formten die Frauen daraus eine halbrunde Stoffplane, hinter der sich die Dritte sodann entkleiden und waschen konnte.
Beschämt zögerte Eya, bevor sie sich den Blicken ihrer Gefährtinnen aussetzte. Die Nähe des nackten Gewirrs aus Armen, Brüsten und Schenkeln war ungewohnt,
selbst unter ihnen, und sie schwankte zwischen alter Starre, dem Bewusstsein, wie hässlich die Narben ihren Körper übersäten, und heimlicher Neugier. Marejs und Ifrahs Fröhlichkeit aber befreite sie schließlich.
Als sie erfrischt ans Ufer zurückwatete, stand Hadan immer noch unbeweglich da. Die Krieger hatten sich weitestgehend entfernt und gingen anderen Beschäftigungen nach. Nur wenige schauten noch her.
Ihr feuchtes Haar mit einer Hand glattstreichend, blinzelte sie in das strenge, bleiche Gesicht, das auf sie herabsah. Ihr Lächeln sprang darauf über.
„Du kannst das Bewachen jetzt einstellen, Nâkyshat“, neckte sie ihn.
Hadan beobachtete sie mit einem Ausdruck, dem er immer häufiger freien Lauf gab und den sie erst mühsam, durch eine Vergangenheit fehlender Selbstsicherheit hindurch, als stilles, starkes Begehren zu erkennen gelernt hatte.
„Ich tue nur, was ein guter Gemahl tun sollte“, nahm er ihre Heiterkeit auf, die Züge übertrieben stolz gestrafft. Er ließ einen Blick über die nähere Umgebung wandern und sagte dann, leise und ohne sie direkt anzusehen: „Sei froh, dass wir unter zu vielen Leuten sind. Andernfalls wäre das Anlegen deiner Kleider jetzt reine Zeitverschwendung.“
Eya langte herüber und kniff ihn in den Arm.
Übergangslos aber wurden sie wieder ernster.
Es stimmte – sie liebten einander, sie lagerten unter guten Gefährten frei in der offenen Sommerlandschaft. Aber selbst das konnte den Schatten der vergangenen Tage nicht lange fernhalten.
Sie sahen sich an, verständigten sich ohne Worte.
Wenn wir über den Engel sprechen, wird der ganze Schrecken wieder über uns herfallen. Eya hielt seine merkwürdigen Augen fest, flehend fast.
„Ich weiß, Shatryindjah“, sagte der Nekromant. Auch wenn er nicht mehr so alt und abgezehrt aussah wie oft in früheren Tagen, war die Heiterkeit vollständig aus seinem Gesicht geschwunden. „Aber es muss sein.“
Den ganzen Tag über war der Kriegszug durch die Ebenen gewandert. Er hielt erst an, als die Dunkelheit hereinbrach.
Müde ließ sich Menrad im Gras nieder.
Er war zäh, und zu anderen Tagen hätte ein Marsch in gemäßigtem Tempo ihn kaum ausgelaugt, doch der Zermürbung durch den Kampf war keine Ruhepause gefolgt.
Vielleicht ist es meine innere Zermürbung, die mich schwach macht.
Der Paladin legte seine Waffen zum Gepäck und stützte den Kopf in eine Hand. Was er getragen hatte – weniger als das übliche Gewicht eines voll gerüsteten Kriegers sogar – hatte schwer gewogen, und die leichten Blessuren der Schlacht brannten wie Feuer.
Nach einer Weile drehte er das Gesicht, auf dem jetzt ein kurzer Bart erneut und ungepflegt spross, zur Seite und sah zu, wie die Menschen hin- und hergingen und sich für die Nacht einrichteten. Feuer glommen auf, über denen man das letzte Fleisch aus den Vorräten briet. Viel hatten sie nicht mitgenommen, und bald würde die Hundertschaft neue Lebensmittel und Holz auftreiben müssen.
Unweit zu seiner Rechten legten auch die engeren Gefährten ihre Ausrüstung ab.
Er ahnte indes, dass sie sich nicht ohne Weiteres zur Ruhe begeben würden. Er las es an ihren zögernden Bewegungen, an ihren noch schwach sichtbaren, nachdenklichen Gesichtern und vor allem an den Blicken, die sie gelegentlich in seine Richtung warfen.
Sie würden bereden wollen, was vorgefallen war, zum hundertsten Mal ihre Ahnungen und Befürchtungen abwägen.
Ihr lasst kein Vergessen aufkommen, dachte er mit einem Aufflackern im Innern, das er erst für Zorn und alte Abneigung hielt. Doch als er es greifen wollte, starr und unverwandt verfolgend, wie sie sich aufrichteten und herüberkamen, zerfiel es in bloße Müdigkeit und ein mattes, widerwärtiges Wundsein.
Diese Menschen traf keine Schuld. Es war die üble Zeit, nur die verfluchte, üble Zeit.
Menrad erhob sich auf die Knie, als sie bei ihm anlangten – Ifrah, Hadan, Eya und als Vierter Urel, der junge Kriegsherr der Barbaren. Letzterer hatte seine Waffe und seine Rüstung an einem anderen Feuer zurückgelassen, blieb aber eine beeindruckende Erscheinung, vor allem nun, da sich seine Körpermaße dem Paladin erstmals entkleidet und vollständig zeigten.
Hadan hob eine Hand, als Menrad sich auf die Füße hocharbeitete. „Wir können ebenso gut sitzen“, kam seine ruhige Stimme aus dem sonderbaren Antlitz, selbst in der Dunkelheit heller als alles andere ringsum. „Ich zumindest bin müde.“
Kurz, bevor die Unterredung begann, erwog Menrad mit erneutem Misstrauen, ob der Nekromant log. Denn der Ältere schlief immer seltener, wachte lange Stunden der Nacht hindurch und gebärdete sich insgesamt nicht wie ein Mann, der das Alter voller Kraft schon hinter sich gelassen hat.
Vielleicht ist es auch bei dir etwas Innerliches. Dem Paladin trat vor Augen, wie der dunkle Magier ihm meist erschien: Unermüdlich, ausdauernd, doch dabei oft schweigend und wie in sehr tiefe Gedanken versenkt.
Was geht in dir vor? Was tust du, während du gehst? Betest du zu deinen schlimmen und eigenartigen Göttern, webst du an den Mysterien deiner Kräfte?
Ein Erschauern packte ihn, als er begriff, was er tat. Anstatt sich angewidert abzuwenden, versuchte er, den Gedankenwelten eines Nekromanten nachzuspüren.
Er musste sich zwingen, nicht die Himmelsgeste zu vollführen, wie es Krieger des Lichtordens seit Jahrhunderten im Angesicht des Feindes taten.
Ifrah streifte ihn mit einem Blick, der wissender war, als es ihm gefiel.
Eine Weile lang blieb es still unter den fünf Gefährten. Sie scheuten sich, die leibhaftige Erscheinung des Engels durch Worte wieder in ihre Mitte zu holen.
Schließlich war es Ifrah, die sich leise räusperte. „Mir fällt es nicht eben leicht, meine Gedanken wieder auf das zu lenken, was gestern geschehen ist... was uns gesagt wurde. Und ich weiß, dass es euch ebenso ergeht.“
Die Anderen sahen vor sich hin, nickten vielleicht auch. Der Barbar hatte etwas Feuerholz mitgebracht und entzündete es nun.
„Wir wissen nicht, was in diesen Stunden ringsum im Land geschieht“, fuhr die Magiern fort. „Der Gedanke ist furchtbar, viel furchtbarer, als einem klaren Gegner gegenüberzustehen.“ Sie erzitterte sichtlich. Dann richteten sich ihre Augen auf den Kreis der Dasitzenden. „Diese Ungewissheit... Der Tag war bis auf eine kurze Ruhepause ganz erfüllt davon. Wenn unsere Gegner die Welt betreten können, wie es ihnen beliebt, wie sollen wir uns dann vor ihnen schützen?“
Menrads Rechte umkrallte ohne sein Zutun ein Grasbüschel, denn Ifrah sprach eine der finstersten Seiten der Bedrohung an, und vor seinem inneren Auge erstand Fadraîs, die stolze, befestigte Stadt. Noch weigerte sich seine Seele, die Himmelsgesandten tatsächlich mit den ungeheuren Ansprüchen der Offenbarung zu verbinden – doch wenn es stimmte, dass Fadraîs widerrechtlich Krieg angezettelt hatte, bedeutete dies den Einfluss der Engel. Bedeutete, dass die alte Königsstadt ihnen ebenso wehrlos ausgeliefert war wie jede andere Region, selbst wenn sie mit ihnen auf einer Seite stand. Und schlimmer, es hieß auch, dass sie sich schwer schuldig gemacht hatte.
„Ich glaube nicht, dass sie Sanktuario betreten können, wie es ihnen gefällt.“ Aller Augen richteten sich auf Hadan.
Der Nekromant fuhr durchs Gras, kratzte im Boden, die Lider halb gesenkt. Als er aufsah, schien er überrascht ob der starrenden Gesichter der Anderen. Menrad runzelte die Stirn, und seine Erschöpfung begann sich zu verflüchtigen.
„Soweit es überhaupt möglich ist“, fuhr der bleiche Mann fort „müssen die Worte der Mächtigen immer gesiebt werden, ob es nun Überlieferungen der Götter, Ansprachen der Herrscher oder Verkündungen solch höherer Wesen sind. Das lehrt einen ein Leben, in dem man Vielen hat zuhören dürfen.“ Ein Blick wie ein blasser Blitz ging zu seinen alten Mitstreitern. „Erinnert euch an
ihre Worte“, und Menrad ahnte, dass er von den ehemaligen Erzgegnern der Gruppe sprach. „Für sie gelten andere Gesetze, aber eben darum verschleiern sie gern, was sie sagen, und von da aus ist es nicht weit bis zur Lüge. Niederen gegenüber, die so leicht zu verstören sind – würde ein planender Geist da nicht auf falsche, lenkende Worte zurückgreifen?“ Er hielt kurz inne. „Ich würde es tun, wäre ich auf die Beherrschung der Menschen aus. Um so mehr, wenn diese mich bedrohten.“
„Du willst sagen... dass der Engel uns belogen hat?“ Die tiefe Stimme des Barbaren grollte.
„Belogen vielleicht nicht“, entgegnete Hadan. „Sicherlich aber auch nicht ins Bild gesetzt.“ Seine beunruhigenden Augen begegneten Menrad, wanderten dann wieder reihum. „Wir sind nicht wieder angegriffen worden. Warum? Das Lager war geschwächt, und ein Engel hätte gemeinsam mit einigen seiner Art leicht beenden können, was durch die Schlacht noch nicht beendet war. Aber nichts Derartiges ist eingetreten, zumindest noch nicht oder nicht gegen uns. Warum?“
Schweigen senkte sich über ihren Kreis.
Das alte, soldatische Kalkül belebte Menrad, und auch, wenn er sich geschworen hatte, nichts zu der Unterredung beizutragen, solange er nicht direkt angesprochen wurde, sagte er jetzt: „Ihr könntet Recht haben.“
Auch die Anderen sahen nachdenklich aus. Die Überlegung war noch keine wirkliche Hoffnung, aber sie mochte zumindest die Lähmung vertreiben, die sie alle vergiftete.
In Menrad indes blühte auch eine andere Hoffnung auf. Er konnte seinen Frieden mit der Vorstellung eines feindlichen Himmels nicht machen.
Beim Licht, nein. Sein Herz begann dumpf und rasch zu schlagen.
Der Born unserer Lehre, jene, die den Geist unseres Ordens stets inspiriert haben – sie dürfen sich nicht als taktierende Gegner erweisen, für die unsere Welt nur ein Zankapfel ist. Doch während er es mit ganzer Kraft empfand, flüsterte aus dem Teil seiner Selbst, den er seit jeher gefürchtet hatte – dem zweifelnden, rätselnden Teil – eine Stimme und nagte an seinem Glauben. Erbittert erstickte er sie.
Nun merkte er, dass die Anderen ihn beobachteten. Sie wurden Zeuge seines inneren Kampfes. Er konnte sich nicht verstellen, und jetzt schloss sich die Verzweiflung wieder um ihn, die er hatte aussperren wollen.
„Es handelt sich bei jenen, von denen unser Gegner sprach, gewiss um Abtrünnige“, sagte er. „Vielleicht war unser Gegner nicht einmal ein wahrer Engel. Vielleicht war es ein verwandtes, aber gefallenes Wesen.“
In der folgenden Stille verhallten seine Worte, und er musste selbst hören, wie beredt sie von störrischem Glaubenwollen kündeten. Er presste die Lippen aufeinander.
Die Anderen jedoch gönnten ihm keine Ausflucht. Gnadenlos meldete sich Hadans Stimme wieder.
„Glaubt es, so Ihr wollt, Paladin.“ Es klang nicht abfällig, aber auch nicht überzeugt. „Welche Aussicht aber sollten niedere himmlische Wesen haben, sich Sanktuarios zu bemächtigen? Und selbst wenn es so wäre, dass es nur einige von ihnen sind, die wir unsere Gegner nennen müssen, wo blieben dann die Hüter des Lichts, um die Welt zu verteidigen, vor allem dort, wo man in engerem Kontakt zu ihnen steht? Bedenkt, dass ein volles Jahr seit dem Fall des Weltensteins ins Land gegangen ist – Zeit genug offenbar, um sich über das mächtige Fadraîs in die Geschicke der westlichen Völker einzumischen, aber nicht genug Zeit, um dies von anderer Seite zu verhindern?“ Der Nekromant schlug die Augen nieder. „Nein, Menrad. Mögt Ihr mir verzeihen, aber ich teile Euren Glauben an die guten Absichten des Himmels nicht.“
Menrad stand auf.
Die betroffenen Gesichter der Runde verblassten. „Ihr frevelt“, sagte er leise und gefährlich.
Für die Dauer weniger Atemzüge stand er da und sah sie an, und sah doch niemanden. Dann wandte er sich ab und ging.
Hinter ihm wurde geflüstert, und er spürte die Unruhe des jetzt aufgebrochenen Kreises, doch er vermochte nichts weiter zu empfinden, als dass er so viel Abstand zwischen sich und diese Menschen bringen wollte wie möglich.
Er war noch nicht weit gekommen, nur einige Schrittlängen in die Dunkelheit hinein und an einen kaum sichtbaren, mit großen Felsen übersäten Hang heran, als die fühlbare Gegenwart Hadans ihn einholte.
Die Muskeln eisern gespannt, drehte er sich um.
Da war er, der ewige Widersacher, leise und bestimmt wie stets.
Ich verfluche den Tag, an dem ich dir begegnet bin.
Die Männer standen voreinander, Menrad mühsam beherrscht und außerstande, den Mund zu öffnen, der Nekromant geduldig, lauernd, doch mit einer selbst im Dunkeln deutlichen Haltung vagen Bedauerns.
„Paladin“, hörte Menrad ihn und sah nur seine Umrisse vor dem schwach helleren Hintergrund des Lagers, und seine Augen, die in einem seitwärts einfallenden Lichtschimmer glänzten. „Ich habe Euch bereits um Verzeihung gebeten, und es liegt mir fern, absichtlich Euren Konflikt weiter zu verschlimmern.“ Er brach augenblicklich ab, als Menrad sich regte.
Ernstlicher Zorn riss diesem die Zähne auseinander, gegen jedes Ideal des immer gefassten Lichtkriegers, gegen jede Ahnung, dass all diese Leute den Finger treffend auf die verwundbarste Stelle seines Daseins, des Ordensdaseins, gelegt hatten.
„Ihr frevelt, Totenbeschwörer“, warf er in das verdunkelte Antlitz. Die Wut loderte jetzt hell. Ohne einen Gedanken an Vorsicht oder Klugheit langte er nach der Stelle, an der sonst sein Kampfhammer hing. Ihm war wieder der Moment im fernen Travincal gegenwärtig, da er sich den gelegentlichen Antrieb eingestanden hatte, Hadan zu töten.
Die Augen verfolgten seine Bewegung, und auch wenn sich weiter nichts an dem großen Mann regte, wirkte er alles andere als unvorbereitet.
„Wie könnt Ihr es wagen!“ setzte Menrad hinzu. Seine eigene Stimme drang nur schwach durch das Brausen in seinem Kopf. „Ihr zieht das Licht und seine Güte in Zweifel!“
Der Andere schwieg.
„Es mag sein, dass Eure verderbten Götzenstätten Euch nichts weiter gelehrt haben als Unverfrorenheit“, knirschte der Paladin, alles Maß in der bösen Genugtuung über Bord werfend, der Verzweiflung und dem Hass freien Lauf zu lassen. Und es war ihm gleich, wie er sein Gegenüber damit beleidigte und ob es den Tod von Einem von ihnen bedeutete. „Aber ich werde nicht gestatten, dass Einer von Eurer Art sich anmaßt, das Licht und seine Hüter zu beschmutzen – egal, zu welcher Zeit!“
Hadan atmete hörbar ein. „Ihr missversteht mich, Menrad.“ Der Paladin wartete starr auf ein Abschmettern der Beleidigung. Doch es blieb aus. „Es ist nicht das Licht, das ich in Zweifel ziehe.“
„Eure Götter bedenken Euch vielleicht nicht mit dem Heil einer herbeigewünschten besseren Welt“, gab Menrad zurück, schneller, als es seiner Verwirrung über die letzte Aussage entsprach. „Sonst würdet Ihr nicht abfällig über etwas sprechen, das Ihr nicht versteht.“
Kurz meinte er, etwas wie ein seltsames, freudloses Lächeln auf dem kaum erkennbaren Gesicht des Nekromanten zu sehen, aber es verging so rasch wieder, dass er sich auch geirrt haben mochte. Und Hadans Stimme war tief ernst.
„Es ist nicht meine Absicht, das Fundament Eures Glaubens anzuzweifeln“, erwiderte er. Menrad ahnte seinen Blick auf seinem eigenen Gesicht. Er hielt den Atem an, um ihn zu beruhigen und um den bleichen Bastard besser hören zu können. „Ich habe niemals behauptet, das Licht existiere nicht, Paladin. Niemals.“
Es war sehr still.
„Das Licht ist Wirklichkeit“, fuhr Hadan langsam fort. „Alles in mir, das mich nicht zu sehr an die Lehren meiner Heimat bindet, sagt mir, dass es so sei. Ihr werdet überdies, wenn Ihr sucht, auch dort eine solche Vorstellung finden, doch tritt sie hinter unsere Götter zurück.“ Die Augen waren jetzt unbewegt auf Menrad gerichtet. „Die Götter existieren ebenfalls. Doch das ist hier nicht von Belang, und lasst es ruhig nur meine Ansicht sein... die sich täuschen kann, wie jede andere Ansicht auch.
Ihr habt für Euren Glauben meinen Respekt, Paladin.“
Menrad zuckte, doch bevor er seinem Misstrauen Ausdruck geben konnte, sprach der Andere weiter.
„In der Tat, Respekt. Unsere Religion hat sich nicht auf einen einzigen, so hohen Wert verlegt. Darin ist sie anders, und auch die Götter sind anders, Kräfte, aber keine Vorbilder. Sie haben mit dem Licht nichts oder nur wenig gemein. Aber das heißt nicht, dass wir nicht begreifen, was es bedeutet, was eine Ordnung bedeutet, und sei es nur der Versuch einer solchen, die sich einen derartigen Maßstab setzt.“
Seine Rechte entkrampfte sich, und weil Menrad nicht wusste, was er mit der verbliebenen Starre tun sollte, ließ er die Hand auf seinem Gürtel ruhen.
Es mochten die Worte des anderen Mannes sein, die aufrichtig klangen, oder auch eine klarsichtigere Müdigkeit, doch was es auch war, es zog die gefährlichste Kraft aus seinem Zorn.
Als erspüre er das, sagte der Nekromant: „Es geht mir allein um unsere Gegner, Menrad, Himmelsvertreter oder nicht. Dass ich nicht gegen das Licht freveln wollte, habe ich Euch nun gesagt. Aber ich muss Euch trotzdem fragen: Glaubt Ihr wirklich, gegen das Licht zu kämpfen, wenn Ihr gegen sie streitet?“ Kurz blieb es still. „Seid Ihr sicher, dass sie für das Licht stehen – für das Gute?“
Menrad senkte den Blick, ohne eine Erwiderung zunächst.
Dann gab er zurück: „Ihr selbst hattet Hilfe von einem ihrer Art. Für welche Macht stand denn dieser, wenn nicht für den Himmel?“
„Ich will Euch etwas verraten, Paladin. Wir sind selbst in einer Himmelsfestung gewesen, einem Bollwerk gegen eine entsetzliche Sphäre, die Hölle genannt wird. Aber wir fanden dort kein friedliches Jenseits, sondern eine Kriegerrasse, die eine andere Welt verteidigt. Die Engel.“ Der Nekromant hielt inne, als suche er nach Worten. „Wir haben nie davon gesprochen, was wir dort sahen. Es überstieg unsere Kraft, und später war Anderes wichtiger... oder vielleicht das Vergessen. Aber das Licht“, er betonte das Wort „haben wir dort nicht gefunden, nur eine Heimstatt von Kriegern jenseits unserer Begriffe. Sie standen den Dämonen gegenüber, und trotzdem oder gerade deswegen glaube ich im Rahmen meiner begrenzten Einsicht nicht daran, dass sie keine eigenen Interessen kennen.
Ihnen war daran gelegen, dass Sanktuario nicht ihren Feinden in die Hände fiel, und es mag zu unserem Glück gewesen sein. Doch sie zerstörten den Weltenstein, und als das geschehen war, ließen sie uns allein.“
Der Paladin hätte diesem Letzten, das die verborgene Geisteswelt der Sphären, von denen Hadan sprach, entzauberte und auf den Boden hinunterzog, auf dem alle Mächtigen der denkbaren Welten abwogen und planten, gern etwas entgegengehalten.
Aber heimtückisch erinnerten ihn die Worte des Engels, die er selbst vernommen hatte, daran, dass die Menschen sich nicht mehr allein um Sanktuario stritten.
Dieses Land ist nicht länger euer Eigen. Bedenkt, dass das Licht nicht die einzige Macht ist, die sich auf Sanktuario manifestiert.
Plötzlich entzog sich ihm die Quelle seiner Entrüstung und machte einer großen Stille Platz. Es gab nichts, was er der Einsicht, die dem Nekromanten leichter fiel als ihm, noch entgegensetzen konnte. Nichts, was dessen Verdacht –
unser aller Verdacht – noch entkräftet hätte.
Sein Leib fühlte sich taub an. „Wenn es so ist“, sagte er leise, aber fest „dann haben wir über Jahrhunderte hinweg im Irrtum gelebt.“ Der Blick des Anderen zerrte an ihm, und ihre Augen trafen sich. „Ist es das, was uns bleibt? Diese Einsicht?“
„Das wird sich zeigen.“ Der Nekromant senkte den Kopf, und wieder glaubte Menrad, ihn flüchtig lächeln zu sehen. „Zumindest können wir hoffen, dass die neuen Herren Sanktuarios auch an Gesetze gebunden sind, die ihnen den freien Zugang erschweren.“ Hier sah er auf, und wenn jemals ein Bitten um Verzeihung seine Stimme verändert hatte, so war es jetzt. „Vergebt mir die Einmischung in Euer Glaubensgefüge, Menrad, und lasst uns zu den Anderen zurückgehen. Alles, was wir über die Stärken und Schwächen unserer Gegner sagen, sollten sie mitanhören.“
Mit einer matten Geste willigte Menrad ein.
Langsam näherten sie sich dem Kreis der Gefährten, wo das kleine Feuer inzwischen heller brannte.
Unsicheren Blickes wurden sie empfangen. Da aber zu sehen war, dass sie zu einer Beilegung des Zwistes gelangt waren, erwähnte niemand ihn noch mit einem Wort.
Nach einer Weile lenkten sie die Unterredung fest auf den Engel.
Menrad hörte, wie sie ihr knappes Wissen zusammentrugen. Er hörte sich selbst beisteuern, was er konnte.
Auf mindestens zwei Eintritte der Engel in ihre Welt gab es Hinweise.
Einem waren sie selbst begegnet. Ein anderer, wenn die Himmelswesen nicht auf anderen Wegen Einfluss auf die fadraîsche Ordenshoheit nahmen, musste dort jemandem erschienen sein, der das Sagen hatte. Menrad berichtete, was er über den Princeps, den obersten Ordensführer, wusste – Armon Celestin. Er war als Mann bekannt, den die stockende Verbreitung der paladinischen Lehren bekümmerte, doch auch als ein aufrechter Führer, fest im Glauben, aber eher gemäßigt, was das Vorgehen gegen andere Völker betraf. Dies schien sich geändert zu haben. Vielleicht war er auch ersetzt worden.
An der direkten Lenkung der Stadt durch die Engel gab es indes wenig Zweifel.
Der Kreis bedachte die ausgelieferte Lage des Heeres. Sie mussten vorsichtig sein. Verbergen ließ sich ihr Zug nicht, aber sie durften seine Stärke nicht überschätzen.
Verharren konnten sie nicht – so blieb ihnen nur das Weitergehen. Ohne die Kunde über die Unruhen in der Wüste hätten sie kaum gewusst, wohin, und besonders Urel, der junge Barbar, regte sich mit offensichtlichem Unbehagen, als die Unterredung an diesen Punkt gekommen war. Ob es der Norden war, der an ihm zerrte, oder ob er es nicht erwarten konnte weiterzuziehen, sagte er nicht.
Es war tief in der Nacht, als sie die Besprechung beendeten.
Die lagernden Barbaren schliefen nie alle. Auch abgesehen von den Wachen gab es Männer, die an Feuern saßen oder im Dunkel standen und sich unterhielten.
Liegend lauschte Menrad ihren Stimmen.
Es war nicht zu verstehen, worüber sie sprachen, doch er erriet es. Gewiss ging es um ihre Heimat, die sie zurückgelassen hatten, um den Krieg, um Erlebnisse im Kampf.
Dann, ohne dass er es verhindern konnte, stiegen Bilder des Hochlandes vor seinem inneren Auge auf. Er sah es deutlich, ohne es jemals betreten zu haben: Schroffe Waldsäume um felsige Wiesen, hölzerne Hütten mit groben Schnitzereien, ein karges, unkultiviertes, aber stolzes Land. Aber die Bilder veränderten sich. Rennende Menschen brachen durch niedriges Geäst. Krieger, einander ähnlich wie Brüder, standen sich drohend gegenüber. Rauch stieg von verlassenen, brennenden Hütten auf.
Mit fest geschlossenen Augen drehte er sich auf die andere Seite.
Die Laute der ihn umgebenden Menschen aber blieben, ihre Gerüche und auch das Gesicht des Krieges.
In dieser Nacht schlief er kaum. Als es dem Gefühl nach nur noch wenige Stunden bis zur Morgendämmerung waren, stand er auf, um sich die Beine zu vertreten.
Bevor er aus dem Lager herauskam, wurde er angesprochen.
„Paladin, komm heran.“ Er sah vier, fünf Männer um ein nahes Feuer sitzen. Glänzende Augen blickten ihn aus breiten, hier glattgeschabten, dort bärtigen, teils auch tätowierten Gesichtern an. Zögernd trat er näher.
Seitdem bekannt geworden war, welche Rolle er in der Schlacht gespielt hatte, behandelten ihn die Nordmänner mit Respekt. Das letzte Misstrauen war vergangen. Sie verstanden vielleicht nicht, wie es dazu gekommen war, begriffen aber seinen Status: Den eines Abtrünnigen, der dennoch weiterkämpfte, und zwar auf ihrer Seite.
Selbst sitzend wirkten die Männer riesenhaft, ungeschlacht. Sie waren rau, grob im Umgang, lachten aber gern, und ihre Tapferkeit kannte keinen Vergleich.
Der Sprecher wies mit einer Hand auf einen freien Platz am Feuer. „Du kannst nicht ruhen, Ordensmann?“ Immer noch nannten sie ihn so. „Dann geht es dir wie uns.“ Etwas, das sicherlich ein freundliches Lächeln sein sollte, verzog den bärtigen Mund.
„Nein, ich finde keine Ruhe.“ Menrad wagte nur einen vorsichtigen, raschen Blick in die Runde, während sie ihn ihrerseits, wie er fühlte, neugierig und geradeheraus betrachteten.
„Setz dich her“, der Barbar unterstrich sein Zeigen mit einem Nicken. „Du warst im Osten, heißt es. Erzähl uns von dort.“
Mit sachtem Erstaunen, zögernd, ließ der Paladin sich nieder.
Bereits eine knappe Woche nach seinem Aufbruch vom Ort der Schlacht erreichte das Barbarenheer südlichere Gegenden.
Die Verstärkung, auf die Urel gehofft hatte, war tatsächlich eingetroffen. Am dritten Morgen des Zuges nach Süden hatten beinahe hundertundfünfzig Krieger sie eingeholt, früh gesichtet von den Wachen. Nun war es wirklich ein Heer, das auf die Wüste zuhielt, eine beachtliche Schar von Nordmännern, wie die Lande, durch die sie jetzt zogen, sie nie zuvor erblickt hatte.
Die Landschaft begann sich zu verändern. Das Gras wurde kürzer, bald auch heller, dann tauchten erste trockene Flecken auf, wo der Boden versandete. Man ahnte die Nähe der Wüste am Ausbleiben größerer Flüsse und an den Felsen, in die sich blühende Disteln krallten.
Die Sonne strahlte stärker. Morgen- wie Abenddämmerung erstaunten die Weiterziehenden mit verschwenderischen Farben, wie sie dort vorkamen, wo die Luft über trockener Erde stand, die das Licht der Sonne anders wiederspiegelte als Wald oder Heide.
Bislang war ihnen niemand begegnet außer seltene Mauleselkarawanen, ihre Händler und vereinzelte Gestalten, vielleicht Flüchtlinge, die jedoch meist eilig das Weite suchten, wenn sie der großen Menschenmenge ansichtig wurden.
Dennoch ließ ihre Vorsicht nicht nach. Nachts stellten sie viele Wachen auf, und auch tags gingen Männer als Kundschafter vor dem Heer oder hielten sich ein gutes Stück dahinter, um zu sehen, ob es verfolgt wurde.
Der Wind aus dem Süden blies den Männern in die Gesichter. Sie hoben sie hinein, schnupperten, verwundert über so viel Wärme und die nahezu baumlosen, immer helleren Ebenen.
Ifrah, die den Wind ebenfalls mit allen Sinnen aufnahm, hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, vorauszugehen. Oft tat sie es zusammen mit Eya, die es ohnedies nie lange in der Mitte vieler Menschen hielt. Seite an Seite setzten sich die Frauen manchmal weit ab, hin und wieder auf den Pferden.
Urel hieß ihr Auskundschaften gut, wusste die Magierin. Er kannte ihre Vergangenheit, in der sie nicht vornehmlich ihr Element beherrscht, sondern Karawanen geführt hatte, und im Zug fand sich niemand, dem dieser Teil der Welt so vertraut war wie ihr. Zudem hob es ihre Stellung unter den Barbaren, die ihr um so mehr würden vertrauen müssen, je tiefer sie in die Wüste kamen. Selbst, wenn sie nur eine Frau war,
ein zauberisches Weib, wie sie es Manche hatte nennen hören.
Eya war ihr als Begleitung lieb. Die Assassine störte ihre Gedanken nur selten durch ein Wort. Und Ifrah wollte lauschen, weit nach vorne, vermeiden, dass ihr etwas Bedeutsames entging. Denn wie sich Hadan im Osten stets verantwortlich fühlte, so fühlte sie sich jetzt verantwortlich im Süden.
Das ist meine Heimat. Hierher kommen wir schließlich, und diesmal sind wir nicht allein. Wir bringen Gesandte mehrerer Völker mit, ein ganzes Heer von Männern, die erfahren wollen, was auf dem Kontinent vor sich geht. Anders als ihre Gefährten musste sie sich nicht heimlich in ihre Heimat hineinstehlen.
Ich muss sie so gut führen wie möglich. Das bin ich ihnen schuldig.
Es war um die Mittagszeit, als sie in eine Gegend fast unmerklich abfallender Hänge gerieten, auf denen große, flache Felsen lagen, gleich braunroten Auswüchsen des Bodens.
Leichten Schrittes löste sich Eya von Ifrahs Seite. Die Magierin, die schon ahnte, wonach der Jüngeren der Sinn stand, sah sie einen der Felsen hinauflaufen, der nahebei ruhte. Oben stand sie, schwarz gegen den blauen Himmel, und schirmte mit der Hand die Augen vor der Sonne ab.
„Da hinten ist eine Siedlung“, rief sie herunter.
Die Frauen warteten, bis der Zug zu ihnen aufschloss.
„Ein gutes Dutzend Häuser“, berichtete die Assassine Urel.
Der junge Barbar nickte zufrieden. „Wenn wir Glück haben, gibt es dort Händler.“ Zumindest einige der Krieger und die Gefährten wollten Ifrahs Rat beherzigen und sich mit zusätzlichen Wasserbehältern und leichten Tüchern gegen die sengende Sonne ausrüsten. Zudem brauchten sie Nahrungsmittel.
„Weiter!“ rief der Barbar über die wartenden Krieger hin. „Aber mit Bedacht, wir wollen nicht kommen wie eine Horde, die man fürchten muss.“
Als die kleine Ansiedlung in Sicht kam, sahen sie jedoch, dass bereits jemand anderes ihre Bewohner das Fürchten gelehrt hatte.
Zwei der Häuser waren nur noch Ruinen, geschwärzte Trümmer.
Beunruhigt bewegten sie sich näher heran. Die Siedlung war jedoch nicht verlassen. Ein Kind spielte nah der ersten Gebäude, floh auch nicht, was sie seltsam rührte, sondern stand nasebohrend da. Eine Frau, die aus einem anderen Haus kam, schlug jedoch rasch wieder die Tür zu, und man hörte erregtes Rufen.
„Immerhin lebt hier noch jemand“, sagte Hadan, der dicht neben Ifrah ging. Die Barbarenkrieger hatten sich eng zusammengeschlossen. Dennoch glich das Heer einer Welle, die das Dorf in langsamem Lauf überspülte.
Niemand wagte sich heraus.
Der Händler, den sie tatsächlich fanden, fiel vor Angst um ein Haar platt auf den Boden, als er gezwungenermaßen aus seinem Haus kam. Mühsam beruhigten sie ihn, und er erklärte sich bereit, die riesigen Krieger, die sich so dicht vor seinem Haus sammelten, dass sie Schatten warfen wie eine Mauer, zu bedienen und jemanden aufzutreiben, der ihnen Fleisch verkaufte.
Ifrah sah Urel alle wegschicken, die nichts benötigten. „Geht voraus und wartet hinter den Hütten“, der Kriegsherr wies in Richtung der Dorfgrenze. „Wir wollen hier niemanden verschrecken.“
Sie selbst kannte solche Dörfer: Kleine, ruhige Siedlungen, die von der Schafzucht und vom Handel lebten, der aus der reichen Wüste in die sie umgebenden Gebiete schwappte. In diesen Dörfern waren auch Magier ansässig, nicht viele und nicht oft, aber man schätzte sie hier oder duldete zumindest, dass sie unter den anderen Menschen lebten.
Beinahe ohne ihr Zutun trugen ihre Schritte sie aus dem Gedränge in der Dorfmitte heraus und zu einer der beiden Ruinen.
Hier verhielt sie. Es war nicht mehr übriggeblieben als schwarze Balken und aschebedeckte Steine.
Ein Geräusch ließ sie aufblicken.
„Warte!“ hielt sie die alte Frau zurück, die aus dem Nachbarhaus gelugt hatte und nun schnell wieder verschwinden wollte. Trübe, ängstliche Augen starrten sie an. „Hab keine Furcht, wir ziehen ohne feindliche Absichten durch eure Gegend. Bitte, sag mir, was hier geschehen ist.“
Die Alte strich sich über den faltigen Hals. „Magierin...“, eine brüchige Stimme bat im Tonfall darum, dass die Fremde nicht erzürnen möge. „Nun, hier lebten Einige mit besonderen Gaben. Männer aus der Marsch kamen vor Wochen und vertrieben sie. Wir konnten gar nichts tun.“ Sie wies auf das zerstörte Haus. „Sie setzten alles in Brand. Es war schon ein Glück, dass niemand zu Tode kam dabei.“
„Menschen mit besonderen Gaben? Du meinst Magier?“ fragte Ifrah, doch sie wusste es bereits. Es war nur das letzte Versichern, das sich verselbstständigte.
Die Alte nickte, warf ihr noch einen bekümmerten Blick zu, zog sich dann in das Dunkel des Türsturzes zurück, immer noch nickend.
Eine ungewisse Weile lang verharrte Ifrah noch vor der Ruine, ohne klare Gedanken, mit schmerzhaft zusammengezogenen Brauen. Erst Schritte, die sich ihr aus Richtung der Dorfmitte näherten, rissen sie aus ihrer Starre. Sie war überrascht, Menrad zu sehen.
Der Paladin ließ einen langen, ernsten Blick über die Trümmer schweifen, hoch aufgerichtet, die Rechte auf dem Griff des Kampfhammers. Sie sah ihn einatmen, tief, so dass seine Brust unter dem verschlissenen Ordensgewand sich merklich hob. Dann wandte er ihr die grauen Augen zu. Sein Gesicht war noch schmaler als gewöhnlich, weil er die Wangen nach innen sog.
„Westmarschener?“ fragte er mit einer Kopfbewegung zur Ruine.
„Ja“, erwiderte sie still.
Nur ein Nicken antwortete ihr. Doch sie prägte sich ein, wie er dort stand und ein letztes Mal hinsah: Sehr genau, ohne auszuweichen, ohne die Aufmerksamkeit herrisch und schnell wieder auf Anderes zu richten.
Schließlich wandte er sich ab und ging zurück zum Heer, doch auffallend langsam, und nach einem Zögern und einer Handvoll Schritte hatte sie ihn eingeholt.
Während viel weiter nördlich, noch auf der anderen Seite der Großen Wüste und in der Mitte des westlichen Kontinents, ein kleines Heer seine Schritte südwärts lenkte, kam ein Schiff von Osten herüber, von einer Landspitze zur anderen.
Es war nicht das einzige. Pundar, die alte Stadt, hatte den Schiffsbau längst vergangener Tage wieder aufgenommen. Der neue Fürst, Sohn des alten, der in Kurast gefallen war, ließ das Delta diese Arbeit wieder verrichten. Das Wissen war noch nicht vergessen, und Holz gab es ebenso reichlich wie Menschen, die die Gefährte bauen und besetzen konnten.
Die großen Segler, braun und rot, in den Farben der Stadt, liefen meist zu Zweien oder Dreien aus. Überwiegend stachen sie ohne feste Route in See. Ihr Ziel war die Ostküste des Kontinents auf der anderen Seite des Meeres, denn dort wusste man Unruhen, die irgendwann, wenn die Götter es nicht abwendeten, auch für den Osten zu einer Bedrohung werden konnten.
Ein Schiff aber, ein einzelnes, segelte in fast gerader ostwestlicher Linie zur Südspitze der gegenüberliegenden Landmassen.
Dort, in Dâurdh und auf den Inseln Djal und Fadih, hoffte man Auskunft zu erlangen, wie es um die Lage südlich der Wüste stand. Dorthin, so hieß es, hatten sich Magier geflüchtet, die man in der Landesmitte nicht mehr duldete.
Der Segler hatte Bewaffnete an Bord, auch einige Händler und ihre Gehilfen, unerschrockene, wagemutige Männer.
Doch unter den Passagieren befanden sich auch zwei Menschen, die zu keiner der Gruppen passten. Es waren ein Mann in den Kleidern des westlichen Ordens, der in den Städten des Ostens missioniert hatte, und – was die Mitreisenden noch mehr erstaunte – ein kleines Mädchen.
Evan Innozenz verbrachte die Zeit der Überfahrt mit Unterhaltungen mit der Besatzung, oder er stand an der Reling oder betete.
Ihm war fraglos eine sonderbare Aufgabe zugeteilt worden, das ließ sich nicht bestreiten. Beauftragter des letzten lebenden Kommandanten zu sein, der dem Kessel des Ostens entronnen war, und Eskorte für das Kind einer Magierin – welcher andere Mann konnte eine solche Aufgabe als Teil seines Weges vorweisen?
Doch er freute sich, in den Westen zurückzukehren, und die Sorge angesichts der dortigen Unruhen tat dieser Freude keinen Abbruch, untermauerte sie höchstens noch durch Dringlichkeit. Der Umweg, den er machen musste, hatte ihn zunächst verdrossen, aber je länger er unterwegs war, desto ruhiger nahm er ihn in Kauf.
Er hatte das Mädchen in Pundar aus einem Tempel geholt und mit ihr den Segler bestiegen.
Kinder waren ihm nicht sehr nah. Er wusste sich mit ihnen nicht gut abzugeben, und zu Beginn seines Auftrages hatte er gefürchtet, mit seiner kindlichen Begleiterin sehr belastet zu sein.
Doch gegen seine anfängliche schweigsame Starre und peinliche Unsicherheit änderte sich dies bald.
Das Mädchen, das er sicher in den Süden auf der anderen Seite des Meeres bringen sollte, entpuppte sich als ein ungewöhnlicher kleiner Mensch. Sie konnte einem leid tun, und er hatte Gejammer erwartet oder wenigstens verstocktes Trauern, weil sie allein, nur in der Begleitung eines Fremden, quer durch die Welt reisen musste, während ihre Mutter weit fort war.
Aber sie hatte sich ohne Tränen aus dem Tempel führen lassen, ja, die Leute des Tempels waren diejenigen gewesen, die ein wenig geweint hatten bei dem raschen Abschied. Blass und still war sie mit ihm ins Delta gereist und hatte das Schiff bestiegen, hatte sich nicht beklagt, nicht einmal über seine zuerst schroffe Art, derer er sich jetzt ein wenig schämte. Sie hielt sich stets in seiner Nähe und tat, was er ihr sagte. Tags wie nachts stand sie oft weit vorn im Bug und sah mit sehr unkindlicher Geduld zu, wie er durch die Wellen pflügte.
Redete man sie nicht an, sprach sie kaum.
Einmal, kurz nach dem Auslaufen, hatte er sie in einem Anflug von Annäherung gefragt, ob sie nicht lieber im Schatten sitzen wolle, als vorn in der Sonne zu verbrennen. Da hatte sie ihm grünliche Augen zugekehrt und seltsam und frei von Koketterie gesagt: „Das geht nicht. Ich muss sehen, ob das Schiff gute Fahrt macht.“
Da begriff er, dass sie es eilig hatte. Gegen seine Erwartung belustigte ihn das nicht. Sie war leicht ernst zu nehmen, und er begann, ihre Gesellschaft nicht mehr als unbequeme Last zu empfinden.
Sie sprach ihn mit
Herr Paladin an, bis er es ihr untersagte und ihr seinen Namen nannte. Seitdem gebrauchte sie diesen, geduldig und ohne in aufdringlicher Weise zutraulich zu werden.
Und Evan Innozenz ertappte sich dabei, dass er ihr abends, wenn die unendlich lange Dämmerung der See über das ruhig dahinschießende Schiff fiel, Legenden erzählte, um sie zu unterhalten, Märchen, Mythen des Westens, wie er sie selber als Kind gehört hatte. Manchmal fragte sie ihn etwas dazu oder bat ihn, er möge ihr eine Geschichte ein zweites Mal erzählen.
Als der Segler in die Bucht zwischen der Insel Djal und dem Festland einlief, warf sie sich vor Aufregung beinahe über die Reling.
Evan Innozenz, der nach Jahren der Missionspflicht zum ersten Mal wieder in den Westen zurückkehrte, sah seine innere Bewegung durch die Freude des Mädchens wohlig verstärkt. Sie unterschied sich auf die allerdenkbarste Weise von ihm: Durch das Alter, durch die Herkunft, durch die Klasse, durch das gesamte Leben.
Aber sie stammte von demselben Kontinent wie er, und sie war sichtlich glücklich, ihn wieder zu betreten.
Die zögerliche Zuneigung zwischen ihnen erhielt durch diese Gemeinsamkeit Auftrieb, und im Hafen von Dâurdh, im Wunsch, sie zu erfreuen, kaufte er ihr gezuckerte Datteln. Das schmallippige, ernste Gesicht blühte in einem Lächeln auf, und der Paladin, der die Pflichten für seinen Orden und die vernünftigen Erwägungen eines Kriegers in Zeiten der Unruhe bislang als einzige Lebensmittelpunkte gekannt hatte, ahnte, dass er diesen seltsamen Auftrag als etwas Bemerkenswertes und Persönliches in die Schatzkiste seiner Erfahrungen legen würde.
Er musste, so war es besprochen, das Kind in Dâurdh lassen, sollte es höchstens noch bis nach Abbèsh bringen, die Küstenstadt dicht am Südrand der Wüste. Dann musste er weiter, ohne viel Hoffnung, das Mädchen noch mitnehmen zu können. So oder so, bis zu ihrem Abschied war es nicht lang, und ein Wiedersehen war nicht wahrscheinlich.
Aber er wusste, dass er sie nie vergessen würde.