@Ratopher: thx, geändert.
Ich freue mich über eure Zuwortmeldungen. Und eine Fortsetzung wird es tatsächlich geben, in welcher Art dann - lasst euch überraschen.
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XLI. Meere aus Sand
Früh am Morgen, noch vor Sonnenaufgang, verließen acht Wanderer die Stadt Lut Gholein.
Sie kamen nicht aus einem der zahllosen Lager rings um die weißen Mauern, sondern aus dem Tor.
Für die Wachen, die auf ihre Speere gestützt in die Dämmerung spähten und die Köpfe schüttelten, wurden sie bald zu einer Gruppe wehender, dunkler Mäntel. Sie hatten kein Packtier bei sich. Die auf dem Markt erstandenen zusätzlichen Wasserschläuche und ihre Ausrüstung trugen sie selbst.
Südlich der Stadt hob sich der Hügelrahmen, in dem sie ruhte, sacht an und verflachte sich nach kaum einer Wegstunde in helle Endlosigkeit hinaus.
Die offene Wüste.
Es lag Jahre zurück, dass sie dies erlebt hatte, diesen Aufbruch in eine Weite, die aus Sand und Himmel zu bestehen schien. Sand und Himmel, Sonne und Wind, weiter nichts.
Ifrah zog die leichte Kapuze ihres Burnus vom Kopf, um sich besser umsehen zu können.
Ein letzter Blick galt der Stadt, schon sehr klein, fast nur noch eine weiße Linie am Meeresblau. Dann sah sie nach vorn und atmete tief ein.
Der Boden war noch fest, harte, lehmige Erde, trocken und vorerst nur selten von Sandschleiern überstäubt. Bald würden sie sich zu Dünen zusammenhäufen, eine hinter der anderen, ein ewiges Auf und Ab, so weit das Auge reichte.
Die Gruppe ging in einer losen Reihe. Solange der Grund das Vorankommen noch einfach machte und die Hitze nicht mit der Wucht des Tages herrschte, schritten sie rasch aus.
Die Magierin bildete das Schlusslicht. Nachdenklich beobachtete sie ihre schweigend dahingehenden Gefährten, die eigenen Gedanken nachhingen oder noch mit der Müdigkeit kämpften. Alle trugen jetzt Burnusse, selbst die Barbaren, auch wenn es schwierig gewesen war, ihrer Größe angemessene traditionelle Bekleidung zu finden. Sie würden noch froh um die Gewänder sein. Der Stoff schützte vor Flugsand und sengender Sonne, und unter seiner dunklen Hülle sammelte sich Schweiß, unerlässlich für die Abkühlung des Körpers bei großer Hitze.
Ihre gleichsam verschwiegene wie offene Art machte es nicht leicht, zu erraten, woran die Nordmänner dachten.
Doch Ifrahs Sorge bewegte sich weit eher um Hadan. Der Nekromant ging mit Urel am weitesten vorn, und unwillkürlich beruhigt durch den Abstand hoffte sie, er nähme nicht wahr, dass sie über ihn nachdachte.
Tags zuvor war er in Eyas und Menrads Begleitung aus der Stadt zum Lager zurückgekehrt. Sie erinnerte sich an ihre Bestürzung bei seinem Anblick. Auf dem Weg, den sie am liebsten für immer vergessen wollte, damals, hinauf zum Haupt des Arreat, war er ihr ähnlich erschienen: Ausgelaugt von einem zerstörerischen, auf erschreckende Weise rückhaltlosen Versenken in die unsichtbaren Quellen seiner Macht. Nun war derselbe Eindruck wieder da, stärker noch, und sie vermutete, dass einzig seine angewachsene körperliche Widerstandskraft, zu der ihm die Bestie in seiner Brust offenbar verhalf, den Verfall verhinderte – das entsetzliche Dahinschwinden, das ihn vor einem Jahr zuletzt einem Sterbenskranken hatte ähneln lassen.
Nicht einmal Eya wusste, was er tat und warum. So sehr das Paar sich liebte, hier behielt der Nekromant sein Inneres für sich, schwieg beharrlich, wenn er gefragt wurde. Ifrah hatte erwogen, besorgt um sein und auch Eyas Wohl, ihn zur Rede zu stellen, doch eine seltsame Scheu hatte sie bislang davon abgehalten.
Gewiss, sie vertraute Hadan, mehr als jedem anderen Mann beinahe.
Doch welche Absichten er wahrhaftig hegte, wie er der neuen Bedrohung begegnen wollte, erriet sie nicht. Nicht zum ersten Mal nahm sie alle Erlebnisse in Kurast und auch alles, was sie von den so undurchschaubaren Kräften der Nekromanten wusste, zusammen, doch die Fragen blieben.
Ratlos, seufzend, wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Weg zu.
Am östlichen Himmel schob sich die Sonne über den gewellten Horizont. Rasch wurde es wärmer.
Unter ihren Stiefeln begann der Boden bereits bei jedem Schritt nachzugeben. Erste, flache Dünen erstreckten sich ringsum, und die See war außer Sicht geraten, da sie sich südwestlich hielten. Leise fegte der Wind Sand von unzähligen Verwehungen.
Nach drei oder vier Stunden rasteten die Wanderer kurz, dann setzten sie sich wieder in Bewegung.
Nichts war mehr um sie als Weite, ein Meer aus Sand.
Sie sahen keine Menschenseele und fühlten nichts, das einer Bedrohung ähnelte. Und dennoch schien der Wüste, die Ifrah stets gekannt hatte wie ihr eigenes Herz, der Atem der Vorahnung anzuhaften, eine Erinnerung an die verstörenden Meldungen vielleicht nur, doch auf beunruhigende Weise mehr als das. Erleichtert gewahrte sie, dass die Gefährten begonnen hatten, sich im Dahingehen zu unterhalten.
Urel setzte seine Spur neben die ihre.
Er war wortkarg gewesen bis hierhin. Sie hatte gesehen, wie er sich von Marej verabschiedet hatte.
Zum wievielten Mal wohl, ohne Versicherung, sie je wiederzusehen? Mitgefühl verengte ihr die Kehle. Unter dem Rand ihrer Kapuze hervor blinzelte sie zu dem jungen Hünen hinauf.
„Ich versuche, die Tage zusammenzuzählen“, sagte er in diesem Augenblick, die Augen auf den Horizont gerichtet, „die man für den Weg zu der verfallenen Stadt braucht. Aber so recht will es mir nicht gelingen.“ Schweiß bedeckte seine kantigen Züge, die ungewohnt von der Kapuze umrahmt waren. „Wir haben damals gegen so viele Kreaturen gekämpft...“
Schweigen zauderte zwischen ihnen. Ifrah kam der Schatten einer selbst nicht miterlebten Jagd an, eines Stolperns durch zahllose Schrecken hindurch, genau hier, vor einem Jahr. Doch Urels Stimme klang zuversichtlich. „Diesmal werden wir gewiss schneller sein“, schloss er.
„In drei Tagen sollten wir dort sein“, entgegnete die Magierin. „Sofern uns nicht Sandstürme oder Gegner aufhalten.“
Vor ihnen lagen zwei Tagesmärsche durch Dünen und aus Sand und Stein gefügte Ebenen. Dann würden sie das Wadi Dhar’Ham erreichen, das Reisende auch die Ferne Oase nannten. Dahinter schloss sich bald eine Felsregion an, die Steinernen Flammen – ein Hügellabyrinth, zugleich auch eine Schwelle hinter einem Teil der Wüste, zwischen der Oase und ihr, der einstmals eine Zivilisation beherbergt hatte, älter, weit älter als Lut Gholein, doch jetzt verfallen.
„Die Verlorene Stadt“, nahm Urel den Namen vorweg, als habe er Ifrahs Gedanken verfolgt. Ernst, ja beinahe Düsterkeit hatten in seine Züge gefunden, und er schien nicht nur zu ihr, sondern auch zu einer schlimmen Erinnerung zu sprechen. „Ein böser Ort. Eine Heimstatt wandelnder Toter und gefallener Kreaturen. Wir wären dort um ein Haar an unserer Aufgabe gescheitert.“
„Er war nicht immer böse“, sagte Ifrah leise, unsicher, denn sie konnte nur altes Wissen gegen die furchtbaren Erlebnisse ihrer Gefährten aufbieten. „Einst war er die Stadt Menesh. Die Nomaden benutzen die Steinernen Flammen gelegentlich als Wachposten. Heute lebt dort niemand mehr.“
„Nur Geister“, brummte der junge Barbar.
Ifrah schluckte. „Ja, vielleicht“, sagte sie.
Wieder gingen sie eine Weile lang nebeneinander her, ohne zu sprechen. Als die Magierin erneut einen Blick zu ihrem riesenhaften Begleiter hinaufschickte, war sie erstaunt, ihn lächeln zu sehen. Diesmal sah er sie auch an, und es war der alte Urel, der sie anschaute, und doch wieder nicht.
„Du magst vielleicht denken, es sei Angst, die aus mir spricht.“ Er lächelte weiter. „Aber das ist es nicht. Ich fürchte keinen Feind.“ Unwillkürlich hielt sie den Atem an, nahm die Anderen nicht mehr wahr. Womit sie Urel seit ihrem Wiedersehen nicht zu bedrängen gewagt hatte, eröffnete er ihr jetzt von allein. „Was ich fürchte, ist das Versagen.“
Sie holte heimlich, bebend Luft. Der Wind streichelte ihre Wangen wie etwas Unwirkliches.
„Das wird nicht geschehen“, hörte sie dann ihre eigene Stimme, hölzern, zurückschreckend vor dem befürchteten Unvermögen, die richtigen Worte nicht zu finden. Unter tausend Barbaren war nicht Einer, der gesehen hatte, was Urel hatte sehen müssen, und nicht Einer, von dem man ein solches Geständnis vernommen hätte. „Das wird nicht geschehen“, wiederholte sie. „Nicht auf deinem Weg, Sohn der Ahnen.“
Das Letzte brachte sie vor wie etwas, von dem ein Mensch, dem Menschen eines anderen Volkes gegenüber, nicht wusste, ob es keine Überschreitung der Grenzen war, kein Beleihen einer fremden Geisteswelt, das leicht missverstanden werden konnte.
Aber Urel zeigte weder Ärger noch Enttäuschung. Er nickte nur schwach. Sie sah nicht, ob er ihr zustimmte oder ob er ihre Worte lediglich als ungeschickten, doch gutgemeinten Trost auffasste.
Die Landschaft begann sich leicht zu verändern.
Die Dünen wölbten sich höher, dunkler, und gelegentlich sahen hellbraune, bröckelnde Felsen darunter hervor. Am Himmelszelt emporgeklettert, brannte die Sonne gleißend auf das Land herab. Hier gab es kein Wasser, kein Leben bis auf das Huschen kleiner Echsen, die vom spärlichen Dunst der Morgendämmerung lebten.
Plötzlich, mitten zur heißesten Mittagszeit, zog Unruhe durch die Gruppe.
Bostac, der am weitesten vorn gegangen war, kam zu den Anderen zurück, langsam, sich dabei nach hinten umsehend.
„Dort hinten sind zwei Dinge, die seltsam scheinen“, sagte er. „Ein Steinbau, ähnlich einem Torhaus, und eine Bewegung im Sand daneben.“
„Ein altes Grab.“ Eya hatte die Hand über die Augen gehoben.
Hinter einem Durchlass kaum mannshoher Felsen tat sich in einiger Entfernung eine kleine Ebene auf, nur ein Stück weit zu überblicken. Auch ein Gebäude konnte man sehen, dunkel rotbraun, viereckig und etwa von der Größe eines zweistöckigen Hauses.
Die Gefährten kamen zusammen. Vorsichtig gingen sie auf den Durchlass zu.
„Tssht!“ Suhaym, der Söldner, spuckte hörbar aus. „Grabkriecher!“
Gleichzeitig erkannte auch Ifrah, was Bostac nur als Bewegung neben dem stillen Bauwerk erspäht hatte.
Erdfarben, kniehoch, kauerten sie im Schatten: Sandspringer, Getier der Wüste, von Vielen auch Grabkriecher genannt, weil sie sich gern in verfallenen Gebäuden einnisteten. Gegen ihren Willen erschauerte sie. Nur selten, ruckartig, tat eines der Geschöpfe dort im Schatten einen Satz, grotesk, nicht weit, doch eine Vorahnung darauf gebend, über welche Distanzen es tatsächlich zu springen imstande war.
Grabkriecher waren einzeln kaum eine Bedrohung, in größeren Gruppen jedoch eine ernste Gefahr. Und hier zählte sie hastig mindestens fünfzehn oder mehr.
„Vorsicht“, hörte sie Urel die Barbarenkrieger warnen. „Sie springen weit und sind flink. Sie lassen nicht von ihrer Beute ab, bis man sie getötet hat.“
„Ihr kennt diese Mistplage?“ Suhaym zeigte sich erstaunt.
Als Antwort zogen die Gefährten ihre Waffen.
Sie hatten kaum den flachen Felsendurchlass passiert, als sich die Sandspringer mit ihren abgehackten Sätzen aus dem Grabschatten lösten. Ohne ein sichtbares Zeichen griffen sie an, vereint, als gebe es hinter ihren Bewegungen einen gemeinsamen Antrieb, der sie lenkte.
Die Gruppe fuhr auseinander, verharrte dann locker immer zu Zweien, aber viel Zeit blieb ihnen nicht. Sandwirbel, böses Keckern. Die Sandspringer näherten sich wie übergroße Frösche.
Ifrah fand sich neben dem Söldner wieder, am rechten Rand der Gruppe.
Das Letzte, was sie von den Anderen sah, war Herlac, der fluchend nach einem der Geschöpfe hackte, und Menrad, der mit einer fließenden Bewegung den Kampfhammer hob.
Dann flog ein verwischter Leib genau auf sie zu, ein Schatten vor der Sonne. Sie hatte den Sprung nicht kommen sehen. Er schien direkt aus der Luft zu fallen.
Reflexartig riss sie den Stab hoch. Das Holz erzitterte in ihren Händen, wurde nach hinten abgelenkt, und sie wirbelte herum. Flatternde schwarze und rote Gewänder. Suhaym hieb mit seiner Lanze gegen den landenden Sandspringer.
Er wird ihn verfehlen. Stangenwaffen sind zu langsam.
Suhaym traf. Mit einem Stoß, dem ihre Augen kaum zu folgen vermochten, nagelte er das Tier im trockenen Boden fest, riss die Waffe empor, während es kreischte. Doch der Leib hing daran fest, und er setzte hastig den Fuß darauf. Sein dunkles Gesicht hatte sich Ifrah bereits wieder zugekehrt.
“Shurrha!“ schrie er. „Achtung!“
Der Aufschlag an Ifrahs Hinterkopf ließ sie taumeln. Krallen gruben sich in ihr Haar, von dem die Kapuze hinuntergeglitten war, und ein Knarren, als öffne jemand eine Tür mit rostigen Angeln, blies ihr mit einem entsetzlichen, heißen Atemhauch über die Wange ins Ohr. Übergraust aufschreiend griff die Magierin nach hinten, bekam einen kleinen Schädel unter rutschenden Hautfalten zu fassen, riss den Springer über den vorgebeugten Kopf weg. Scharfer Schmerz durchzuckte ihre Nackenmuskeln. Sie fuhr auf.
Noch in der Luft traf den Springer ein Blitz, krachend, gleißend selbst im grellen Sonnenglast.
Meterweit fortgeschleudert, stürzte er in den Sand, nur noch eine verkohlte Leiche.
Suhaym hastete heran. Sie roch seinen Schweiß.
Hinter ihnen waren plötzlich Lärm und Bewegung wieder da, die sie kurz nicht mehr wahrgenommen hatte.
Zwei weitere Springer machten aus dem Kessel der kämpfenden Menschen, von Eya weg, einen Satz auf sie zu. Den hinteren, dem eine Klaue fehlte, erwischte die Assassine mit einer Attacke, die ihre ungeheure Reaktionsschnelle zeigte. Sie sprang der Bahn des Tieres hinterher, in Ifrahs Richtung, wirbelndes Schwarz, vielleicht sogar sacht behindert durch den weiten Burnus. Im Fall langte ihre Suwwayah nach dem hellen Leib, der zu schweben schien wie sie.
Das nächste Bild waren die blutigen Hälften des Springers, verbunden nur noch durch zerfetzte Sehnen, die in den Sand fielen, und die auf einem Knie kauernde junge Frau, starr, als habe sie sich schon eine ganze Weile dort nicht fortbewegt. Der zweite Springer verendete in einem Funkenteppich, den Ifrah hastig vor sich ausbreitete wie eine Wand.
Sie trat rückwärts, denn das Geschöpf war ihr beinahe ins Gesicht gesprungen, und stieß gegen den Söldner.
„Tssht!“ Er spuckte wieder.
Unweit zerhackte Bostac noch eines der zähen Tiere, und einige Schrittlängen entfernt sank um Hadan das unwirkliche Grün einer Giftwolke zu Boden, und mit ihm kleine, schwach zuckende Leichen. Der Boden war übersät mit dem toten Getier.
„Teufel auch!“ Die raue Stimme Suhayms ließ Ifrah wieder zu ihm blicken. „Ihr versteht euch tatsächlich zu wehren.“
Die Bemerkung vertrieb den Schock aus ihren Gliedern.
So nah war sie Sandspringern nie zuvor gewesen, denn sie pflegten üblicherweise weder bewohnte Siedlungen noch große Karawanen anzugreifen. Jetzt sah sie mit Abscheu, aber nicht länger mit Angst auf die nächstliegende kleine Leiche.
Sie besaß beinahe den Schädel eines Hundes, doch knotiger und haarlose. Hochgezogene Lefzen waren über gelblichen Fängen erstarrt.
Nur ein Tier.
Der Anblick erinnerte sie an ihren Nacken. An den Fingerspitzen ihres Handschuhs klebte Blut, als sie sie wieder unter ihrem Haar hervorzog und aufstöhnend nachsah.
„Lass mich sehen.“ Hadan war neben sie getreten, zog seinen Handschuh aus und hob ihr schweres Haar behutsam hoch. „Halt es fest.“
Sie stand und wartete, bis er ihr eine beißende Salbe auf die fingerlangen Kratzer gestrichen hatte.
„Glücklicherweise nicht sehr tief“, bemerkte der Nekromant. „Und glücklicherweise ist ihr Speichel nicht giftig, nur unrein. Beobachte die Wunden sorgfältig.“
Sie nickte, verdrossen plötzlich, weil sie sich hatte verletzen lassen. „Ich kenne dieses Getier, seitdem ich laufen kann“, sagte sie und schürzte die Lippen. „Und gerade mich erwischt eines der Biester.“
Auf dem weißen Gesicht, mehr als einen Kopf höher als das ihre, erschien ein seltener Ausdruck der Erheiterung. „Wir hatten vor einem Jahr viel Mühe mit ihnen.“ Dann grinste der Nekromant sein Wolfsgrinsen. „Sie lassen nicht los, bis der letzte Lebensfunke aus ihnen gewichen ist, und selbst dann oft nicht. Einer verbiss sich bei einem Kampf in Urels Stiefel. Er konnte ihn nicht loswerden und musste ihn hinter sich herziehen, weil er von einem Zweiten bedrängt wurde. Du hättest ihn sehen sollen.“
Ifrah lachte auf.
Die Gruppe sammelte sich wieder.
Bis auf Ifrah und Herlac, der einen leichten Biss ins Bein davongetragen hatte, waren alle unverletzt geblieben.
Sie gingen nicht näher an das alte Grab heran. Auch wenn das Böse des letzten Jahres solche Plätze nicht mehr besetzt hielt, hauchte sie aus dem dunklen Loch eine unangenehme, feuchte Kühle an, und sie verspürten keinen Wunsch, es zu erkunden.
Stattdessen durchquerten sie das flache Tal und stiegen über weitere Felsbuckel und kleine Hügel hinweg.
Nach einer Weile zog eine neuerliche Sonderbarkeit in der hellen Eintönigkeit ihre Blicke an.
Zerbrochen in große, runde Teile, lagen zwei gewaltige Säulen im Sand. Auch ringsum fand das Auge Spuren vor unausdenkbar langer Zeit bearbeiteten Steins.
Schweigend, Bostac und Herlac mit sichtlichem Staunen, zogen sie vorbei.
Die Überreste der vor Jahrhunderten wieder in die Stille der Wüste gesunkenen Zivilisation blieben hinter ihnen zurück, verweht, ausgebleicht, Zeugen eines Reiches, das nicht überdauert hatte.
Zwei Tage später waren die Wanderer nah an das erste große Wadi jenseits Lut Gholeins herangekommen, die Ferne Oase. Bis hierher war ihnen nichts begegnet, keine Zeichen menschlicher Anwesenheit, keine Gegner, nicht einmal Tiere bis auf Echsen und Skorpione und, selten einmal, weit oben am Himmel schwebende Geier.
Doch vor dem Wadi empfing sie ein Sandsturm, und es schien ihnen, als blase ihnen aus der Region, die jetzt näher gerückt war, eine feindliche Absicht durch den heißen Wind entgegen.
„Halt!“ Die Gruppe sammelte sich um Urel.
Böen ließen die Burnusse flattern. Die Sicht war getrübt. Die heiße Luft führte Sand und Staub mit sich, der in die unbedeckten Körperteile, in Gesicht und Hände, biss und durch jede Lücke der Kleidung rieselte.
Angestrengt blinzelte der junge Barbar durch die gelblichen Schleier. Ein Wehen und leises Prasseln war ringsum.
Ifrah kam an seine Seite, das zusätzliche Schutztuch bis an die Augen hochgezogen. Ihre Kapuze hielt sie mit der gerüsteten Linken, den Stab mit der anderen Hand.
„Sollten wir nicht Schutz suchen?“ Er musste beinahe rufen, um sich verständlich zu machen.
Die Magiern sah sich rasch nach allen Seiten um. „Ich glaube nicht, dass der Sturm noch zunehmen wird“, gab sie zurück. Der Gesichtsschutz dämpfte ihre Stimme. „Aber in der Oase gibt es Palmenhaine. Wenn wir finden, dass es dort sicher ist, wird der Sturm bei ihnen besser zu ertragen sein.“
Kurz war von Seiten der alten Gefährten ein Zögern zu spüren.
Doch die Erinnerung an die Ferne Oase, wie sie sie kannten – als einen vor widrigem Getier nahezu wimmelnden Ort, übler als die wasserlosen Dünen – hatte bisher kein weiteres Gewicht mehr durch Anzeichen erhalten, dass sie dasselbe dort wieder finden würden.
So machten sie sich zum Wadi auf. Geduckt gegen den unablässig rieselnden Sand, arbeiteten sich die acht Menschen durch den Sturm. Urel ging mit Ifrah vornweg.
Er lauschte, das Schwert in der Rechten. Doch er vernahm nichts, nur das Stöhnen des Windes und das Flattern der Gewänder.
Nicht einmal Hadans innere Sicht oder Eyas scharfe Sinne erfassten offenbar eine Bedrohung, vor der sie die Gruppe sonst augenblicklich gewarnt hätten.
Dennoch, jeder, selbst der Söldner, schien zu spüren, dass sie nicht in verlassene, geschweige denn gefahrlose Tiefen der Wüste vorstießen – mochte es das Wetter sein, das in einer beunruhigten Seele den Eindruck erweckte, unirdischen Gesetzen zu folgen, oder der immer düstere Schatten der Vorahnung.
Schatten, den Augen unsichtbar, doch nicht dem Herzen.
„Dort!“ Ifrah wies die Gruppe auf vage erkennbare Umrisse hin, übertüncht von den Sandschleiern, die bis zum trübe verdunkelten Himmel hinaufzureichen schienen.
Ihre Stiefel traten auf festeren, unleugbar Wasser in sich speichernden Boden. Halb erleichtert kamen sie in den Windschatten einer Gruppe von Dattelpalmen. Dahinter lag Wasser in kleinen, von hartem Gras umstandenen Becken.
Tatsächlich schirmten die Palmen sie ein wenig vor dem Sturm ab, und sie zogen die Kapuzen aufatmend von den Köpfen. Doch sie blieben wachsam, hielten die Waffen bereit. Eya, die das gelbe Treiben ringsum mit starrem Blick zu durchdringen suchte, schreckte sie auf.
„Seht.“ Ihre Stimme klang erstickt. „Ein Kamel.“
Es lag viele Schritte entfernt, so dass sie eine Weile brauchten, um es zu erkennen. Das tote Tier lag auf der Seite, angefressen von Geiern, doch nun so stark von Sand bedeckt, dass es einem Erdhügel geglichen hätte, wären nicht die Überreste eines Sattels und bunter Packschnüre gewesen.
Schweigend sahen sie hin.
„Dumm, sich hierher zu wagen“, äußerte schließlich der Söldner.
„Auch wir sind hier“, gab Ifrah zu bedenken. „Und vielleicht waren es keine Leute, denen die neuen Gefahren hier bekannt waren, sondern Händler aus dem tieferen Süden.“
„Man sieht keine menschlichen Leichen.“ Menrad drehte sich langsam um die eigene Achse und ließ die grauen Augen forschend über den Boden der näheren Umgebung gehen. Der lange Stiel und wuchtige Kopf seiner Waffe ragten seltsam aus den Stofffalten seines dunklen Gewandes.
Urel ließ seinen Zweihänder wieder in die über den Rücken geschnallte Scheide gleiten. Alle trugen die Waffen jetzt offen über den Umhängen.
Bevor sich die Gruppe jedoch ausruhen konnte, sacht beruhigt ob der Abwesenheit bösen Getiers oder anderer Feinde des vergangenen Jahres, schrak Eya, die dicht neben Urel stand, erneut zusammen. „Da ist etwas.“ Alarmiert ruckte es in der Gruppe. „Da oben!“
„Wo?“ raunte er. „Ich sehe nichts.“
Die Assassine blickte in die Richtung, in der die ersten, noch flachen Ausläufer jener Hänge liegen mussten, die sich von der Oase aus um die noch verborgene Verlorene Stadt zogen und schließlich hinter dieser zu dem Wall aus Felsen auftürmten, den die Einheimischen die Steinernen Flammen nannten.
Er kniff die Augen zusammen. Die Wehen des Sandsturms zogen langsam, geisterhaft durch sein Blickfeld. Auch die Anderen starrten reglos und angespannt in dieselbe Richtung.
„Ich sehe es auch“, meldete sich Bostac. „Felsen, wie es scheint. Dort war etwas. Jetzt ist es fort.“
Urel verdoppelte seine Anstrengung, und dann war es ihm, als könne er im treibenden Gelb, sehr fern, eine dunklere Linie ausmachen, eine Wand oder eine Reihe von Felsen. Doch sie blieben matt, mehr eine Ahnung als eine Gewissheit.
„Dort hat sich etwas bewegt.“ Eya griff unter ihrem Burnus nach dem Sitz ihrer Klingen. „Ein Schatten.“
Der junge Barbar langte ebenfalls erneut nach seinem Schwert.
Was er an Sinnen jenseits der Gesichtssinne besaß, richtete er mit aller Gewalt auf die fernen Umrisse, das Herz taub in der Brust verkrampft vor Erwartung, etwas Vertrautem wieder zu begegnen, dem sphärischen Singen der Schlacht und der Offenbarung oder auch einem Abglanz der Präsenz, von der ihm die alten Gefährten versichert hatten, dass sie Travincal vergiftet habe. Er spürte nichts dergleichen. Eben wollte er seine mangelnde innere Schulung, was solche Dinge betraf, verfluchen, da regte Hadan sich schwach.
„Was auch immer es war, es ist verschwunden, und es hat keine Aura vorausgeworfen, wie sie uns bei der Nähe zu den neuen Bedrohungen entgegenkam.“ Der Nekromant hatte die Rechte um etwas an seinem Hals geschlossen, und Urel vermutete, dass es das Amulett seines Gottes sein musste.
Eya bot sich an, die Felsen zu erkunden.
Doch die Gefährten widersprachen.
„Nein“, bestimmte auch Urel. „Wir sollten uns nicht trennen, vor allem nicht in diesem Sturm.“
Sie blieben noch eine Weile im Schutz der Palmen, rasteten, so gut es ging. Ifrah teilte Brot und Fleisch aus. Sie prüften das Wasser des nahen Beckens, und da es nicht verunreinigt schien, füllten sie ihre Schläuche und Lederflaschen.
Urel beobachtete Suhaym, den Söldner.
Der dunkle Mann hatte sich im Kampf gegen die Sandspringer und auch in den darauffolgenden zwei Tagen steten Wanderns als nützlich erwiesen. Er kannte die Wüste offenbar noch besser als Ifrah, las im Licht und im wechselnden Wind fast unfehlbar Zeichen kommenden Wetters. Er zeigte keine Angst und sprach wenig, bedrängte die Gefährten entgegen erster Befürchtungen auch nicht mit Fragen.
Vieles kann er sich gewiss auch selbst zusammenreimen. Denn dumm war der Söldner keineswegs, was auch seine seltsam blauen Augen verrieten. Das war ein Mann, der nicht viel zu verlieren hatte, vielleicht noch weniger als Andere seines zwielichtigen Gewerbes.
Und dennoch verbarg er etwas.
Jetzt, da sie rasteten, hielt er Wache, die große Lanze neben sich wie einen metallenen Pfeiler, auf den er sich zu stützen pflegte. Von schräg hinten sah der junge Barbar, dass er lautlos murmelte, in die sandverschleierte Umgebung schauend. Dieser Blick war es, der Urel in seinem Verdacht bestätigte – ein seltsam hingegebener Blick, lauernd und dennoch weicher, und ohne das Befremden eines Menschen darin, dem die festen Städte lieber sind.
Abseits der Gruppe trat er an des Söldners Seite.
„Du bist ein Mann aus einem der Nomadenstämme“, sprach er Suhaym an. „Ist es nicht so?“
Die fast schwarzen Züge wandten sich ihm mit erstarrter Langsamkeit zu, und eine plötzliche Aura der Gefährlichkeit legte sich um Suhaym. Doch einige schweigende, reglose Atemzüge später zog sich der finstere Ausdruck aus seinem Gesicht zurück.
„Du siehst eine Menge, Nordmann“, entgegnete er. „Und wenn es so wäre?“
„Nichts weiter.“ Urel lauschte nach hinten, ob ihr Wortwechsel bemerkt worden war, doch es schien nicht so. Dennoch blieb er sich des Gewichts seiner Waffe bewusst. „Mir war nur nicht bekannt, dass es unter den Söldnern auch solche gibt wie dich. Meist, sagt man, sind es Söhne armer Familien, die in die Truppen der Städte nicht aufgenommen werden.“
Suhaym bedachte ihn mit einem unverwandten Blick. „So, sagt man das?“ Er wechselte das Standbein, geübt – ein zäher Krieger, der stundenlang so stehen oder durch den Sand marschieren konnte. „Das ist kein Geheimnis“, sagte er dann. „Wem das nötige Geld fehlt, oder wer von ganz unten kommt, der kann nur Söldner werden. Mein Stamm lebt seit Jahrhunderten weit draußen im ewigen Sand. Für die Menschen Lut Gholeins sind wir kaum besser als die wilden Schakale.“ Warum er seinen Stamm verlassen hatte oder hatte verlassen müssen, sagte er nicht.
Urel schwieg. Er hatte im Blick des Mannes genug gesehen.
Doch Suhaym ließ es nicht bei sich bewenden. „Und was ist mit dir, Nordmann?“, fragte er. „Was macht einer wie du so fern von seiner Heimat, noch dazu mit einem“ – er nickte nach unten – „verkrüppelten Arm? Deine Männer sagen, du bist ihr Kriegsherr. Euer Heer habe ich wohl gesehen, aber um dich ist noch mehr, und Einiges, was das Auge nicht sieht.“
Der Impuls, sich augenblicklich abzuwenden, ruckte an Urels Gliedern.
Um wenigstens nicht derb unhöflich zu erscheinen, brummte er: „Meine Heimat liegt zerstritten, Söldner. Ich bin hier, um zu erfahren, welche Macht die schlechten Seiten der Menschen aufgerührt hat, und um zu kämpfen. Und kämpfen werde ich, solange ich kann.“
Dann ließ er den Anderen auf seiner Wache stehen und trat wieder unter die Gefährten.
Dumpf, ein widerwärtiger Klangkörper für jeden Augenblick, der an sein Inneres und an seinen Weg gemahnte, pochte der linke Arm, und er drückte ihn mit zusammengepressten Lippen tiefer in die Falten des fremden Mantels.
Die Gruppe entschloss sich, weiterzugehen.
Die Verlorene Stadt war der letzte markante Ort vor dem Felsenwall, und bei der vorsichtigen Fortbewegung, die angesichts der Vorahnungen und Eyas und Bostacs Beobachtungen ratsam war, würden sie heute nicht mehr weiter kommen als bis zu ihren Ruinen.
Achtsam, in einer Reihe, suchten sie sich einen Weg durch die Ferne Oase. Der Sturm hatte leicht nachgelassen, doch jetzt fiel der Sand, losgelassen vom Wind, wie seltsamer Regen herab. Die Tücher vor den Gesichtern, tauchten sie hindurch.
Am Ende des flachen Tals, das die Oase beherbergte, stießen sie erneut auf Überreste uralter Zivilisation.
Schräg im Sand liegend, sah ein steinernes Gesicht still in die Richtung, in die sie gehen wollten, gekrönt von einem kuppelartigen Helm. Kundige Steinmetze hatten Wellen eines Bartes und strenge, gleichmütige Züge aus einem Stück Fels gehauen, höher als zwei Menschen.
„Ein riesiges Haupt.“ Urel hörte die Verwunderung in Bostacs Stimme, und auch etwas wie ratlose Ehrfurcht.
„Wir kommen in den Bereich der alten Stadt Menesh.“ Ifrah wandte sich zu dem blonden Krieger um. Auch Menrad und Herlac sahen mit einem Ausdruck auf die gewaltige Teilskulptur, den Menschen annahmen, die sich bewusst waren, an den Platz einer unvorstellbar mächtigen Vergangenheit gelangt zu sein. „Sie wurde aufgegeben, lange bevor Lut Gholein von einem Küstendorf zu einem bedeutenden Handelsort heranwuchs. Warum, weiß niemand mehr.“
Indes blieb ihnen wenig Zeit für Gespräche über das Gestern der Welt.
Immer noch fürchteten sie feindliche Augen, und vor ihnen lag keine beliebige Wüstenweite mehr, sondern ein Ort, der mit den Geschicken der Menschen und den Ereignissen zur Zeit der Großen Übel aufs Engste verknüpft gewesen war.
Die Verlorene Stadt war lange ein Ort ohne Ausweg gewesen, eine Sackgasse, die alle Reisenden, die weiter nach Süden wollten, weiträumig umgingen, abgeschreckt von der Öde und Fluchbeladenheit der Stelle. Von hier aus hatte es keine Durchgänge zu den Magiertälern gegeben. Auf rätselhafte Weise waren sie versiegelt gewesen, erst wieder geöffnet, nachdem die verderbte Magie gefallener Zauberkundiger und Kreaturen sich mit dem Sturz der Dämonen von diesem Teil der Welt gehoben hatte.
Und selbst jetzt, hatte die Gruppe in Lut Gholein erfahren, vermochte kaum jemand diese Durchgänge zu finden.
Widerstrebend lagerten sie am Rand der Verlorenen Stadt.
Deutlicher jetzt, da der Sandsturm sich mit den späteren Tagesstunden verflüchtigt hatte, ragten rötliche Felsen jenseits des bebauten Areals auf: Die Steinernen Flammen.
Zwischen den verfallenen Gebäuden fanden sie nichts, keine Hinweise auf Verschwundene oder Gefallene, keine Spuren anderer Lebewesen.
Während die Barbaren, Menrad und der Söldner neugierig auf das Skelett der uralten Stadt schauten, an einem Feuer zu Füßen einer hohen Mauer sitzend, so dass die Gruppe wenigstens auf zwei Seiten vor Blicken halbwegs verborgen war, nahm Urel an seinen alten Gefährten dasselbe Schweigen wahr, das ihn selbst erfüllte.
Wir haben versucht, zu vergessen. Aber wie können wir das, wenn wir an die alten Orte zurückkehren müssen?
Sein Blick ging unwillkürlich zu Hadan und Eya.
Hier, nicht weit von der Verlorenen Stadt, mitten zwischen sonnendurchglühter Weite und Tagen voller Kämpfe, war die Assassine zu der damaligen Gruppe gestoßen, von der jetzt nur noch zwei Männer lebten. Hier hatte sie Hadan gefunden, und der Nekromant sie, die tapfere, scheue junge Abtrünnige, die mit mehr Glück als Verstand zu ihnen aufgeschlossen war.
Es war seltsam, aber der Gedanke enthielt Trost.
Ihren Wegen entsprangen nicht nur Entsetzen und Tod.
Und obgleich er seine Stärke vermisste, war Urel für diesen Augenblick froh, das Heer weit fort zu wissen. Alle acht Menschen waren aus freiem Willen mitgekommen, fast ungebunden an Verpflichtungen außerhalb ihres Auftrags. Es erinnerte ihn an die sorgloseren Momente der gemeinsamen Jagd, damals.
Das riesige Schwert dicht neben sich, streckte er die Beine aus, halb sitzend, und schloss die Augen.
Jenseits des Raumes hinter seinen Lidern sank die Dämmerung zusammen mit dem Sand des ermatteten Sturms herab. Er fasste den Griff der Waffe fest, und das letzte Bild war sonnendurchwehtes Haar von der Farbe reifen Korns und der Widerschein grüner Augen.
Tief in der Nacht weckte ihn Eya, die gemeinsam mit Herlac zur Wache eingeteilt war.
„Leise“, flüsterte die Assassine, nur ein Schatten vor dem schwach glimmenden Feuer.
Sie und der Große berichteten, etwas gehört zu haben.
Rieselnden Sand, ein Huschen unweit des verfallenen Hauses, an dem die Gruppe lagerte, kaum mehr als eine Ahnung.
Sie warteten eine Weile lang zu dritt, lauschten in die Dunkelheit. Nichts regte sich. Der dünne Mond schien nur schwach, wie verdeckt von einem hohen Nebel.
Doch als Urel wieder schlief, veränderten sich seine Träume zu leise tappenden Lauten, einem Flüstern fortgesetzter Bewegung, zum Hauch von etwas unsagbar Altem und Fremdem, und es umschlich ihn und begann dann langsam, entsetzlich, in rötlichem Widerschein zu versinken, und er war froh, als ihn eine Hand im Dämmerlicht wachrüttelte und sie sich aufmachten, den Durchlass zu den Magiertälern zu suchen.
„Hier!“
Eya rief leise und winkte die Anderen herbei.
Seit zwei Stunden bereits, behutsam, die Augen immer auf dem Kamm der Felsen und auf der Umgebung, suchte die Gruppe den steinernen Wall nach einem Durchlass ab.
Bräunlich rot, eigentümlich hell geströmt oft, ragte er über die gesamte Länge der Ebene auf, und wie lang er wirklich war, geschweige denn wie breit, ließ sich nicht abschätzen.
Steinerne Flammen. Die Nomaden haben ihm einen passenden Namen verliehen.
Die Assassine wartete, bis die Gruppe zu ihr aufgeschlossen hatte.
Vor einem Jahr noch war diese Barriere undurchdringlich gewesen, wusste sie von Hadan und Ifrah. Die Gefährten hatten das große Magiertal, nur eines von mehreren, damals nicht von der Wüste aus betreten, sondern durch einen magischen Zugang an einem Ort der Legenden, nicht der wirklichen Welt, wie es schien. Erst danach hatten sie den alten Wegpunkt im Tal aktiviert. Erst danach war sie, auf der Suche nach der Kämpfertruppe in Lut Gholein herumirrend, gefolgt.
Damals.
Nun, da die Kräfte besiegt waren, die den natürlichen Zugang verschlossen gehalten hatten, mochte er zu durchschreiten sein. Doch immer noch stellten die Steinernen Flammen Reisende vor die Schwierigkeit ihrer Natur.
Eben erst hatte sie den Spalt entdeckt. Er war kaum einen Schritt breit. Ob es sich dabei tatsächlich um einen gangbaren Pfad handelte, würde sich noch zeigen müssen. Ein leiser Wind fuhr heraus, doch es war nicht seine kühlere Beschaffenheit, die sie frösteln ließ.
„Sieh an.“ Urel stand nun neben ihr und spähte in den Spalt.
Die Sonne erreichte den Schlitz im Gestein nicht, und es herrschte darin roter Felsschatten, ein Schimmer wie von Schmuckstein, ein nie gesehenes Wunder für das Auge.
Eya blickte der Reihe nach in die Gesichter der Gefährten.
Sie spürten es auch. Etwas atmete ihnen aus dem Durchlass entgegen.
Es mochte nur die verdichtete Ahnung der letzten Tage sein, die Gewissheit, sich dem Ort genähert zu haben, von dem so viele Menschen flüsternd als Sitz des Bösen sprachen und in dessen Umkreis die Wüste Zahllose verschluckt hatte, um sie nicht wieder herzugeben, nicht einmal ihre Leichen als Zeichen ihres sicheren Todes.
Kein Angriff hatte dies bisher bestätigt. Nichts Sichtbares warnte.
Aber Hadans leise Worte vertieften das Unbehagen nur. „Was auch immer aus der Wüste drängt, es ist hier.“ Seine Blässe mutete im rötlichen Widerschein kränklich an.
Das Schweigen der Gefährten war Zustimmung. Geschärfte Sinne, Verbindungen zu Quellen magischer oder vererbter Weitsicht – die angespannten Gesichter sprachen deutlich davon, dass jeder von ihnen die Bedrohung auf etwas Inneres zurückgeworfen fühlte.
Urel packte seinen Zweihänder und trat als Erster in den Spalt.
Um mit der an seiner Linken festgeschnallten Pavese nicht an den Felswänden hängen zu bleiben, ging er halb seitwärts, langsam, lauernd.
Hintereinander folgten die Anderen.
Nur das Knirschen ihrer Stiefel auf dem Sandboden des Spalts störte die unwirkliche Stille.
Eya schickte einen Blick dort hinauf, wo die Felswände den Pfad einfassten wie Gletscher, sich fast berührend, und wo eben noch ein Streifen Hellblau zu sehen war.
Sie schloss die Fäuste hart um die Griffe ihrer Klingen. Gewiss war es nur die Enge, doch ihr schien es, als bekäme sie kaum Luft zum Atmen.
Allein die Anwesenheit Hadans und Menrads, die zum Greifen nah vor und hinter ihr gingen, gab noch einen Rest Festigkeit.
An einer Stelle pressten sich die Steinernen Flammen so dicht zusammen, dass die breitschultrigen Barbaren sich gerade noch hindurchzwängen konnten.
„Als ginge man in das Innere einer Grotte“, hörte die Assassine Herlac raunen. „Hier kommt kein Heer hindurch, es sei denn, Mann nach Mann.“
„Still“, befahl Urels tiefe Stimme gedämpft von vorn.
Nach einer halben Ewigkeit, schien es Eya, erspähte Urel schließlich einen helleren Fleck. Die ganze Zeit über hatte sie gelauscht, sich der ausgelieferten Position der Gruppe zwischen den Wänden schmerzlich bewusst.
Aber nichts, nichts. Nur der Sand und unser aller Atem.
Geduckt fast, die Waffen schlagbereit in den Händen, so gut es ging in der Enge, erreichten sie das Ende des Durchgangs. An Hadan vorbeischauend sah Eya Urel hinaustreten, und seine ganze Haltung flüsterte
Vorsicht.
Vor ihnen lag das Tal der Magier.
Es öffnete sich weit, ein beinahe quadratischer, mächtiger Kessel zwischen Felsen mehrfacher Mannshöhe. Fern in seiner Mitte erhob sich das Podest mit dem alten Wegpunkt, unbrauchbar jetzt wie alle seine Gegenstücke auf Sanktuario.
Das zuvor schon Eindringliche lastete so schwer auf diesem Ort, dass Eyas Nackenhaare sich aufstellten.
Gefahr. Aber so oft sie umherschauten, sie sahen nichts, nur die Fläche des Tals, die gelblichen Hänge, und dunkel darin die Öffnungen der Gräber.
Huschte dort nicht etwas auf den unebenen Kämmen der Hänge? Sie zuckte, doch als sie genauer hinstarrte, war die Bewegung fort, vielleicht nur ein Flimmern in der Hitze, das ihre zum Zerreißen gespannten Sinne genarrt hatte.
„Dieser Ort ist verflucht“, zischte der Söldner.
Ohne ein weiteres Wort drangen sie Schritt für Schritt in das Tal vor, sich längs der Wände haltend. Sich zu verbergen, war unmöglich. Gab es hier feindliche Augen, musste man sie längst gesehen haben.
Die acht Menschen hielten sich dicht beisammen.
Sie waren am Ziel, doch ohne zu wissen, wonach sie suchen sollten.
Die hohen Wände gaben kein Zeichen, auch nicht die erste Graböffnung, der sie sich näherten. Von uralten Symbolen, Bannschriften, Bildern bedeckt, stürzte der behauene Stein links von ihnen in den grellen Himmel hinauf, darin die trapezförmige Öffnung, die alles Licht schluckte.
Schwach durch ihr Fleisch kriechend, zeigte sich Eya Hadans innere Vorbereitung an, deutlicher fast als die Hitze und die verwischten Trittgeräusche in der schweigenden Reglosigkeit des Tals. Auch von Ifrah empfing sie Gespanntheit, als schreite die Magierin in einem unsichtbaren Blitzkokon vorwärts. Ihr und allen Anderen hing Angst in den Augen. Vor der Übermacht der entsetzlichen Vergangenheit des verderbten Ortes war die Begleitung weiterer Menschen kaum mehr ein Trost.
Alter, verzweifelter Widerwille fasste nach der Assassine.
Eine Bewegung Urels ließ sie stoppen. Er sprach kein Wort. Mit dem langen Schwert zeigte er auf einen kleinen Hügel unweit des zweiten Grabeingangs.
Sie schlichen näher.
Eine zum Mund hochfahrende Hand, ein Zähneknirschen, das war alles, was sie der Entdeckung und dem begreifenden Erschrecken noch gewährten. Sie wagten nicht mehr, zu sprechen.
Ein Mensch lag hier, oder was noch von ihm übrig war. Gedankenlos starrte Eya auf den geschwärzten, zerbröckelten Leib. Dicht daneben ruhte eine zersplitterte Waffe im Sand. Der dunkle Boden brachte grausige Gewissheit. Hier war ein Unglücklicher, vielleicht ein einsamer Wanderer oder ein Späher, vollkommen verbrannt worden von einem Feuer, so stark, dass es Fleisch, Farben und Formen fast vernichtet hatte.
Niemand regte sich, und es war, als schließe das geräuschlose Hallen eines weiten Raumes sie ein, bis nichts mehr blieb außer bloßem Schauen und Fetzen der Erinnerung an mühsam ähnlichem Wahnsinn entkommene Flüchtlinge.
Der Angriff erfolgte in diesem Augenblick.
Es mochte sein, dass die Gegner das Zögern, die kurze Unachtsamkeit der Gruppe erspürt hatten.
Später wusste keiner der Menschen mehr zu sagen, wie sich ihnen zuerst genähert hatte, was über sie hereinbrach.
Ein Druck, vermischt mit einem Laut, vielleicht Windesheulen, vielleicht unmenschliches Grollen, fegte Eya von den Füßen. Aufkeuchend strauchelte sie, fiel gegen einen zuckenden Körper.
Es wurde schwarz um sie, ringsum schwarz, als habe, was zwischen ihnen erschienen oder von den Hängen herabgesprungen war, zusammen mit der Erschütterung einen finsteren Schleier gebracht.
Sie landete im Sand, ein Bündel steinharter Muskeln, fuhr herum. Sie vermochte nicht aufzustehen. Die jahrelange Schulung versagte, und sie sah nichts mehr außer schwankendem Sand, spürte nichts mehr außer ihr entgleitenden Sinnen, weggerissen von einem herzklopfenden Entsetzen. Jemand schrie. Eine Klinge durchschnitt die Luft und das Geschrei. Flüche, dann ein Wetterleuchten.
Undeutlich stießen Leiber sie an, als sie auf die Füße kam. Sie sah, irgendwo weiter vorn, einen Mann straucheln. Urel? Bostac? Der Söldner? Waffen spitzten aus einem Fleck Dunkelheit, ohne Quelle, ohne Dichte, doch dann wirbelte ein Wind oder eine Gegenkraft das Dunkel auseinander.
Um Himmels –. Sie starrte. Es gerann.
Arme. Scharfkantiges, das aufragte, hoch hinaus.
Mehr gaben Hast und Entsetzen nicht frei.
Menrad war dicht neben ihr. Der Paladin sprang vor, den Kampfhammer erhoben, wie ein Derwisch. Er brüllte, doch sie hörte nichts. Jemand kam ihnen entgegen, geduckt. Als eine zweite, kaum weniger furchtbare, doch vertrautere Druckwelle Sand aufwarf und alles im Umkreis taumeln ließ, erkannten ihre weit aufgerissenen Augen Hadan.
„Zurück!“
Schrie er es? Sie glaubte, Urels Stimme herauszuhören aus dem Toben verzerrter Töne, stolpernder Gestalten.
Eine Bewegung erfasste die Gruppe, die sich verkeilte, zurückgedrängt von den Vordersten. Ein Atemzug verging, zwei vielleicht, und eine Hand riss an Eyas Schulter, riss sie mit.
Flucht. Die Schwärze brüllte hinter ihnen her, als sie in das zweite Dunkel hasteten, stürzten, und die Einfassung eines Grabes glitt ringsum nach vorn.
Aus seinem Schatten heraus, davor noch Menrad und Herlac, die zaudern mochten, sah die Assassine das letzte und erste Bild des hellen Magiertales, und das Blut stockte ihr in den Adern, ohne dass ihre Augen es enträtseln konnten. Der Sonnenglast ließ das zurückfallende Tal verschwimmen, und darin, dicht vor dem Grab, brach aus dem Nichts oder einer unsichtbaren Quelle öliges, sich ausbreitendes Schwarz, wabernd um einen Kern, mehrere Kerne, riesenhaft, schwach menschenähnlich.
Wieder brüllte jemand, und diesmal war es Urel, und er rief die schiebenden Leiber der Männer vor dem Grab herbei. Sie hasteten herein, fuhren herum.
Das Gedränge war nichts weiter als Angst und Zorn, Licht und Schatten.
Das Grab hatte eine Tür, einen gewaltigen Stein, hoch über den Köpfen der letzten Hereinstolpernden, gehalten von zwei schmalen Blöcken, armdick nur. Urel hieb in rasender Eile den Schwertknauf dagegen. Bostac sprang hinzu.
Die Haltung zersplitterte.
Wuchtig kam der Stein herab, schlug dumpf in den Sand.
Dann war es nachtfinster.
Nichts mehr außer Dunkelheit, in der acht Menschen sich anstießen, nichts mehr außer rauem Keuchen. Sie warfen sich gegen den Türstein.
Er erzitterte einmal, und mit hochschlagenden Herzen hörten sie draußen, jenseits des Steins, einen Laut. Ein Schnarren, als bewege sich in einer Felsentiefe ein riesiges Rad, ein Grollen, ein Fauchen aus Feuer blasender Kehle – etwas, das keiner von ihnen je zuvor vernommen hatte.
Danach wurde es still. Die Stille fiel wie ein Teppich um sie und sog selbst die erstickten Laute der Nachwirkungen des Kampfes fast vollständig auf.
Eine Hand langte nach Eya, fein gearbeitete Fingerglieder eines Handschuhs aus Metall. Ifrah.
Sie kauerten, standen, knieten am Türstein. Niemand wusste, wie lange, und niemand sprach ein Wort.
Winzige Schlitze weit oben zwischen den Steinen des mächtigen Grabeinganges ließen das denkbar schwächste Licht hindurch, doch es reichte aus, um vor Eyas Augen die anfängliche Finsternis zu vagen Formen und glänzenden Gesichtsumrissen zu entzaubern. Acht Köpfe, alle erstarrt im Lauschen, alle erhoben. Niemand war tödlich verwundet.
„Bei allen Huren Lut Gholeins“, keuchte schließlich der Söldner. Er würgte am Speichel. „Was war das?“
Doch er erwartete vielleicht ebenso wenig eine Antwort, wie einer der Umstehenden sie geben konnte.
Sie waren gerettet, vorerst, aber gefangen im Grab.
Die Seele drückte sich weg von den schreckvollen Augenblicken, um nicht vollständiger Lähmung zu erliegen, hangelte sich über einen erahnten Abgrund, und alles, was Eya tun konnte, war zitternd dazustehen und zu atmen.
Nach einer Weile bebenden Horchens lockerten sie sich. Kleidung raschelte, Metall schabte auf Metall. Von außerhalb, wo die stumme Drohung des Angriffs nachzitterte, drang kein Geräusch mehr zu ihnen.
Doch als sie sich umwandten, fuhr neuer Schreck durch die Gefährten.
„Seht nur“, flüsterte Ifrah, und Eya hörte das Grauen und das Staunen in ihrer Stimme.
Die weite Halle, in die sie sich geflüchtet hatten, lag so im Dunkeln, dass ihre Höhe und Länge nur zu erraten war. Ihr Ende aber war deutlicher – erhellt durch einen Gang, der sich an sie anschloss. Und in diesem Gang, sauber aus uralten, rotbraunen Steinquadern gefügt, brannte, fern, aber unzweifelhaft zu erkennen an ihrem rußigen, unbewegten Schein, eine Wandfackel.
Atmend blinzelten sie hin.
„Ein Licht“, raunte Herlac. So leise hatte Eya den Großen nie zuvor sprechen gehört. „In einem verlassenen Grab?“
Die Ahnung kam wieder, tränkte ihre Glieder mit Mattigkeit, und kurz standen sie tatenlos. Dann regte sich Urel.
„Wir können auf diesem Weg nicht mehr hinaus.“ Riesig und dunkel erhob sich der Türstein hinter ihm. „Ob es uns gefällt oder nicht, wir müssen weiter hinein.“
Zögernd durchschritten sie die Halle, betraten den Grabgang, vorbei an der Fackel, der sie auswichen wie einer Flamme magischen, unbekannten Feuers. Sie warf noch schwaches Licht, als sie am Ende des Ganges auf eine Kreuzung stießen. Drei weitere Gänge führten im Halbdunkel fort, ohne Ende, ohne mehr als eine steinerne Umfassung von Stille und lastendem Schweigen zu sein. Auch in ihnen brannten Fackeln, klein nur, lang glimmende, wenig kunstvolle Lichtquellen.
Und doch – sie dürften nicht hier sein.
Nach flüsternder Besprechung entschieden sie sich, sich aufzuteilen, um die nächsten Gänge und Räume rasch zu erkunden. Nach drei oder vier Räumen sollten beide Gruppen zur ersten Kreuzung zurückkehren und berichten. Weder ein Laut noch ein anderes Anzeichen warnte vor naher Gefahr.
Dennoch zögerte Eya, bevor sie sich mit Hadan, Menrad und Herlac von den Anderen trennte.
Nicht nur die Fackeln waren eine deutliche Warnung, auch eine wachsende Empfindung, die sie nicht erfassen konnte, füllte ihr Herz und Geist.
Das Grab war nicht verlassen.
Sie waren nicht die einzigen Lebewesen in seiner kühlen Dunkelheit.