Zum Wochenbeginn ein neues Kapitel.
@Liska: Schön, mal wieder etwas von dir zu hören
Auch an alle anderen wie immer vielen Dank für die Kommentare.
******
XLV. Rückkehr
Urel erwachte von beunruhigenden Geräuschen.
Im Schlaf war er halb an der Kammerwand hinabgesunken, schließlich doch übermannt von körperlicher und, auch wenn sein Stolz es nicht zugeben wollte, geistiger Erschöpfung.
Jetzt richtete er sich auf und lauschte. Sein Bewusstsein klärte sich rasch, und ohne nachzudenken hatte er mit der Rechten bereits den Zweihänder ergriffen. Der junge Barbar blinzelte.
Graublaues Licht ringsum, darin die Spur eines helleren, orangefarbenen Tons. Morgenlicht. Die Sonne war noch nicht aufgegangen oder schob sich vielleicht erst zögernd über den Ostrand der Wüste. Im Grab war es kühl.
Kühl, aber nicht länger still.
Füße hasteten auf dicken Ballen durch den Gang vor der Kammer. Weniger das kaum vernehmbare Tappen als der feine, aber unverwechselbare Klang sich eilig in großer Enge aneinander vorbeischiebender Körper war es, der seinen Schlaf jäh beendet hatte.
In der Mitte der Kammer kauerte Eya auf allen Vieren, ganz horchende Anspannung. Auch sie zwinkerte sich noch Schlaf aus den schwarzen Augen, dann huschten sie zu ihm. Hinter ihr erhob sich Hadan. Der Nekromant mühte sich nicht, geräuschlos zu sein, und sein Aufstehen weckte den Rest ihrer Gruppe.
Eben öffnete einer von ihnen den Mund, um etwas zu sagen, eine Vermutung auszusprechen, da drang ein Geräusch durch das Grab, durch Gänge und Wände, und vertrieb den letzten Rest Stille. Den Menschen gefror das Blut in den Adern.
Es war ein Schrei, ein langgezogenes, immer lauter werdendes Grollen, untermischt mit einer Stimme wie der eines kleinen Kindes, doch wilder. Ein Signal, halb ein Brüllen, halb ein Klageruf. Der Schrei einer Säbelkatze.
„Was...“ Bostac war aufgesprungen und starrte erbleichend zur Tür.
Bevor Urel das Wort, das ihm in den Sinn kam, ausstoßen konnte, erschien Merenechsa. Sie trug keinen Helm, doch sie erkannten das Geschöpf an der Farbe seines Fells. Das katzenartige Gesicht indes hatte sich verändert. Die Augen glommen im schwachen Licht ungetrübt wie feuergefüllte Kristallkugeln, die Ohren drückten sich platt an den Schädel, von dem die langen Haarfäden an Maul und Brauen weit nach allen Seiten fortstanden.
Der Anblick nahm Urel das Wort aus dem Mund, dann, mit einer Stimme, die kaum noch Menschenähnliches hatte, tat es auch die Hohepriesterin: „Angriff!“
Die Kammer explodierte zu auffahrenden Leibern.
„Hoch, Menschen! Hoch!“ Merenechsa trat zurück, um sie in den Gang zu lassen.
Sie passten nicht alle hinein, blieben halb in der Kammer stecken, denn dicht an dicht zog ein Strom von Säbelkatzen an der Tür vorbei. Sie streiften die Menschen ohne Worte, ohne mehr als rasche Blicke – ein Kriegerzug. Oder flohen sie? Alles Leben schien in die vorderen Gemächer des Grabes zu fließen, und wieder, dass die Gefährten erneut erstarrten, hallte der Schrei einer Säbelkatze durch die unterirdische Steinwelt.
Ein Angriff. Bereits auf dem Gang, nahm Urel seinen Beutel entgegen, den Hadan, der noch geduckt in der Tür stand, ihm reichte. Der Nordmannhelm drückte sich fest durch den Stoff. Er atmete die klamme Luft ein und verfluchte die Enge, in der er seinen Schild nicht an den verkrüppelten Arm schnallen konnte.
„Rasch!“ Merenechsa winkte, bahnte sich dann, ihre Artgenossen mit Läufen und gezischten Befehlen zur Seite treibend, den Weg durch das Gedränge.
Sie folgten ihr. Menschen mischten sich mit gerüsteten Säbelkatzen. Die Enge benahm den Atem. Überall Körper, Urel bis knapp zur Schulter reichende Helmreiter, Speere, die aus dem Getümmel ragten. Fell streifte seinen nackten Ellenbogen. Die Luft war dick mit scharfem Tierschweiß und gehetzter Anspannung.
Sie gelangten in den nächsten großen Raum. Fackeln beleuchteten das aufgewühlte Grab. Die Wände standen stumm, und stumm sahen auch die steinernen Fresken ihrer Ahnen auf die an ihnen vorbeilaufenden Säbelkatzen herunter. Es wurden immer mehr. Sie quollen aus anderen Gängen, aus Nischen, ein sich formierendes Heer.
Urel entdeckte indes auch kleinere Leiber unter der Menge, abgeschirmt von seinem Blick, als seien sie etwas, das er nicht sehen dürfe.
Jungtiere. Größere nahmen sie mit fort.
Sie fliehen tatsächlich. Die Hüter der Gräber räumen ihre Heimstatt.
Die Katzen verließen den hinteren Teil des Grabes, jenen, der zur offenen Wüste, nach Osten, hinausführte – wo das Tal lag, dann die Felsen, dann das zweite Tal hinter der weißlichen Ebene.
Das Dämonentor.
Die Fäuste an den Waffen, stolperten die Gefährten in den Raum und sammelten sich um Merenechsa.
„Die Attacke erfolgte gegen den hinteren Felseneingang?“ Urel fasste die Hohepriesterin ins Auge, die eben ihren Helm, den sie unter einem Vorderlauf getragen hatte, aufsetzte. Vielsagend prägte sich der Anblick dem Barbaren ein: Die runden, kurzen Zehen, die sich auf das schimmernde Metall drückten, es zurechtsetzten, mit großer Geschicklichkeit den Kinngurt festzogen; die unter dem Helm plötzlich anders erscheinenden, fremden Züge, das schnelle Blinzeln, als Merenechsa den weißen Haarschweif des Helmreiters mit einer eckigen Kopfbewegung zurückwarf.
„Ja“, beantwortete sie seine Frage. „Wir fliehen.“ Die Säbelkatze wies in die Richtung des vor dem Grab liegenden Magiertals. „Hinten halten Wenige den Eingang. Rasch jetzt.“
Urel hob sein Schwert. „Wir können helfen. Wir bereiten ihnen einen Empfang, den sie so schnell nicht vergessen werden.“ Wut brachte sein Inneres zum Glühen, und befriedigt,
endlich, spürte er die Kampfeslust.
Merenechsa sah von unten an dem Barbaren empor. „Nein, Mensch. Ihr müsst gehen.“ Ihre Stimme wurde von den Geräuschen der vorbeihastenden Säbelkatzen halb überdeckt.
Der Aufruhr schreckte Urel nicht, und er sog die Anspannung fast genüsslich ein, bereit, sich allem entgegenzustellen, was das Leben ringsum bedrohen mochte. Doch bevor er widersprechen konnte, meldete sich Hadan zu Wort, der nahebei stand und seinen Harnisch festzurrte.
„Vielleicht sollten wir tun, was sie sagt, Urel“, meinte der Nekromant leise. „Wir kennen uns hier nicht aus. Vor dem Grab können wir uns immer noch nützlich machen, denn eins scheint mir sicher.“ Der große Mann senkte den Kopf, als, wie um seine Worte zu bestätigen, ein erneuter Schrei aus dem sich langsam leerenden Ostteil des Grabes durch die Gänge zu ihnen hallte. „Die Dämonen werden das Grab ausräuchern.“
„Er hat Recht“, bellte Herlac. „Hier können wir schlechter kämpfen als draußen!“
Kurz machte aufwallender Widerwille Urel beinahe bewegungsunfähig. Grimmig sah er nach hinten, auf den gelbbraunen Strom der tierhaften Krieger. Einige wenige liefen in die entgegengesetzte Richtung zur Menge, die Speere und Säbel blank, weit über die Köpfe erhoben. Aber die Gefährten irrten womöglich wirklich nicht – in der Enge des Labyrinths, das wie geschaffen dazu war, Ortsfremde zu verwirren und das ihre Gruppe im Kampf leicht zersplittern würde, war der Gebrauch ihrer Schwerter schwieriger, und Merenechsa schien nicht zu erwarten, dass das Grab gehalten werden konnte. Die Säbelkatzen, die noch in seinen Ostteil eilten, mochten nur noch eine letzte Abwehr sein, die die Flucht der anderen unterstützen sollte.
„Gut.“ Er straffte sich. Ein gebieterisches Nicken raffte die Gefährten zusammen.
Dicht an dicht folgten sie Merenechsa, die vorausrannte, liefen geduckt, wichen Pfeilern und Säbelkatzengruppen aus.
Die steinernen Gesichter an den Wänden, selbst die Tierdarstellungen, schienen finster zu lächeln. Es war nicht der erste Kampf, nicht die erste Flucht und Aufgabe dieses Ortes, die sie bezeugten.
Als die Gruppe in einen weiteren, großen Raum gelangte, ließ ein Rumpeln, ein gutes Stück hinter ihnen aus der Richtung, aus der sie soeben gekommen waren, sie herumfahren.
Stein auf Stein. Grollende Kommandos, die Ahnen wussten woher, Merenechsas Blickwechsel mit anderen Säbelkatzen, und dann, wie aus der Tiefe der Welt, ein dumpfes Brausen, als blase ein Gott Feueratem gegen Fels. Wieder rumpelte es.
Im kurzen Innehalten fragte Ifrah atemlos: „Was war das?“
Merenechsa antwortete nicht, war schon wieder Schritte voraus, winkte ihnen.
Hadan überholte die Magierin und Urel. „Sie verschließen die Grabkammern. Es gibt hier überall Türsteine.“ In diesem Augenblick schwemmte ein Zug von Katzen an ihnen vorbei, verhaltend, ebenfalls sich umwendend, und der Eingang, der sie alle in den Raum gelassen hatte, verschwand. Ein glatter, trapezförmiger Stein fiel herab. Mit einem Aufprall, der den Boden erzittern ließ, verschloss er die Öffnung nahtlos.
Doch sie hatten es gesehen, auf der anderen Seite: Ein letztes Aufleuchten von Gelb, ein letztes Aufblitzen gezogener Säbel.
„Sie verschließen die Räume von innen.“ Der Nekromant wandte sich ab, das Gesicht eine bleiche Maske des Abscheus und des Zorns.
Sie opfern sich. Urel begriff und holte tief Luft. Unter erneutem Poltern, in das sich fernes, dünnes, entsetzlich anzuhörendes Geschrei mischte, setzte er sich an Merenechsas Seite und wagte kaum, den großen Augen des Geschöpfes hier, auf dieser Seite der Türen, zu begegnen. Sie verfolgten einen Plan, eine Strategie zur Abwehr, hoffend, die Steintüren und die Krieger, die sich freiwillig in den Kammern hatten einsperren lassen, würden die Angreifer in einen Kampf verwickeln – wertvolle Zeit, die sie ihren Artgenossen damit verschafften.
Der verzweifelte Mut der Säbelkatzen fachte den Grimm des jungen Barbaren an, und der Gruppe halb blind folgend, hoffte er inbrünstig, es der schwarzen Pest hinter ihnen heimzahlen, sich ihr im Tal der Magier entgegenwerfen zu können.
Ich bin nicht so weit durch die Finsternis gewandert, um wegzulaufen.
Gemeinsam mit ganzen Horden ihrer Gastgeber kamen die Menschen in der weiträumigen Eingangshalle des Grabes aus. Sie atmeten rasch. Urel blinzelte in das schier blendende Licht. Der Türstein war aufgestemmt worden, eine darunter geklemmte Säule hielt ihn weit offen, und dahinter, durch Dutzende Säbelkatzen zu sehen, lag das Magiertal.
„Hinaus!“ gellte Merenechsa.
Sie sprangen durch die Öffnung ins Licht.
Gleißende Helligkeit und plötzliche Wärme empfing sie.
Die Sonne stieg gewaltig über der Wüste auf und schleuderte ihre Strahlen in das nur zu bekannte Tal mit den hohen Grabeingängen. An diesem Morgen spülte eine Welle von Leben in seine hügelumrahmte Weite, und seine stille Abgeschiedenheit zerbarst.
Urel tat mehrere Dutzend wuchtiger Schritte, weitergerissen vom Strom der Säbelkatzen, der sich teilte, sich in Gruppen zusammenballte. Dann blieb er stehen und wandte sich um. Die Gefährten waren nah bei ihm, hoben ihre Waffen. Keuchend starrten sie auf den Felsenwall über den Gräbern.
Letzte Säbelkatzen hasteten ins Licht, kamen von überall her. Einzelne, Späher gewiss, sprangen von den haushohen Felsen ins Tal. Doch es blieb keine Zeit, um die ungeheure Geschmeidigkeit, mit der sie aus einem Fall landeten, der einen Menschen zerschmettert hätte, zu bewundern.
Kurz war nichts zu sehen bis auf den gähnenden Eingang des Grabes.
Aus dem Augenwinkel sah Urel eine Gruppe der Geschöpfe, seitlich hinter dem Standort der Gefährten, und sie flohen, unbewaffnet, Kleinere mit sich fortziehend. Alles andere, ob Mensch oder Tier, stoppte im Lauf, fuhr ebenfalls herum, wirbelte den Sand auf.
Merenechsa gab einer der Katzen, die noch am dichtesten beim Grabeingang war, ein Zeichen.
Das Geschöpf, nur ein gelber Schatten, machte einen Satz zum Türstein hin. Allein, beinahe die einzige Regung in der halben Reglosigkeit der bis hierher Entkommenen, warf es sich gegen den Steinrahmen.
Die Dunkelheit des Grabeingangs wurde ausgelöscht.
Aus seinem Innern, unvermutet wie eine aufflackernde Flamme, brach eine Feuersäule, waagerecht, Atemstoß eines Drachen. Brüllendes, knisterndes Lodern schluckte den Aufschrei des Entsetzens ringsum, in den auch Urel einstimmte, ohne es verhindern zu können.
Was er sah, war furchtbar. In Windeseile, rascher als Reisig in offener Glut, verbrannte die Säbelkatze. Innerhalb eines Lidschlags fraß der Flammenstoß ihr Leben, ihre letzte Bewegung. Schwarz geworden, von der Wucht des Feuers noch einen, zwei Schritte fortgetrieben, fiel sie und zerbarst, brüchige Knochen, verkohltes Fleisch, das zu Asche zerstob.
Neben Urel stöhnte jemand auf. Er sah nicht, wer es war. Er sah nur Merenechsa, die schräg vor ihm stand, und die Hohepriesterin bot ein Bild des Grauens und des Jammers: Ihre Hinterläufe waren in einem erstarrten Schritt weit gespreizt, Wind fegte ihren Helmschweif beiseite. Vor ihr, über die geflohene Distanz hinweg, war nur sandiger Boden, dann die Leiche ihres Artgenossen, der dunkle Eingang, die verzierte Front des Grabes, der Hügel darüber und über dem Hügel der Kamm und der Himmel.
Die Feuersäule war verebbt.
Urel hob langsam den Blick. Unwirkliche Stille.
Dann, gemächlich in seiner Ausdehnung und dennoch viel zu rasch und grauenerregend körperlos, tauchte er endlich auf. Wie Rauchwolken aus einem Brandherd wölbte sich der schwarze Nebel über den Rand des Magiertals und filterte noch einmal die schrägen Strahlen der Sonne, bevor er sie schluckte. Mit ihm wuchs der Hügelschatten und erreichte die am weitesten vorn Stehenden der reglos verharrenden Menge.
Der Anblick betäubte, riss dann jede Betäubung fort.
Gleichzeitig mit der Bewegung, mit der sich die Gefährten um Urel vorbereiteten, gleichzeitig mit dem Kriegsschrei aus seinen Lungen, schrie auch Merenechsa. Es klang dünn, hinfällig, doch der Befehl rüttelte die Säbelkatzen wach.
Die Dunkelheit aber, die keine war, die nur den Hügel mit einer schwarzen Borte versah, zeigte keine Reaktion. Wie bereits das verfluchte Dämonentor, aus dem sie kommen musste, zog sie den Blick an, und bestürzt starrte der Barbar genauer hin.
Scheinbar beliebig begann der Nebel zu gerinnen, Formen gewaltiger Leiber vorgaukelnd, vorrückend, lautlos, ohne ein Stocken. Seine ersten Finger und Fetzen tasteten sich bereits die steilen Hänge hinab, und wenn es Augen oder ein anderes, sehendes Gespür in dieser Erscheinung gab, so blickten sie mit tödlicher Ruhe auf die Menge im Tal.
Bei allen Weisen der Welt. Urel packte den Schwertgriff fester, bis es knirschte.
Wie sollen wir sie aufhalten? Hier und da war Festes im Nebel, gewiss, und es mochte verwundbar sein, einem gut gezielten Schlag nicht ausweichen können, doch es verfuhr mit der Atmosphäre wie mit einem ihm vollkommen unterworfenen Ding, tauchte auf, wo es wollte.
Sich daran zu halten, dass es womöglich um seine Gestaltwerdung ringen musste, gegen diese letzte Schwierigkeit der ihm fremden Welt kämpfend, bot keine Hoffnung. Denn sie, die Bewohner Sanktuarios, besaßen keine solchen Fähigkeiten – nicht einmal eine Magierin wie Ifrah, die Urel unlängst verdeutlicht hatte, wozu sie in der Lage war.
Aber sie... Nicht Tor noch Mauer wird sie stoppen, es sei denn, sie wollten unsere Städte zerstören. Nicht einmal ein gegnerisches Heer wird ihnen den Weg versperren können, wenn sie es einfach umgehen.
Wie sollen wir sie aufhalten?
„Bostac, Herlac!“ brüllte er durch die letzten Augenblicke des Wartens, ohne die Männer anzusehen. Sie traten an seine Seite, aber selbst ihre vertraute, starke Gegenwart war durchdrungen von einer Angst jenseits aller bisherigen Schreckenserfahrungen.
Der Feind sandte, wie er hier erschien, eine Botschaft voraus. Sie hatten es lange vermutet, und seit der Begegnung mit dem Riss in ihrer Welt wussten sie es sicher.
Ihnen trat kein Erkundungstrupp entgegen. Nicht einmal die scheinbar wahllosen Attacken gegen alle Lebewesen, die das Pech gehabt hatten, diesem Teil der Wüste zu nahe zu kommen, konnten darüber täuschen: Ein Heer würde diesem schwarzen Nebel folgen. Eine ganze Welt würde folgen.
Diese Schwärze und jene, die in ihr voranreisten, waren nur eine Vorhut.
Die Täler jenseits der Gräber quollen vielleicht schon über.
Eure Welt wird brennen, Barbar.
Urel fühlte sich erbleichen.
Sanktuario. Lut Gholein, die Wüstenstadt, ihre Verpflichtung. Das Barbarenheer, das seiner Bestimmung harrte.
In diesem Augenblick, da das Blut aus seinem Herzen wich, stürzte die Schwärze ins Tal.
Sie hatte sich mit einer gewissen Zähigkeit über den Hügelkamm geschoben, eine große Welle, die sich auftürmte und jetzt unvermutet rasch vornüber kippte und brach, um sich auszubreiten. Neben Urel klang ein Murmeln in Jabrah auf, und eine Macht, finster, aber beinahe erleichternd vertraut, hob sich durch Fleisch und Seele empor.
Viel Zeit blieb ihnen nicht mehr. Die Säbelkatzen waren zu einer Abwehrlinie zusammengetreten, warteten in einer mehrfachen, wehrhaften Reihe, und doch wirkte sie zart und hell gegen die nahende Schwärze. Ein Blick zeigte Urel Hunderte weit geöffneter Augen. Die Begegnung mit dem Feind würde sie schließen.
Wir machen einen Fehler.
Die Wüste muss gewarnt werden. Die ganze Welt muss erfahren, was bald vor ihren Toren stehen wird.
Als habe sie seine Gedanken erraten, war Merenechsa plötzlich an seiner Seite. Urel begriff: Sie und ihre Artgenossen, die heimlichen Wächter, wussten, dass sie fallen würden – sie konnten sich nur noch nicht vollends dazu überwinden, ihre Heimstatt aufzugeben.
Er empfand Mitleid. Hastig sprach er sie an.
„Ich ahne, was ihr opfert.“ Er schluckte den nach Eisen schmeckenden Speichel hinunter, den Vorboten ungezügelter Wut. Der Berserker war nicht mehr fern, und er mochte fallen – die Säbelkatzen durften es nicht, und seine Gefährten ebenso wenig alle. Er musste sich beeilen. „Aber wenn es noch Rat geben kann“, fuhr er fort, die heranbrandende Schwärze im Augenwinkel, „dann denke an das, was du uns gesagt hast, Merenechsa. Die Warnung. Wir müssen eins werden.“
„Ich denke daran.“ Waren es Tränen, die die Augen der Säbelkatze feucht machten, oder nur die Hitze, die ihnen entgegenschlug? „Es ist schwer. Es ist unsere Heimat.“
„Ich weiß.“ Urel nickte grimmig. Sie sprachen laut genug, dass auch die Gefährten sie hören konnten.
Ein Ruck durch die gelbliche Gestalt neben ihm zeigte dem jungen Barbaren, dass Merenechsa eine Entscheidung getroffen hatte. Sie wandte sich um.
Gellendes Gebrüll, machtvoll für ein so kleines Geschöpf, verließ die Hohepriesterin. Durch die Reihen der Katzen flog eine einzige Bewegung sich straffender Leiber. Ferner flohen letzte Versprengte aus anderen Gräbern, teils beladen mit Bündeln, und zwischen ihnen sprengten andere Tiere ins Licht, vier, fünf.
Kamele. Nutztiere. In wilder Panik stoben sie davon, einige ins Tal hinein, andere mitten unter die zurückweichenden Reihen der Verteidiger.
„Ihr müsst fliehen!“ Merenechsas Stimme war schrill.
Sie stand mit gezogenem Schamschir und winkte die Menschen fort.
Doch bevor die Gefährten sich verständigen konnten, erreichte der Gegner, als habe die beginnende Flucht ihn angelockt, die Menge im Tal.
Schneller als ein Schlag brach das Chaos über sie herein.
Ihr werdet verstehen, was es ist.
Urel erinnerte sich an Merenechsas Worte, auch an die Ifrahs, die dem neuen Bösen einen alten Namen gegeben hatte, und jetzt sah er es. Lange lag ein ähnlicher Anblick zurück, doch vielleicht auch nicht, hatten sie doch seine Träume bevölkert und sich beim ersten Angriff, fast genau an derselben Stelle wie jetzt, kurz und vage gezeigt.
Sie ballten sich aus dem schwarzen Nebel wie eine Krankheit aus schwachen und anfangs unsicheren Anzeichen: Weit mehr als mannsgroße Formen, in dunklem Rauch verwischte Körper, Hörner, die daraus emporragten. Urel hörte das Knistern und Fauchen immenser, sich bereitmachender Hitze das Geschrei der Verbündeten überspülen. Unwillkürlich hob er den Arm mit der Pavese, die Herlac ihm behelfsmäßig in der Eile dort angebracht hatte.
Marej.
Ich darf jetzt nicht an sie denken.
In der nahenden Dunkelheit war das fahle Leuchten, das von Hadan ausging, ein Fanal des Untergangs. Kleinere Lichtflecken zauderten um eine blassgoldene Gestalt – Ifrah, die ihre Elementarkraft über Stab und Rüstung tanzen ließ. Die Klingen der Barbaren schimmerten silbern.
Und doch – wir müssen fliehen.
Fliehen. Er spuckte das Wort aus. Er musste sich beeilen. Der Berserker hatte nur geschlafen, jetzt erwachte er.
Mit einem Ruf entließ Hadan neben ihm einen ersten Fluch.
Aus der Dunkelheit raste ein großer Leib, schnaubend, kopflos vor Angst. Ein Kamel.
Lut Gholein. Um Urel wichen seine Gefährten langsam zurück, und bei aller Wut, die sein Bewusstsein zu schlucken drohte, sah er plötzlich klarer, vielleicht ein letztes Mal. Die Wüste war entsetzlich groß, zu Fuß benötigten sie drei Tage, drei Tage auf festem Grund, der für die kommende Feindesflut vielleicht kein Hindernis war.
Mitten im Durcheinander sich zur Flucht wendender Säbelkatzen wirbelte der junge Barbar herum.
Menrad stand am nächsten. „Haltet das Kamel auf!“ brüllte Urel dem Lichtkrieger zu. Den Kampfhammer schlagbereit in der Rechten, stutzte dieser. Dann warf er sich, ohne nachzudenken, dem Tier, das durch ihre Mitte trabte, in den Weg. Urel sah ihn einen Strick packen, der von dem panisch hochzuckenden Kopf baumelte. Er hatte rasch reagiert, doch jetzt starrte er verwirrt, das schmale Gesicht straff und leicht verzerrt im Versuch, das aufgehaltene Tier zu bändigen.
„Flieht!“ gellte es zwischen den Männern. „Bei allem, was uns verbindet, flieht!“
„Rauf!“ wies Urel den Lichtkrieger an, griff dann Suhaym, der links von ihnen stand und entgeistert in den schwarzen Nebel sah, am Ärmel seines Gewandes. Der Zugriff ließ den starken Mann taumeln. Um sie war nur noch Entsetzen.
„Söldner!“ knurrte der Barbar dem Anderen zu. „Zurück nach Lut Gholein – du und der Paladin!“
Der Nomadensohn blinzelte begriffsstutzig.
„Rasch jetzt“, Urel stieß ihn grob in Menrads Richtung. „Du hast beklagt, dass dir das Warten nicht gefällt, gut, du kannst es jetzt beenden! Wenn du die Stadt erreichst, wird sie es dir schon vergelten.“ Aber immer noch, sei es aus Betäubung, sei es aus plötzlich aufwallendem Stolz heraus, nahm der Mann die Beine nicht unter den Arm. „Geh!“ brüllte Urel mit aller Kraft, und seine Stimme kippte über. „Geh! Verdammter Narr, tu doch, was ich dir sage!“
Zur Bekräftigung hieb er mit dem Schwert in Richtung des Söldners.
Suhaym fuhr zurück.
Dann schien er sich zu besinnen, hastete zu Menrad und riss ihm den Strick aus der Hand. Kurz verharrten die Männer noch, der Paladin sichtlich unwillig.
Für deine Tapferkeit sei bedankt. Urel nickte ihm zu.
Er sah sie nicht mehr fliehen, denn dicht bei ihm wölbte sich die Luft unter einem weiteren Fluch, und ein entsetzliches Splittern von Knochen zerriss den Kampfgesang, der die Zurückweichenden begleitete. Hadan hatte beide Arme erhoben, aber ohne sein Gesicht sehen zu können, fühlte Urel die Anstrengung des Nekromanten.
Es mochte sein, dass das Glück der Gefährten sich hier endgültig aufgebraucht hatte und die aus dem Nichts immer deutlicher werdenden Dämonen das Letzte waren, das sie erblickten, aber all dies zählte kaum noch mehr als das stockende Blut in Urels Arm unter den Schnüren der zu fest angebrachten Pavese, und die Angst, die ihm das Herz und den Blick des Berserkers in die Augen trieb.
Er hatte ein Heer nach Lut Gholein gebracht, durch die gesamte Nordhälfte dieses Kontinents, und wenigstens das durfte nicht vergebens gewesen sein.
Mit mehr Glück als Verstand entkamen sie aus dem Kessel des Tals.
Menrad wusste nicht, wie, aber von irgendwoher hatte Suhaym plötzlich ein zweites Kamel, vielleicht eingefangen im Durcheinander der sich leerenden und ihr Leben in die Wüste verteilenden Gräber, und die Männer brachten die Tiere durch die Steinernen Flammen, zurück in die Verlorene Stadt und die offenen Lande jenseits des Magiertals, in dem zu dieser Stunde die erste Schlacht tobte.
Sie schauten nicht zurück.
Der Paladin erinnerte sich an die herrischen Gesten Urels, der ihn fortgeschickt hatte. Ihn allein, und warum auch nicht. Er war so gut wie jeder Andere, es war ganz einerlei.
Einer von ihnen musste entkommen, und die alten Gefährten blieben zurück, besser aufeinander eingespielt als jede Kriegertruppe der Welt.
Vielleicht siehst du keinen von ihnen jemals wieder.
Die engen Umklammerungen des Steins rissen Fleischfetzen aus den Flanken der Reittiere, und ohne den Schrecken, der ihnen hinterher jagte, hätten sie die Kamele wohl kaum durch die schmalen Wege aus dem Tal heraus gebracht.
Stolpernd, dem schiebenden Leib des Tiers und seinen auskeilenden Hinterfüßen ausweichend, trieb er es vor sich her, und der keuchende Atem des Söldners war immer dichtauf. Sie erreichten das Ende der Steinernen Flammen.
Hier erst fiel Menrad auf, dass er bis auf seine Waffen alles zurückgelassen hatte – seinen Burnus, den Reisesack, den Wasserschlauch. An seinem Gürtel baumelte nur noch eine kleine Lederflasche.
Er stand noch benommen, das Seil, an dem das Kamel zerrte, in der Hand, als Suhaym sich zu ihm umwandte. Bis zu diesem Morgen hatte der Dunkelhäutige keine Angst gezeigt, doch jetzt war sein Gesicht eine zerfallende Maske, und seine Stimme, als er Menrad anrief, gehetzt: „Worauf wartest du, Paladin? Rasch, steig auf! Wir müssen uns eilen!“
„Ich weiß nicht, wie man ein Kamel reitet“, gab Menrad tonlos zurück. In seinem Kopf donnerte der Nachhall der begonnenen, für sie nun fast schon unerreichbaren Schlacht, und er vermochte sich nicht aus der Betäubung zu lösen.
Fluchend hastete der Söldner zu ihm, das eigene Reittier hinter sich herziehend.
„Djah, djah!“ Unter den fremdartigen Lauten ließ sich Menrads Kamel kollernd auf die Vorder-, dann auch auf die Hinterläufe nieder, schwitzend vor Angst, doch eben noch folgsam.
„Steig auf, Mann!“ Suhaym wies auf den geteilten Rücken des Tiers.
Menrad konnte nichts tun, als der Anweisung zu folgen. Es war kein Sattel da, auch kein richtiges Zaumzeug, und er fiel fast herunter, als sich das Kamel ruckartig erhob. Eilig zurrte er den Hammerstiel fester an seinen Gürtel, presste beide Schenkel um den gewölbten Leib und langte nach dem Strick, dem einzigen, das ihn mit dem langen Schädel des Tiers verband.
Einmal noch schaute er zu den Steinernen Flammen zurück, und ihm war, als lasse er eng Vertraute im Stich.
Einzig ein weiteres Wort Suhayms, mit dem sich die Reittiere in Bewegung setzten, bewirkte, dass er seinen Geist von ihnen trennte. Hilflos blinzelte er nach vorn, hoch auf seinem im stoßenden Passschritt dieser Tiere schwankenden Sitz, sich festklammernd –
um nicht herunterzustürzen, um nicht in meiner Aufgabe zu versagen.
Noch war es ein Leichtes, abzuspringen und zurückzueilen. Für eine Weile hing sein ganzes Wesen an diesem einen Impuls.
Die rasch steigende Sonne senkte erbarmungslose Hitze auf das offene Land, in das sie nun kamen. Wie im Traum sah Menrad die ausgehöhlten Mauern und leeren Plätze der Verlorenen Stadt vorbeiziehen, und kein Lebewesen war da, um ihre Flucht zu bezeugen, so als hätte alles Lebendige diesen Teil der Wüste, der schwer an alten und neuen Schrecken trug, längst verlassen.
Sie gelangten zur Fernen Oase. Auch ihre Palmen und seichten Wasserlöcher flogen vorbei, und sie hatten nicht einmal einen Schlauch mit, den sie hier hätten füllen können. Als Menrad sich ein letztes Mal umwandte, die Hände in das dicke Fell des Höckers vor ihm gekrampft, waren die Steinernen Flammen nur noch eine undeutliche, rötliche Linie.
Er wollte all das nicht – weder die notwendige Flucht noch das plötzliche, harsche Erwachen in Hitze und Staub nach der langen Dämmerung der Gräber, noch diesen schwankenden Sitz, auf dem er hing wie ein Kranker.
Das Sandmeer schluckte sie.
Dünen wechselten sich eintönig ab. Flirrende Hitze zerfaserte den nahen, dunklen Schrecken. Menrad senkte stöhnend den Kopf, aber die Sonne brannte selbst durch seine fast geschlossenen Lider.
Alles schien unwirklich, grell, ausgebleicht.
Sie ritten den ganzen Tag in fliegender Hast.
Vor ihnen, lange noch unsichtbar, wartete Lut Gholein, und seine weißen Mauern und engen Gassen ahnten nichts von der Kunde, die sie brachten – den Menschen, den vor den Toren lagernden Gruppen, der goldenen Kuppel des Fürstenpalastes.
Einmal nur hielten die Flüchtigen an, um in die Weite zu horchen. Wer konnte schon sagen, ob die neue Bedrohung sie nicht mit mächtigerem Geist und geheimem Wissen begleitete? Wer konnte schon wissen, ob das strahlende Blau des Himmels sie noch so sicher überwölbte wie zu früheren Zeiten, und nicht längst Hort feindlicher Augen geworden war?
Es wäre an der Zeit gewesen, zu beten, aber Menrad fand keine Worte für ein Gebet in seinem Innern.
Taub saß er auf dem Kamel, ließ sich hochreißen, wenn es nach einem Halt aufstand, ließ sich durchrütteln. Er heftete die Augen verbissen auf Suhaym, der nur noch ein Gemenge roter Gewänder war, vor ihm zwischen Sonnenglast und Sandglühen dahinreitend, stumm, ohne einen Blick zurück.
Der Tag verrann, und er wusste es kaum.
Erschöpft machten sie Halt in einer Bucht aus Felsen, die einsam in einer endlosen Ebene lagen, heimlich und doch ausgesetzt. Nun, da sie wieder in freier Wüste waren, schien der Söldner ein wenig beruhigt, aber Menrad teilte nicht einmal diese vorsichtige Erleichterung.
Der Abend nahte. Die Anderen mochten längst tot sein.
Während Suhaym die erste Wache übernahm, kauerte sich der Paladin unter einen Felsen. Sie entzündeten kein Feuer. Wenn alles gut ging, würden sie Lut Gholein am folgenden Abend erreichen.
Die Kamele indes waren nervös, als jage sie ein gestaltloser Schatten. Sie hatten sie behelfsmäßig anbinden müssen, und lange lauschte Menrad auf das leise Scharren ihrer breiten Füße, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, brennenden Durst in der Kehle, die Hand am Kampfhammer.
Merkwürdig träumte ihm in dieser Nacht von seiner letzten Weihe.
Nach Jahren des immer größeren Getrenntseins von den Gebetshäusern seiner Heimat kniete er wieder in ihrer hallenden Kühle und atmete ergeben den Duft der Weihkräuter und des Kerzenwachses ein. Die Gestalt des Ordenshöheren war weiß und gelb, ein beinahe blendendes Standbild aller Tugenden, denen sich ein Paladin entgegenstreckte, die niederen Triebe und falschen Leitbilder abwerfend, in denen das gemeine Volk sein Dasein fristete. Worte träufelten ein hehres Ziel in die Stille. Eine Hand legte sich schwer auf seinen gebeugten Nacken, die Hand eines Fremden und doch keines Fremden, denn dieser war ein Ordensbruder derselben großen, edlen Gemeinschaft und hier, um ihn aufzunehmen. Der Schmerz, die Steife des langen Wachens vergingen, auch der Hunger verging. Nichts blieb zurück, nur ein Hunger der Seele.
Erhebe dich. Du bist nun Teil einer größeren Welt. Trage ihr Heil in alle Lande, durch deine vom Licht gegebene Kraft und Überzeugung, durch deine Liebe zu allen Menschen, durch deinen Glauben.
Menrad zuckte und erwachte.
Es war noch finster. Am Horizont stahl sich erst zögerlich die Vorahnung des Morgens in den Himmel und nagte zuversichtlich an seiner Schwärze.
Schwankend kam er auf die Beine. Sein Kopf stieß gegen einen Felsenüberhang, und das brachte die Erinnerung zurück. Er hatte geschlafen. Die Gräber. Die Flucht vor der Finsternis der sich wandelnden Welt.
Ja, der Morgen kam. Warum hatte Suhaym ihn nicht zur Wachablösung geweckt?
Ohne klare Orientierung trat er aus dem Nachtschatten der Felsen. Unweit zauderte das Kamel, es hatte sich losgerissen – ein dunklerer Umriss vor dem Himmel und der Borte der Wüstenlandschaft.
Dem Lichtkrieger war es, als hänge der Stille etwas Ungutes an, doch vielleicht war es nur die ungewohnte Umgebung. Er suchte jenseits der Felsen nach der Gestalt des Söldners, die vor seinem geistigen Auge hoch auf einem Stein saß, in ihre fremdartigen Gewänder gewickelt, schweigend, zu vorsichtig, um ihn, den Erwachten, anzurufen.
Es war so geisterhaft ruhig. Flüchtig schien ihm, er stehe am Rande einer ganz anderen Welt, abseits von Wirklichkeit und Dingen und Namen, vollständig verlassen, allein wie nie zuvor in seinem Leben, und auch er wagte keinen Laut.
Kurz darauf fand er Suhaym.
Die verkohlten Überreste des Söldners lagen unweit eines Steinhaufens. Trotz der halben Dunkelheit stachen sie deutlich vom Sand ab.
Der Paladin stand und sah auf sie hinunter. Die Lanze war noch gut zu erkennen.
In der Nähe schob sich das zweite Kamel hinter einer Düne hervor.
Das Grauen überfiel ihn so urplötzlich, dass er weder Nachtkühle noch Fieber noch Nachwirkungen des Schlafs mehr fühlte. Ein Würgen, ein Aufschrei drängte sich aus seiner enger und enger werdenden Brust, und er verhielt starr, zuckend, die Augen sinnlos in die Umgebung gebohrt.
Mitten in der Nacht, viele Meilen jenseits des Magiertals, hatte der Gegner sie gefunden, ganz so, als seien sie nicht entkommen, als reise er auf Geisterschwingen. Warum lebte er, Menrad, noch?
Er fuhr mit offenem Mund herum. Seine Faust ballte sich schmerzhaft um den Hammergriff, und das Kamel stand still, nicht weit entfernt hinter der geschmeidigen, gleichmütigen Linie der Düne.
Nach einer Weile, in der nichts geschah, packte ihn schwarze Angst. Er machte einen Schritt fort von der Leiche zu seinen Füßen. Dann hastete er, ohne wirklich zu fühlen, was er tat, zu seinem Tier zurück. Er musste weg von hier.
Die Stille konnte trügen.
Das Tier blökte und versuchte ihn zu beißen, als er es ungeschickt auf die Knie zwang. Ihm fehlte das Wissen der Wüstenleute, und einige entsetzliche Augenblicke lang zerrte er verbissen, voller Verzweiflung, an dem Strick um den pendelnden Kopf und wich den zuschnappenden Zähnen aus.
Dann schlug er zu. Der Schrei des Kamels jagte ihm einen Schauer über den schweißnassen Rücken, aber er hatte keine Zeit für ein Bedauern. Fahrig kletterte er wieder zwischen die Höcker, verwendete das Seilende als Peitsche, und der große Leib trug ihn in die Höhe.
Es wurde viel zu rasch heller. In welcher Richtung Lut Gholein lag, wusste er kaum, und nach erfolglosem Umschauen trieb er das Kamel aufs Geratewohl an, vorerst nur weg vom Lagerplatz.
Als die Sonne aufging, tat sie es wie ein glutumkränzter Ball weißen Lichts. Ihre Hitze krümmte seine Gestalt zusammen. In seiner Lederflasche schwappten noch zwei, drei Schlucke, mehr nicht. Er hatte bereits jetzt zu wenig Wasser im Leib, fieberte mit aufgesprungenen Lippen.
Stunden später trank er das letzte Wasser. Das Kamel röhrte böse, sicher roch es das Nass, und nur unter Mühen konnte er es zum Weitergehen bewegen und fing sich einen Biss ein, den er nicht einmal spürte.
Bisweilen, wenn es einfach stehen blieb, kämpfte der Paladin bis zur Erschöpfung mit dem widerspenstigen Tier, schrie es an, hieb ihm die Fersen in die Seiten.
Weiter, nur weiter.
Lauf doch, du vermaledeite Kreatur.
Er war der Letzte. Was sollte aus ihnen allen werden, wenn er sich verirrte?
Und es war so leicht, sich in dieser erbarmungslosen Öde zu verirren. Er hatte der Ortskenntnis der Anderen vertraut, doch nun war er auf sich allein gestellt.
Vielleicht, dachte er müde, den Kopf vergeblich gegen die sengende Sonne auf die Brust gesenkt, war es ohnedies zu spät und der Feind längst vor der Stadt.
Das Land begann ihn zu verbrennen.
Mit geschlossenen Augen hing er im Sattel, heiser vom Staub und vom Schreien, murmelte Worte ohne Zusammenhang, sprach die Namen der Anderen vor sich hin, Eya, Ifrah, Hadan, und vielleicht war dies doch etwas wie ein Gebet, denn musste er nicht beten? Er nahm nichts mehr wahr bis auf die Bewegungen des Tiers. Schon seit Stunden wusste er nicht mehr, in welche Richtung er ritt.
Zwischen den Lidern, die er gelegentlich aufzwang, tanzte eine riesige, helle Ebene. Sonnenstrahlen zuckten über Felsen, die seiner Erschöpfung Trugbilder vorgaukelten, qualmende Gebäude, reglos wartende, mächtige Gestalten.
Die Hitze wollte nicht enden, und das Kamel ging längst langsamer, aber er hatte nicht mehr die Kraft, es anzutreiben.
Neben, unter ihm, spross plötzlich Gras aus dem Sand. Nein, es war ja gar kein Sand. Er ritt durch die Marsch, seht nur diese grünen Felder, und sein Pferd schüttelte den Kopf, dass das Mundstück des Halfters klirrte. Es klang beinahe wie kleine Glocken. Cedric war da, er trabte an seine Seite.
Cedric.
Sieh an, du bist zurück, Vic. Hat es dir im Osten gut gefallen? Sie verbrennen dort ihre Toten, selbst uns Fremde, damit unsere Asche eins wird mit ihren Flüssen, in die sie sie werfen. Hast du das gewusst?
Aber Cedric verschwand, bevor Menrad antworten konnte, Tränen der Verwirrung und des Schmerzes, in den sich bange Freude mischte, in den Augen.
Nur die kleinen Glocken bimmelten weiter. Sie näherten sich.
Stimmen, Schatten. Jemand zog an seinem Ärmel, und er glitt aus dem Zwischenraum der Höcker, erbost um sich schlagend, wild, mit heiserem Keuchen. Die schwarzen Teufel sollten ihn nicht kampflos bekommen. Hände griffen nach den seinen, man nahm ihm die Waffen ab und zwang ihn in den glühenden Sand.
Riesenhaftes Blau ergoss sich in seine Augen, dann schälte sich aus dem verzweifelten Aufbegehren eine Stimme. Er vermochte nicht zu verstehen, was sie sagte.
Wasser rann ihm über die aufgeplatzten, zusammengekniffenen Lippen. Die Versuchung war zu groß. Er begann zu zittern, als die Kühle durch seinen Leib jagte. Wieder sprach ihn jemand an. Der Tonfall war unbekannt, rau, aber nicht unfreundlich, und verzweifelt ergeben hörte er auf, sich zu wehren.
Das letzte Bild in aller Erschöpfung, die zentnerschwer in seine Knochen sank, waren dahinziehende Gestalten, das Blau ihrer Gewänder leuchtend und dunkel vor einem ockerfarbenen Hügelkamm.
Früh am Abend, noch bevor die Sonne weit gesunken war oder die Hitze des Tages nachgelassen hatte, machte eine ankommende Nomadenschar die vor Lut Gholein lagernden Menschen auf sich aufmerksam.
Unter denen, die neugierig den in bodenlange Gewänder gekleideten Männern entgegensahen, teils auch aufstanden und ihre Lagerfeuer verließen, um zu erfahren, was es Neues aus der offenen Wüste gab, waren auch die Anführer des Barbarenheers, dem der Fürst der Stadt erlaubt hatte, zu bleiben.
Untätig, auf drei Krieger aus ihrer Mitte wartend, die sich kaum eine Woche zuvor in das Sandmeer aufgemacht hatten, verbrachten die Nordmänner die Zeit mit Waffenübungen und dem Lauschen auf die in einer für sie kaum verständlichen Sprache erzählten Legenden und Nachrichten dieses Weltteils. Sie waren weder mit ihrer Lage noch mit dem Essen, dem oft gezuckerten, fetten Hammelfleisch und den Hirsefladen, besonders glücklich, und ihnen fehlte eine wirkliche Beschäftigung. Aber man hatte sie dazu angehalten, sich zu gedulden, und so sahen ihre Hauptleute zu, dass niemand mit den hier ebenfalls lagernden Menschen oder den Gesetzen dieses Menschenschlages in Hader gerieten.
Dennoch schauten sie erleichtert auf jede noch so geringe Abwechslung. Auch jetzt traten zwei Barbaren näher an den Ort heran, an dem die Nomaden schließlich hielten.
Es waren etwa dreißig in leuchtendes Blau gekleidete Männer und halb so viele Frauen, und sie hatten mehrere Kamele mit Waren bei sich. Ein Mann jedoch stach aus der einheitlichen Menge hervor. Er wurde vom Rücken eines der Tiere heruntergehoben, scheinbar ohne Bewusstsein, und er trug ein graues Kettenhemd und darüber ein ehemals weißes, jetzt schmutzstarrendes, ärmelloses Brusttuch.
Der ältere der beiden Barbaren stutzte.
Sein Name war Beran. Seit dem Fortgang seines Verwandten Herlac bekleidete er den Rang eines stellvertretenden Anführers des Schwarzfelsenclans und war sich sicher, den Mann, den die Nomaden mit sich hergeführt hatten, zu kennen.
Rasch trat er aus den Reihen der Zuschauer, die einen Halbkreis um die Nomaden bildeten, und auf Letztere zu. Sie bemerkten ihn.
Waffen wurden gezogen. Stimmengewirr klang auf.
„Ruhig“, rief Beran die Wüstenkrieger an und hob beide Hände. „Ich kenne den, den ihr da mitgebracht habt.“
Sie verstanden ihn nicht. Seine Erscheinung, die ihnen fremdartig vorkommen musste, machte sie unzweifelhaft misstrauisch, und sie schienen die Gemeinsame Sprache nicht zu beherrschen. Beran tastete eher vorsichtig als grimmig nach seiner Axt, ohne die dunklen Gesichter, in denen weiße Zähne blitzten, aus den Augen zu lassen. Halb behielt er auch die leblose, sonnenverbrannte Gestalt im Blick, die zwischen ihren Sandalen auf den Boden gesunken war.
„Versteht hier jemand, was ich sage?“ rief Beran in das Rund der Zuschauer. „Wir wollen nichts Böses, aber der Mann dort gehört zu uns.“ Der Blick aus größerer Nähe auf den Paladin hatte ihm gezeigt, dass er schnelle Hilfe benötigte, oder er würde an der Hitze zugrunde gehen. „Versteht hier jemand meine Worte und kann sie übersetzen?“ wiederholte er, diesmal ungehaltener.
Ein alter Mann trat aus der Menge. „Ich, Krieger“, sagte er. „Die Nomaden weigern sich oft, die Gemeinsame Sprache zu gebrauchen, aber ich kann mich mit ihnen verständigen.“
„Dann gib an sie weiter, was ich eben sagte“, bat Beran.
Ungeduldig verfolgte er den Wortwechsel, der sich jetzt entspann. Niemand kümmerte sich mehr um den Paladin, doch zumindest war er nicht tot: Er bewegte den Kopf und stöhnte.
Der Vermittler wandte sich zu Beran um. „Sie geben an, sie hätten ihn eine halbe Tagesreise von hier entfernt in der Wüste aufgegriffen. Er redete schon wirr, und seine Kleidung war ihnen unbekannt, daher vermuteten sie, dass er nach Lut Gholein unterwegs gewesen war, sich aber verirrt hatte.“
„Gewiss ist es so“, nickte der Barbar und wagte einen weiteren Schritt auf die Gruppe zu. Es hoben sich nicht länger Waffen gegen ihn, aber ein unguter, aufgebrachter Atem hing an allem. „Der Mann war Mitglied einer Gruppe unserer Vertrauten, die vor einigen Tagen fortgingen“, fügte er hinzu. Seine Worte wurden eilig übersetzt.
Du bist der Paladin, richtete er einen Gedanken an den elenden Liegenden.
Auch wenn Sonne und Staub dich stark entstellt haben. Aber wo sind die Anderen, wo ist unser Kriegsherr, wo sind Herlac und Bostac?
Als die Nomaden ihm und seinem Begleiter den Paladin schließlich achselzuckend und ohne auf eine Dankesgeste zu warten, übergaben, schafften die Barbaren den schlaffen Leib hastig ins Lager. Der Mann war schlank, aber schwer. Viele Krieger traten hinzu und sahen mit an, wie sie ihn unter eine Zeltplane legten. Vergebens blickte Beran sich nach der Gefährtin Urels um, aber die Druidin war nicht in der Nähe, vielleicht fortgegangen, um mit anderen Lagern um Lebensmittel zu handeln oder Wasser zu holen.
Sie betteten den Kopf des Paladins auf ein Bündel und zogen ihm das Kettenhemd aus. Nirgends fand sich eine schwere Verletzung. Dennoch schauten sie ernst auf den halb Bewusstlosen. Er musste eine längere Zeit ohne jeglichen Schutz in glühender Sonne unterwegs gewesen sein. Seine Haut war verbrannt, rau von Staub, die Lippen aufgeplatzt und weißlich verfärbt. Sie bewegten sich, als sie ihm etwas Wasser eingeflößt hatten. Beran beugte sich hinunter, um besser zu verstehen, aber der Andere gab nur verwischtes Gemurmel von sich.
Behutsam legte er dem Paladin die Hand auf die Schulter. „Du bist in Sicherheit, Lichtkrieger. Nomaden haben dich gefunden und hierher nach Lut Gholein gebracht. Du kamst von Westen. Wo sind die Anderen?“
Ihm schien, der Mann sage etwas von einem kommenden Krieg, von einem Angriff, und zwei Worte waren ganz sicher seltsam, aber deutlicher:
Katzen war das eine, das andere
Dämonen.
Ratlos und grimmig richtete Beran sich auf. Auch die Krieger, die sie umstanden, wirkten ratlos. Einige mochten wohl zweifeln, und ein Mann sagte: „Vielleicht spricht er nur aus, was sein Fieber und sein Geist ihm eingeben. Männer wie dieser reden oft von Gebeten und ähnlichem Irrsinn, und man kann ihren Worten nicht viel zutrauen.“
„Nein.“ Beran blickte den Sprecher und die anderen Umstehenden an, dann wieder auf das verbrannte Gesicht zu seinen Knien. „Dieser Mann nicht. Ich kenne ihn besser als manch Anderer hier, er hat uns des Nachts am Lagerfeuer Dinge aus dem Osten erzählt, und nichts an seiner Art lässt mich daran zweifeln, dass er noch weiß, was er sagt.“
Er stand auf. „Er braucht gute Pflege. Wir müssen erfahren, was mit unseren Anführern und dem Rest der Gruppe geschehen ist. Ich habe kein gutes Gefühl.“ Ein herrischer Wink schickte einen Krieger aus Berans Clan fort. „Sucht die Druidin. Sie weiß besser, was zu tun ist, und sie sollte erfahren...“, er hielt kurz inne, wachsende Unruhe im Herzen, „dass ihr Mann und die Anderen vermisst werden.“
Während die Umstehenden sich langsam wieder verliefen, zwei Männer aufmerksam und schweigend bei dem erschöpften Paladin Wache bezogen und das Lager im schwindenden Licht zu seinem angespannten Ausharren und seinen Tätigkeiten zurückkehrte, trat Beran an den Rand der Feuer.
Hier blieb er stehen, die kurze, starke Nase in den Abendwind haltend, die Brauen bedenklich zusammengezogen, und blickte nach Westen, auf die Hügel, die das Tal mit der hellen Wüstenstadt darin umrahmten. Der blaue Himmel war schon mit Purpur verhängt.
War der Paladin tatsächlich einem Kampf entronnen, so trug er vielleicht eine Botschaft mit sich. Mehrmals ließ der Barbar durch seine Gedanken wandern, was er aufgeschnappt hatte, vermochte es aber nicht zu enträtseln.
Eine Kunde aber brauchte keine Worte, und der Paladin hatte sie bereits weitergegeben.
Die nur von leisem Blöken und Myriaden naher und fernerer Stimmen durchzogene Abendstille täuschte. Sie befanden sich auf der Schwelle zu einem großen Krieg, und sie mussten ihm achtsam entgegensehen, mit oder ohne ihre verschollenen Anführer.
Entgegen ihren Befürchtungen aber konnten die Zurückgebliebenen am Abend des übernächsten Tages, da Fürst Jerhyn soeben einen neuen Abgesandten zu dem zwei Tage zuvor eingetroffenen Westmarschener geschickt hatte, die Rückkehr der Vermissten mit ansehen. Es war eine ruhelose Stunde nah der Dämmerung, angefüllt mit Herbeikommenden, den Blicken von benachbarten Feuern, dem Stimmengewirr einer Menschenmenge, die zu begreifen beginnt, dass sie Zeuge nicht unbedeutender Ereignisse ist.
Das letzte Stück Weges von den Hügeln herab, vorbei an zahlreichen Wachen, hinunter in die von Menschen, Gewändern, Zelten überquellende Ebene, erschien Ifrah wie ein Wachtraum.
Der schon mildere Luftzug aufkommender Kühle geisterte ihr um das taube, sandverkrustete Gesicht, und sie ging einfach weiter, mitten unter den Anderen, die sich ihren Pfad durch die Lager suchten, teils bahnen mussten, weil mehr Volk unterrichtet schien, wer hier nach Lut Gholein zurückfand und mit welcher Botschaft.
Gegen jede Wahrscheinlichkeit. Sie waren entkommen.
Die Magierin setzte Fuß vor Fuß, bis aufs Blut wundgelaufene Ballen in ihren Stiefeln. Ihr war, als zöge sie eine Last vieler, dem Schicksal Gestalt gebender Stunden wie einen Brautschleier hinter sich her, aber noch ging sie, trotz seines Gewichts aufrecht, und hielt die Augen fest auf die flackernden Feuer und den vertrauten Platz inmitten der zahllosen Lager geheftet.
Links und rechts liefen Menschen mit. Sie hatten Fragen an sie und an die Gefährten, die sich ebenso verbissen voranzwangen. Doch sie war zu entkräftet, um aus den Lauten, die sie vom dunklen, bewegten Rand des Weges her erreichten, Worte herauszufiltern.
Sie immerhin war unverletzt.
Herlac hatte ein Flammenstoß aus dem heranbrandenden Schwarz im Tal der Magier den gesamten linken Arm verbrannt,
das Tal, nein, ich will jetzt nicht daran denken, und Urel, Bostac und Eya waren ebenfalls von demselben entsetzlichen Feuer gestreift worden, das ihnen geschmolzene Rüstungsteile und Kleidung mit Haut und Fleisch verbacken hatte. Doch wie durch ein Wunder lebten sie alle noch.
Wie Wahnsinnige waren sie in die offene Wüste geflohen, ein letztes Wort ihrer neuen Verbündeten im Ohr. Schneller als je zuvor ein Mensch hatten sie die Distanz zwischen den Steinernen Flammen und der Küste des Kontinents zu Fuß überwunden, eingewickelt in ihre Burnusse, keuchend unterwegs im einsinkenden Sand, rennend, wann immer es ihre Kräfte erlaubt hatten.
Ifrah taumelte. Sie hob den Kopf. Wenigstens hatten sie Lut Gholein erreicht und konnten berichten, was jenseits der besiedelten Gebiete auf die Menschen wartete.
Was auf uns alle zukommt.
Hadan führte die erschöpfte Gruppe an.
Der Himmel mochte wissen, wo er seine Kraft hernahm. Stunden zuvor noch hatte Ifrah sein Gesicht in der Tagesglut gesehen – in den schwarzen Stoff seines Burnus zurückgezogen, so weit es ging, trotz der Sonneneinwirkung unverändert bleich, mit tiefen Schatten der Erschöpfung oder auch Schatten einer inneren Auszehrung unter den fiebernden Augen. Entkräftet war er, gewiss, genauso wie sie alle, aber er hatte aus ihrer Mitte geragt wie ein schwarzer Dorn, zäher selbst als die viel kräftigeren Barbaren, hatte die an ihren Verletzungen leidende Eya gestützt, hatte sich kaum mit ihr, Ifrah, über den richtigen Weg absprechen müssen.
Es war, als gebe er alle Stärke, die er besaß, mit beiden Händen hin.
Der Blick der Magierin hing schwankend an ihrem rätselhaften alten Gefährten. Er durfte sich durch diese Kraftakte nicht einfach so aus ihrer Mitte stehlen. Sie brauchten ihn.
Sie wussten nicht einmal, ob eine der Säbelkatzen überlebt hatte, aber sie würden es bald wissen.
Und nun überfiel die Erinnerung sie doch – matte, durchsichtige Bilder: Eine schwarze Nebelwand, die sie zögernd attackiert hatten, ohne sichtbares Ergebnis, die sich nur vor Hadans Flüchen zurückgezogen hatte, um dann erneut vorzudringen, fast schweigend. Urels Gebrüll, Herlac, Eya, schreiend vor einer Flammenwand aus dem Nichts, das Umwenden, der rasende Lauf zu den Steinernen Flammen und hinaus in das Sandmeer, hinter sich den geballten Schrecken, immer hinter sich, der schließlich versunken, zurückgeblieben war, doch nicht in ihren Köpfen.
Die Magierin stöhnte leise auf.
Aus der Wüste würde ein Heer kommen – war es derselbe, schreckliche Anblick wie jener letzte hinter ihnen, und nur dieser, so konnten sie auf eine Verstärkung durch das alte Volk der heimlichen Wächter kaum noch hoffen. Bereits jetzt mochten die Dämonen, angelockt durch den Vorstoß der Menschen und der Säbelkatzen, durch die Grabkammern und die umliegenden Täler ziehen, alles Leben dort vernichtend, wie sie auch Einzelne bereits vernichtet hatten.
Als die Entkommenen den Lagerplatz der Barbaren erreichten, kamen ihnen zahlreiche Krieger mit schnellen Schritten entgegen, mitten unter ihnen Marej.
„Ja, wir sind zurück“, entgegnete Urel knapp auf die Fragen der Männer, streifte unter Schwierigkeiten den Burnus vom Leib und warf ihn wie angeekelt von sich, bevor er Marej in die Arme schloss.
Die Druidin fuhr zusammen, als sie die Brandflecken auf den Schultern des jungen Barbaren entdeckte. Ifrah wusste, was sie so entsetzte: Ein Feuer, rasch entfaltet, aber heißer als jede lang anhaltende Flamme, hatte die Haut weggefressen und das darunter liegende Fleisch so bösartig gestreift, dass es mit Teilen der Kleidung, in Urels Fall den Rändern seines Harnisches, verschmolzen war, dort, wo ein Stück nackter Schulter zwischen Leib- und Armschutz unbedeckt gewesen war.
„Was ist nur geschehen?“ Die helle Stimme der Druidin war nur eine von vielen.
Ifrah war stehen geblieben. Sie ließ ihren Stab fallen, zog die Kapuze vom Kopf und sank auf die Knie. Neben ihr setzte Hadan Eya vorsichtig in den Sand, sprach kurz mit Urel und verschwand, um seine zurückgelassenen Habseligkeiten zu holen, darunter feine Messer und Arzneien, die er jetzt benötigte.
Benommen starrte Ifrah in das dank des nahenden Abends in warme, dunkle Farben und Halbschatten getauchte Menschengetümmel. Jemand reichte ihr Wasser. Sie musste sich beim Trinken helfen lassen, weil ihre Hände zu sehr zitterten. Auch Marej war da, beugte sich über Eya, die mit zusammengebissenen Zähnen gestattete, dass die Druidin sich ihren Oberschenkel ansah, geschmolzenes Leder, blutige, verkohlte Haut.
Es schien, dass Urel seiner Gefährtin noch keine nähere Auskunft gegeben hatte, denn sie fragte die beiden Frauen wieder, diesmal leiser und schonend: „Was ist nur vorgefallen? Was hat euch so verbrannt? Ihr seid fast alle verwundet, und Menrad kam vor einem Tag allein –„
„Menrad?“ Ifrah fuhr auf. „Er ist hier?“ Die Bewegung schmerzte, aber kurz vergaß sie die abgrundtiefe Erschöpfung.
„Nomaden fanden ihn in der Wüste.“ Marej legte Eya, die sich ein Stöhnen im jetzt gewiss deutlicher fühlbaren Wundschmerz verbiss, mitfühlend die Hand auf den Arm. Ifrah wurde Zeugin, wie sich tatsächlich etwas von der Druidin auf die junge Assassine übertrug, und sie atmete sichtlich auf, während Marej Ifrah weiter ins Bild setzte: „Er ist der Hitze nicht so glücklich entgangen wie ihr. Bis zu dieser Stunde konnten wir kaum mit ihm sprechen. Er kommt nur allmählich zu sich. Was er sagte, war... etwas von einem Krieg, der vor den Türen stehe, und von“, sie zögerte, und ein grüner Blick blitzte unsicher zu Ifrah, „Dämonen.“
Zwischen den Frauen entstand ein Schweigen, zu lang andauernd, um Marej im Zweifel zu lassen.
Ihr Gesicht aber blieb das eines Menschen, der sich gegen eine plötzliche Verwandlung der Welt noch sträubt.
Ifrah wich ihrem Blick nicht aus, und dann veränderten sich die Augen der Druidin.
Ich habe begriffen, sagten sie und verdunkelten sich.
„Dann ist es also wahr“, flüsterte sie und stand auf. Es blieb ungeklärt, was sie mit diesen Worten meinte, doch sie sah flüchtig zu Urel, der unweit von ihnen mit einigen Kriegern sprach und auch mit einem ganz in Weiß gekleideten Mann mit Turban, der gewiss zu Jerhyns engerem Stab gehörte.
Als die Druidin ging, um nach Bostac und Herlac zu sehen, kehrte Hadan zu den beiden am Boden verharrenden Frauen zurück.
Ifrah half ihm, Eya in den Schutz einer Zeltplane zu bringen. Hier sah sie zu, wie der Nekromant die Lederhose vom Schenkel seiner Gefährten schnitt und es dabei vermied, sie vollständig auszuziehen, Eyas Scheu vor fremden Blicken berücksichtigend. Froh, in der Nähe ihrer Vertrauten zu sein, rückte Ifrah heran.
Wie haben wir es nur bis hierher geschafft? Nur an nicht abreißende Dünenrücken und unter ihren Stiefeln wegsackenden Sand erinnerte sie sich noch.
Von allen weiter zurückliegenden Erinnerungen wandte ihr Geist sich erschauernd ab.
„Vorsichtig jetzt, Shatryindjah“, sagte Hadan eben zu Eya. Die Magierin fasste unterstützend nach der Hand der Jüngeren. „Ich muss das hier wegschneiden...“ Der bleiche Mann sah sich um, stieß dann eine Verwünschung in seiner Heimatsprache aus und fügte murmelnd hinzu: „Ich habe nicht einmal Betäubungstränke hier. Was soll werden, wenn die Feinde kommen – wenn uns die Verwundeten über den Kopf wachsen?“
Ifrah wusste darauf keine Antwort. Sie sah zu, wie der Nekromant mit wenigen, geübten, hauchfeinen Schnitten das verkohlte Fleisch und Leder vom Bein der Assassine entfernte, das sich sonst entzünden würde. Blut lief über weiße Haut, so wie Eya Tränen über die Wangen liefen, aber kein Laut kam von ihr, und die Finger in Ifrahs Hand fassten nur kurz fester zu. Trotz ihres Zustandes war sie mit einem wesentlichen Rest noch ganz und gar stolze, beherrschte Attentäterin.
Sie atmete erst zischend ein, als Hadan ihr mit einer grünlichen, zuvor in einer Schale angerührten Flüssigkeit getränkte Tücher auf die Wunden legte. Der Nekromant berührte die Wange seiner Gefährtin sacht, dann legte Eya sich steif nieder, und er stand auf.
Ifrah tat es ihm gleich.
„Menrad ist hier“, sagte sie leise. „Er hat das Lager gestern erreicht.“
„Ich weiß“, entgegnete Hadan. „Ein Berater Jerhyns ist schon bei ihm gewesen, der Mann dort, der eben mit Urel gesprochen hat. Der Söldner ist tot, und dass Menrad noch lebt, scheint reiner Zufall.“ Er atmete tief ein. „Heute können wir nicht mehr viel ausrichten, aber morgen früh, bei Tagesanbruch, müssen wir bewirken, dass die Stadt sich vorbereitet.“
Weitere Worte über das Kommende verloren sie nicht.
Hadan machte sich auf den Weg, um die Anderen zu behandeln, und Ifrah begleitete ihn.
Sie streifte die Stiefel ab, steckte die Füße in weiches, einheimisches Schuhwerk und trat an seine Seite.
Die Tatsache, dass er hier als Heiler gebraucht wurde, schien zu verhindern, dass die Erschöpfung ihn besiegte. Und bevor sie zu einem Weiteren der Gefährten kamen, stellte sie ihm die Frage, die ihr beinahe so vertraut war wie der erste Anblick des schweigsamen, dunklen Magiers und die sie bislang nicht auszusprechen gewagt hatte: „Warum“, sie zuckte, als die bleichen Augen sich ihr zuwandten, „warum bist du kein Heiler geworden, Hadan? Ich habe keinen Mann gesehen, der besser dazu geeignet wäre als du.“
Er lächelte nicht. Für die Dauer eines unbehaglichen Augenblicks, während sie zu dem Feuer gingen, an dem die Barbaren hockten, tat er nichts weiter, als sie anzusehen, starr, aber ohne Feindseligkeit. Dann antwortete er: „Weil die Zeiten, in denen ich mich dazu hätte entscheiden können, immer Zeiten des Krieges waren, Svasdaana-La. Weil ich nicht Menschen zusammenflicken wollte, nur um sie wieder in die Schlacht zu schicken.“
Ifrah sah zu Boden.
Bald aber wirst du vielleicht gerade das tun müssen, dachte sie insgeheim, auch wenn sie ihn verstand.
Schlimmer noch: Du wirst sogar noch unter ihnen sein und mehr Leben vernichten als viele Andere.
Nachdem sie Herlac und Bostac aufgesucht und nur wenige Worte mit den Nordmännern gewechselt hatten, als ruhe das Schweigen der Erinnerung und der herabfallenden Nacht bereits auf ihnen allen, fanden sie Menrad. Einmal noch scheuchte Schreck Ifrahs erschöpfte, bereits halb in den Trost der Menschenmengen gebettete Seele auf.
Der Paladin war bei Bewusstsein. Er schien sie und Hadan zu erkennen, doch die Wüste hatte ihm schwer zugesetzt. Vielleicht war es nach Wochen immer neuer Entbehrungen und böser Offenbarungen für den von seinem Orden abgefallenen Lichtkrieger auch ein Verrinnen letzter Kraftreserven, das ihn schwächte, ihn, den ein Zufall in die Gruppe der Gefährten geführt hatte.
Ifrah hockte neben seinem Lager und betrachtete, solange das Licht es noch erlaubte, sein schmales, ruhendes Antlitz, die wie zersplitterte, blutunterlaufene Haut, die hell gefleckten Lider und Lippen.
Ringsum bereiteten sich die Lager auf die Nacht vor, und dennoch würde es vielleicht die letzte, ruhige Nacht sein.
Nahebei schlug jemand eine Trommel, nicht laut, um Schlafende nicht zu stören. Auf sie und das nicht abreißende Stimmengewirr und das Blöken der Tiere lauschend, legte sich die Magierin neben dem Lager des Paladins in den warmen Sand. Der Fürst war unterrichtet. In der Stadt hatte man vielleicht schon mit hastigen Vorbereitungen begonnen, nun, da die alten Gefährten für Jerhyn Versicherung waren, dass niemand sich den Schrecken der offenen Wüste nur zusammenreimte.
Ja, es würde die letzte ruhige Nacht sein, und Ifrah erschien sie schrecklich und traumhaft schön zugleich, so schön, dass sie fast zu Tränen gerührt in die Umgebung horchte. Ihr Herzschlag beruhigte sich allmählich.
Stiefel schritten vorbei. Urel. Hadan folgte ihm. Immer noch ruhten die Männer nicht.
Unweit lag Eya und war hoffentlich bereits eingeschlafen.
Sie hatten schier unfassbares Glück gehabt.
Aber das Leben vergibt solches Glück nicht ohne Absicht. Ifrah drehte sich auf die Seite, sperrte aus, was nun, wie zuletzt auf dem Weg hinauf zum Gipfel der Welt, immer größeres Gewicht erlangte: Vorzeichen. Nahender Kampf. Gedanken, die sich in feste, dunkle Bahnen begaben. In dieser Nacht wollte sie nichts als leben, einmal noch, auch wenn dies nur bedeutete, dazuliegen und zu spüren, wie der Schlaf ihre Glieder in die Erde zog.