Da is das Up
***********
XLIII. Die heimlichen Wächter
In der Wüste nahte der frühe Abend. Die Sonne begann zu sinken.
Ifrah spürte es mehr, als dass sie es sah, denn das wenige Licht aus den Deckenöffnungen lag kaum verändert, sattgelb, auf den Wänden der Kammer.
Die Magierin saß still, beide Hände um den Stab auf ihren überkreuzten Beinen geschlossen. Nicht einmal die Handschuhe hatte sie abzustreifen gewagt, und sie tat auch kein Auge zu. Reglos lauschte sie auf jedes leiseste Geräusch, die offene Tür der Kammer im Blick, seit Stunden bereits.
Keine der alten Legenden und Kindergeschichten, die in unseren Häusern erzählt werden, kommen an die Wirklichkeit heran.
Der Gang war zu dunkel, um darin wirklich etwas ausmachen zu können. Doch gelegentlich löste sich aus den Schatten ein hellerer Umriss, schritt vorbei, verschwand wieder aus ihrem schmalen Blickfeld.
Wie sacht sie sich bewegen.
Sie war sich ihrer eigenen Wachsamkeit und Angst bewusst. Aber durch die Furcht vor einem Angriff, die mit einer betäubten Verwunderung über sein Ausbleiben kämpfte, sickerte Anderes, und das lang andauernde Schweigen leistete ihm Vorschub.
Staunen, zu neu für Worte. Bilder, Gehörtes, Gewittertes, verschmelzend. Misstrauische Ehrfurcht, wie sie sie in von andersartigen Menschen bevölkerten Städten schon gestreift hatte, im Bezeugen der Macht fremder Riten, im Schatten gewaltiger Heiligtümer.
In dieser Kammer saß sie gleichsam wie auf einem beliebigen Platz am Rande eines aus dem Vergessen auferstandenen Reiches, das seine Triumphzüge, Verrichtungen des Lebens und Bauten an ihr vorbeiführte, gelassen und mit unantastbarem Selbstbewusstsein. Sie war Zuschauerin und fühlte sich klein, unwissend, beschämt ob der Ahnungslosigkeit ihrer eigenen Rasse.
Mit der rechten Hand, die durch das starre Festhalten des Stabs schon steif war, fuhr sie sich über die Augen, tastete nach dem Sitz ihres Stirnreifs.
Von den Anderen regte sich niemand. Sie hatten bis auf Hadan die Köpfe gesenkt, die Augen geschlossen. Doch nur Bostac und Menrad schienen zu schlafen, sitzend, die Waffen griffbereit. Eya schlief ebenfalls, aber es war der flüchtige Schlummer, den Ifrah an der jungen Assassine stets in solchen Lagen beobachtet hatte. Eine Bewegung, und sie würde erwachen.
Sie selbst saß am dichtesten bei der kaum mannshohen Tür.
Jetzt, erschauernd, richtete sie den Blick zum ungezählten Mal wieder fester in den Gangschatten.
Er traf auf andere Augen. Ifrah erstarrte.
Das Gesicht der Säbelkatze war auf gleicher Höhe mit ihrem, ein schwacher Fleck auf der anderen Seite des engen Ganges. Die Magierin musste nicht erst die Bögen rechts und links des mageren Leibes sehen, um zu begreifen, dass diese Haltung nun doch die Fähigkeit zu einer hockenden Position bewies.
Sie wagte keine Regung, nicht einmal, den angehaltenen Atem wieder ganz aus ihrer pochenden Brust zu entlassen. Die Nähe warf Grauen und Faszination aufeinander.
Über der gewölbten Stirn im Halbdunkel stachen Ohren ab, weit oben am Kopf angesetzt. Unter ihrem Blick schien auch das fremde Antlitz erstarrt, doch eben als das Ansehen unerträglich wurde, bewegten sich die Ohren, nach hinten, langsam, gedreht und schließlich flachgedrückt von einem Muskel, der bei einem Menschen längst verkümmert war.
Lider, nein, keine Lider, nur die Umfassungen der Augen, fellbedeckte Gesichtshaut, zogen sich über den glasigen Feuerglast des Blicks zusammen. Gemächlich, einmal.
Ein Blinzeln. Ifrahs Zittern löste sich in ein Zucken.
Welche Seele auch immer sie hier ansah, schien sie beruhigen zu wollen.
Beruhigen. Ihr Mund war trocken.
Die Säbelkatze spürte ihre Furcht, das leise Grauen vor der Andersartigkeit, oder sie ahnte es.
Weil dieses Geschöpf etwas Ähnliches empfindet.
Der Schreck des Begreifens saß tief. Zoll um Zoll lehnte sie sich leicht zurück. Dann, ohne zu wissen, was sie tat und warum es ihr richtig erschien, erwiderte die Magierin das Blinzeln.
Ein Atemstoß drang aus der platten Nase, der Schnauze, ein Schnaufen. Und das Gesicht drehte sich, wandte sich ab. Die Ohren stellten sich wieder auf.
In diesem Augenblick vernahm Ifrah das Geräusch, auf das die Wächterin hinlauschte.
Sie rückte von der Tür ab, ein Stück weiter in die Kammer hinein. Alles ging so leise vor sich, dass die Schlafenden nicht erwachten, nur Eya öffnete die Augen, und die Männer, die wach waren, hoben die Köpfe, vorsichtig, wortlos sich straffend.
Wenig später erschien jene Säbelkatze, die Wortführerin ihres Volkes sein musste, in der Türöffnung. Dahinter, im Gang, bewegten sich weitere. Der Haarschweif des Helmreiters streifte den Steinrahmen, als die Säbelkatze die Kammer betrat. Die Lautlosigkeit ihres Eintretens mochte daher rühren, dass sie sich für diese Dauer allein zu acht bewaffneten Menschen hineinwagte, vielleicht aber auch daher, dass sie die Ruhe respektierte, in der die Schlafenden atmeten.
„Du“, die Säbelkatze blickte Hadan an. Dann wanderten ihre Augen. Ifrah versteifte sich, als sie an ihr hängen blieben. „Und du.“ Es war nur ein Raunen. „Folgt.“
Die Gefährten wechselten rasche Blicke. Ifrah sah Ernst und Ratlosigkeit tiefe Schatten in ihre Gesichter schlagen. Die Barbaren rührten sich ebenso wenig wie alle anderen, doch ihre kräftigen Leiber ballten sich nachgerade zusammen und lehnten nur noch sacht an den Wänden.
Der Säbelkatze blieb das Zögern nicht verborgen. In den Tiefen ihrer Augen rührte sich etwas, weit unter der schmalen Iris. „Folgt“, wiederholte sie. Schließlich, als koste es eine Überlegung oder Überwindung, formte es die fremde Zunge: „Bitte.“
Behutsam erhob sich Ifrah, und Hadan tat es ihr gleich.
Er schaute zu Eya und zu Urel, der finster und wortlos nickte.
Wir müssen wohl tun, was sie von uns erbitten, sagten die braunen Augen des Barbaren.
Berichtet uns später. Je eher sich zeigt, warum wir hier sind, desto besser.
Nach dieser stummen Absprache folgten Ifrah und der Nekromant der Säbelkatze.
Hinaus ging es aus der Kammer, durch den Gang und in weitere Gänge und Räume.
Vollständig gerüstet, das Klingen ihrer Stiefel überdeutlich im Ohr, schritt Ifrah hinter Hadan her. Die Sprecherin führte sie, und zwei Wachen folgten, die Speere steil erhoben. Diesmal trugen sie zusätzlich Gurte um die flachen Hüften, an denen Säbel befestigt waren.
Achte nicht auf die Waffen. Die Magierin heftete den Blick auf Hadans breite Schultern. An ihnen Beiden hing es jetzt, alle Sinne und den Verstand auf die Ereignisse zu konzentrieren, an ihnen, den Ältesten.
Zunächst glaubte sie, es sei kein Zufall, dass man sie ausgewählt hatte – die Magiekundigen der Menschengruppe, die vielleicht einen Abglanz ihrer jenseits von Klingen und Schilden angesiedelten Kräfte in das Bewusstsein der Grabeshüter warfen. Doch dann kam sie auf einen viel einfacheren Grund. Ihre eigene Erscheinung zeigte den Säbelkatzen: Sie war ein Kind des Südens, ein Geschöpf der Wüste. Und abgesehen von ihr und Suhaym, der kaum zählte, sprach niemand Djaddh, auch seine älteren Formen, wie sie erstaunt festgestellt hatte, so fließend wie Hadan.
Womöglich war das Wissen, das Drognan und andere Männer, die den Status Gelehrter auf ihre Weise erfüllten, doch nicht so unbrauchbar geworden, wie die gnadenlose Wandlung der Zeit es diesen vorspiegelte. Denn auch sie erinnerte sich – an Schriften, die Adepten der Magierschulen zu lesen hatten, an Jahrhunderte, oft auch Jahrtausende alte Zeugnisse, in Legenden verbrämt, die von der Vergangenheit der Wüste kündeten.
Die Herrschaft der Menschen war nicht die erste in diesem Land.
Sehet, was dem Vergessen anheim fällt durch die Aufeinanderfolge der Generationen, ist in Stein und Wort bewahrt und darf nicht untergehen. Denn verlieren wir es, verringert dies unser Begreifen, welche Kräfte die Wüste, die auch Wiege der Menschheit heißt, schon gesehen hat, und welche Reiche, die sich dieser Kräfte noch zu bedienen wussten. Darum verlernt nicht, in den Steinen zu lesen. Verschließt das, was ihr erfahrt, in euren Herzen, bis es eure Augen verändert, und dann gebt es weiter.
Die vorbeigleitenden Wände, das verstohlene Licht der großen Kammern, durchsetzt von Spuren anderen Lebens, wurden der Magierin plötzlich eins, und sie meinte in einem Teil ihres Geistes, durch einen seltsamen Traum zu wandeln, den die Furcht nicht mehr recht berührte. Auch die Geräusche und Gerüche fügten sich hinein.
Sie fasste ihren Stab fester.
Nach einer Weile hielten sie an. Sie waren in einen hohen und ausgedehnten Raum gelangt, halb uraltes Heiligtum gewiss, halb Vorratskammer, wie verzierte Sockel einerseits und Sammlungen von verschlossenen, irdenen Krügen andererseits andeuteten.
Ließ Ifrahs Orientierungssinn sie nicht vollends im Stich, mussten sie sich im rückwärtigen Teil des Grabes befinden, am Ende eines Felsmassivs, auf dessen Außenseite sich wieder ein Tal oder die offene Wüste anschlossen. Soviel war sicher, denn das Licht fiel kräftiger durch Deckenfugen. So hell war es sonst nirgends im Grab gewesen.
Die Sprecherin wandte sich zu den Menschen um.
„Hier“, sagte sie. Ihre großen Augen fingen das Licht ein, und die schwarze Iris war zu einer senkrechten Nadel zusammengezogen. „Ein Ort für wichtige Worte. Sie erfolgen, es ist ein Gebot der Vernunft, bevor ihr versteht.“
Sie sprach diesmal flüssiger, oder Ifrahs Ohren hatten sich dem Wunder bereits angepasst. Sie wusste es nicht und lauschte angespannt.
Hadan stand groß und ruhig neben ihr. Er hob die Rechte zur Begrüßungsgeste des Südens, dem Berühren der Stirn und des Mundes. „Warum schenkt ihr uns Vertrauen?“ Seine Stimme erzeugte einen schwachen Nachhall im Raum. Starrend, die Klauen an den Waffen, warteten die Säbelkatzen.
„Sagt mir eure Namen“, entgegnete die Sprecherin. „Es ist Zeit für Namen. Ein Gebot der Vernunft. Vertrauen.“ Das Letzte klang bestimmt, zugleich aber auch bittend.
Hadan wechselte einen Blick mit Ifrah, und da sie nicht verneinte, nannte er ihren Namen und den seinen.
Die Säbelkatze bewegte das lippenlose Maul. Sie schien sich dessen nicht bewusst zu sein und die Laute zu wiederholen, um sich den Klang einzuprägen. „Mein Name“, kam es dann rau und klickend, „Merenechsa.“
Was waren die Namen alles Nichtmenschlichen bisher gewesen?
Namen der Dämonen und ihrer Untergebenen, den vor Angst zitternden, sich verschanzenden Menschen aus älterer Zeit und Überlieferungen zugetragen oder aufs Geratewohl gewählt, damit das Schreckliche zu benennen war.
Hier, in dieser Kammer in der Wüste, gab das Fremde sich erstmals selbst eine Form durch Laute, und sie diente nicht dazu, die nahenden Widersacher darüber ins Bild zu setzen, gegen wen sie letztlich fallen mussten. Sie dienten der Verständigung.
Die Säbelkatze senkte den Kopf, einmal nur und kurz, und wenn das Katzenantlitz vagen Ausdruck anzunehmen imstande war, so zeigte es nun, meinte Ifrah, etwas wie Zufriedenheit.
Muss ein Missionar nicht so empfinden? Oder der Reisende, der in einer unbekannten Weite auf ein Gegenüber trifft, vor dem nur dieser Versuch bleibt, Handzeichen, Blicke, Gaben des Vertrauens, das Bekunden einer Absicht?
„Einst Feinde.“ Die Augen der Sprecherin hielten den Nekromanten fest. „Du fragst, warum das Vertrauen.“
Kurz herrschte Schweigen. Als die Säbelkatze wieder ansetzte, hatte sich etwas in ihrem gebieterischen Habitus verändert, und nach einigen Worten begriff Ifrah, dass hier etwas selten Ausgesprochenes berührt wurde, ein Kapitel der Geschichte dieses Volkes, das für seine Angehörigen mit einer großen Last behängt war.
„Das Böse vor zwölf Monden“, sprach Merenechsa. „Es bricht unseren Willen. So klagt der Sand. Er klagt über unseren Fall, aber gewandelte Herzen hören nicht mehr.“
Der Fall der Säbelkatzen unter die Erzdämonenherrschaft. Ifrah wagte kaum zu atmen. In ihrer Brust machte sich ein schmerzhafter Krampf breit, und durch den Schleier des Erinnerns sah sie auch Schmerz dort drüben, an ihrem stolzen, fremden Gegenüber.
„So kommt der Krieg zu uns“, fuhr Merenechsa fort. Die Säbelkatze wich den Augen ihrer Artgenossen aus. „Tausend Schritte im Sand. Viele gehen nicht mehr, viele von uns, viele von euch. Das alte Böse spricht von Macht, Macht des Gestern, die uns wieder gehören soll. Doch die Stimmen lügen. Wir erhalten nur den Tod.“ Sie hielt inne, und ein tiefer Atemzug wölbte zitternd den mageren Leib.
Sie fielen, wie auch Kurast fiel, das Kloster der Schwestern des Sichtlosen Auges, Nihlathak.
Bedauern fasste nach Ifrah. Sie alle waren betrogen worden, und wer konnte wissen, wie viele geheime Absprachen und Verleitungen zum Bösen es gegeben hatte. Die Bilder all jener gefallenen Völker suchten sie heim. Die Waldpygmäen. Die Gargantuae. Die Dornendrescher. All das Leben abseits der Menschengebiete, und es verwob sich in ihr, das Getier und das Verwandtere, und sie wusste nicht mehr zu sagen, wo die Grenze verlief. Vielleicht gab es keine.
Sie alle. Wir alle.
Sie spürte Hadans nachdenkliche, erloschene Aura neben sich, ruhender Zorn, warme Asche, Ströme des Überlegens. Als er die Stimme erhob, fuhr sie unwillkürlich zusammen.
„Auch Menschen erlagen der Herrschaft des alten Bösen“, sagte der Nekromant ausdruckslos, und Ifrah war sich nicht sicher, ob der Kummer, den sie dennoch in seiner Stimme hörte, der Erinnerung an die klerikale Gewalt Travincals entsprach, dem abtrünnigen Nihlathak oder anderen Gegnern, an denen die Gefährten noch die Präsenz einstmaliger Vernunft wahrgenommen hatten. Vernunft, verraucht im Sturm fremdgeleiteter, aufgestachelter, vergifteter Empfindungen. „Uns wohnt die Fähigkeit zum Guten wie zum Bösen inne. Ich sage wiederum: Es war eine andere Zeit. Wir danken euch um so mehr für euer Vertrauen.“
„So sei es.“ Merenechsa senkte den Kopf. Als sie wieder aufsah, erstrahlte der Feuerglast ihrer Augen, zuvor gemildert, aufs Neue. „Die alten Reiche sind in der Tiefe des Sandes. Wir suchen ihr Wissen. Die Suche ist schwer.“
Ifrah nickte zum Zeichen, dass sie verstand.
Sand war den Säbelkatzen offenbar gleichbedeutend mit
Welt, auch mit
Heimat, vielleicht sogar mit
Vergangenheit : Etwas, das immer währt und stets gewährt hat, wie der Himmel, die Sonne und das wache Bewusstsein eines Volkes seiner Selbst. Und jetzt, in diesen Zeiten äußerer Bedrohung, wand sich aus dem Sand das Erkennen einer Notwendigkeit.
Das Leben auf Sanktuario war allerorts bedroht.
Das ist es. Die Notwendigkeit zu einem Zusammenschluss.
Ihr Puls flatterte.
Reglos starrte sie die Säbelkatze an. Ob Merenechsa treibende, eher alleinige Kraft hinter den jüngsten Ereignissen und diesem ungeheuerlichen Aufeinandertreffen war oder ob sie lediglich einen gemeinsamen Willen vertrat, war nicht von Bedeutung. Dieses Volk, das auf Hinterbeinen lief, das sich Waffen und andere Gerätschaften herstellte, das imstande war, die Sprache der Menschen nachzuahmen, hatte diese Notwendigkeit erkannt.
Vor ihr legte die Sprecherin der Säbelkatzen die dunklen Innenflächen beider Vorderklauen aneinander, als habe sie die Gedanken der Magierin erraten.
„Einig“, schnarrte es aus dem Katzenantlitz. „Einig. Ihr und wir. Keine Feinde. Ihr müsst verstehen.“
„Nicht ihr habt die Menschen getötet, die in der Wüste verschwunden sind“, hörte Ifrah sich sagen.
„Nein, Frau mit Magie.“ Merenechsa blickte sie an. „Nicht wir. Das neue Böse, das ein schwarzes Gesicht hat.“
„Die Nomaden“, setzte Hadan an, verbesserte sich aber, als Merenechsa verständnislos drein sah: „Die Menschen, die in der offenen Wüste wohnen... sie sprachen von Lauten in der Nacht, nahe ihrer Zufluchtsorte, und sie fürchteten sich.“
„Sandwanderer, von uns“, bestätigte die Säbelkatze die Vermutung. Ifrah begegnete Hadans Augen. „Sandwanderer, solche, die sehen, was geschieht, und es berichten. Sie sehen das neue Böse. Es kommt aus einem Tal, nicht weit. Wir sehen, wohin es geht und wen es tötet. Es kommt und bleibt.“
Die Stille nach diesen Worten wog schwer.
Als Ifrah den Mund endlich wieder öffnen konnte, brachte sie nur ein Flüstern heraus. „Was ist es? Bitte... sagt uns, was es ist.“
Das helle Licht übergoss die stillen Gestalten mit einem Staubfilter, und doch waren sie so klar, so scharf umrissen. Das Schweigen, der leise Wind der Offenbarung, drängten sich hinter Ifrahs Augen.
„Es hat keinen Namen“, antwortete die Säbelkatze. Dann, als bewege auch sie der Schauder des nahen Schreckens, wiederholte sie gedämpft und düster: „Es hat keinen Namen.“
Die Angst der Menschen, die jedoch auch eine Sehnsucht nach größerer Erkenntnis enthielt, mochte sie erreichen, denn sie straffte sich plötzlich. „Ihr werdet es sehen. Es ist nicht weit.“
„Gewiss nicht“, sagte der Nekromant, „denn wir spüren es. Führt uns hin.“ Ungefragt nahm er Ifrah in diese Aussage mit hinein, und sie empfand keinen inneren Widerspruch. Sie hatten genug Zeit in rätselndem Bangen verbracht, nun mussten sie dem Feind, diesem zweiten Feind, ins Angesicht sehen, und die Magierin raffte allen Mut zusammen, den sie besaß.
„Ja“, bat auch sie. „Zeigt uns, was es ist.“ Ihre Stimme wankte, doch in diesem Augenblick war es ihr einerlei. „Wir sprechen für die weiße Stadt am Meer und viele unserer eigenen Völker, deren Abgesandte vor ihren Toren warten. Sie alle zaudern in Ungewissheit. Unsere Tage und Nächte sind voller Angst, aber wir wollen den Feind endlich erkennen.“
Merenechsa schaute sie und Hadan lange an.
Vielleicht überschlug das eigenartige Geschöpf ein letztes Mal das Für und Wider des eingeschlagenen Pfades, an dem ganze Berge des Vertrauens lagerten, ein erforderliches, aber ungeheures Wagnis.
Die Säbelkatzen mussten sie töten, alle acht, wollten sie verhindern, dass Kunde von ihrem versteckten Volk in die Menschengebiete gelangte. Sie hatten ihre Heimlichkeit der kleinen Gruppe gegenüber aufgegeben, aber dabei würde es nicht bleiben.
Euer altes Dasein ist dahin. Ifrah erwiderte den Blick der Säbelkatze.
So wie das unsere. Es liegt nun an euch.
„Ihr werdet sehen“, sagte die Säbelkatze schließlich. Bewegung kam in die sandfarbenen Leiber, wiederum auf ein für Menschen nicht sichtbares Zeichen hin. „Kommt.“
Erst jetzt bemerkte Ifrah einen zweiten Eingang in den Wänden des Raumes. Er war von einer wuchtigen Steinplatte versperrt und scheinbar sehr niedrig und schmal.
„Nein, wartet.“ Hadan hatte sich nicht gerührt. Fest sah er Merenechsa in die Augen. „Was ihr uns zeigen wollt, müssen alle von uns sehen. Die Menschen unserer Gruppe tragen jeder für sich die Aufgabe, unseren Völkern von dem zu berichten, was hier vor sich geht. Bitte, gewährt auch den anderen, was ihr uns gewährt.“
Kurz geschah nichts.
Dann winkte Merenechsa einer der zwei wartenden Säbelkatzen. Sie verschwand lautlos.
„Gut. Wir verstehen euren Grund. Die Bitte soll erfüllt sein.“
Menrad fuhr sich über die erhitzte Stirn.
Ihm war jedes Gefühl für die gesunde eigene Körperwärme verloren gegangen, und stumpf bewegte er die Frage im Kopf hin und her, ob es nur die Nachwirkungen der Wanderung durch die glühende Wüste waren oder ob ein Fieber seine Haut so heiß machte.
Der Schlaf, für den er sich im Nachhinein tadelte, hatte ihn nicht erfrischt.
Er widerstand der Versuchung, die von ihren Bewachern hereingereichten Krüge anzurühren. Stattdessen nahm er einen Schluck aus seiner Lederflasche. Es schmeckte lau und brackig.
Aber ich will verflucht sein, wenn ich irgendetwas annehme, was von diesen Tieren kommt.
Im selben Atemzug verspürte er Scham.
Die vergangenen Monate – und wie viele Wochen waren verstrichen seit seinem Aufbruch aus Shanghar? – hatten einen misstrauischen, harten Mann aus ihm gemacht, er wusste es, und er versagte darin, Gut von Böse zu unterscheiden.
Der Paladin saß still, den Hammer griffbereit, doch mehr und mehr schaute er auf die Waffe, wenn sie gelegentlich seinen Blick anzog, wie auf einen unbekannten und gleichsam urvertrauten Gegenstand. Ihre Festigkeit und Nichtigkeit schien ein Sinnbild für sein eigenes Inneres zu sein.
In dieser Kammer, in der sie saßen wie Gefangene, wünschte er nicht zum ersten Mal, all die Dinge der nahen Vergangenheit nie gesehen und bezeugt zu haben. Aber zugleich ahnte er, dass ihn auch das nicht beschützt hätte, weder seine Seele, die der Lichtlehre zufolge unsterblich war und dereinst im Jenseits abgewogen werden würde, noch seinen Verstand, der beständig darum rang, das Bezeugte zu erfassen.
Es gab für keinen Menschen auf Erden mehr ein Entrinnen. Nur einen Aufschub.
Neben ihm wechselten Urel und der große, ältere Barbar Herlac leise Worte.
Menrad lauschte ihren gedämpften Stimmen, dem rauen Tonfall. Sie verständigten sich knapp über die Lage der Gefährten.
Hadan und Ifrah fehlten seit einiger Zeit. Die Gedanken des Paladins wanderten aus der Kammer hinaus und in die Gänge des Grabes.
Die alten Mitglieder der Baalsmission hatten den Geschöpfen, die hier hausten, bereits früher gegenübergestanden. Dies mochte ihnen etwas Schreck und Entgeisterung abnehmen. Er selbst musste sich bemühen, um nicht plötzlich aufzuspringen in einem verzweifelten Versuch, dem lebendigen Eingemauertsein zu entrinnen. Der Gestank war nicht einmal das Schlimmste, an ihn konnte man sich gewöhnen. Die Ungewissheit war es.
Dennoch befanden sie sich hier nicht unter ihren wahrhaftigen Gegnern.
Wie schon in der Marsch waren es nicht die Menschen, und hier nicht die Angehörigen dieses eigenartigen Volkes, sondern dort wie in der Wüste höhere, viel fremdartigere, viel bedrohlichere Wesen.
Du benennst diese schleichenden Tiere bereits, machte er sich bewusst.
Du anerkennst sie als Volk, wie du auch Fadraîs als einen vom rechten Weg abgekommenen Ort unguter Machenschaften anerkennst, einen Haufen wilder, nicht an das Licht glaubender Wanderer als mögliche Hoffnungsträger, einen schwarzen Magier als Gefährten.
Licht, er senkte die Stirn auf die verschränkten Hände,
lass mich nicht noch tiefer sinken. Lass nicht zu, dass sich alles zuvor Gute als falsch und alles Verwerfliche als erfolgreicher erweist.
Aber durfte er das Licht noch anrufen, so bitter, wie er den Umständen schon Tribut seiner alten Ansichten gezollt hatte?
Sein Orden verurteilte Menschen wie diese in der Kammer als irregeleitet, als Götzenanbeter und Störer einer besseren Ordnung. Sie lebten das wahre Leben nicht, keiner von ihnen.
Doch hatte er einen von ihnen ein Verbrechen verüben sehen?
Nein. Zumindest keines, das nicht den Notwendigkeiten des Krieges entsprungen wäre.
Seine Gedanken verwirrten sich, und finster ließ er zu, dass sie abrissen.
Ein flüchtiger Seitenblick aus den Augen der Assassine streifte ihn. Sie war ängstlich. Sie fürchtete um ihren Geliebten und um Ifrah, die sich zu zweit in die Gewalt der Säbelkatzen begeben hatten, und Menrad gestand sich ein, dass er ihre Sorge teilte.
Hadan besaß offenbar Fähigkeiten oder ein Wissen, das ihn hier zu einer Schlüsselfigur machte. Und Ifrah, der Sprachen und Gebräuche dieses Weltteils kundig, war wie selbstverständlich eine Vermittlerin.
Unwillkürlich lächelte er der Assassine zu, erst verdutzt über sich selbst, als die junge Frau sein kurzes, freudlos-beruhigendes Lächeln unsicher zurückgab. Schon lange empfand er sie nicht mehr als auf unangenehme Weise demütig, und sah in ihr auch nicht mehr nur den Spross einer verräterischen Klasse, eingedenk des Mutes, mit dem sie kämpfte – ohne Lohn, oft auch ohne Anerkennung.
Wieder saßen sie alle lange reglos da, wartend, ohne zu sprechen.
Suhaym, der Söldner, brach das Schweigen jedoch.
„Verdammt will ich sein“, knurrte der dunkelhäutige Mann, plötzlich ungehalten. „Diese Warterei ist kaum zu ertragen!“
Wenngleich ihm die Anderen darin zustimmen mussten, entgegnete Urel gebieterisch: „Sei still und warte! Wir können nichts anderes tun.“
Schlagartig war die Stille verflogen, und Menrad, der dem Söldner gegenübersaß, sah ihn zucken, wobei die kantige Faust sich um den Schaft seiner Lanze verkrampfte. „Der Hexer und die Magierin mögen diesen Bestien ja Vertrauen schenken“, gab Suhaym zurück, „aber das macht die Sache noch lange nicht vertrauenswürdig. Wissen wir, was sie da aushandeln? Vielleicht unser aller Leben, wenn sie nicht schon tot sind!“
„Wie könnt Ihr das sagen?“ fuhr die Assassine leise, doch erregt und mit zitternder Stimme auf. Menrad vermutete: Auch ihr war nicht klar, was geschah, und sie war halb krank vor Sorge, wollte weit eher aber ihre Gefährten verteidigen.
Urels Gesicht hatte sich verfinstert. „Hüte deine Zunge, Söldner“, sagte er barsch. „Eine Äußerung des Misstrauens gegen Einen von uns ist eine Äußerung des Misstrauens gegen alle. Wie kannst du Ifrahs Gewissen in Zweifel ziehen? Sagtest du nicht selbst, dir liege etwas an diesem Teil der Welt, und vergisst du etwa, dass auch sie hier beheimatet ist?“ Selten zuvor hatte Menrad den Barbarenführer mit solcher Bestimmtheit sprechen hören. „Auch Hadan solltest du vertrauen, und ich warne dich: Beleidige ihn nicht! Er würde die Sache der Menschen niemals verraten.“
Als Suhaym wenig überzeugt, ja spöttisch den Mund verzog, fühlte Menrad, dass etwas von den Bedenken des Söldners sehr wohl seinen eigenen Zweifeln ähnelte. Die Begebenheit in den Gassen Lut Gholeins blitzte in seiner Erinnerung auf. Aber zugleich hörte er sich in den Wortwechsel eingreifen: „Wir sind nur acht, allein in einer gefährlichen Lage. Zwistigkeiten schwächen uns, und das solltest du nicht vergessen, Söldner.“
Die leuchtend blauen Augen huschten zu ihm.
Da die Barbaren ebenfalls drohend die Brauen zusammengezogen hatten, schien sich der Mann jedoch widerwillig damit abzufinden, dass seine Worte hier nur auf Ablehnung trafen.
Er zuckte die Schultern und erwiderte nichts weiter.
Menrad lockerte den Griff um seinen Hammerstiel. Kurz, auch wenn es irrsinnig gewesen wäre, hatte er halb damit gerechnet, der Söldner werde noch mehr sagen, was die Anderen als Beleidigung auffassen mussten, und einen Kampf heraufbeschwören. Aber der Wüstensohn hätte nicht einmal gegen einen einzelnen der Barbaren bestehen können, und dies schien ihm klar.
„Ruhe jetzt“, befahl Urel, der den Mann immer noch anfunkelte. „Wenn dir deine Auftraggeber nicht schmecken und du besser als andere zu wissen meinst, was mit dieser Lage angefangen werden soll, nimm deinen Lohn und steh auf. Geh hinaus und versuche, heil nach Lut Gholein zurückzukehren und die Stadt zu warnen. Mit etwas Glück kommst du aus dem Tal, bevor das, was uns angegriffen hat, dich findet und ebenso tötet wie viele andere Menschen in der Wüste.“
Danach blieb es still.
Erleichtert gewahrte Menrad, dass die allgemeine Anspannung sich lockerte. Welche Gedanken jeder der Anwesenden auch in sich trug, es half ihnen wenig, ausgerechnet jetzt über Unklarheiten zu streiten.
Der Paladin blinzelte zu den Deckenschlitzen hinauf. Es waren Ifrahs vor Wochen geäußerte Worte, die er nun im Geiste wiederholte, an den schreckensschwangeren Kampf vor dem Grab erinnert. Was sich an fremder Intelligenz hier sammeln mochte, um aus dem Ungewissen in ihre Welt hinüberzutreten, musste grausam lachen, wenn es zu lachen imstande war, über ihre Zwistigkeiten und die uneinige Natur der menschlichen Gemeinschaften.
Die Gefährten fuhren aus düsteren Gedanken auf, als eine Säbelkatze den behelmten Kopf in die Kammer steckte.
Sie winkte wortlos, doch unmissverständlich. Sie wurden aufgefordert, ihr zu folgen. Zögernd erhoben sie sich.
Es schien, dass dieses Geschöpf die Menschensprache nicht beherrschte, so blieb Urels Frage, wohin man sie führte, in der Stille des Ganges unbeantwortet. In einer Reihe folgten sie dem gerüsteten Tier.
Seine soldatische Schulung ließ den Paladin selten im Stich, und diesmal befand sie, dass sich in der steinernen Welt ringsum etwas geändert hatte. Auf ihrem Weg huschten ihnen Säbelkatzen entgegen. Andere strebten in dieselbe Richtung wie die Gruppe. Erstere waren nackt bis auf ihr glattes Fellkleid, Letztere jedoch, und das ohne Ausnahme, trugen Waffen. Eine dichtere, geschäftige, seltsam gedrängte Ruhe lag über allem, und auch seine Gefährten hatten es bemerkt und tauschten gelegentlich Blicke, in die sich noch tieferer Ernst und der Schatten einer Ahnung schlichen.
„Sie bereiten irgendetwas vor“, flüsterte die Assassine vor Menrad. Sacht zog sie die Gurte ihrer Waffenscheiden um ihre Hüfte und ihre schlanken Schenkel fester.
Die Anderen stimmten schweigend zu.
Ihr Weg war verwinkelter als bei ihrem ersten Eindringen in das Grab. Kammern, lichtere und beinahe nachtfinstere Räume, Gänge, oft mit Treppen darin, wechselten sich ab, so dass sie bald keine Idee mehr hatten, in welcher Richtung sie sich bewegten. Dann aber wurde es wieder merklich heller.
Menrad blinzelte in staubtragende Sonnenstreifen, die unter den Kammerdecken entlang fielen. Sie waren nun gewiss zur anderen Seite der unterirdischen Anlage gekommen, vielleicht nahe eines Walls oder eines Felsmassivs, das die Außenmauer bildete.
Herumstehende oder gemächlich eigenen Beschäftigungen folgende Säbelkatzen gab es hier kaum noch, aber ein gutes Dutzend von ihnen war ihnen dicht auf den Fersen. Ihre aufragenden Speere standen im raschen Zurückschauen wie ein beweglicher Zaun.
Dann rückte das Grab um sie zusammen. Die Gänge verschmälerten sich so eindrücklich und senkten ihre Decken so weit auf sie herab, dass die Barbaren oft die Köpfe und Schultern einziehen und ihre Waffen in beiden Händen vor sich halten mussten, um nicht am Stein entlang zu schaben.
Einst war Menrad Gast auf der alten Festung zu Sevarh gewesen. Man hatte ihn hoch auf ihre wuchtigen Türme und in ihre Wehrgänge geführt. Blicke aus Schießscharten, er erinnerte sich, weit hinaus über das sommerliche Land, erwärmter Stein. Sein Weg durch dieses ganz andere Bauwerk war ähnlich.
Auch hier befand er sich jetzt in einer Festung. Die Gänge dienten keinen sakralen Zwecken oder der Verwirrung widerrechtlich Eingedrungener mehr – es waren Teile von Verteidigungsanlagen, und die helleren, gröber behauenen Steine schienen jüngeren Datums.
Die letzte Kammer war klein und bald überfüllt, als die sechs Menschen und die Säbelkatzen eintraten.
Hier warteten Hadan und Ifrah gemeinsam mit dem Geschöpf, das vor Stunden zu den Gefährten gesprochen hatte.
„Dies ist Merenechsa, Hohepriesterin ihres Volkes“, wies der Nekromant auf die geschmückte Säbelkatze, und seine bleiche Gestalt neben dem eigenartigen Tier, das doch stand und halb gekleidet war wie ein Mensch, bot einen seltsamen Anblick. „Sie eröffnete uns, dass ihr Volk sich von den Einflüssen des vergangenen Jahres befreit hat und zu seinem ursprünglichen Leben zurückgekehrt ist, das die Abgeschiedenheit sucht und den Menschen der Wüste nicht feindlich gegenübersteht, solange sie nicht störend in die Täler eindringen.“ Er verwendete kein Sandhaîn, sondern Djaddh, so dass alle, Gefährten wie Hüter des Grabes, ihn möglichst verstehen konnten.
Und alle schwiegen und lauschten. Ernst, Misstrauen, brüchiges Vertrauen und noch brüchigeres Begreifen gingen in diesem Schweigen ineinander über. Menrads Herz schlug langsam und fest gegen die Kammer seiner Brust.
Der Nekromant schien sich mit einem Seitenblick zu Merenechsa der Erlaubnis zum Weitersprechen zu versichern. Dann senkten sich seine Lider halb über das Perlmutt seiner Augen, als müsse er jedes Wort sorgfältig abwägen.
„Die Abgeschiedenheit der Magiertäler aber besteht nicht mehr“, er fixierte die Gefährten. „Darum sind wir hier, und darum hat Merenechsas Volk uns nicht angegriffen. Es beobachtet das Kommen und Wirken des neuen Eindringlings, in dem ich nicht zögern würde, die Andere der zwei Mächte zu erkennen, von welchen der Engel sprach.“
In der darauffolgenden Stille standen die Gefährten wie erstarrt.
Ihre Reglosigkeit war die Betäubung von am Ende einer Suche Angelangten, die plötzlich erblicken, was durch langes Warten und die Natur des Gesuchten nie vollständig erfassendes Vorausdenken mehr einem Gemenge aus Mythen gleicht denn einem wirklichen Ort oder Gegenüber.
Menrad sah zu Urel. Der Kriegsherr der Barbaren hatte sich aufgerichtet, grimmig, alle anderen im Raum weit überragend. Er wirkte auf beinahe erschreckende Weise befriedigt.
Warum auch nicht? Nach den zermürbenden Kämpfen gegen die anderen Menschen, die angesichts unserer Erfahrungen immer planloser oder auf ungute Weise fremdgeleitet erscheinen... Nun haben wir unseren Feind, nun hat er ihn, er vor allem.
Und er verstand, dass dieser derbe Mann nichts so inbrünstig ersehnte wie die Begegnung mit diesem Feind.
Auch den anderen Mitgliedern der Baalsmission haftete eine Aura der Befriedigung an, doch sie schienen bedachter, vorsichtiger, mochte es ihre Klasse sein oder ein anderer Anlass zur Besorgnis. Eyas Blässe glich nahezu der ihres Geliebten – ein in den Krieg gegangenes Paar, das seine Kräfte zusammennahm, wer wusste schon, zum wievielten Mal bereits. Ifrah wirkte angespannt, zugleich aber kühl, wie es ihrer Aufgabe als Vermittlerin entsprechen mochte.
Nun erklangen wieder die verzerrten Laute, mit denen die Säbelkatzen das Djaddh meisterten.
„So sagt die Stimme“, Merenechsa ließ einen Blick über die Runde schweifen. „So ist die Zeit.“
Diesmal gesellte sich ihrer Stimme eine zweite hinzu, aus dem Maul einer weiteren Säbelkatze.
Sie übersetzt es für die anderen, begriff der Paladin.
„Das neue Böse“, fuhr Merenechsa fort, „ist in der Wüste, dort, wo die Felsen enge Arme haben, nah bei der großen Leere des Sandes. Wir, Menschen, sind die Wächter.
Aber uns fehlt die Zahl, die ausreicht.“ Das Knurren nahm einen gebieterischen Tonfall an. „Darum lebt ihr, sonst wäret ihr schon unter denen, die nicht mehr über den Sand gehen.“
Es war keine Drohung, doch einige der Gefährten tasteten nach ihren Waffen.
Merenechsa ignorierte die unwillkürliche Regung.
„Ihr, wir. Wir müssen eins werden.“ Ihr langer Schwanz pendelte. „Die Zeit gebietet es. Niemand wird mehr gehen, wenn es nicht getan werden kann.“
„Ein... Zusammenschluss?“ stieß Urel hervor. „Bietet ihr uns einen Zusammenschluss an?“
Der Feuerglast der Katzenaugen traf den Barbaren. „Zusammenschluss“, wiederholte Merenechsa ungeschickt. „Eins werden. So ist es. Das bieten wir euch an. Die Zeit erfordert es.“
Die Gefährten starrten sich an.
Was sie hier erleben und bezeugen durften, war jenseits aller Vorstellung.
Menrad wusste, es gab in den Annalen der Ordensgründer, die Legenden und Historien vergangener Jahrtausende gesammelt hatten – wenngleich vieles davon unzugänglich aufbewahrt wurde – und auch Schriften aus den Zeiten des Altertums der Welt. Sie waren so unendlich fern, diese Zeiten, dass ihnen höchstens noch ein vage moralischer Wert beigemessen wurde, Lehren, die man behutsam aus den Äonen zog, da die Menschheit sich noch nicht in die heutigen Klassen und Reiche aufgeteilt hatte, lange vor den Schulen der Magier, den festen Siedlungen der Barbaren oder der Trennung ihres Volkes von den Druiden, lange vor der Gründung des Lichtordens, geschweige denn der Entstehung der Viz-Jaq’Taar.
Es hieß da, so erzählte man sich,
dem Sinne alles Lebendigen war keine Grenze gesetzt, und viele Gattungen bevölkerten die Landmassen und bauten sich Heimstätten und lebten nebeneinander, nicht nur der verständigen Menschen Gattung. Doch das war verbotenes Wissen, und man sprach im Orden nur flüsternd und selten darüber, denn diese Zeiten, lehrten die höheren Brüder, lagen weit im Gestern und bedeuteten nichts mehr.
Kehrt dieses Gestern nun zurück? Menrad stand, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, erst wieder ernüchtert, als Ifrah leise die Stimme erhob.
„Wir schätzen uns glücklich über euer Vertrauen“, die Magierin sah die Hohepriesterin der Säbelkatzen fest, doch mit Scheu an. „Wer sich über die Großmut einstiger Gegner, zu denen das Schicksal sie bestimmte, nicht freute, wäre verarmt und ein Narr. Lut Gholein aber teilt unsere Erfahrung hier nicht. Seine Bewohner wissen nichts von dem, was in der Wüste jetzt geschieht, und sie leben in Angst – einer Angst, die nicht zwischen eurem Volk und anderen, wirklichen Feinden unterscheiden wird.“
„Mein Volk bedenkt das, Frau mit Magie“, gab Merenechsa zurück. „Auch darum seid ihr hier. Geht zu den Orten, wo die Menschen leben, berichtet, sprecht unser Angebot aus. Wir müssen eins sein.“
Vielleicht war es nur das Zögern der Gruppe, die sich noch nicht gänzlich mit dem Gehörten vertraut machen konnte, vielleicht auch ein bis hierher reichender Stolz oder die Überzeugung, dass die Menschen glaubten, genug Stärke zur Abwehr aufbringen zu können – die Hohepriesterin spürte das Wanken. Menrad sah es an der Art, wie sie die Gefährten betrachtete.
„Ihr seht es nicht“, bestätigten die verzerrten Laute. „Eure Augen, euer Geruch: Sie sagen, ihr glaubt an eure Waffen.“ War es tatsächlich Mitleid, das der Paladin in den starren Zügen der fremden Kreatur wahrnahm? „Ihr müsst verstehen.“
Das Letzte kam geduldig, zugleich aber drängend.
Die Säbelkatze streckte eine vierzehige Klaue aus, und eine andere Katze reichte ihr eine Waffe, einen bronzefarben schimmernden Schamschir mit dünnem, scharfem Blatt. Die Klaue umfasste den Griff, dann spannte Merenechsa sich. „Folgt. Leise. Ihr werdet sehen.“
Zwei der gerüsteten Geschöpfe, die an der gegenüberliegenden Wand gestanden hatten, traten beiseite, und Menrad entdeckte einen Türstein. Er wurde zur Seite gewälzt und gab den Blick in einen schmalen Gang frei.
Viel Licht lag darin. Er musste an der Außenwand entlang führen, war vielleicht auch nur kurz und mit Fensterschlitzen versehen.
Selbst die im Vergleich zu den Menschen zierlichen Säbelkatzen waren genötigt, ihre Speere tief zu senken, als sie hineintraten. Fünf oder sechs gingen voraus, dann kam Merenechsa. Sie wandte sich zu den Gefährten um. Ihr Blick hatte etwas Zwingendes.
Sie wagten sich hinter ihr hinein.
Menrad tauchte nach Urel und Ifrah in die Umklammerung aus Sandstein. Ihm folgte Hadan, dann der Rest der Gruppe.
Die Barbarenkrieger mussten sich bücken. Eya kam noch am leichtesten voran.
Es gab keine Fenster, doch eine Öffnung an der Decke, über die gesamte Länge des Ganges hinweg. Als der Paladin rasch hinaufblickte, leuchtete jenseits davon der Himmel in tiefem Blau, schon mit Farben der Dämmerung getönt. In weniger als zwei Stunden würde die Nacht hereinbrechen, vermutete er.
Wachsamkeit begleitete das Vordringen der gemischten Gruppe.
Der Geruch seines eigenen Schweißes vermischte sich mit dem Dunst der Tierleiber, und Menrad bezwang seinen Widerwillen und die leise Panik in der Enge, die ihm nicht einmal gestattete, den Kopf ganz zu heben.
Wohin führen sie uns?
Hier sind wir ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Sein Misstrauen aber schwand, da nun erwiesen war, dass man den Menschen Dinge zeigte, die nicht einmal Ifrah je zuvor gesehen hatte, und als es schwand, drängte sich die Angst erneut hervor. Über die Ereignisse im Grab hatte er beinahe vergessen, was ihnen vor seinem Betreten widerfahren war.
Plötzlich kalt alarmiert, schaute er wieder zu dem dünnen Himmelsstreif empor, mühsam beherrscht. Dort oben war Freiheit, Luft, aber auch die unsichtbare Drohung, und er meinte, eine Veränderung der Atmosphäre wahrzunehmen, nicht mit den Sinnen, eher mit dem Geist oder im Fleisch, das sich wie vor dem Eintritt in einen dunklen Ort verkrampfte, in dem alle Furcht seines Geschlechts begründet lag.
Auch ihre Führer wirkten beunruhigt. Das Gehen durch den Felsenschlauch verlangsamte sich, und mehrere Male verhielt die Gruppe. Merenechsa bedeutete den Gefährten, möglichst keinen Laut zu machen, dann standen sie still und horchten.
Menrad hörte nichts. Nur der Wind strich mit einem winzigen Seufzen über die Außenseite des Massivs.
Dann ging es weiter bis zum nächsten Halt.
Schließlich kamen sie in einen Felsenplatz aus, das Massiv, hochaufragendes Braun, zur Linken, einen fast mannshohen Steinwall zur Rechten.
„Klein!“ befahl die Hohepriesterin zischend. „Schnell!“
Sie begriffen und duckten sich.
Hier draußen schlug die Hitze erbarmungslos auf sie herunter. Der Paladin verharrte reglos zwischen den ihn Umgebenden, Menschen und Säbelkatzen. Eines der Geschöpfe lugte nach einer Ewigkeit, wie es ihm vorkam, um das Ende des Steinwalls.
An der gelblichen Gestalt vorbei erspähte Menrad den Fuß des Felsenmassivs, rechts davon beinahe weißen Boden und Sandanhäufungen. Sie mussten sich am Rand eines Tals oder einer Ebene befinden. Während er noch schaute, lief die spähende Säbelkatze los.
Sie verschwand mit einem Huschen, einem letzten Strecken und Wirbeln ihres Schwanzes.
Merenechsa winkte die Menschen näher an das Ende des kleinen Platzes.
Tatsächlich waren sie auf der anderen Seite der Hügel, unter denen das Grab lag. Hier begann die offene Wüste wieder, vorerst nur, auf einen raschen Blick nach rechts hin, ein Streifen aus Weiß und schwach dunkleren Formen. Und in einer Entfernung von vielleicht zweihundert Schritten kauerte die vorausgelaufene Säbelkatze hinter einem riesigen Felsen und hob einen Vorderlauf.
„Geht!“ Merenechsa stieß Eya, die am weitesten vorn war, leicht an. „Rasch!“
Die Assassine fuhr unter der Berührung sichtlich zusammen, riss sich aber los und hastete auf die offene Fläche hinaus. Sie war schnell.
Bei weitem aber nicht so schnell wie die Säbelkatze, die sich fast gleichzeitig aus der Deckung des Felsenplatzes gelöst hatte und ihr folgte. Menrad stockte der Atem.
Wo am Lauf der jungen Assassine noch, wenn auch sacht, ihr Gewicht und die Behinderung durch den bei jedem Schritt nachgebenden Sand hingen, bewegte sich das Geschöpf mit weiten Sätzen vorwärts, scheinbar schwerelos. Es lief derart, dass sich sein Oberkörper kaum hob und senkte, einem dahineilenden Mittagsschatten gleich und dennoch fest und mager in seiner Leibhaftigkeit.
Schwarz und Gelb tauchten in die Felsendeckung.
„Schnell!“
Nach und nach rannten sie los.
Als er an der Reihe war, erhaschte Menrad im Laufen einen Blick auf die Weite zur Rechten, die Hand am Kampfhammer, den Atem heiß und trocken in den Lungen. Es war keine Dünenebene, eher ein leicht ansteigendes Feld, übersät von großen Felsen, und es endete am nahen Horizont in einer Borte rötlichen Steins.
Keuchend gelangte er in den Schatten der Deckung.
Es mochte die Hitze sein, die ihm Kraft entzog, doch auch an den Anderen, die nach und nach dazukamen, bemerkte er seltsame Anzeichen von Schwäche. Sie holten angestrengt Luft, und ihre Gesichter waren blass.
Hadan, der als einer der Letzten heraneilte, lehnte sich an den Stein, der sie alle vor der Ebene verbarg. Menrad sah ihn kurz den Kopf senken, als martere den Nekromanten Übelkeit oder Schwindel, doch er fing sich und wies die besorgten Hände Eyas und Ifrahs bestimmt zurück. Kurz wirkte er alt, kurz, bevor der Eindruck verging.
„Nah“, raunte Merenechsa. „Seid leise wie der Wind.“
Nah. Menrad schloss die Faust um den Hammergriff.
Sie hatten nicht viel Wasser mitgenommen, und mehr noch erkannte er es an den Augen ihrer Führer. Etwas, das ihnen Angst machte, war nicht weit weg.
Sie spähten hinter dem Felsen hervor.
Was in der Ebene lag, sah der Paladin, waren nicht nur Steine. Überreste gewaltiger Statuen ruhten hier, ähnlich denen, die sie auf ihrer Wanderung zum Magiertal schon erblickt hatten: Bruchstücke von Köpfen, Gesichtern, daneben Teile von Armen. Leblose Augen schauten in den Sand oder in den Himmel.
Denkmäler eines vergangenen Reiches.
Leise und hastig ging es weiter, von Deckung zu Deckung, in einem Bogen nach rechts auf den Felsenkranz zu, der die ansteigende Ebene begrenzte. Darüber wölbte sich riesenhaft das Himmelsblau. Wie Geister auf einem Friedhof der Geschichte huschten die Menschen und Katzen vorwärts, am Ende geduckt, denn Merenechsas Gesten waren unmissverständlich.
Vor dem Felsenkranz warfen sie sich in den Sand. Herlac fluchte unterdrückt, weil seine Rüstung schwach schepperte, dann trat wieder Stille ein.
Sand, der beinahe sanft bis zum Rand des Kranzes hinaufkroch. Gepresster Atem. Links und rechts die Gefährten mit erweiterten Augen, hochstarrend zum Saum aus Blau und Rostrot. Daneben die Tierleiber, die ihre Speere unter sich hielten.
Wie viel Zeit verging, als sie jenseits des Grabes in der Wüste lagen, wusste der Paladin nicht zu sagen. Deutlicher war, was über die Felsenborte kam, auch wenn er keine Worte dafür fand und nie zuvor, nicht einmal im leichenübersäten Travincal, Ähnliches gefühlt hatte.
Es war eine Angst, die sich mit dem Gewicht schwerer Steine in den Leib hinabsenkte, die erkalteten, nur außen noch von erhitzter, schweißnasser Haut überzogenen Gliedmaßen an den Boden nagelte, die Gedanken lähmte, und schlimmer noch.
Alles, was gut und sicher im Herzen bewahrt lag – der Glaube, die Hoffnung, die Erinnerung an von Zuversicht erfüllte Zeiten – erkrankte rasend schnell, wurde zu Asche und verflüchtigte sich, die eigene Seele ausgehöhlt zurücklassend, die sich verlassen wähnte, auch von der Kraft der Mitmenschen.
Der Paladin hob den Kopf, den er in den Sand hatte pressen wollen, und holte bebend Luft.
Flieh mich nicht, Licht, beteten seine Lippen lautlos. Sie fühlten sich an wie Fleischlappen, die ihm gar nicht gehörten.
Gib mir den Mut, den meine Aufgabe von mir erfordert.
War es das, was die alten Gefährten über alle Unterschiede hinweg so fest verband – die geteilte Erfahrung solch einer Angst?
Eine Bewegung unter den gelben Tierleibern schreckte ihn auf, und die Angst war plötzlich durchstoßen von helleren, festen Säulen: Ernst, Wachsamkeit, dem Wunsch, nicht so zu enden.
Mühsam stemmte er sich aus dem Sumpf des Entsetzens. Merenechsa. Was auch immer den Säbelkatzen gezeigt hatte, dass das Warten lang genug gedauert hatte – sie wies auf den Felsenkamm. Sie sollten hinüberspähen.
Und sie taten es, denn letztlich, sagte sich Menrad im leisen Geraschel und Scharren, mit dem er und seine Gefährten sich aufrichteten, waren sie deswegen hergekommen. Die Augen zu verschließen, half nichts.
Es ist besser, er hob den Kopf über den Rand, den rauen Stein unter den Handschuhen,
es zu sehen. Es ist besser.
Hinter dem Felsenkranz fiel eine zweite Ebene gemächlich ab. Von beiden Seiten kamen in einer Entfernung von vielleicht fünfhundert Schritten rötliche Steine heran, liefen aufeinander zu, dort unter ihnen. Es gab eine Lücke darin, breit, zerklüftet, und hinter dieser Lücke lag ein Tal, noch etwas tiefer.
Der Wind strich darüber hin. In der Ferne schlossen sich mehr Felsen an, Hügel, Kämme, Schluchten, ein ganzer Garten von Felsen. Zuerst sah er weiter nichts.
Aber das Tal war nicht leer.
Eine gestaltlose Schwärze bewegte sich darin. Durchsichtig zunächst, kaum mehr als eine Trübung der Sicht, schien sie sich hier und da, während er hinstarrte, zusammenzuballen, näher am Durchlass oder auch weiter hinten im Tal. Sie wogte hierhin und dorthin, mal ein Nebelschleier, der nur eine grauenhaft falsche Farbe hatte, mal ein niedriges Gewölk, durchzogen von Strömen, deren Ursprung nicht sichtbar war, aber flackerte, wo das Schwarz sich sammelte, um dann wieder zu vergehen.
Da begriff er, dass es lebte.
Und als habe die Macht, die in das Wüstental eingedrungen war, sein Begreifen erspürt und sei in vollkommener Selbstsicherheit des Spiels aus Schwaden und nebelhaften Gebilden überdrüssig geworden, verfestigte sich das Schwarz. Wie vor dem Grab gebar es aus dem Nichts eine größere Dichte, keinen Leib, nur verschwommene Umrisse eines solchen, aber er sah ihn.
Eine andere Welt langte nach Sanktuario hinüber, warf ihren Schrecken voraus, ein Fanal, ein erstes schwaches Abbild ihrer Wesenheiten.
Noch gelang es ihr schlecht. Aber sie fürchtete diese Behinderung nicht, sie spielte damit und erprobte sich.
Neben Menrad entfaltete sich das Entsetzen der Anderen. Die Säbelkatzen, auch wenn sie womöglich nicht zum ersten Mal sahen, was vor den Toren ihrer Zuflucht Zugang zur Welt gefunden hatte, knurrten und winselten leise, und gelbes Fell sträubte sich. Plötzlich verging aller Hass auf das Fremde, so dass der Paladin, hätte er es gewagt, hätte hinüberfassen mögen, um dieses Fell beruhigend zu glätten, als seien die seltsamen Geschöpfe treue Wachhunde, die angesichts einer nahenden Gefahr das Haar aufstellten, bevor sie sie warnend und sinnlos verbellten.
Die Menschen reagierten wie er selbst. Um ihn herum, wie schon in der Senke vor der Übermacht des Engels, ergossen sich ihre Kräfte aus ihnen, und sie wehrten sich erfolglos dagegen wie ein vom Horror des Krieges oder des nahen Todes Gebeutelter, der seinen Urin nicht zu halten vermag.
Seht, bewegte ein alter Vers Menrads Lippen,
und wenn das Gesehene eure Augen verbrennen will, so schaut um so eindringlicher hin.
Travincal war wenigstens noch ein Menschenort gewesen, ein verwandeltes Heiligtum auf nachvollziehbaren Grundfesten und mit menschlichem Dünkel und Hochmut besetzt. Hier aber gab es nichts dergleichen, hier fehlte alles, das noch in Sanktuario fußte, ob im Guten oder im Bösen.
Unten im Tal löste sich, was ein festerer Umriss hatte werden wollen, wieder auf, aber der schwärzliche Nebel blieb, ein stilles Heulen, ein Schatten im Geist.
Sie rutschten in den Sand unter dem Felsgrat.
Sprachlos saßen sie da, zitternd, unter den Augen der Säbelkatzen. Menrad sah Eyas Wangen tränengefleckt, Ifrahs dunkle Haut ergraut, Urels derbe Züge eingefallen, Hadans großen Körper zusammengekrümmt. Die Eindringlinge gaben ihnen ein Echo in die Seele, er selbst fühlte es, als sei er unrettbar vergiftet.
Es gab einen Namen für diese Erscheinung dort unten, ersonnen mangels besserer oder für eine Unterscheidung tauglicher Begriffe in Zeiten des Grauens und der Fassungslosigkeit. Er stand zwischen ihnen, ganz gleich, wie wenig sie wirklich von einem Drüben wussten, und Menrad brauchte nicht noch einmal hinüberzusehen zum Tal, um zu wissen, was er darin gesehen hatte.
Ifrah nahm die Stimme aus seiner Stirn.
„Dämonen“, sagte sie flüsternd.
Das Wort zitterte lange nach.
Die Säbelkatzen störten ihr Schweigen für eine Weile nicht, ließen sie begreifen.
Ihr müsst verstehen.
Irgendwann und auf irgendeine Weise verließen sie den Ort beim Felsengrat und fanden zurück in den Schatten eines der zerbrochenen Denkmäler, aber jetzt schützte und tröstete er sie nicht länger.
Es war die Unruhe ihrer Führer, die als Erstes wieder zu ihnen fand. Merenechsa fasste die Menschen ins Auge. Sie hechelte, warf der eigene glasige Blick Menrad eine Einzelheit hin, und scheinbar bedeutete das halb erstickte Knurren ihrer Artgenossen eine Art Besprechung.
„Ihr seht“, sprach die Säbelkatze. Ihre Stimme klang dumpf in der drückenden Hitze.
Manche von den Gefährten nickten, auch Menrad senkte zustimmend den Kopf, weil es sonst nichts zu tun gab.
„Hier ist der Ort“, zischte Merenechsa. „Sie kommen. Erst sind sie nur ein Schatten, jetzt sind sie mehr. Sie bleiben.“
„Wie... wie kann das sein?“ hörte man Eya mit brüchiger Stimme fragen. „Warum tauchen sie in Travincal auf und hier, und sonst nirgends?“
Da Merenechsa schwieg, war es Hadan, der sich leise räusperte. „Das wissen wir nicht... nicht wahr, Merenechsa? Ich glaube nicht, dass es irgendjemand wissen kann. Vielleicht ist es nur Zufall.“
„Ihr seht nun“, begann die Hohepriesterin erneut. „Wir haben keine Kunde über ihre Zahl, außer dass es viele sind. Der Sand verrät uns nicht, woher sie kommen. Aber es gibt etwas Anderes.“
„Wovon sprichst du?“ fragte Urel rau.
„Ein Weg. Ein Weg für sie.“ Vage wies Merenechsa in ungefähr die Richtung, aus der sie geflohen waren und wo jetzt, fern und dennoch viel zu nah, der Felsengrat in den Himmel stieß. „Eine Tür. Ihr könnt sie sehen. Sie ist nicht weit.“
Die Gefährten tauschten Blicke. Ob aus einer gefährlichen Stumpfheit, ob aus dem Wagemut einmal Vorgepreschter oder ob aus kränklich anmutender Neugier heraus – niemand begehrte auf, als Zustimmung sich unter ihnen breit zu machen begann, oder bat, sie möchten sich zurückziehen.
Es mochte auch ein Vorbote der Einsicht sein, dass es bald keinen Platz mehr geben würde, an den zurückzuziehen sich noch lohnte.
Merenechsa nahm ihr Einverständnis mit sichtlich schlecht bewahrter Ruhe auf, aber auch die Sprecherin der Säbelkatzen schien nun an einem Punkt zu stehen, von dem aus es kaum noch ein Zurück gab. Scheiterte diese Begegnung, zerrann auch die gebeichtete Hoffnung ihres Volkes zu nichts.
Ifrah indes brachte etwas anderes zur Sprache, das Menrad urplötzlich in vergessene Wachsamkeit zurückwarf: „Wird es nicht... werden sie uns dort nicht sehen und angreifen?“
„Ein Angriff, das mag sein“, gab Merenechsa langsam zurück. „Ihr müsst vorsichtig gehen, rasch fliehen. Ihr kennt unseren Eingang, wenn es keine andere Flucht gibt. Sehen oder riechen werden sie euch noch eher, Frau mit Magie. Aber das ist nichts. Es kümmert sie nicht.“
Sie nickte schwer zum Schweigen der Gefährten. „Seht, das ist der Schrecken, dass es sie nicht kümmert. Wer ohne Vorsicht über den Sand kommt, fürchtet keinen Gegner.“ Sie ließ eine zweite Säbelkatze an ihre Seite treten. „Ich kann nicht mit euch gehen. Das ist Harebnash. Er weiß Worte. Er führt euch.“
Rasch, weggeleitet von der ihnen zur Seite gestellten Säbelkatze, deren Name Menrad erstmals einen geschlechtlichen Unterschied zwischen den so gleich aussehenden Kreaturen vor Augen führte, ohne ein weiteres Wort vor der drohenden Gefahr der heimgesuchten Wüste, trennten sie sich von der Gruppe ihrer geschwinden Führer.
Vielleicht endet unsere Begegnung damit schon. Menrad sah ihnen nach. Sein Körper war steif.
Vielleicht tragen mich meine Beine nicht einmal mehr weit genug, selbst wenn ich ein zweites Ansehen der Schwärze überlebe.
Schneller fast, als der Blick folgen konnte, vereinigten sich die davoneilenden Tiere, die keine waren, wieder mit dem Gelb und Weiß des Landes und den bräunlichen Schatten der Felsen ihrer Zuflucht. Warum hatten sie die Täler nicht aufgegeben und waren fortgezogen? Sie verschwanden, und nichts blieb bis auf die sinkende, stechende Sonne, die der Paladin froh als einzigen Feind angenommen hätte, mochte der Glutball ihn auch in dieser Öde verdursten lassen, und pflaumengroße Augen über einem atmenden, gespannten Leib, der wartete, dass die Fremden ihm in das Wagnis folgten.