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XLVII. Verbündete
Neben der Bretterwand eines Standes, an dem zwei Männer Leinen und Seide verkauften, drückte sich Eya in den Halbschatten und hob noch einmal kurz die Hand.
Ifrah winkte lächelnd zurück. Dann tauchte die goldgepanzerte Gestalt im Menschenstrom unter, der die Straße längs des großen Marktes füllte. Als sie verschwunden war, atmete die Assassine auf.
Unter einem Vorwand hatte sie sich von Ifrah getrennt, die nach Heiltränken suchen wollte. Schuldbewusst überdachte sie die Lüge, ihr Bein zwinge sie, baldmöglichst zum Lager zurückzukehren.
Als die Händler sie ansprachen und rasch entdeckten, dass sie nicht der Stoffe wegen an der Bude stehen geblieben war, löste sich Eya zögernd aus dem leidlich kühleren Schattenfleck. Halb widerstrebend, halb eilig schlüpfte sie zwischen die Menschen. Die Sonne stach. Wie ein Zwinger, wie ein überfüllter Hof eines Gassenviertels brütete die Stadt in der Hitze.
Die Wachen auf den entfernten Mauern mochten noch gelegentlich frischeren Wind spüren, hier unten aber atmete Lut Gholein den Dunst seiner Überbevölkerung aus allen Winkeln. Die Assassine ließ sich durch den Gestank schieben. Ihr ganzes Wesen schrak vor der Enge zurück, doch hier konnte sie ihr nicht entfliehen, und als leite eine Hand ihr Vorhaben, trug der Menschenstrom sie geradewegs in die Richtung, in die sie wollte.
Erst nah beim Hafen wich sie in eine Seitengasse aus. Fremde verirrten sich hier für gewöhnlich. Nicht aber eine Assassine. Die Stadt hatte sich ihr längst wie der Grundriss eines Hauses eingeprägt.
Schnell wurde es stiller. Kinder liefen durch Pfützen versprengten Abwassers, und ihre hellen Stimmen verklangen. Ein Alter trug Töpfe und Bündel vorbei, und seine schlurfenden Schritte erstarben hinter einer Ecke.
Auch Eya ging langsamer. Jenseits der dicht zusammenstehenden Häuser ragten Schiffsmasten in die Höhe. Einen sah sie sogar über den Kanten der Flachdächer. Von dort schwappte auch neuer, betriebsamer Lärm zu ihr, schwacher Salzgeruch, der Atem der See.
Vorsichtig jetzt. Niemand kümmerte sich in den Gassen um sie, dazu war die Stadt längst zu sehr mit ihren Nöten beschäftigt, doch direkt an den Molen durfte sie nicht auftauchen. Weitertappend, maß sie die Entfernungen im Kopf ab. Als sie weit genug parallel zum Hafen die Gasse hinuntergegangen war, hielt sie inne.
Eine halbe Stunde war seit der Trennung der Gruppe verstrichen. Oder doch mehr? Plötzlich eiliger, aber immer noch beinahe lautlos, suchte sie die kleinen Bauten ab, deren Vorderseiten auf den Hafen blickten. Hinter der dritten, ärmlichen Brettertür, an die sie lauschend und sich immer wieder in der leeren Gasse umsehend das Ohr presste, ertönte auch nach einer ganzen Weile kein Geräusch, das Bewohner verriet.
Mit zusammengebissenen Zähnen schob sie die Tür auf. Ein Knarren, nach Fisch riechendes Halbdunkel – dann huschte sie hinein. Mit dem letzten Lichtstreif, der durch das schnelle Zudrücken der Bretter verschwand, wurde es kurz nahezu finster.
Eya wandte sich um.
Der Laden eines Händlers, der Meeresgetier verkaufte. Tische, Regale, Öllampen, zwei Reusen an einer gekalkten Wand. Durchdringender Geruch von Teer und Fischgedärmen. Kein Laut war hier drin zu vernehmen, doch auf einem Haufen Decken schlief ein kleines Mädchen. Die Assassine fuhr zusammen.
Der Schlaf des Kindes aber dauerte an. Sie schlich vorbei, sah das stille Gesichtchen, einen schlicht gekleideten Körper, vielleicht erschöpft von der ruhelosen Nacht Lut Gholeins.
An der Vorderseite des Raumes trug ein großer Fleck halber Helle Staub und schwache Geräusche von draußen. Den Magen wie eine steinerne Kugel im Leib, trat Eya auf Zehenspitzen bis an die Wand. Schon im letzten Schritt ahnte sie, dass sie sich nicht verrechnet hatte, denn das leise Gemurmel war eben jenes, aus dem die Gefährten sich eine halbe Stunde zuvor entfernt hatten.
Sie verhielt und wagte kaum einen Atemzug. Hier stand sie zwischen der Seitentür des einfachen Hauses und einem heruntergeklappten Laden, und sie musste behutsamer, nichtiger, besser sein als je zuvor.
Denn die Stimmen sprachen zueinander auf Jabrah. Sie hatte die Gruppe der aus Pundar Eingetroffenen gefunden. Ihre Knie zitterten. Dicht neben ihrem Auge war ein Schlitz in der Verschalung der Ladenseite. Fast gegen ihren Willen spähte sie hindurch.
Ja, sie waren es. Ein halbes Dutzend in Tücher und den sonstigen bemalten, kettenbehängten Habitus ihrer Klasse gekleidete Asketen standen nah bei ihr, nur durch die Wand und vier oder fünf Schritte von ihrem Horchen und Lauern getrennt. Dahinter erblickte sie Weitere, einige sehr alt, andere noch halbe Knaben, eine kleine Menge von Menschen, die sich nur in ihrer deutlich sichtbaren Herkunft und dem wesenlosen Absondern ihrer Kräfte ähnelten. Selbst sie konnte das sehen. Aber sie sah keine Krieger.
Die Nekromanten waren unter sich, zurückgezogen an den äußersten Rand des Hafens. Und als Eya sich auf die Stimmen konzentrierte, begriff sie, dass sie keiner sehr einvernehmlichen Zusammenkunft zuhörte. Eben als sie nach Hadan Ausschau halten wollte, fiel ihr Blick auf das Gesicht eines Greises, eine beunruhigende Gestalt mit hohlen, scharfen Wangen, aufgetriebenem Bauch und nachtdunkel schimmernden Augen. Sie begegneten dem ihren, das sich an den Schlitz gelegt hatte.
Erschrocken richtete Eya sich auf. Es überrieselte sie kalt in all dem stickigen Ladendunst.
Doch draußen tat sich nichts, das auf ihre Entdeckung hindeutete, und wie unter einem Bann spitzte sie erneut die Ohren.
Du bist unvorsichtig, flüsterte ihre Schulung, und ihr Herz fügte hinzu,
du horchst den Mann aus, dem du vertrauen solltest. Längst wusste sie, ohne ihn gesehen zu haben, dass sich Hadan unter den Männern dort befand.
Die Stimmen, die zu ihr drangen, waren ernst, aufgebracht, beinahe feindselig.
Sie streiten. Angestrengt verlegte sie sich auf die Entschlüsselung der verwaschene Laute, der Sprache des südlichen Ostkontinents, die dem ohnehin heimtückisch schwierigen Jabrah zahllose eigene Begriffe hinzufügte.
„Brauchbares Volk findet man hier offenbar kaum“, sagte eben jemand, gewiss ein noch sehr junger Mann. „Aber wie auch, wenn der Krieg so nahe ist – ein Krieg gegen Dämonen, wenn uns unser Mittelsmann hier nicht getäuscht hat. Die Soldaten dieser Stadt wissen mit den Göttern nichts anzufangen. Ungläubige sind sie allzumal. Feige sehen sie indes nicht aus.“
Gemurmel, das teils zustimmend, teils zweifelnd klang.
„Ihre Feigheit oder ihr Mut kümmert mich nicht“, ertönte eine zweite, ältere Stimme. Sie war unrein, und Eya befiel der Eindruck, dass sie auf seltsame Art böse sei, böse, wie sie es selten zuvor bei einem Menschen gefühlt hatte. „Dank der Macht unseres, ich sage
unseres, Tempels werden sie gute Gefolgsleute abgeben.“ Es schien, dass dieser Mann sich über die Menschen belustigte, über die er sprach.
Gefolgsleute? Die Assassine biss sich auf die Unterlippe.
Gefolgsleute?
„Nein,
Maatvanakri,“, entgegnete ein Dritter. „Das werden sie nicht.“ Fest, heller im Gebrauch ihrer Heimatsprache, war die Stimme Eya nur zu vertraut. Hadan.
Jemand lachte, doch der Rest der Gruppe nahm die Entgegnung mit einer Nachdenklichkeit und einem Schweigen auf, die durch die Bretterwand spürbar waren. Doch dabei blieb es nicht.
„Dein Gott ist hier nicht größer als andere“, zischte der, der als Zweiter gesprochen hatte. Dann wurde er ruhiger, fuhr jedoch mit merklicher Kälte fort: „Und du bist hier ebenso wenig Meister über uns alle, wie du es zu vergangenen Zeiten warst,
Pakhri.“ Das letzte Wort wurde höhnisch betont.
Eyas Gedanken überschlugen sich. Der schlichte Laden blieb zurück, das schlafende Kind, selbst die Sonnenflecke auf ihrer glänzenden Lederrüstung.
Hadan gehörte der Jüngerschaft Pakhras an, doch diese war bei weitem nicht der einzige Zusammenschluss bestimmter Nekromanten. Die junge Frau von Camdra überdachte, was sie wusste, und es war nicht eben viel. Es gab die
Bisrakri, eher Heiler und beinahe etwas wie Heilige in den Sümpfen ihres Landes, die der einfachen Bevölkerung Dienste durch ihre Kundigkeit in Arzneien und durch ihre Gebete zur Göttin der Weisheit leisteten. Es gab
Shisamandri, Knochenmagier, und
Nashvatri, Männer, die unter den vor Jahrzehnten noch verfeindeten Fürsten mit Gift und Messern gekämpft hatten. Sie alle jedoch hatten nicht dazu beigetragen, dass die restliche Welt jeden Nekromanten, den sie sah, als Totenbeschwörer bezeichnete. Die hierfür Verantwortlichen lebten weiter abseits, heimlicher, ohne sich unter das Volk zu mischen, wie Hadan und Andere seiner Klasse es taten oder versuchten.
Der Tonfall, in dem ihr Gefährte den zweiten Sprecher
Maatvanakri genannt hatte, zeugte von Abscheu, und der Name des Gottes, der Maathvaa lautete, erinnerte an düstere Vorfälle, halb vergraben im Dickicht darüber liegender Wochen.
Maathvaa. Der zweite Mann war ein Nekromant, wie die Welt sie wegen fortgesetzter Vergehen an der Ruhe Gestorbener, Gefallener, fürchtete.
Doch die Unterredung auf der anderen Seite hatte noch nicht geendet, und mit angehaltenem Atem lauschte die Assassine weiter.
„Ich beanspruche nicht, Irgendjemandes Meister zu sein“, ertönte Hadans Stimme. „Aber hier in Lut Gholein lebt ein Volk in großer Angst vor seiner baldigen Vernichtung. Ich kenne diesen Weltteil, diese Menschen und die nahenden Feinde besser als Jeder von euch. Ich werde nicht zulassen, dass auch nur ein Einziger ihre Furcht noch verschlimmert, und ich werde verhindern, dass man ihre Toten missbraucht.“
Die nackte Drohung in seinen Worten zerrte Eyas Auge wieder an den Schlitz. Die blendende Helligkeit zerfaserte sich erneut in die umherstehenden Asketen, doch jetzt sahen sie alle, ein angespanntes Rund, auf den schwarzgekleideten Mann mit dem schneeweißen Haar, das sich so sehr von dem ihren unterschied.
Zuerst hatte die Assassine trotz ihrer Angst und ihres nagenden Gewissens auf der Lauer gelegen wie schon oft in ihrem Leben: Ein kühler Schatten unter Schatten, dem seine feinen Sinne klar nebeneinandergestellte Neuigkeiten zuspielten. Nun aber hing sie wie betäubt an der Bretterwand, unfähig, ihr rasch pochendes Herz zu beruhigen, unfähig, fortzugehen. Die Vorsicht zerfiel unter dem schieren Grauen der Ahnungen, mit denen sie Zeugin dieses Treffens wurde, und nichts anderes gab es mehr.
Der zweite Mann, den Hadan
Maatvanakri genannt hatte, war ein ausgemergelter Asket mittleren Alters mit pechschwarzem, wirrem Haar, das ihm lang auf den Rücken fiel. Blutunterlaufene Augen hingen feindselig an seinem Gegenüber, doch gleich darauf wandte er sich mit einer verächtlichen Geste ab, lachte und spuckte aus. „Pah! Du wirst zu nichts dergleichen Gelegenheit haben, Sakudrah. Wenn diese Stadt überleben will, muss sie Opfer bringen. Daran ändern auch deine Skrupel nichts.“
Hadan rührte sich nicht. „Das wird sich zeigen“, entgegnete er leise. Sein Gesicht schien sich zu entspannen, doch Eya kannte diesen Ausdruck und auch das Zurücknehmen der Stimme, dem nur sich überlegen Fühlende abkauften, ihr Besitzer habe wider Erwarten eingelenkt.
Der Jünger Maathvaas nahm es für bar. Die anderen Asketen warteten ohne ein sichtbares Anzeichen von Beunruhigung.
Und was die Assassine in einem versteckten Winkel ihres Bewusstseins geahnt hatte, trat ein, doch rascher und schlimmer als befürchtet.
Mit einer fließenden Bewegung überwand Hadan die Schritte zu seinem Widersacher. Seine Rechte lag flach am Oberschenkel.
Der Maatvanakri stutzte, starrte in das dünne, weiße Lächeln. Er gestattete, dass Hadan ihm die Linke um die Schulter legte, fast, als wolle der große Mann die Zwistigkeiten damit beenden.
Der Kreis rührte sich nicht. Alles stand wie versteinert, und auch Eya rührte keinen ihrer Finger, die sich verkrampften.
So weit wird er nicht gehen. Es ist immerhin jemand seiner Kaste.
In ihr entsetztes Aufkeuchen hinein, in den Stoß des Schocks, der die kleine Menge durchfuhr, trat Hadan halb hinter den Anderen. Das Crismesser kam bleich aus seiner Scheide.
Mit einer festen, zielsicheren Bewegung, den linken Arm um die Brust des plötzlich zuckenden Mannes geschlossen, zog der Nekromant die Klinge über die Kehle des Maathvaa-Jüngers.
Er ließ ihn fallen wie einen Lumpensack. Der Mann brach zusammen, tot, ehe er hatte begreifen können. Das Blut war auf den Steinen der Mole nicht so dunkel wie auf der Schneide des Crismessers.
Über dem Getöteten stehend, richtete Hadan die Klinge auf den Kreis der Nekromanten. „Jedem, der Ähnliches vorhaben sollte, blüht das Gleiche.“ Er ließ das Messer einmal langsam den Bogen gegen die fremden Gesichter beschreiben.
Niemand sprang vor, um ihm die Waffe zu entreißen. Niemand schrie etwas von Mord. Und niemand hatte den Mann, der jetzt tot auf dem Boden lag, gewarnt. Nicht mit einem Wort. Die seltsamste Ruhe stand wieder eingekehrt in den Dutzenden duldender Augen.
Während Eyas Blick noch über die schlaffen Glieder auf der Mole und ihren hochaufgerichteten Gefährten, ein Standbild des denkbar grausamsten Willens, glitt, begann der Alte, zu dem Hadan bei der Ankunft Pundars zuerst gesprochen hatte, zu nicken.
„Wir wussten nicht, was unseres gemeinsamen Meisters Worte bedeuten sollten, die sagten, wo du seiest, beginne in diesen Tagen das Reich Pakhras.“ Auch seine raue Stimme war nichts anderes als gelassen. „Das ist es also. Wohlan, tue, was du für richtig hältst. Du hast unser Vertrauen. Aber versündige dich nicht weiter an der Gemeinschaft, die auch einmal die deine hätte sein sollen.“
„Vishva hatte Unrecht“, sagte ein Anderer, ein junger, hübscher Bursche. Er bewegte die glänzenden, honigfarbenen Schultern, als müsse er ein leichtes Unbehagen mit einem jedoch wohligen Erschauern abstreifen. „Er verdiente solch einen Tod. Auch wir glauben nicht an die Notwendigkeit eines Totenheers.“
Hadan ließ das Messer sinken. „Ich weiß, Sarang. Es gibt andere Mittel. Ihr solltet Stillschweigen über sie bewahren, auch über die meinen, sofern Einige von euch sie bereits sehen können.“
Sie nickten. Zwei gingen hin und wickelten den Toten in einen Umhang. Dann trugen sie ihn fort, und nur die hier Anwesenden wussten, wohin.
Der Kreis begann sich aufzulösen, als sei nichts weiter geschehen. Leise miteinander redend, verließen die Männer Eyas Blickfeld.
Sie zuckte zurück.
Ich muss hier weg. Zwei, drei Atemzüge lang zögerte sie, obwohl sie ahnte, dass das bereits zu lang war.
Hastig trat sie wieder in den Fischdunst des halbdunklen Ladens. Das kleine Mädchen war nicht aufgewacht.
Als die Assassine auf halbem Wege zur Hintertür war, öffnete sie sich von allein.
Licht fiel blendend in den Raum.
„Hier steckst du also“, sagte der Schatten, der das Licht verdrängte. Er hätte sich bücken müssen, um in das Haus zu treten, aber er blieb stehen, hielt nur die Tür auf, wartend und reglos. „Komm, Shatryindjah.“
Ohne zu wissen, was sie sagen oder tun sollte, schlüpfte sie in die Gasse. Ein weiteres Mal hatte die Hoffnung, ihre Lautlosigkeit befähige sie dazu, ihn ausspähen zu können, sie getrogen.
Das eben Bezeugte verschloss ihr die Lippen, und stumm blinzelte sie zu Hadan hinauf. Sie fühlte sich ertappt, aber das bewirkte nicht, dass Angstschweiß ihren Nacken feucht und eine betäubte Starre sie ungeschickt und ihre Bewegungen mechanisch machte. Die Tür schwang knarrend zu.
Er hatte seine Maske längst vor ihr abgenommen. Es hatte sie vergessen lassen, wozu er fähig war – den Mann vergessen lassen, dem Jahrzehnte einer unbekannten Randexistenz und eines Lebens Seite an Seite mit Krieg und Blutvergießen eine schärfere Prägung eingepresst hatten als ihrer beider Liebe.
Hadans Lächeln war echt. Zorn sah sie nicht in dem schwarz durchbohrten Perlmutt seiner Augen, doch auch weder Reue noch Bedauern.
Nebeneinander, sie dem Nekromanten nur knapp bis zur Schulter reichend, gingen sie durch die Gasse. Lut Gholein warf ihnen unverändert Wellen seines Lärms entgegen, die sie bald aufnehmen würden.
Eya kämpfte mit Worten, die ihr durch den Kopf gingen. Was konnte sie sagen? Das Entsetzen, die kaltblütige Ermordung eines Ostländers durch ihren Gefährten mitangesehen zu haben, drückte sich verwirrt unter dem Wissen entlang, dass eine Assassine im Einvernehmen mit ihrer Gruppe jederzeit dieselbe Tat begangen hätte. Die Beurteilung des Bezeugten entwand sich ihrem Verständnis, das vor den Gemeinschaftsverhältnissen der Nekromanten endete – und vor dem, wovon in jenem mitangehörten Wortwechsel die Rede gewesen war.
Sie musste es verstehen. Der Drang sprengte ihre Angst und den Verschluss ihrer Lippen.
Mit einem Blick zu ihm hinauf, der Hadan stehen bleiben ließ, brachte sie unvermittelt hervor: „Von welchen... Gefolgsleuten“, sie stolperte über ihre taube Zunge, „haben die Männer... habt ihr gesprochen?“
„Kannst du es dir nicht denken?“ fragte Hadan zurück. Wo sie standen, war es noch leidlich still und beinahe kühl, eine Gasse unter Hunderten.
Zwei Bilder suchten die Assassine heim. Das erste, eine Erinnerung, war die Stunde am Ende ihres einsamen Weges – Frauen in gelben und roten Gewändern und mit mitleidigen und neugierigen Augen für ihre abgerissene Erscheinung, und sie sagten,
ja, es lebt ein Nekromant hier am Fluss, aber ein Beschwörer von Toten ist er nicht. Das zweite war etwas, das sie selbst niemals gesehen hatte und hoffte, nie sehen zu müssen – eine Armee aus den Leibern ihres gewöhnlichen, naturgewollten Daseins herausgeschälter Knochen, bleich und widerwärtig abgehackt über einen Hügelkamm schreitend, hinter dem sich ein dunkel fleischfarbener Himmel empor wölbte.
Ihr Gefährte mochte den Abglanz der Schreckensvision, die sie erblassen ließ, in ihrem Gesicht entdecken, denn plötzlich umging er das Unausgesprochene nicht länger. „Du weißt, dass meine Fähigkeiten absichtlich diese... Kunst aussparen, Shatryindjah.“ Abscheu verfärbte seine Stimme. „Körper gefallener Gegner zu zerstören, diese Waffe... sie ist dem vielleicht ähnlich, und kein so großer Unterschied besteht, wie ich es wünschte. Aber auch wenn Teile meiner Klasse Anderes predigen – für mich bleibt Totenbeschwörung Leichenfledderei.“
Eya suchte sich einen Weg durch seine Züge, die sie anders als die meisten Menschen, die sich von der oberflächlichen Fremdartigkeit des Albino abgestoßen fühlten, stets aufs Neue regelmäßig, ja männlich schön vorfand.
„Darum habe ich den Asketen getötet“, fuhr Hadan fort. „Ich habe Männer schon wegen Geringerem umgebracht. Die Jünger Maathvaas stehen für eine neue, alte Gruppe, die versucht, die Menschen wieder an den Anblick untoter Helfer und an ihre Riten zu gewöhnen. Du hast es im Osten selbst gesehen. Die Verbrennungen sogenannter Fehlgegangener entspringen ihrer Idee von einer Gesellschaft, in der die okkulten Kasten den Leuten gestatten, sich anstatt durch die weltliche Gerichtsbarkeit gegenseitig zu verurteilen.“
Wenngleich sie dies verstand, wandte die Assassine leise ein: „Aber du selbst entziehst dich den weltlichen Armen.“
Der Nekromant lächelte wieder. „Das ist richtig, meine scharfäugige Geliebte. Doch es ist Krieg. Ausschließlich hier denke ich über Mittel nach, die anderswo, zu einer anderen Zeit, nicht Teil des Lebens werden dürften. Des Widerspruches bin ich mir bewusst.“ Er berührte zögernd ihre Wange, und sie zuckte nicht zurück, atmete nur rascher ein.
Bereitwilliger hatte er nie zuvor seine Ansichten über sich selbst mit ihr geteilt. Jedes Wort, das sie ihm noch entlocken konnte, würde ihr vielleicht helfen, zu begreifen, was er dachte und welche Pläne er seit Längerem hartnäckig vor den Anderen verbarg.
„Ich bin ein Relikt, Eya“, sagte er noch, ohne dass sich sein Lächeln verflüchtigte. „Wenn die kommende Schlacht geschlagen ist, werde ich, wie du es vor Tagen als deinen heimlichsten Wunsch offenbart hast, die Rüstung und die Amulette ablegen und, so mein Gott mich lässt, nur noch ein Heiler sein.“
Sie erstarrte.
Lass uns das Gewicht unserer Rüstungen und Amulette abwerfen. Gedacht hatte sie es, doch nicht ausgesprochen. Sie war für ihn leichter zu lesen als ein offenes Buch.
Die Zeit, in die es sie verschlagen hatte, ließ jedoch nicht davon ab, harmlose Träume wie die ihren zu untergraben. So antwortete Eya: „Es mag sein, dass die kommende Schlacht nur ein Auftakt ist.“ Sie blinzelte bedrückt zu ihm hinauf. „Ist es nicht so? Jeder aus unserer Gemeinschaft hat solche Befürchtungen.“
„Das wird sich zeigen“, gab der Nekromant zurück, aber sein Lächeln wich einer Härte, die sie an ihm als Zeichen wieder notwendiger Entschlusskraft zugewandter Gedanken kannte.
Hier versagte ihr Mut. Sie brachte es nicht fertig, die letzte Mauer um sein Inneres herauszufordern, die ihr höher und besser bewacht schien als alle anderen, in denen sie auf Türen gestoßen war.
Die Ahnung eines düsteren Vorhabens und die Angst, ihn zu verlieren, malten sich offenbar so deutlich auf ihrem Gesicht, dass der Nekromant ihr den Arm um die Schulter legte,
denselben Arm, der den Asketen vor wenigen Augenblicken getötet hat. Seltsam wild schmiegte sie sich hinein. Sie war all des Nachdenkens müde.
Ohne ein weiteres Wort über den Vorfall am Hafen und ihr tastendes Gespräch verließen sie die Gasse. Außerhalb umschlang sie die stickige Luft der fieberhaft arbeitenden Wüstenstadt.
„Noch scheinen sie kein Heer gesichtet zu haben“, vermutete Eya, die den Palastsoldaten beim Umhergehen zusah. Die stark bewaffneten Männer wirkten grimmig und bahnten sich mit derben Befehlen, oft genug von Flüchen unterstützt, ihren Weg durch das Gedränge, doch eine eigentümliche Ruhe herrschte trotz aller Geschäftigkeit. Unwillkürlich erschauerte die Assassine. Bereitwillig hatte sie sich von den Dingen der letzten Stunde ablenken lassen wollen – nur um auf die wieder aufbrechende Furcht vor dem Kommenden zu treffen.
„Wohl nicht“, bemerkte Hadan. „Wir müssen auf die Wachen vertrauen.“ Fern auf den Hügeln trugen diese Männer jetzt die Verantwortung für die rechtzeitige Warnung der Stadt, wie die Bewohner ringsum Bottiche mit Meerwasser trugen und aufstellten, um Brände löschen zu können.
Es erinnerte an Harrogath. Auch dort hatten die Menschen sich hin- und herbewegt, von Befehlshabern angeleitet, in aller drohenden Nähe des Feindes Verzweifelten ähnlich, die sich postierten, ihre Waffen schärften, an Mauern herumflickten, ohne dem Krieg mehr entgegensetzen zu können als diese beinahe vergeblich anmutenden Bemühungen.
„Lass uns zum Markt gehen“, schlug Hadan vor. „Dort stehen seit der Früh Ausrufer. Wenn es etwas Neues gibt, hören wir es dort am ehesten.“
Für eine Weile hielten sie sich dicht beieinander, doch als sie zu dem Platz kamen, an dem Buden und zwei Schmieden, Tavernen und die Nähe des gewaltigen Palastbaus den Hauptmarkt Lut Gholeins kennzeichneten, löste sich die Assassine von ihrem Gefährten. Sie hatte bei einer der zwei Schmieden Lederarbeiten gesehen und wollte sie näher in Augenschein nehmen.
Seitlich der Schmiede, vor der dasselbe Gedränge herrschte wie allerorts, befand sich ein Haus mit einer zur Straße offenen Garküche. Ein beleibter Mann mit durchstochenen Ohrläppchen und fleckigem Turban zog Eyas Aufmerksamkeit durch den starren Blick auf sich, den sie spürte.
Fragend sah sie zu dem Lut Gholeiner, trat sogar einen Schritt auf die Tür zu, in deren Rahmen er sich lehnte.
Beinahe augenblicklich bereute sie es. Der Mann studierte ihr Gesicht, dann ihre von der Rüstung fest umschlossenen Brüste und Beine, und sein weiches, unangenehmes Lächeln verbreiterte sich zu einem Grinsen. Dies war die Kennermiene, die sie aus den dunklen Gassen aller Weltteile kannte.
Ein Kuppler.
Bevor sie sich abwenden konnte, sprach er sie an. „Auf der Suche nach Gesellschaft, Schönheit?“ Der Ton war klebrig, zudringlich. Ohne sich zu rühren, starrte sie in die fremden Augen, und ihre Wangen erhitzten sich, als er dreister wurde: „Nur nicht so schüchtern.“ Ein Zungenschnalzen. „Aus dir ließe sich was machen, ein nettes Stück Fleisch, nach dem sich das Pack hier die Finger lecken würde.“
Jetzt vernahm sie auch Stimmen aus dem Obergeschoss des Hauses. Frauenstimmen. Unterdrückt klirrte ein Krug, der zersprang. Jemand lachte weinselig in die überfüllte Straße hinaus.
Sie hatte es in ihrer Sorge um das Kommende nicht recht wahrgenommen, aber Waffenübungen und Verteidigungsarbeiten waren nicht die einzige Weise, in der die Stadt dem nahenden Krieg begegnete. Viele, sei es aus Hoffnungslosigkeit, sei es aus dem seltsam trunkenen Hochgefühl heraus, das bitteren Tagen oft voranging, vergnügten und berauschten sich. Der Palast schritt ein, wo es zu derb wurde, doch dafür blieb seinen Soldaten wenig Zeit, und welcher Fürst konnte seinen Untertanen, ganz zu schweigen von zahllosen Söldnern und Fremden, schon letzte Ausschweifungen gänzlich untersagen?
Das Haus stank. Eya roch es. Es stank nach einem wilden Aufbäumen des Lebens.
Merkwürdige Übelkeit befiel sie, und vergebens suchte sie nach einer passenden Erwiderung. Des Mannes Grinsen verwandelte sich vor ihren Augen in eine Fratze.
Die Hand, die sich von hinten schwer auf ihre Schulter legte, ließ Eya zusammenzucken. Doch ihr Gewicht war vertraut, urvertraut, und schier besitzergreifend. Sie musste den Kopf nicht einmal drehen.
„Gib Acht, wen du ansprichst“, sagte Hadan zu dem Lut Gholeiner. Dieser wich nicht zurück, aber das Grinsen floh sein plötzlich blasser gewordenes Gesicht. „Solltest du meine Gemahlin mit einem weiteren Wort belästigen...“
„Schon gut“, der Kuppler hob abwehrend die Hände. So rasch er es konnte, ohne sich zu sehr den Anschein von Furchtsamkeit zu geben, zog er sich in den Schatten des Hauses zurück. Man hörte noch einen Ausspruch, der nach
Hexer und einer saftigen Verwünschung klang, dann war er verschwunden.
Eya blickte zu dem Nekromanten auf. Er grinste. Mit einem Mal erinnerte er sie wieder an den Mann, den sie am meisten liebte und der sich zuletzt gezeigt hatte, der sie gelegentlich mit einem trockenen Scherz überraschte oder mit unverhoffter Zärtlichkeit.
Den Lut Gholeiner nicht selbst vertrieben zu haben, ärgerte die junge Assassine. Mehr aber war sie ernst. „Ich danke dir“, sagte sie artig, als sie ihren Weg fortsetzten. „Indes... deine Gemahlin bin ich nicht. Nicht vor der Gemeinschaft der Menschen“, beeilte sie sich auf Hadans Blick hin, zu versichern, „auch wenn ich mit ganzem Herzen zu dir gehöre, Nâkyshat.“
Die kurze Begebenheit hatte die Schatten der vergangenen Stunde vertrieben. Ihr war leichter zumute.
Der Nekromant sah sie schweigend an. Nur diese flüchtige Stille verriet seine Nachdenklichkeit. „Du gehörst mir“, sagte er dann unverblümt, doch so, dass kein Zweifel bestand, wie er es meinte. „An unserem Pfad war bislang niemand, der uns hätte trauen können. Würdest du das wirklich wollen, Shatryindjah?“
„Ja“, gab sie leise zurück. Die ringsum vorbeieilenden Menschen, schweißgetränkte Gewänder, schreiende Münder zumeist, schienen ihr zu lauschen, obwohl sie wusste, dass es nicht so war. „Aber das ist nicht wichtig... nicht für mich“, fügte sie hinzu. Ihr Herz pochte laut und strafte sie ein wenig eine Lügnerin.
Doch sie hatte mehr erhalten als je erträumt. Ein Wort – und wer sollte es sprechen? – würde die Bande zwischen Hadan und ihr nicht fester knüpfen, sagte sie sich.
Die Menge nahm ihr die innerliche Regung ab. Der Markt brodelte wie ein Kessel, als gelte es, noch eilig letzte Geschäfte zu tätigen, rasch, bevor niemand mehr überhaupt an Handel und Geld denken konnte.
Das Paar schlenderte an den Buden entlang. Hadan verhielt kurz bei einem Stand und befragte das dürre Weiblein, das diesen beaufsichtigte, während die Assassine sich dem Wogen und Drängen der Menschen überließ. Ihr ganzes Leben lang hatte sie niemandem vertrauen dürfen, hatte auf Simsen und in Schattenecken gekauert, alles darauf verwendet, sich klein und nebensächlich zu machen. Jetzt war es einerlei, wer sie sah. Sie war eine halbe Welt vom Hauptsitz des Assassinenordens entfernt und eine ganze von ihrem früheren Dasein.
Unweit entdeckte sie eine Gestalt vor einem kleinen Laden, die sich merklich von den Bewohnern abhob. Es waren hier und dort Barbaren in den Gassen unterwegs, doch dieser Mensch gab ein noch ungewöhnlicheres Bild ab.
Nackt bis auf einen rockartigen Schurz und ein Schultergehänge aus Perlen, kramte der greise Asket in den Tiegeln und Schalen herum, die in der Auslage des Ladens aufgereiht standen. Zwei Frauen beobachteten jede seiner Bewegungen mit großer Sorge, auch mit Scheu und Furcht, und als Eya näher trat, hörte sie die Eine eben sagen: „Verstehst du uns nicht, Alter?“ Zu ihrer Genossin bemerkte sie unterdrückt: „Das muss einer dieser Hexenmeister aus dem Osten sein. Was hat sich unser Fürst nur dabei gedacht, sie in die Stadt zu lassen?“ Ihre Stimme klang gehetzt.
Sie ängstigen sich. Mit wenigen Schritten war die Assassine an der Seite des Asketen. Die Frauen, die mit ihr eine weitere, seltsame Gestalt vor ihrem Laden auftauchen sahen, schauten sie misstrauisch an.
„Beunruhigt euch nicht“, sprach Eya sie an. Gewiss, der Alte neben ihr, der durchdringend nach Rauchwerk und getrockneter Körperfarbe stank, war kein harmloser Greis – sie spürte an ihm eine ähnliche Aura, wie sie auch Hadan umgab. Doch hier vermochte sie zu vermitteln, und sie unterdrückte ihre Furcht. „Es ist wohl so, dass er das Djaddh nicht beherrscht. Lasst mich mit ihm reden.“
„Versuch es, Kriegerin“, machte eine der Frauen eine fahrige Geste.
Eya wandte sich dem Asketen zu. Ihr war, als richte sie sich an eines der rätselhaften Standbilder des Ostens, die sie nicht zu entschlüsseln verstand. Er würde überdies hören, dass sie das Jabrah nicht gut beherrschte.
Sei es drum. Hartnäckig suchte sie Worte zusammen.
Es ist Hadans Sprache. Es wird die meine werden.
Nachtdunkle Augen hefteten sich an ihre Lippen. „Sei gegrüßt“, sagte sie unsicher. „Diese Händlerinnen wissen nicht, wie sie Euch einschätzen sollen und ob Ihr etwas zu kaufen wünscht. Nehmt es ihnen nicht übel. Sie fürchten sich, das ist alles.“
Länger, als es angenehm war, geschah nichts. Doch gerade, als sie sicher war, sich falsch ausgedrückt zu haben, bewegte sich der bärtige Greisenmund.
„Ah, gut.“ Ein Glucksen, vielleicht begreifend, vielleicht belustigt. „Ich will nichts kaufen. Aber sieh, diese Stadt benötigt Arzneien. Dessen vergewissere ich mich. Niemand muss sich fürchten.“ Der Alte lachte leise. „Nicht vor mir.“
Eya gab das Gesagte an die Frauen weiter. „Bitte“, fügte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend, hinzu, „lasst ihn gewähren. In seiner Heimat ist er, soweit ich es verstehe, nicht nur ein Magier, sondern auch ein Heilkundiger. Er wird euch nichts zuleide tun.“
Das hoffe ich wenigstens.
Die Händlerinnen entspannten sich leicht. „Bei Badr“, lenkte die Ältere mit einem Blick auf den Asketen ein, der fortfuhr, in den Tiegeln herumzukramen, „wir wollen nicht unhöflich sein. Gewiss nicht. Es ist nur...“ Sie brach ab.
Ja, ich weiß, dachte die Assassine.
Krieg. Lauter Fremde. Unbekannte Mächte, die Einzug in eure Stadt halten. Sie nickte den Frauen zu und wollte sich entfernen.
Rascher, als es ihm zuzutrauen war, packte der Alte ihr Handgelenk. Seine Finger waren hart und kühl.
Eya blickte in sein Gesicht. Es war nicht milde, nicht einmal besonders freundlich, und doch lächelte sie der Osten daraus an. Sie tauchte in die dunklen Augen wie in einen bodenlosen, schwarzen See.
„Danke, mein Kind.“ Ihm musste sie ja wirklich wie ein Kind erscheinen mit ihren achtundzwanzig Jahren. Unfähig zu einer Erwiderung verzog sie sachte den Mund, in dem das Blut klopfte. „Ah, ich erkenne dich.“ Ihr Gegenüber nickte.
Ich erkenne dich? Hadan. Man hatte sie zusammen gesehen. Sie war seine Gemahlin, auch ohne Trauung.
Während die klauenartigen Finger immer noch ihr Gelenk umschlossen, führte der Greis die Linke zum Mund. Sie sah ihn den Zeigefinger mit Speichel benetzen.
Dann näherte er ihn ihrer Stirn und fuhr darüber. Sie stand wie erstarrt. Die Frauen staunten.
„Geh mit den Göttern“, sagte die mürbe Stimme, und der Griff um ihr Gelenk löste sich.
Als habe er nicht eben eine Art Segnung vollführt und sie angesprochen wie einen Menschen, dessen Platz auch außerhalb ihres Wissens festzustehen schien, wandte der Asket sich wieder der Ladenauslage zu.
Augenblicke später trat Hadan zu ihnen. Die Assassine war sich nicht sicher, ob er sie gerade erst entdeckt oder die Begegnung von abseits schon eine Weile beobachtet hatte. Er wechselte einen Blick mit dem Asketen.
Dann verließ das Paar den Markt.
„Das war ein Mann des großen Bisra-Tempels zu Pundar“, beantwortete der Nekromant die unausgesprochene Frage. „Ich hoffe, er hat dich nicht erschreckt.“
Sie schüttelte den Kopf. „Er sagte: Geh mit den Göttern. Aber Angst hatte ich nicht.“
„Das ist auch nicht nötig, Shatryindjah.“ Hadan langte nach ihrer Hand. „Wenn wir einer Sache noch sicher sein dürfen, dann der, dass die Götter mit uns sind. Zumindest jene“, fügte er hinzu und schickte einen langen Blick über die aufgeriebene, ahnungslose Menge in den Straßen Lut Gholeins, „auf die es ankommt.“
Es war um die Mittagszeit, als Ifrah, die am Rande des Barbarenlagers stand und den langsamen Abzug der Menschen beobachtete, die Reiter sah.
Erbarmungslos strahlte die Sonne auf die Ebene vor der Stadt. Ihrer wankelmütigen Laune schien es zu gefallen, Lut Gholein einen unerträglich heißen Tag zu bereiten. Die Luft flimmerte. Wer konnte und dem grellen Licht nicht die Widerstandskraft der Barbaren oder der Wüstennomaden entgegenzusetzen hatte, duckte sich unter die letzten Zelte, die noch nicht abgebaut waren. Ein glasiger Schleier schwebte über dem Boden und dem stöhnenden Land.
Dennoch sah die Magierin die zwei großen, fast weißen Tiere deutlich.
Renndromedare. Ihre Reiter peitschten wild auf sie ein. Solche Dromedare hatten nur die Eilboten der Stadt.
Mit wehendem Haar, die gepanzerte Hand als Schirm über den Augen, verfolgte Ifrah die Staubwolken, die sich längs der Laufbahn der Tiere empor wölbten. Sie hielten auf die Hügel zu.
Während sie schaute, trat Herlac zu ihr. Der Hüne hatte seinen Armverband wieder entfernt. Durch eine Tinktur Hadans war die verbrannte Haut, anstatt sich zu entzünden, getrocknet, und der Krieger bewegte das verwundete Glied probehalber. Er wirkte zufrieden. Erleichtert blickte Ifrah in sein unerschütterliches Gesicht.
„Kundschafter“, wies Herlac auf die Reiter, deren Tiere jetzt auf einem gewundenen Pfad die Hügel hinaufpreschten. Sie waren nur noch als kleine Gestalten zu erkennen, so wie die Wächter, die sich winzig, aber fest gegen den Himmel abzeichneten.
„So scheint es.“ Die Magierin atmete zitternd ein. Anspannung und Angst ließen sich nicht mehr unterdrücken.
Dies wird die erste Verteidigungsschlacht in deinem Leben sein, die du zu bestreiten hilfst. Bislang bist du stets auf die Gegner zugeschritten.
„Ich habe zu den Ahnen gebetet, dass es die Katzen sein mögen, die überlebt haben und uns doch noch zur Hilfe eilen“, brummte Herlac und hielt die kurze, starke Nase schnuppernd in den Wind.
„Das hoffen wir alle“, entgegnete Ifrah leise. Die Erinnerung an das dunkle Inferno im Tal der Magier wog schwer. Horchte sie aber mit allen Sinnen in die offene Wüste hinaus, so war es nicht die Feindesflut, die sich näherte.
Zumindest jetzt noch nicht.
„Seltsame Wesen waren das“, sagte der Hüne langsam. „Seltsameres könnte sich keiner unserer Geschichtenerzähler ausdenken, und doch habe ich sie mit eigenen Augen gesehen. Es ist, als sei ich selbst inmitten einer Geschichte.“
„Die für Manche von uns, vielleicht sogar für alle, mit dem Tod enden kann“, murmelte Ifrah düster. Sogleich schalt sie sich dafür. Es half nichts, ein schlimmes Ende zu erwarten – sie ahnten und wussten ja alle zu wenig.
Doch Herlac schien ihr die Bemerkung nicht übel zu nehmen. Er überging oder akzeptierte sie mit der an Sturheit grenzenden Zuversicht seines Volkes, das den Tod kaum fürchtete. „Die Männer sind unterrichtet“, gab er zurück. „Bis zu dieser Stunde haben wir nicht darin nachgelassen, ihnen die Geschöpfe zu beschreiben. Was jedoch geschieht, wenn sie ihnen leibhaftig gegenüberstehen, kann niemand vorhersagen. Viele werden glauben, dieses sonderbare Land gaukle ihnen Wachträume vor.“
„Wir werden sehen.“ Ruckartig beinahe wandte Ifrah sich ab. Jede Erwähnung von Menschen oder von Säbelkatzen, die daran gemahnte, dass hier in der Not nahenden Krieges eine erste Begegnung zweier so verschiedenartiger Rassen stattfinden mochte, führte ihre Gedanken zu nah an den drohenden Abgrund ihrer gemeinsamen Welt heran.
Als Herlac einen überraschten Ausruf tat, drehte sich die Magierin jedoch mit fliegendem Haar wieder um. „Sieh!“ Sie folgte seiner zeigenden Hand.
Einer der Eilboten jagte den Hügel wieder hinab. Schnurgerade trieb er sein Tier zur Stadt.
Auf dem Hügel zauderte noch das zweite Dromedar. Bewegung kam in die drückende Hitze. Wachen verließen den Hügelkamm, rennend, vielleicht schreiend. Die Lager begannen sich schneller aufzulösen.
Die Menschen fliehen. Einzig die Barbaren blieben, wo sie waren.
Und als Ifrah die Augen angestrengt zusammenkniff, bis es schmerzte, sah sie es.
Die steinerne Linie der Hügel stand noch eine kurze Weile – eine Schwelle, eine nutzlose Bodenerhebung vor dem endlosen, weißen Gesicht der Wüste. Dann löste sie sich auf. Gestalten, drei, vier, dann mehrere Dutzend, schließlich nicht mehr zu zählen. Ein ganzes Heer, oder die erste Welle eines solchen.
Es brachte keine Dunkelheit. Es brachte in der flirrenden Luft verschmelzende, vertraut gewordene Farben. Gelb. Hellbraun. Lichtreflexe, von metallenen Oberflächen aufspringend.
Die beiden Gefährten hasteten zu der Stelle, an der Urel, Bostac und die Anderen warteten. Die fast dreihundertköpfige Menge hatte sich eng zusammengezogen.
Aus dem Augenwinkel sah Ifrah Marej das Lager auf einem der Pferde verlassen. Sie ritt in Richtung der Küste, ohne Sattel, ohne mehr als die um ihre Gestalt flatternden Gewänder und den züngelnden Schweif ihres Haars. Urel hatte seine Geliebte fortgeschickt. Ein paar Mal wandte die Druidin sich noch um, als zögere sie.
Dann zog der Hügelkamm Ifrahs Blick unwiderruflich an.
„Bei den Ahnen“, sagte jemand tonlos neben ihr.
„Sie kommen.“ Hadan stand neben Urel. „Pakhra sei Dank, sie sind nicht sämtlich gefallen.“
Und die Säbelkatzen kamen.
Aufgefüllt von aus verborgenen Zufluchtsstätten gerufenen Artgenossen, schwemmte eine gelbbraune Flut hinunter ins Tal.
Ein einzelner, heller Trompetenstoß durchstieß die Luft über der Ebene. Was an Wachen auf den Hügeln blieb, war weit ausgewichen, um dem Heer Platz zu machen. Es bedeckte den gesamten Westhang, als es sich hinunterbewegte, scheinbar langsam, in Wahrheit jedoch schneller, als ein Menschenheer es vermocht hätte, und es zögerte nicht.
Der Wind, der aus derselben Richtung wehte, trug einen Geruch heran, erst so schwach, dass man ihn für einen Trug halten konnte, doch mit jedem Atemzug gewann er an Kraft.
Ifrah packte ihren Stab mit beiden Händen.
Sie haben es geschafft. Sie sind dem Kessel der Täler entronnen. Sie haben Wort gehalten.
Immer noch floh alles, was nicht Kundschafter, Wache oder Barbar war, zur Stadt. Letzte Zelte blieben unbeaufsichtigt stehen, leere Planen im Luftzug des Krieges.
Bald erkannte man Einzelheiten. Ifrah spürte ihr Herz hart gegen die Brust pochen. Wilde Hoffnung, Angst und Fluchtinstinkt waren greifbar unter den Menschen.
Die Säbelkatzen schritten in einer großen Fächerformation auf das Barbarenlager zu. Ihre Zahl war kaum zu schätzen. Fünfhundert? Siebenhundert? Es konnten auch Tausend sein.
Doch gewiss waren dies alle, die noch in der Nähe menschlicher Siedlungen gelebt hatten – alle, die kämpfen konnten.
Die Geschöpfe waren samt und sonders mit Helmen und Teilpanzern gerüstet. Speere ragten auf. Lautlos in geringer Menge, warf das Heer nun auch die Geräusche seines Nahens voraus: Hundertfach verstärkt traten vierzehige Läufe in den festgebackenen Sand, stießen platte Nasen heiße Luft aus. Dennoch konnte kaum eine Streitmacht sachter und heimlicher sein. Flecke entzauberten sich zu Gesichtern und pflaumengroßen Augen. Raubtierdunst fiel in das Tal.
Es war seltsam still geworden.
Reglos erwartete das Barbarenheer die Ankömmlinge.
Als das Säbelkatzenheer sich auf Bogenschussweite genähert hatte, verlangsamte es seinen Schritt, dann kam er zum Erliegen.
Ifrah, die schon viel Unbegreifliches gesehen hatte, wurde Zeugin des unwahrscheinlichsten Zusammentreffens in langen Jahrhunderten der Geschichte Sanktuarios.
Sprachlos starrten die Barbaren. Sie konnte es den Kriegern nachfühlen. Keine noch so eindringliche Beschreibung bereitete Menschen auf den Anblick dieses Volkes vor, das wie aus Fieberfantasien und uralten Sagen erbaut plötzlich die Bühne der Wirklichkeit bestieg.
„Ruhig, Männer“, war Urels dunkle Stimme zu vernehmen. Dann, den Zweihänder im Rückenhalfter, ohne Helm, trat der junge Barbar vor.
Als er sich der gelbbraunen Menge bis auf wenige Schritte behutsam genähert hatte, löste sich eine einzelne Katze heraus. Ifrah erkannte sie. Harebnash, der Säbelkater, der die Erkundungsgruppe unter höchster Gefahr zum Dämonentor geleitet hatte. Ihr Herz machte einen Satz. Das Geschöpf trug die Insignien Merenechsas – den weiß beschweiften Helm und die Halskette aus bleichen Goldplatten.
Die Hohepriesterin war nicht unter den Säbelkatzen.
In der wartenden, staunenden Stille klangen die verschiedenartigen Stimmen dünn und verwundbar.
„Seid willkommen“, begann Urel und legte die Rechte auf die Brust. „So konntet ihr den Dämonen also entkommen.“
„Dank sei dir, Mensch.“ Harebnash deutete eine Verbeugung an. Die Geste des halben Tiers, eigentümlich drollig und ehrfurchteinflößend zugleich, rief unter den schweigenden Reihen der Barbaren vorsichtige Verwunderung hervor. Fäuste, die auf ihnen geruht hatten, verließen Axt- und Schwertknäufe.
„Die Schwarzen folgen uns“, formte der Säbelkater mühsam weitere Worte. Die Überraschung, durch ihn seine Art sprechen zu hören, überfiel Ifrah erneut.
Es ist die Stimme der Wüste. Wir haben das Land stets nur durchreist, um schnell zu den Siedlungen zu gelangen, und es ist uns trotz unserer Liebe zu seiner öden Schönheit bis heute in seinem Wesen fremd geblieben. „Wachen haben es gesehen. Die Täler sind voller Schatten und Bewegung. Und man kann sie dort nun auch hören. Gebt ihnen einen halben Tag. Wenn die Sonne wieder steigt, werden sie da sein.“
Mit diesen Sätzen besiegelte das Geschöpf das Schicksal Lut Gholeins.
Eine Nacht noch. Vielleicht nicht einmal so viel. Die Magierin nickte für sich selbst.
Die Gefährten und die Barbaren schwiegen zu der ausgesprochenen Vermutung. Das warten würde bald ein Ende haben.
„Lut Gholein weiß, wie wenig Zeit es noch hat“, sagte Urel.
Wie um seine Worte zu bestätigen, erklang ein zweiter Trompetenstoß. Das Stadttor öffnete sich. Ein gutes Dutzend Palastsoldaten näherte sich von den weißen Mauern her. Der junge Barbar blickte hin, dann wieder in die Augen seines Gegenübers. „Die Menschen fürchten sich. Wir indes ehren euch für das Wagnis, zu dem ihr euch entschlossen habt.“
Ohne sichtbares Zeichen seitens des Säbelkaters ballte sich das Heer seiner Artgenossen, Linie hinter Linie, weit über die halbe Ebene bis zu den Hügeln reichend. „Auch wir haben Angst“, gab Harebnash zurück.
Seine offene Äußerung erreichte die Barbaren, und Ifrah mochte sich irren, doch vielen der derben Gesichter sah man das Bemühen um Nüchternheit an. Vielleicht war kein Volk besser geeignet für diesen weiten Brückenschlag.
„Viele gehen nicht mehr über den Sand“, fuhr Harebnash fort. „Aber wir halten Wort. Wir kämpfen – an eurer Seite.“
Er stieß einen Speer in den Staub. Das Katzenheer quittierte diese Bewegung mit einem Kriegsruf – für die Menschenohren nur ein Grollen. Unwillkürlich wichen die vordersten Barbaren leicht zurück, doch dann stemmten sie die dicken Beine wieder gegen die zu verteidigende Erde und warteten hochaufgerichtet, bis der Ruf verebbt war.
Urel wartete mit ihnen. Dann sah Ifrah ihn etwas tun, das er nie zuvor getan hatte – nicht vor Anderen seines Stammes, nicht vor den Obersten des hohen Harrogath, nicht einmal vor Baal.
Freiwillig beugte der hünenhafte Krieger das Knie.
Als er sich wieder gestreckt hatte, fragte er: „Was ist mit Merenechsa geschehen?“
„Sie geht nicht mehr über den Sand“, antwortete Harebnash leise. Trauer schwang in der verzerrten Stimme mit. „Was war, ist hin. Wir müssen kämpfen, damit nach uns neues Leben kommen kann.“
Urel nickte finster.
Dann wandte er sich um, und mit ihm wandten sich auch alle anderen den heranschreitenden Palastsoldaten zu. Gedankenschwer verfolgte Ifrah den geraden, aber merklich zögernden Weg der Stellvertreter Lut Gholeins.
Sie waren nicht von der schlichten, doch im Notfall anpassungsfähigen Art der Nordmänner. Sie trafen hier auf uralte, verhasste Widersacher, mit denen sie nur die Versicherung dahergelaufener Abenteurer neu verband, und es würde sich zeigen, ob dies ausreichte.
So waren die Gesichter der Soldaten auch dunkle Masken der Abwehr, als sie nahebei verhielten. Ein Mann, dessen helle Kleidung ihn als einen Berater des Fürsten auswies, schälte sich behutsam und misstrauisch bewacht aus ihrer waffenstarrenden Mitte. Harebnash beobachtete den Mann mit pendelndem Schwanz.
Überall unter den Parteien gab es zuhauf kleinste Regungen unterdrückter Anspannung – blitzende Augen, nach Schwert- oder Säbelgriffen tastende Hände, Anweisungen zur Ruhe.
Mehr als zehn Schritte kam der Berater nicht heran, dann blieb er stehen, ganz erstarrter Habitus der bedrohten Stadt. Seine Stimme klang unnatürlich forsch.
„Geschöpfe aus der Wüste“, rief er die unüberblickbaren Reihen der Säbelkatzen an, einem Mann ähnelnd, der erstmalig ein Standbild auf einem fernen Kontinent anspricht, von dem ihm höchstens wirre einheimische Sagen versichert haben, es besitze ein geheimes Leben. „Uns wurde berichtet, dass ihr euch entgegen eurer älteren Feindseligkeit nunmehr auf die Seite unserer Stadt zu schlagen gedenkt. Somit entbietet das Fürstenhaus euren... Anführern seine Grüße. Ihr seht unsere Lage und wisst, wie uns gesagt wurde, von den Feinden, die Lut Gholein anzugreifen planen.
Lagert vor der Stadt, wenn euer Ansinnen aufrichtig ist. Hütet euch aber, sie zu betreten.“
Ifrah verfluchte die Rede des Beraters im Stillen herzhaft.
Gewiss, ihm schlotterten die Knie vor Angst, und sie verstand die anwachsende Bedrängnis der Stadt, doch höflich zeigte sie sich ihren neuen Verbündeten gegenüber nicht eben. In den ausgerichteten Worten schwang der althergebrachte Wille Lut Gholeins mit, die Welt einzig aus seinem Blickwinkel zu begreifen.
Seid um Badrs Willen nicht töricht. In den Jahrzehnten eurer Blüte durftet ihr es sein, aber nicht in diesen Tagen.
Harebnash indes schien die Ansprache ruhig aufzunehmen. Schweigend stand der Säbelkater da.
Urel war es, der sich schließlich vernehmlich räusperte. „Das Heer der Verbündeten wird sich des Gastrechts als würdig erweisen, Berater“, sagte er mit Nachdruck. „Bedenkt, wer der wirkliche Feind ist. Die Dinge ändern sich.“
Dem Palastbeauftragten war anzusehen, dass die Zusammenkunft ihn an den Rand seiner sicherlich wohlmeinend eingesetzten Fähigkeiten brachte. Er gab ein paar halbherzige Höflichkeiten zurück.
Ifrah lauschte dem folgenden, sehr kurzen Gespräch über die weiteren Notwendigkeiten ohne Mitleid für die Gesandtschaft der Stadt.
Ihr solltet euch glücklich schätzen. Eure Soldaten sind gut ausgebildet, aber für eine Schlacht fehlt es euch an Männern. Wie viele Krieger könnt ihr aufbringen? Sicherlich kaum mehr als Tausend, zählt man die Tapferen aus der einfachen Bevölkerung dazu, die unbedingt kämpfen wollen und als Erste sterben werden.
Nun, beinahe ein Drittel so vieler Nordleute sind hier, um für den Boden zu streiten, der nicht der ihre ist und dessen Bewohner sich nie sonderlich um ihr Schicksal gekümmert haben.
Sie wusste, dass die Unerbittlichkeit dieser Tage ihre Sicht auf die Menschen verhärtete.
Sie wusste auch, dass es allerorts auf Sanktuario dasselbe war.
Einzig die unmittelbare Not oder das Begreifen der Bedrohung für alle Länder schweißte die Völker zusammen. Selbst wenn sie überstanden, was ihnen blühte, würden sie wieder auseinandergehen und die einstige Einvernehmlichkeit schneller vergessen als die wohlgehüteten Unterschiede und die noch besser gehüteten Legenden, die ihre jeweilige Einzigartigkeit beschworen. Jedes Volk hielt sich für einzigartig.
Verwirrt, halb erfreut über die Begegnung, die sich entgegen aller Befürchtungen nicht in einen Aufruhr verwandelte, halb mit nicht sehr freundlichen Gedanken über die Art der Menschen beschäftigt, sah sie die Gesandtschaft des Palastes wieder abziehen. Sie war nur erschienen, um Jerhyn zu vertreten.
Er würde bald sterben. Wer ihm auf den Thron folgte, war unklar.
Sie und ihre Gefährten bildeten eine Ausnahme in allen Landen, und dies vielleicht nur, weil sie durch gemeinsame Erlebnisse aneinander gewöhnt und Ausgestoßene waren – selbst Menrad, der die Vorgänge ruhig und entschlossen verfolgte und Tugenden eines Lichtkriegers außerhalb seines Ordens bewahrte.
Die Gruppe der Gefährten sah zu, wie die Säbelkatzen Besitz von der Ebene nahmen. In einem weiten Kreis bewegte sich das Heer durch das Tal, einmal nur und ohne den Mauern allzu nah zu kommen. Schließlich sammelte es sich längs der Hügel, der Staub sank, und nur es selbst mochte wissen, wie es die letzten Stunden vor Beginn des neuen Tages verbringen wollte.
Ruhe kehrte wieder ein, eine denkbar seltsame und unvollkommene Ruhe.
Einige Barbaren näherten sich gelegentlich den fremdartigen Reihen.
Es kam zu Szenen, die lang im Gedächtnis haften blieben. Da sie sich kaum verständigen konnten, beäugten sich die Nordmänner und die Wüstenwesen schweigend im Gemurmel ihrer rastenden Mengen. Es schien, als beröchen sich hier zwei alte Völker, die beide die Abgeschiedenheit dem Dasein zu dicht bei Anderen vorzogen. Einzelne gingen mit wuchtigen Schritten auf ihre neuen Verbündeten zu, verhielten dann unsicher oder betrachtend, und es entspannen sich absonderliche kleine Tänze der Annäherung. Ein Druide trug einen Wassereimer herbei, stellte ihn vor den Reihen starrender Säbelkatzen in den Sand, kniete sich dann daneben, waffenlos, vielleicht betend, vielleicht nur dem Bild des so gänzlich Fremden ausgesetzt, und entfernte sich schließlich wieder, halb eilig, halb widerstrebend, als verlasse er die Schwelle eines unbekannten Heiligtums, während die Säbelkatzen sich neugierig um den Wassereimer sammelten wie um etwas nie Gesehenes.
Ihnen blieb indes nicht mehr viel, als sich auf die letzten Stunden in Ungewissheit einzustellen. Der Berater hatte angekündigt, es werde sich in der nächsten Stunde ein Befehlshaber des Stadtheeres einfinden, um alle Streitkräfte in einen endgültigen Verteidigungsplan einzubinden.
Die Gefährten fanden sich an Urels Lagerplatz ein. Er lag nun zwischen dem leicht versetzten Lager der Barbaren und den Reihen der Säbelkatzen, die großenteils in der Hitze kauerten, reglos, die Speere wie dünne Fahnenstangen neben sich.
„Soweit ist alles gut“, begann der junge Barbar grimmig, ohne dass klar wurde, ob er die nahende Bedrohung mit seltsamer Befriedigung erwartete oder Lut Gholeins Einverständnis kommentieren wollte. „Nun fehlt nur noch der Gegner.“
Er ist zu begierig auf die Schlacht. Ifrah wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Er kann es kaum erwarten. Erneut überfiel sie nagende Sorge, und sie fing einen weißen, scharfen Blick Hadans auf, der ähnlich zu denken schien wie sie.
„Eine Nacht also noch“, sagte der Nekromant dann. „Ich werde zusehen, dass Lut Gholein die Pundarkrieger zu uns schickt. Die Stadt kann ihnen ohnedies kein Dach bieten. Sie werden mit uns unter freiem Himmel übernachten.“
Neben dem Nekromanten rechnete Menrad murmelnd die einzelnen Gruppen zusammen. „Zweitausend“, schloss der Paladin. „Zweitausend Krieger. Und wir wissen nicht, wie viele Gegner es sind.“
„So oder so sind zweitausend verzweifelt wenig“, meldete sich Bostac zu Wort, doch sein Gesicht wirkte nicht düster. „Gute Männer und... kämpfende Wesen, nach dem, was ich gesehen habe. Wenn uns nur die Zahl der Feinde bekannt wäre...“
„Wir müssen es ohne Wissen versuchen“, entgegnete der Nekromant.
Ifrah nahm in seiner Aura eine leichte Veränderung wahr. Sie war sich sicher: Welche Pläne er auch immer im Stillen gehegt hatte oder noch entwickelte – er zögerte.
Vielleicht erfüllte ihn die Versammlung der Völker mit derselben, brüchigen, wilden Hoffnung wie sie alle.
Marej war fort, zu den Frauen, Kindern und Alten gegangen, die sich auf die Schiffe vor der Küste oder am Ufer einfinden sollten – kleine Inseln ausharrenden Lebens.
Und ich habe ihr nicht einmal richtig Lebwohl gesagt.