Die als Letzte gelesen haben, mussten nicht so lange warten^^.
Alle anderen: Tut mir Leid, im Moment geht es nicht flotter - ich ertrinke in Arbeit und habe kaum noch Zeit zum Schreiben.
Aber hier erstmal ein neues Kapitel und wie immer das Versprechen, dass es baldmöglichst weitergehen wird.
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LIV. Dämmerung
Es war keine Nacht, um an Schlaf zu denken.
Dennoch vereinbarten die Gefährten, sich beim Wachen abzuwechseln, damit jeder von ihnen für ein paar Stunden ruhen konnte.
Nur darum war es ihnen Beiden vergönnt gewesen, eine Weile allein zu sein.
Eya bewegte die freie Hand über Hadans nackte Brust, strich über die festen Muskeln und lauschte auf den gleichmäßigen Herzschlag unter dem Fleisch, auf dem ihre Wange lag. Es war beinahe still in diesem Winkel zwischen zwei Zelten, den eine Plane niedrig überspannte.
Sie hatten lange gezögert, gefangen in der Ahnung, dafür an einem falschen Ort und in einer allzu seltsamen Stunde zu sein, und sich dann doch geliebt. Behutsam zuerst, schließlich wild, aber schweigend. Es hatte kaum ein Wort zwischen ihnen gegeben, nur in schwerem Atem halb ersticktes Flüstern und Blicke und besitzergreifende Gesten von verzweifelter Gier.
Eya regte sich leise. Sie wusste, dass dieser Augenblick bald enden würde. Das Wissen darum machte ihn schal und wertvoll zugleich. Der Leib des Mannes, auf dem sie halb lag, ein Bein über seine geworfen, antwortete, aber hätte sie es gekonnt, sie hätte ihn in einen endlosen Schlaf versetzt. Beweg dich nicht.
Sie atmete ein. Die Befriedigung schwand, es war bereits wieder der Atem wachsender Anspannung.
Auch vor dem Ende des Schweigens fürchtete sie sich. Da war eine Beobachtung am Rand ihres so flüchtig ganz erfüllten Bewusstseins, gegen die es auch nicht half, das Gesicht in die mittlerweile vertraute Achselhöhle zu stecken, die Augen zuzupressen, die Gedanken zu verbannen. Während der Trauung und auch bis eben war Hadan ihr so nah gewesen, nah auf eine selten erlebte Weise, doch jetzt spürte sie, dass irgendetwas ihn wieder von ihr entfernte.
Sie stritt noch mit der tiefempfundenen Weigerung, dies anzunehmen, und der Angst vor Fragen an ihn, als der Verlauf der letzten Stunden gewaltsam in ihr Inneres Einlass fand.
Urel. Es packte brutal und grausam nach ihr. Er war kaum verbrannt.
Wie hatte sie sich da hingeben können, so unmittelbar danach?
Die Kälte der Empfindung bewirkte, dass sie sich aufrichtete, erstarrend. Sie schaute auf den Fleck des Strandes vor dem Winkel dieser geteilten Heimlichkeit und langte, ohne hinzusehen, nach Stoff und Leder, um ihre bloßen Brüste zu bedecken.
Neben ihr setzte sich Hadan auf. Die alte Vertrautheit und ihr Instinkt sagten der Assassine, dass auch er alles Lose und Selbstvergessene abgeworfen hatte. Seine Hand, die ihren Nacken erreichte und ihr ins Haar griff, ließ sie erzittern.
„Ich vermisse ihn ebenso, Shatryindjah“, kam es gedämpft von ihm.
Eya schaute zu ihm hinüber. Der Mann mit dem nackten Oberkörper war nur ein Trugbild – selbst seine Züge, aus deren ungewohnter Zerrissenheit und Stille bleiche Augen auf das Meer blickten, waren nur ein Trugbild, vielleicht ihretwegen bewahrt in diesem Moment.
Eine Weile saßen sie da, ohne dass ihre Augen sich wirklich trafen.
Dann kam der Nekromant auf die Knie und kleidete sich an. Eya hörte das schwere Material seines Brustpanzers über Leder schrammen, das unverwechselbare Geräusch festgezurrter Riemen. Er tat nur, was notwendig war, was auch sie zu tun begonnen hatte, aber es milderte den Eindruck nicht, dass er sich in eine Schale zurückzog.
„Denkst du, dass die Paladine uns helfen können, das Blatt zu wenden?“, erklang ihre eigene Stimme. Ihr war nicht recht klar, was sie mit ihrer Frage bezweckte. Ganz sicher erwartete sie keine Antwort der Hoffnung. Es war nur der Versuch, eine Brücke zwischen ihnen zu schlagen.
Hadan blieb zu lange stumm, um sie täuschen zu können. „Nein“, antwortete er dann. „Ihr Kommen ist mehr, als ich je erwartet hätte, aber gegen den zweiten Angriff werden sie ebenso machtlos sein wie die Soldaten Lut Gholeins. Man muss ihnen fast wünschen, sie hätten sich nie von Fadraîs entfernt.“
Ebenso machtlos wie die Soldaten Lut Gholeins. Er hatte nicht gesagt, ebenso machtlos wie wir.
Eya schluckte an dem stacheligen Klumpen, der ihr in der Kehle saß. Dann griff sie nach der weißen Hand, die eben sein langes Haar über den Kragen der Rüstung zurückstrich. Die bleichen Augen hefteten sich auf ihre, wie ertappt.
„Du bist nicht ehrlich zu mir“, sagte sie leise. „Leugne es nicht.“
Ein anderes, selbstständigeres Bewusstsein schien ihr die Worte in den Mund zu legen. Sie brauchte nur nachzusprechen, was sie sonst kaum gewagt hätte.
Hadans Blick ruhte in ihrem, in vollkommener Nähe, in vollkommener Fremdheit. „Was du nicht alles siehst, inzwischen“, antwortete er. Furchen erschienen auf seiner breiten Stirn, Schatten, auch unter seinen Augen. „Gut. Da wir nun einmal soweit sind: Bei Tagesanbruch werde ich gehen.“
„Wohin?“, fragte sie zitternd.
„Das kann ich dir nicht sagen, Shatryindjah.“
Sie nickte starr. Er konnte es ihr tatsächlich nicht sagen. Vielleicht wusste er es selbst nicht genau. Sie begriff nur, dass er einen lange vor ihr, vor allen verheimlichten Plan verfolgte oder wiederaufgenommen hatte, einen Gedanken, zu dem sie keinen Zugang hatte, der Unterschiede ihrer Herkunft und ihres Werdegangs wegen nicht.
Der Nekromant strich ihr über die Wange. Ihre Hand zuckte hoch, um seine festzuhalten, um ihn mit allem irdischen Gewicht an das Hier und Jetzt zu fesseln, aber sie stoppte auf halber Höhe.
„Versprich mir“, sagte er sanft, „dass du mich nicht am Gehen hinderst.“ Genauso gut hätte er sie bitten können, ihn nicht davon abzuhalten, sich in einen Abgrund zu stürzen.
Das kannst du nicht von mir verlangen. Aber Eya wusste zur selben Zeit, dass sie sich ihm nicht an die Brust werfen und ihn anflehen würde. Alles, was in den vergangenen Monaten zwischen ihnen gestanden hatte, löste sich aus dem Nebel unklarer Ahnungen, verstand sie auch nicht, was er tun wollte.
Kurz durchzuckte sie der entsetzliche Verdacht, er sei womöglich wahnsinnig geworden, heimlich und unbemerkt von ihr. Aber da war nichts Irres oder Fiebriges in seinen Zügen.
Bevor sie noch an eine weitere Geste oder ein Wort denken konnte, drangen die Geräusche der Umwelt wieder in den Winkel, in dem sie Beide hockten.
Ja, unweit von ihnen lagerten neben all den Verwundeten des fast besiegten Lut Gholein auch die überlebenden Barbaren und die fadraîschen Paladine auf dem verschmutzten Sand des Strandes. Die Morgendämmerung war nicht mehr fern. Wer noch eine Waffe in der Hand halten und sich bezwingen konnte, wartete auf den letzten Sonnenaufgang.
Eya wandte den Blick von ihrem Gemahl ab. Nun war die Vorstellung, ihn nicht wiederzusehen, lebendiger denn je vor einer der gefährlichen Schlachten. Lebendig genug, um ihr alles Leben abzuziehen bis auf den Rest eines jämmerlichen Gerüsts, fest verbacken mit der Einsicht der Unausweichlichkeit. Sie stand auf, die Leibrüstung mit fahrigen Händen an ihren Platz schiebend, sich vage bewusst, dass Hadan sie müde und bedrückt, aber scharf beobachtete.
Er erhob sich ebenfalls.
Ohne ein weiteres Wort begannen sie die Gefährten zu suchen.
Ifrah kam ihnen aus Richtung der Stadt entgegen. Trotz der fast noch undurchbrochenen Dunkelheit war sie leicht an ihrer goldenen Rüstung zu erkennen.
„Lut Gholein ist dem Chaos nah“, berichtete sie, und nicht einmal die Tatsache, dass es hinter den Mauern halbwegs ruhig schien, entkräftete ihre Worte. „Die Menschen sind außer sich vor Angst. Dass ihr Fürst sie verlassen hat, macht es nicht eben besser. Die Anführer der Bewaffneten haben alle Mühe, ihre Männer in den Griff zu bekommen.“
„Sie werden es müssen“, sagte Hadan finster.
Die Magierin fuhr sich über die Augen. Die gegliederten Handschuhe und die starren Armschoner verbargen zwar, wie sehr, doch ihre Hand zitterte sichtlich.
Eya fühlte in all ihrer eigenen Angst Mitleid mit ihr. Mit anzusehen, wie die eigene Heimat vor dem Furchtbarsten, das uns je entgegenstand, in die Knie geht, muss eine große Qual sein. Dafür, dass wir Fremde sind, hat die Stadt uns stets recht freundlich empfangen. Und wir können nichts tun, um sie zu retten.
In diesem Augenblick war es der jungen Assassine, als gebe ihre Seele erstmals nach – erstmals, seitdem sie vor anderthalb Jahren in die Wüste gezogen war. Immer war es irgendwo noch hell und kämpferisch und zuversichtlich in ihr geblieben. Nun wurde alles dunkel.
Es wäre besser, wir wären alle zu Füßen des Arreat gefallen.
Sie spürte, wie ihr Gesicht sich verhärtete. Es war eine Empfindung verächtlicher Taubheit und tat doch weh. Zugleich drängte es sie, ihrem Herzen vor ihren beiden engsten Vertrauten Luft zu machen, Hadan zu zwingen, sich ganz zu offenbaren, Ifrah zu fragen, ob sie nicht sah, was er tun wollte. Aber sie stand der Übermacht des Leids allein gegenüber. Ihr Wille krümmte sich davor weg, als könne sie nur noch hier ausharren und atmen, indem sie es mit aller Gewalt ins Unaussprechliche verbannte.
Ifrah blickte zu dem Ort hinüber, an dem die Paladine lagerten. Ihre Pferde hatten die Lichtkrieger bereits den Strand hinuntergebracht, doch die Tiere waren noch in Reichweite, so als sei die fadraîsche Gesandtschaft noch unschlüssig, ob sie den Dämonen beritten oder zu Fuß entgegenziehen wollte. Die Gefährten hatten den Lichtkriegern indes vom Gebrauch der Pferde abgeraten. Alles Tierische floh die schwarzen Dämonen mit einer ursprünglichen und furchtbaren Angst. In der Schlacht würden sie schwerlich von Nutzen sein.
„Ich würde gern glauben“, sagte die Magierin leise, „dass sie unser aller Rettung bedeuten.“ Ihrer Stimme fehlte jegliche Überzeugung. „Dabei werden sie das Unvermeidliche nur hinauszögern, und ihr Leben dafür verlieren.“
„Das mag sein“, sagte Hadan, der ihrem Blick gefolgt war und die schattenhaften Gestalten der Westmarschener mit undeutbarem Ausdruck musterte. Kurz klang es, als müsse er hinzufügen, sie werden alle fallen, doch er tat es nicht.
Eyas Augen betasteten sein Gesicht von der Seite.
War es das, was der Finsternis, die sie vor Momenten noch in sich hatte hinabziehen wollen, die Urgewalt nahm? Damit ihre Gefährten nicht bemerkten, wie sehr ein Schütteln, fast ein Krampf, nach ihr fasste, hielt sie die Arme, unter denen ihr kalter Schweiß die Rippen hinablief, verbissen an die Seiten gepresst.
„Da kommt Menrad“, wies Hadan mit einem leichten Anheben des Kinns auf den einzelnen Mann, der sich aus der Menge der Menschen löste und auf die Gefährten zuschritt.
„Er ist glücklich“, sagte Ifrah in seltsamem Ton. „Glücklich, wieder unter seinen Brüdern zu sein. Selbst in einer Stunde wie dieser.“
Als der Paladin näher kam, musste Eya zugeben, dass Ifrah Recht hatte.
Die ersten Ahnungen von Licht, das über das ganze, weite Meer bis an den Strand kroch, fielen auf ihn. Er schien einer Morgendämmerung entgegenzugehen, die das Beste an ihm noch einmal hervorhob. Ungeachtet seiner Hüftwunde hielt er sich aufrecht. Sein schmales, regelmäßiges Gesicht, das in den vergangenen Wochen oftmals mürrisch und vorzeitig gealtert ausgesehen hatte, wirkte verjüngt, fast von innen heraus leuchtend – auch wenn dies der Widerschein einer Seele sein mochte, die den Tod nicht mehr scheut, weil sie sein Herannahen als unausweichlich angenommen hat. Nur seine Augen, die wach und offen auf die drei Gefährten blickten, waren zweifelsohne düster, fast traurig.
„Sie sind bereit“, äußerte er gedämpft, als er vor ihnen anhielt, die Rechte auf dem gesplitterten Griff seiner Waffe. „Ich habe sie von allem unterrichtet, was vorgefallen ist. Sie wissen nun ebenso viel wie wir.“
Für eine Weile schwiegen die vier Menschen, vielleicht fühlend, dass die völlige Abwesenheit von Misstrauen und Befremdung zwischen ihnen zu jeder anderen Stunde Anlass zur Freude gewesen wäre.
„Herlac hat mit den Anführern der Soldaten gesprochen“, klärte Ifrah die Gefährten weiter auf. Es kam Eya so vor, als beziehe sich die Magierin damit auf etwas zuvor schon mit Hadan und Menrad Besprochenes, denn beide Männer nickten. „Diesmal werden die Verteidiger dicht vor den Mauern bleiben.“
„Es ist besser so“, sagte Menrad leise. „Wir sind nur noch so wenige. Zerstreuen wir uns im Feld, werden sie die Stadt mühelos erreichen und niederbrennen.“
Die letzten Gelegenheiten zu einem Austausch. Eya schlug die Augen nieder.
Der Druck in ihrer Brust war so übermächtig geworden, dass er sie von innen zu zerreißen drohte. Sie wünschte sich alles andere, selbst die Tage des Zwistes zwischen Menrad und Hadan, zurück, alles, nur nicht diese Stille, in der die Anderen so ruhig Schlachtenordnungen besprachen, als gebe es sonst nichts mehr zu sagen.
„Hat man Harebnashs Läufer schon gesichtet?“, erkundigte sich der Paladin. Erstmals, berührte es Eya flüchtig, nahm er den Namen des Säbelkaters in den Mund. Harebnash. Nicht ‚Geschöpf’ oder ‚Untier’.
„Vor kaum einer halben Stunde hat ein Eilbote, einer der letzten, die sich noch hinauswagten, die Stadt unterrichtet, dass die Säbelkatzen die Gegner in der vorletzten Ebene jenseits der Hügel vermuten“, sagte Ifrah. „Sie sahen sie nicht, doch sie spürten sie wohl.“
„Dann ist es also wahr.“ Menrad nickte wieder, dann drehte er den Kopf in die Richtung, in der, noch vollkommen unsichtbar, die Hügel die einstmals weiße Ebene vor Lut Gholein begrenzten. „Sie kommen mit der Dämmerung.“
„Sie hätten auch in den Nachtstunden angreifen können“, sagte Ifrah dumpf. „Was macht es noch für einen Unterschied?“
Die Gruppe schwieg.
Der Paladin hatte den Blick gesenkt, als er wieder sprach. „Nichts macht mehr einen Unterschied“, gab er zurück, mehr wie zu sich selbst. „Vielleicht ist auch die Wendung der Dinge in Fadraîs gänzlich gleichgültig.“ Er wurde leiser. „Vielleicht vergeht die törichte Hoffnung, die mir diese Wendung einflößt, sehr bald in der schlichten Erkenntnis, dass mein Volk versagt hat... dass gerade jene, die genug Männer und Waffen gehabt hätten, sich zu spät besonnen haben.“
„Versagt haben wir alle erst“, schreckte Hadan, der sich plötzlich zu Wort meldete, die Anderen auf, „wenn die Wüste aufgegeben ist und das schwarze Heer nach Norden zieht.“ Es war nicht deutlich, ob er damit nur Trost spenden wollte oder ob er der Lage noch etwas Hoffnungsvolles abgewinnen konnte.
Eya fing Seitenblicke Ifrahs und Menrads zu ihrem Gemahl auf. Ihr wurde es kalt.
So hatten sie ihn nie zuvor angesehen – so voll einer Rücksichtnahme, die zwar noch Respekt, aber inzwischen auch das Schweigen der Verwunderung und Ratlosigkeit bekundete. Auch sie werden ihn nicht fragen, ging es der Assassine auf. Sie vermögen es ebenso wenig wie ich. Niemand von uns will ihm sagen, dass er sich irrt. Auch wenn wir innerlich daran zugrunde gehen, über Solches haben wir nie zu sprechen gelernt.
Es war schlimm, einander so nah und fern zugleich zu sein, hier schlimmer noch als unter dem Arreat, weil es keine Fremdheit und Scheu mehr gab, die etwas erklärt hätte.
Die Rüstung klebte Eya widerwärtig nass auf der Haut. Eine Last war es auch, zu spüren, dass das eigene Bewusstsein die vielen zu bedenkenden Dinge nicht mehr fasste. Die Hügel der Bilder hatten sich aufgetürmt, ohne je abgetragen worden zu sein. Jetzt formten sie eine Seelenlandschaft, in der man umherstolperte, noch nicht ganz zu der Einsicht bereit, dass man längst von einem Pfad abgekommen war.
„Wohlan“, sagte Menrad, der nach Westen schaute. Sein Gesicht straffte sich. „Ich werde zu den Paladinen zurückgehen.“ Er wandte den Kopf. Seine Augen streiften die Gefährten. „Wir sehen uns in der Schlacht. Möge das Licht Euch beschützen.“
„Und Euch, Menrad“, murmelte Ifrah.
Hadan tat es ihr nach, ein dünnes Lächeln auf den Lippen. In Eyas Ohren rauschte es leise, und so hörte sie ihre eigene Stimme kaum, als sie dem Paladin Lebwohl wünschte.
Menrad nickte knapp, soldatisch. Die Faust auf seiner Waffe, geraden Rückens, verließ er sie alle. Falls das Wissen, dass dies die letzten Worte gewesen sein konnten, ihn quälte, sah man es ihm nicht an.
Er verschwand in der Menge der wartenden Lichtkrieger.
So viele sie auch waren, neben der Stadt, zwischen dem Meer und der endlosen, feindlichen Wüste, verlor sich ihre Schar wie eine Gruppe stummer Pilger zu Füßen eines unermesslich großen Heiligtums.
„Ich verfluche diesen Tag“, sagte Ifrah erstickt. Sie wandte sich ebenfalls ab. Ihre Bernsteinaugen waren dunkel. „Lasst uns zur Stadt gehen.“
Eya spürte Hadans Blick.
Er hing noch an ihrem Herzen, als sie die Füße mühsam voreinander setzte, ihm und Ifrah hinterher, die sich zum Haupttor aufmachten. Ihr Inneres schmerzte so sehr, dass sie weder die Wärme noch den sandigen Boden noch die Geräusche ringsum mehr wahrnahm. Vielleicht war es so, wenn man innerlich verblutete. Es hieß, man werde sehr müde, irgendwann. Und irgendwann in den folgenden Stunden, endgültig von Hadan getrennt, würde ihre Seele vielleicht einfach einschlafen, mitten in Rauch und Geschrei und umhertobenden Kämpfern.
Die Gefährten erreichten das Tor. Noch stand es offen.
Auf den ersten Alarmruf aus der Ebene hin würden die Männer, die es mit grauen, sorgenzerfurchten Gesichtern bewachten, zuschieben und verriegeln.
Menschen standen herum, manche mit fiebrigen Augen und wie betäubt, andere entschlossener Miene – lanzentragende Soldaten, um Tapferkeit bemühte Städter mit schlechten Waffen in den Händen, Befehlshaber, die sich mit von Angst Überkommenen um Ordnung stritten.
Die Gefährten bahnten sich einen Weg zu einer der Wehrtreppen zu Seiten des Tors.
Sie würden diesmal bis zum Schlachtbeginn auf dem Wall bleiben, um sich einen Überblick über das feindliche Heer zu verschaffen, und erst bei entfachtem Kampf vor den Mauern den dort aufgestellten Kriegern zur Hilfe kommen – nicht durch eine Tür, sondern mit Ifrahs Fähigkeit, zu teleportieren..
Auf den Mauern reihten sich Schützen auf. Auch die Katapulte waren wieder besetzt, doch ihre eingespannten Bolzen ragten nichtssagend gegen den grauen, schwarzgeströmten Westhimmel auf.
Von hier oben konnte man die Barbaren sehen – Herlacs verbliebene Schar, hundert Krieger, sämtlich schwer gerüstet, sämtlich mit den Händen auf den vor sich aufgestellten Waffen und den Gesichtern nach Westen. Von rechts, vom Strand her, nahten die Paladine, aber Menrad war unter ihnen nicht zu erkennen.
Und man sah die Ebene.
Jede neue Verstärkung des matten Lichts, die mit der Dämmerung kam, offenbarte mehr von dem alptraumhaften Feld. Immer noch lagen unzählige Tote dort draußen, unauffindbar in einer Schicht aus Schlacke, von Asche überkräuselt, die der kraftlose Morgenwind zu grauen Wirbeln auftrieb.
Die Hügel waren dunkel. Am Horizont jenseits davon warf die noch versteckte Sonne sonderbare Farben zwischen das Doppelband aus Himmel und Steinen: Rosiges Grau, gefleckt mit bläulichen Fetzen. Schüchternes Violett. Rot, das bald zu Gelb ausbleichen würde und aussah, als blute hier und da eine Wolke über der Wüste still vor sich hin.
Die Hügelwachen, die noch nicht zur Stadt zurückgekehrt waren, sah man nicht. In der Ebene aber huschte es gelb. Harebnashs Säbelkatzen lagen auf der Lauer und hasteten auf aschebestäubten Hinterläufen umher, um sich in ihrer Raubtiersprache Beobachtungen und Befehle zuzutragen.
All das vor Augen, stand die junge Assassine oben auf der Mauer Lut Gholeins, die Hände kalt, das Herz ein feuriger Klumpen in der Brust. Es ist lange her, dass ich von hier aus aufbrach. Ich hatte es eilig, damals. Ich wusste nicht, was und wen ich in der Wüste finden würde.
Eilig hatte sie es jetzt nicht mehr. Sie hätte alles dafür weggeschenkt, um die Zeit anhalten zu können.
Ifrah war ein paar Schritte den Wall entlang weitergegangen, in Gedanken vielleicht bei Maysan. Sie hatte noch nicht bemerkt, dass Hadan zurückgeblieben war.
Der Nekromant vertrat Eya den Weg, als sie der Magierin folgen wollte.
Eya blickte nicht zu ihm auf. Ich weiß, dass es soweit ist. Auf Höhe ihrer Stirn blinkte etwas Goldenes zwischen einer Halsbrünne und weißen Haarsträhnen. Mach es nicht noch schwerer.
Geh einfach.
Warum hatte er sich mit ihr vermählt? Weil er gewusst hatte, dass sie sich wieder verlieren würden, und ihre Bindung hatte segnen wollen, wie man es in der Marsch und auch im Osten mit Neugeborenen tat, um sie in jedem Falle einer höheren Macht anvertraut zu wissen?
Eya hoffte, er werde sie nicht noch einmal mit Namen ansprechen. Entfernte er sich schlicht, wortkarg wie früher, hielt er einfach den Mund und quälte sie nicht damit, ihre Seele dem weichen Herantasten seiner eigenen auszusetzen, würde dies es erleichtern. Aber einmal noch, gegen besseres Wissen, fühlte sie ihn.
Sie nahm sich alles. Jedes erinnerte Bild, jeden geteilten Atemzug, jedes Lachen, jede Berührung. Tränen lösten sich aus ihren gesenkten Augen. Sie wischte sie fahrig fort, eisern bemüht, nicht zusammenzubrechen.
„Lebwohl, Shatryindjah.“ Hadans Stimme, leise, warm. Ein Lufthauch, Schritte.
Hinter ihr knarrten die Holzverstrebungen der Wehrtreppe. Darüber schwoll, wie eine zurückbrandende Welle, das Klanggemenge der Stadt wieder an.
Ifrah kam näher. Eya erhaschte durch Tränenschleier einen flüchtigen Blick auf ihr dunkles Gesicht, in dem Verwirrung und Begreifen miteinander stritten, fühlte eine Hand, die sie streifte. Dann war die Magierin an ihr vorbei.
Natürlich, sie ging Hadan hinterher. Ihr dämmerte, was geschah.
Aber Eya drehte sich nicht mehr um.
Sie stand, die Leisten gegen die harte und fremde Brüstung des Walls gepresst, warmen Wind im Haar, in der Nase den Schweißgeruch der unter den Mauern wartenden Barbaren und Paladine, und starrte in die Ebene.
Den Stab in der Linken, hastete Ifrah zurück zur Wehrtreppe, auf der die große, dunkle Gestalt des Nekromanten eben an zwei Soldaten vorbeistieg, die mit Armbrüsten bewaffnet zu den Mauerwachen hinaufklommen.
Sie hatte Eya und Hadan Abstand von ihr nehmen sehen, glaubend, das Paar wolle vor der Schlacht noch einige ungestörte Worte wechseln. Doch jetzt ging ihr auf, was Hadan tat. Er verließ den Wall. Er verließ seine Gemahlin und sie, und gewiss nicht, um sich unter die ängstliche, wimmelnde Menge unten in der Stadt zu mischen, oder unter die Männer vor dem Tor.
Ifrah wand sich an den Soldaten vorbei und erreichte den Kopf der Treppe.
Hadan drehte sich um, als ihr Fuß die oberste Stufe betrat und innehielt. Ihre Augen trafen sich, und alle verbliebenen Zweifel, wohleingerichtet in der Hast und der Bedrängnis der Stunden, verwehten.
„Du gehst?“, hörte sie sich fragen, zittrig, weil sich immer noch etwas in ihr gegen die plötzliche Übermacht bestätigter Vorahnungen sträubte.
Die vergangenen Tage waren zu voll der unterschiedlichsten Dinge gewesen. Der erste Angriff. Der Verlust der Krieger aus allen Teilen Sanktuarios. Urels Tod. Ihr gemeinsamer Kummer, hilflos im Nachbeben der entsetzlichen Schlacht. Die Trauung. Sie hatte vergessen, ihre Gedanken, die vornehmlich auch um Maysan und die Angst kreisten, sie nicht wiederzusehen, erneut auf Älteres zu richten.
Doch jetzt war dieses Ältere da und sammelte sich in der vertrauten, sonderbaren Erscheinung des Nekromanten, nur ein paar Stufen unterhalb ihres Standorts.
Wie konnte ich so blind sein? All diese Zeichen, seine unermüdliche, störrische Entschlossenheit, sein Auftreten den Pundarnekromanten gegenüber, seine Versenkungen. Er hat etwas mit sich getragen, die ganze Zeit über, und du konntest und wolltest es nicht sehen.
„Ja“, sagte Hadan. Er stand da und wartete, einem Mann gleichend, der sich nur rasch zu einem Markt aufmacht oder zu einem Volksfest, denn einem solchen, sperrte man die Furcht der Gesichter und den Anblick der teilweise zerstörten Häuser aus, ähnelte das Gedränge in der Straße hinter dem Tor.
Ifrah fühlte ihre Wangen sich erhitzen. In ihrem Kopf breitete sich ein leeres, erstickendes Glühen aus. „Das darfst du nicht“, kam es ihr von den Lippen. „Wir brauchen dich. Du darfst uns nicht im Stich lassen.“
Erst, als die Worte gefallen waren, wurden sie ihr recht bewusst – und dass trotz aller Freundschaft Misstrauen und Heftigkeit ihre Rede geführt hatten. Sie hielt den Atem an. Ringsum war das Gezeter der halb im Chaos versunkenen Stadt dumpf, monoton, ein Lied ohne Klang.
Hadan lächelte schwach. Sie starrte fassungslos in dieses Lächeln.
„Ich lasse euch nicht im Stich“, gab er zurück, ohne einen Schatten von Zorn in den Augen.
Die Magierin mühte sich, der Betäubung und Verwirrung Herr zu werden. Dann plötzlich wurde es still hinter ihrer Stirn. Abwesend krampfte sie die gepanzerte Faust um den Stab. „Wohin...“, sie musste sich räuspern. „Wohin willst du? Wohin kannst du jetzt noch gehen?“
Unter ihr tat Hadan noch zwei weitere Schritte die Stufen hinab. Er sah nun nicht mehr einem Menschen auf einem alltäglichen Weg ähnlich. Seine bleichen, kräftiger gewordenen Züge stachen scharf vor der bunten Menge in seinem Rücken ab. Sein weißes Haar fiel lang auf die wuchtige Rüstung, deren Symbole beinahe nicht mehr zu erkennen waren unter Schmutz und Schrammen. Das schmale, seltene Lächeln hatte nichts Frohes oder Helles, aber es verbreiterte sich noch, als er sagte: „Gib auf dich Acht, Svasdaana-La. Denk an die Nacht in Kurast. Du weißt, wovon ich spreche.“
Dann drehte er sich um.
Unter Ifrah, mit einem schweren, schabenden Laut, schoben die Männer das Haupttor Lut Gholeins zu. Hadan stieg in die Menge hinunter und bog um die Ecke der Wehrtreppe. Die überhängende Mauer schluckte ihn.
Ein Krachen. Das Tor hatte sich geschlossen. Es hing seit Jahrhunderten fest in seinen gewaltigen Angeln, bis zum heutigen Morgen, um aus ihm die erste Streitmacht kommen zu sehen, die es brechen würde.
Ifrah eilte zur anderen Mauerseite. Unten bildeten die Barbaren gemeinsam mit den fadraîschen Paladinen und jenen Stadtsoldaten, die zum Ausharren vor der Mauer ausgewählt worden waren, eine mehrfache, doch verzweifelt dünne Linie längs der Befestigung. Köpfe, manche behelmt, andere nackt. Schultern in Rüstungen dreier Weltteile.
In den gedämpften Reden der Krieger entstand ein sachtes Wanken, als sich Hadan einen Weg durch sie hindurchbahnte. Unweit stand Herlac. Auf der anderen Seite, unter den Paladinen, glaubte Ifrah Menrad auszumachen. Beide Männer sahen zweifellos, wie alle anderen auch, wie sich der Nekromant aus der Schar des kleinen Heers absetzte.
Doch ob aus fassungsloser Scheu oder aus einer sonstigen Regung heraus, sie traten ihm nicht in den Weg.
Und Hadan wechselte mit keinem der Menschen zu Füßen der Mauern ein Wort.
Er ging einfach weiter, eine einsame Gestalt. Ein Wind, von der Ebene herstreichend, blähte seinen schwarzen Mantel. Ifrah verfolgte starr, wie er die ersten Ausläufer der Schlackeschicht erreichte. Seinem Schritt war anzumerken, dass der Boden unebener wurde – der Berge von verbrannten Leibern und Steinen wegen, die die Ebene vor Lut Gholein auf ewig verwandelt hatten. Er schritt darüber hinweg, ein mit dem Tod Vertrauter, der über Leichen wandelte.
Denk an die Nacht in Kurast.
Es war außerhalb des Möglichen. Die Pfade seines Werdegangs, seiner Seele, mussten ihm angetan haben, wozu die Erzübel, die gefallenen Städte und die bösen Verwundungen nicht in der Lage gewesen waren.
Ifrah schaute, bis seine Gestalt nur noch kieselgroß war, unbeirrt weitergehend, auf die Hügel zu, über denen der Westhimmel rascher und rascher die Farbe blutbefleckter Haut annahm. Das Entsetzen wogte so stetig und gleichmäßig in ihr wie der Atem eines unter der Erde schlafenden Riesen.
Sie wandte den Kopf.
Schmal und schwarz stand Eya an der Mauer. Die Strähnen ihres kurzen Haars hingen ihr gleich dunklen Halmen in die Stirn. Sie heilt die Arme an den Seiten, und das fahle Licht der Dämmerung zeigte ihre Züge: Fest, blass und ungebrochen, und doch eine einzige, tödliche Wunde.
Ohne zu wissen wie, fand sich Ifrah an ihrer Seite.
Ihre erhobene Hand blieb in der Luft. Obgleich die Assassine sie fraglos wahrnahm, schaute sie nicht her. Würde sie einfach in sich zusammenfallen, wenn Ifrah sie berührte, oder mit dem nächsten Windhauch vergehen, ein aufflatternder Schwarm Vögel, ein Rauchgebilde? Das Bild, wenn es auch unsinnig war, pfählte Ifrahs Herz mit Eiseskälte.
„Eya.“ Sie legte der Jüngeren die Hand auf die Schulter. „Liebes.“ Die Schulter erbebte.
Was soll ich ihr sagen?
Die kohlschwarzen Augen gingen zu ihr. Eya weinte nicht länger, aber ihre Augen trugen noch eine Schicht Nässe über der Qual und der Leere.
„Eya, was hat er dir gesagt? Was will er tun?“, hörte die Magierin sich fragen.
Die Assassine schüttelte den Kopf. „Nichts“, flüsterte sie. „Er hat mir nichts gesagt.“
Ifrah nickte dumpf. Vielleicht vermutend, seine streitbare Gefährtin werde ihn mit aller Macht zurückhalten oder ihn gar bekämpfen, wenn sie den Grund für sein Weggehen erfuhr, vielleicht aber auch, weil es für sein Vorhaben unter Menschen keine Worte gab, hatte Hadan selbst ihr sein Inneres nicht offenbart.
Doch als die Magierin der Assassine, die fortfuhr, in die Weite zu blicken, den Arm umlegte, suchte der ungeheuerliche Verdacht sie erneut heim. Es gelang ihr, nicht zu wanken. Sie hielt Eya fest, stützte sie mit aller Kraft ihres stämmigen Leibes und ertrug flach atmend, wie ein Zweifel nach dem anderen wegbrach.
Nichts blieb den Menschen der stolzen Wüstenstadt als eine Stunde, in der man noch den Rauch des vergangenen Schreckenstages roch, durchsetzt mit den bereits heiser werdenden Stimmen der Befehlshaber und dem großen, gestaltlosen Zittern abgrundtiefer Angst.
Nichts blieb ihr, die sie hier oben neben ihrer Mitstreiterin auf den ersten Alarmruf wartete, als das hallende Schweigen, mit dem sich ihre Erinnerung an einen Tag im Osten klammerte, da sie beim Fall der Tempel fremder Götter die Wut und die Gegenwart einer unbekannten Sphäre gespürt hatte, Seite an Seite mit dem rätselhaften Anwachsen ihrer eigenen Macht.
Die Männer ringsum schwiegen.
Aber sie schwiegen nicht, weil Angst sie stumm machte. Zumindest jetzt noch nicht.
Es schien Jahre her zu sein, dass er in Gegenwart so vieler Paladine gewesen war. Betender Paladine.
Menrad widerstand der Versuchung, sich umzuschauen, für eine ganze Weile. Doch schließlich vermochte er es nicht mehr, wohl auch, wie er schmerzlich spürte, der milden, körperlosen Gegenwart ihrer Aura wegen. Sie blühte um ihn her auf, eine fast vergessene Macht seiner Welt – zurückhaltend, eher zur Verteidigung als zur Stärkung der eigenen Fähigkeiten eingesetzt, aber für ihn, hier und jetzt, eine Offenbarung, eine Berührung seiner ganzen, verwundeten Essenz, die ihm um ein Haar Tränen in die Augen trieb.
Es sind sämtlich hochrangige Krieger. Wahre Streiter des Lichts, hochrangiger als du selbst womöglich. Ein Ehrengeleit für die letzten Schritte deines sonderlichen Weges, Menrad Victorin Callist. Kurz war ihm nach einem bitter amüsierten Auflachen zumute..
Da war er von Shanghar aus kreuz und quer durch die grüne Hölle eines fernen Kontinents gekrochen, durch die Niederwerfung einer Stadt, über das Meer und durch den sich selbst entmachtenden Westen, beinahe in Ungnade gefallen, das Blut eines Engels an seinem Hammer und das alte Ordensgewand wie einen Fetzen der Vergangenheit auf die von Zweifeln zerrissene Brust geheftet, um jetzt inmitten solcher Krieger dazustehen. In seinem zweiunddreißigsten Lebensjahr, dicht vor dem Ende der bekannten Welt.
Die Regung abschüttelnd, musterte er die nahen Westmarschener.
Himmel, ihre Gesichter waren ihm so vertraut. Die gestutzten Bärte oder glattrasierten Wangen, die geraden, kräftigen Nasen, das meist helle Haar, die festen Züge, darunter das matte Silber, Eisen und Kupfer der Rüstungen aus fadraîschen Schmieden, verziert mit Symbolen des Lichts.
Ich habe euch vermisst. Frei konnte er es sich eingestehen. Die hinter ihm liegenden Monate hatten ihn verändert, doch nicht härter und verächtlicher gemacht, wie vordem befürchtet.
Aber für das Kommende musste er sich verhärten. Er spannte die Muskeln an Armen und Schultern. Seltsam genug war es, dass er keine Angst spürte, oder wenn, dann nur als müdes, kummervolles Bedauern darüber, dass Sanktuario am heutigen Tag den ersten einer Reihe von Todesstößen erhalten würde.
All das Leben in den so uneinigen Städten, all der Reichtum der in sich zerstrittenen Völker – hinfällig, todgeweiht. Doch sie hatten keine Zeit mehr, um zu trauern. Wo auch, wenn ihnen selbst für den Abschied von teuren Mitstreitern nicht mehr blieb als ein paar hingemurmelte Worte?
Auf allen Seiten beteten die Paladine.
Zwei oder drei taten es halblaut, die seit Jahrhunderten gleich gebliebenen Verse auf den Lippen. Die meisten jedoch taten es schweigend. Menrad sah sie Namen murmeln, Namen ihrer Frauen und Kinder, ihrer Eltern und Geschwister.
„Bruder“, schreckte ihn eine Stimme auf.
Ein neben ihm stehender Paladin hatte ihn angesprochen.
„Schaut“, sagte dieser jetzt. „Ist das nicht einer Eurer Gefährten?“
Menrad folgte dem zeigenden Nicken.
Hadan. Der Nekromant bahnte sich einen Weg durch die Krieger vor dem Tor, das sich eben schloss. Menrad erwartete, Hadan werde seine Schritte zu ihm oder zu Herlac lenken. Der Barbarenführer war nicht weit.
Doch Hadan tat nichts dergleichen. Ohne einen der Männer, die nun nach und nach zu reden und zu beten aufhörten, anzusehen, schritt der Nekromant an ihnen vorbei und in die Ebene hinaus.
Für eine Weile war Menrad zu entgeistert, um sich regen zu können.
„Wohin geht er?“, äußerte der Paladin neben ihm stirnrunzelnd, dann, mit ernsterem, vorsichtig tastendem Tonfall: „Er muss den Verstand verloren haben. Die Wüstengeschöpfe und die Hügelwachen sagten doch, dies sei die wahrscheinliche Stunde des Angriffs.“
Auch andere Männer murmelten beunruhigt oder raunten sich zu, was sie sahen. Menrad konnte es ihnen trotz des Rasens der Gedanken in seinem Kopf nachfühlen.
Zu unbeirrt, um einem Fliehenden zu ähneln, aber vielleicht mit der Ruhe der Wahnsinnigen, die der Krieg und das Elend gelegentlich hervorbrachten, strebte die einsame, hohe Gestalt auf das schwarze Feld hinaus. Für jeden Anwesenden gab es nur eine Erklärung: Dem Mann, der sich entfernte, musste das Schicksal die Sinne verwirrt haben. Er war zu Fuß unterwegs und trug bis auf ein Kurzschwert keine größere Waffe bei sich.
Die einzige Erklärung. Gewiss – für alle, die ihn nicht kennen.
„Man muss ihn aufhalten“, meldete sich ein anderer Paladin im Befehlston zu Wort. Er war einer der Unterkommandanten von Adrian Evren, dem Anführer der Schar. „Los, geht ihm nach.“
„Halt!“, hörte Menrad sich rufen.
Die Paladine wandten sich ihm erstaunt zu, wenigstens fünfzig Gesichter – alle, die in näherer Umgebung standen.
„Halt“, wiederholte er leiser.
So viel ihn auch nach wie vor von dem Mann trennte, der dort hinten geradewegs in die verpestete Ebene hinausging, eines wusste er trotz allen wiederaufflackernden Misstrauens sicher: Hadan war Herr seiner Sinne und seines Verstandes.
Er verfolgt den Plan, den er seit Wochen vor uns geheimgehalten hat. Vielleicht habe ich gefehlt, weil ich ihn nicht zur Rede stellte. Eine schmale Gasse drängte sich in Menrads Erinnerung, feuchtkühler Stein, eine kauernde Gestalt und in und über allem, beängstigend und unverwandt, ein Wabern und Weben wesenloser Schwärze.
Er tut, was er die ganze Zeit über tun wollte. Gut, so soll er es tun. Er wird untergehen, wenn nicht ein Wunder geschieht, und seine Tat – oder sein Verrat – mit ihm.
„Lasst ihn gehen“, sagte er den Männern.
Sie runzelten die Brauen, doch dann, gewiss weil ihnen seine Verbindung zu den Gefährten ersichtlich war, nahmen sie seine Anweisung hin.
Menrad spähte der sich entfernenden Gestalt hinterher, bis sie in Asche und verbliebenem Halbdunkel verschwunden war. Lebwohl, Nekromant. Der Himmel sei deiner Seele gnädig.
Er schloss die Augen. Die Aura des Gebets von den benachbarten Paladinen, schwächer geworden durch die Unterbrechung, glomm erneut auf. Und diesmal gesellte er ihr die seine hinzu. Es ging ihm überraschend leicht von der Hand, und überraschend sicher wusste er, für was er beten würde.
Nicht für den Beistand einer höheren Macht - sie wohnte jedem Menschen auf Sanktuario bereits seit der Geburt inne, bedurfte nur noch der Entscheidung für oder gegen das Leben, für oder gegen den Schutz allen Lebens, das Schutz verdiente.
Auch nicht für einen Zuwachs seiner Kraft – er hatte sich längst als Kämpfer bewährt, und vor dem nahenden Gegner zählten die Quäntchen zusätzlicher Energie nicht mehr.
Stattdessen waren es Namen, die er im Mund führte. Er hatte keine Familie. Seine Eltern waren gestorben, lange vor seiner Vollweihe und ohne ihm Geschwister an die Seite zu stellen. Eine greise Tante gab es noch, tief im Hügelland westlich der alten Königsstadt, und er vergaß sie nicht in seinem Gebet.
Aber es waren seine sonderbaren Gefährten, für die er vor allem betete: Die scheue, tapfere Eya, einzig freie Assassine, die ihm je begegnet war; Ifrah, Tochter dieses Landes und Abgesandte all dessen, gegen das er einst kämpfen zu müssen geglaubt hatte – Ifrah mit ihrem Kind, das an irgendeinem Ort im Süden wartete und vielleicht nie eine Jugend erleben würde, wie sie ihm selbst vergönnt gewesen war; Marej, die Hinterbliebene, gestrandet am Ufer des Krieges. Und schließlich, ohne eine wirkliche Überwindung, betete er auch für den Nekromanten, über dessen Gesinnung und Charakter nichts endgültig Vertrauenerweckendes bekannt war, der ihm, Menrad, aber ein paar Mal geholfen hatte, als er verwundet gewesen war – verwundet an Leib und Seele gleichermaßen.
Hin fährst du zum Ursprung des Lichts, Sohn des Lichtes,
Ledig der Erdenschwere, gesegnet sei deine Fahrt...
Erst als er geendet hatte, aufschreckend wie alle Menschen vor und in Lut Gholein, weil von irgendwo aus der Ebene endlich die schreckliche Erlösung des Alarmrufs kam, wurde sich Menrad bewusst, dass er Hadan dieselben Worte gewidmet hatte wie einst Cedric.
Geschrei stob auf. Unter den Mauern packten die Männer ihre Waffen.
Der Feind war gesichtet worden.
Der Aschedämmer spuckte Säbelkatzen aus, Dutzende um Dutzende.
Doch selbst mit ihnen belief sich die Zahl der Verteidiger Lut Gholeins nur noch auf vielleicht achthundert.
Das Tor hatte sich hinter ihm geschlossen. Bis zur offenen Ebene waren es nur ein paar Schritte.
Hadan beachtete die Blicke der Männer vor den Mauern nicht. Zu dunkel stand die junge Frau, die er hinter sich auf der luftigen Höhe des Walls wusste, in seinem Geist.
Er sperrte ihren Namen aus, beide Namen, den wirklichen und das Kosewort. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr, und er begann der nötigen Überwindung wegen besser sofort damit, die Namen und Gesichter seiner Vertrauten von sich wegzutreiben, an den Rand seines Bewusstseins zu verbannen. Dem bösen Nagen der Angst, es könne für immer sein, schenkte er ebenfalls keine Beachtung, doch es kostete Mühe.
Reiß dich zusammen. Beinahe wünschte er sich aus dem Nebel der Totenwelt, in dem dieser hoffentlich auf ewig umherzuirren hatte, die finstere, feiste Gestalt des Nâkyshat von Linqqva herbei, die groben Befehle zur Trennung des eigenen Daseins von Gefühl und Fleisch. Der Verschlag, in dem er als Kind gehaust hatte, sein langjähriger Begleiter, war zersprengt, aber nun musste er ihn wieder neu in sich errichten.
Der Wind strich ihm das Haar aus dem Gesicht.
In diese Richtung brachen seit Jahrhunderten die Karawanen auf. Nun war die Ebene, über die sie ihre Kamele stets geführt hatten, schwarz. Dennoch würde er es machen wie sie: Sich jenseits der Hügel schwach südlich halten, in ein Gebiet großer Felsen und Bodenwellen hinein.
Er schaute nach unten. Ein Höllenfeld. Zerfallen, zerbrochen im Augenblick ihres Dahinscheidens, beherrschten die Dämonen die Ebene noch immer. Die dicke, klebrige Asche hatte nicht ausgereicht, um die Formen, die überall hervorsahen, zuzudecken. Hörner sprangen aus seitlich hingesunkenen Schädeln und hielten gelegentlich den Saum seines Mantels fest, beinahe als stecke unverändert ein Wille in ihnen. Leiber lagen herum, ekelerregend in ihrer schieren Größe. Selbst nach ihrer Versteinerung traten ihre Muskeln und festen, kraftvollen Gliedmaßen noch deutlich zutage.
Was für eine Rasse seid ihr? Er hatte sich dem Dämonentor weit genug genähert für eine Ahnung brennender Gebirge und Abgründe, in denen kleineres Leben schon fast ausgerottet war.
Ihr musstet herüberkommen. Ist es nicht so? Ihr habt eure eigene Welt schon fast vernichtet, oder eure Oberen haben sie in die nahende Vernichtung getrieben.
Sanktuario war eine Zuflucht der günstigen Fügung. Oder weniger noch – ein Durchgang.
Hadan spuckte aus. Aber immer noch besteht ihr aus Fleisch und Blut, ganz gleich wie zäh und wie schwarz. Erinnerungen an Leichenexplosionen des vorigen Tages reihten sich aneinander, eine Machtdemonstration, vielleicht ohnegleichen unter seiner Klasse, aber ohne Sinn und Zweck, nur mit einem schalen Triumph versehen, weil sich die Feinde überhaupt verwundbar gezeigt hatten.
Nein, nicht Triumph. Zu viele Menschen waren bereits gefallen, niedergewalzt, zerhackt, verkohlt in fremdem Feuer. Er konnte nur wahllos in die Bilder greifen und sie zusammenpressen zu einem einzigen, ungeheuren Klumpen der Wut.
Er würde diese Wut noch brauchen.
Hinter ihm blieb die Stadt allmählich zurück. Der Himmel kämpfte bereits mit den starrsinnigen Vorboten des Frühlichts. Eiliger ausschreitend, bemerkte der Nekromant aus dem Augenwinkel eine Bewegung im grauen Dunst des Feldes.
Huschend, dann verharrend, war er da, ein Abkömmling uralter Zeiten, ein elegantes Knochengerüst in gelblichem Fell und ein Tappen hoher Hinterläufe. Ein winziger Stein rieselte unter seinem Schritt. An seiner Seite ragte ein Speer auf.
Aber Harebnash kam nicht näher. Seine plötzliche, vielleicht wissende Scheu war fühlbar.
Mit etwas Glück treffen wir uns wieder. Ich weiß, dass du uns, sollten die Dinge wider Erwarten hier nicht enden, noch etwas zu sagen hast. Und wenn es dazu kommt, dann, schwöre ich dir, werde ich mir alle Zeit der Welt für jedes deiner tastende Worte nehmen.
Die Hügel waren erreicht.
Hier konnte er sich gefahrlos umdrehen.
Lut Gholein lag einsam vor dem Meer. Die Mauer war zu einer winzigen weißen Linie geschrumpft, die Gestalten darauf, und auch du, Geliebte, unkenntlich geworden.
Hadan hob, als er Eisen schmeckte, die Rechte zum Mund. Blut. Er hatte sich, ohne es zu merken, auf die Zunge gebissen. Seine Kiefer, seit jeher Sitz seiner Anspannung, waren so verkrampft, dass er den Kopf schüttelte, um sie zu lockern.
Ruhig.
Ein Lachen.
Hastig lauschte er hin. Aber es war nicht das Lachen, auf das er wartete, und auch noch nicht der Laut des Irrsinns. Es war ein Lachen aus der Erinnerung.
Ein alter Mann, abgemagert bis auf die Knochen, aber rüstig, mit tiefliegenden schwarzen Augen, sah aus der Vergangenheit herüber. Er winkte ihm, bedeutete ihm, weiterzugehen.
Hadan erklomm die Hügel. Sie waren endlich verlassen. Alles Menschliche hatte sich zur Stadt geflüchtet. Nun, es brauchte auch keine Wachen mehr.
Der dünne, dunkle Schleier im Glast jenseits der Hügel warf seine Drohung voraus. Behutsam sandte der Nekromant ihm seine innere Sicht entgegen.
Ja, diesmal kamen sie mit doppelter Stärke. Eine weitere Niederlage gegen die Verteidiger des so gut wie schutzlos geglaubten Landes würden ihre Heerführer ihnen nicht durchgehen lassen.
Er beachtete die schwarze Linie nicht länger. Eben noch rechtzeitig hatte er die Stadt verlassen. Nun galt es, einen halbwegs geschützten Ort zu finden, und er begann, sich leicht südwärts zu halten. Jedes Heer hatte eine Flanke.
Schweigend starrten ihm die Felsen dieses Gebiets entgegen, kauernd auf ockerfarbenem Sand, oft in großen Ansammlungen zusammengedrückt.
Ifrah hatte Recht. Er musste es ihr zugestehen, so wenig er sich mit der Helle und staubtrockenen Weite dieses Landes auch anfreunden konnte: Die Wüste war schön.
In den Felsschatten lag ein heimlicher Ton von Rot, und der gelbe Boden schien wie geschaffen dafür, dem endlosen Himmel eine untere Zierborte zu sein.
Einen letzten Blick auf diese eigentümliche Schönheit gestattete er sich. Dann, sich scharf umschauend, betrat er den Irrgarten aus Sand und Felsen.
Der Ort durfte nicht zu weit vom Weg des Dämonenheers entfernt liegen, doch er musste ein Versteck sein. Wenigstens für drei Viertel der Zeit, die er benötigen würde.
Als Hadan einen geeigneten Platz gefunden hatte, war es nur ein Fleck fast glatten, festen Sandes zu Füßen einer großen Felsmasse.
Der Nekromant löste die Bänder der Rüstung und kniete sich hin.