Nun habt ihr lange genug gewartet
Durch die Ostertage etwas verzögert, hier das nächste Kapitel. Vielleicht entschädigt es euch ja ein wenig fürs Warten?
Reeba
Kapitel XI. Shatryindja
Seitdem es hell genug war, standen die Frauen auf den Feldern.
Die Röcke bis zu den Knien hochgebunden, die Beine tief im Wasser und die Füße in schlammigem Grund, beugten sie sich unermüdlich zu seiner Oberfläche. Eine der Frauen sang.
Auf einer höheren Terrasse hoben die Männer ein verwaschenes Becken neu aus. Hin und wieder warf man sich Scherzworte zu, lachte in halber Müdigkeit. Am Rand der Felder ruhten Beutel mit Tee und Reiskuchen.
Da sie sich aufrichtete und ein paar Setzbewegungen ausfallen ließ, um ihrem schmerzenden Rücken eine Pause zu gönnen, wurde eine Alte als Erste auf die zwei Fremden aufmerksam.
Sie kamen über einen der schmalen Dämme, die gleichzeitig als Wege dienten.
Die Frauen arbeiteten weiter, blinzelten dabei aber oft nach den Näherkommenden. Nur die Alte blieb aufgerichtet stehen und legte die Hände aneinander.
Schließlich kamen sie direkt an den Reisbäuerinnen vorbei.
Einzig die verinnerlichte Anschauung, dass ungeniertes Anstarren Unbekannter eine der schlimmsten Unhöflichkeiten sei, hielt die Frauen davon ab, die ungewöhnlichen Erscheinungen mit Blicken zu belästigen. Verstohlen lugte aber Jede nach den Vorbeikommenden.
Vorneweg ging ein großer Mann, Haut und Haar von vollkommenem Weiß, und als er sich der Alten zuwandte und ihren Gruß erwiderte, sah sie, dass auch seine Augen ohne Farbe waren. Hart hob sich das befremdende Antlitz von der schwarzen Kleidung ab. Die Bäuerin wusste sich einem Nâkyshat gegenüber. Kein Zeichen war nötig. Sie las es aus der Gänze seiner Erscheinung.
Dicht hinter dem Mann kam eine junge Frau. Alles an ihr – vom kurzen Haar bis zur Blässe ihres Gesichts, in dem unvermutet Augen wie Obsidian standen – erschien eigentümlich. Sie trug Männerkleidung und mochte von mittlerem Wuchs sein, wirkte neben ihrem Begleiter aber eher zierlich. Stärke und Scheu umgaben sie gleichermaßen. Ihr Schritt hatte sich im Bannkreis der Begegnung verlangsamt, doch nun beeilte sie sich, den vorangehenden Nâkyshat wieder einzuholen.
Nach ein paar schnellen Setzbewegungen blickte die Alte dem seltsamen Paar hinterher, das sich den Pfaden näherte, die durch die treppenartig angelegten Terrassen die Hügel hinaufführten. Unter leichtem Kopfwiegen rätselte sie, in welchem Verhältnis die Fremden zueinander stehen mochten. Unsichtbar hatte ein starkes Band zwischen ihnen geschwungen, das nicht Verwandtschaft war, nicht Besitz, und am wenigsten Freundschaft. Etwas zwischen Mann und Frau hing ihnen an, aber die alte Bäuerin war sich sicher, keine Eheleute gesehen zu haben.
Erfolglos ließ sie von ihrem Rätseln ab und nahm den Rhythmus der Arbeit wieder auf.
Noch aus dem Verborgenen färbte die junge Morgensonne den Himmel heller.
Eya und Hadan erreichten den Rand des Tals und beschritten einen gemächlich ansteigenden Weg hinauf in die umliegenden Hügel. Die Breite des Pfades ließ zu, dass sie wieder nebeneinander gingen. Jedoch sprachen sie kaum, und da sie gleich ihrem Gefährten eigenen Gedanken nachhing, fiel die Assassine wieder ein, zwei Schritte zurück.
Die morgendliche Müdigkeit mochte an ihrer beider Schweigsamkeit schuld sein, doch Eya wusste tief im Innern, dass sie seit den letzten Tagen auf Camdra nicht mehr müde gewesen war. Schlaf erschien ihr zur Zeit als etwas völlig Überflüssiges. Die seelische Erregung hielt sie wach, und verzagt gewahrte sie, dass sie weiter zunahm, anstatt nachzulassen.
Unsicher bedachte sie Hadan mit einem Blick.
Jetzt, wo es erlaubter schien, konnte sie die Augen kaum je von ihm lassen. Auch er beobachtete sie, ahnte Eya. Ein Geflecht aus Augenblicken verstohlenen Ansehens spann sich dichter, nun, da niemand anderer zugegen war.
Dennoch war sie ratlos wie zuvor.
Ihr Aufbruch aus Lhabarna lag fünf Tage zurück. Fünf Tage, die ihr schienen wie ein einziger langer Tag, über den hin und wieder nachlässig Dunkelheit gestrichen wurde, und die dennoch die Momente der Annäherung in immer weitere Ferne rücken ließen.
Was seitdem in Hadan vorging, vermochte sie nicht zu erraten.
Sie hatten das Vorgefallene nicht erwähnt und einander nicht wieder berührt. Ein zufälliges Streifen, ein Aufeinandertreffen der Hände bei der Übergabe eines Bechers – das war alles.
Nächtens ruheloses Wachliegen, im Griff der Dunkelheit, einmal in der Hütte freundlicher Feldarbeiter. Der Atem, die Bewegungen des Anderen immer in der Nähe, auf sie hinhorchend, hinstarrend im Schutz der Dunkelheit. Sie unterhielten sich behutsam, wie zu Zeiten der Wanderung nach Harrogath. Eya aber sah hinter dem Nekromanten, der mit ihr über die Gegenden sprach, durch die sie kamen, den Mann, der vor ihr gleichsam die Hände ausgebreitet und gesagt hatte,
das bin ich.
Um ihr eigenes Inneres wusste sie.
Und fand sich in einem Traum wieder, den zu träumen sie nie gewagt hatte und der doch nur ein Anfang sein konnte, nicht mehr. Um ein Aufbäumen des Willens aber schloss sich so fest die Umklammerung einzelgängerischer Furcht, lebenslanger Zurücknahme, dass sie bisweilen glaubte, es müsse sie von innen her zerreißen.
„Sieh“, schreckte eine Stimme sie auf.
Rasch gab sie ihrem Gesicht einen unbekümmerteren Ausdruck.
Sie waren auf dem Kamm des Hügels angelangt. Von hier aus konnte man weit über das Land sehen. Nah hoben sich die niedrigen Berge der Kette empor, die das Becken begrenzte, fahl braun und bläulich in der morgendlichen Luft.
„In zwei Tagen sollten wir jenseits der Kette sein“, sagte der Nekromant und richtete seine farblosen Augen auf sie.
„Und dann der Urwald“, entgegnete sie. Obwohl es erst kurz nach Sonnenaufgang war, erwärmte die Luft sich rasch.
„Und dann der Urwald“, bestätigte Hadan, und ein eigenartiger Schimmer, etwas wie Freude, ging kurz über sein schmales Gesicht. Da er sie immer noch ansah, und da ihr das eben erst Überdachte wieder in den Sinn kam, senkte sie den Blick und fingerte nach ihrer Wasserflasche.
Sie tranken sich satt. Ferner stieg dünner Rauch auf. Bei einem Gehöft würden sie ihren Proviant aufstocken und die erste Mahlzeit des Tages einnehmen.
Eya machte als Erste einen Schritt talwärts, doch genau in diesem Moment knurrte ihr Magen laut und vernehmlich. Betreten ging sie weiter, die Augen auf die ringsum abfallenden Hänge gerichtet.
Das Lächeln des ihr folgenden Mannes sah sie nicht.
Am übernächsten Tag erreichten sie den Rand des Urwalds. Die Bergkette, die Schultern des östlichen Kontinents, lagen hinter ihnen. Sie betraten seinen riesigen Leib und verschwanden im endlosen Grün, das ihn bedeckte.
In der ersten Nacht bereits streifte sie eine der Schwingen der Änderungen, die sie seit einiger Zeit erspürten.
Wach auf.
Eya tauchte aus kurzem Schlaf.
Die Nacht war noch jung, erkannte sie an den Scheiten des Feuers, das sie entzündet hatten, nah am Ufer eines kleinen Flusses. Sie setzte sich auf.
Hadan kniete ihr gegenüber, Feuerschein auf dem zur Seite gewendeten Gesicht. Augenblicklich begriff sie, dass er horchte. Kurz sah er zu ihr, wohl wissend, dass sie keinen Wink benötigte. Ohne das geringste Geräusch zu verursachen, kam sie auf die Knie.
Stille. Mondlicht ergoss sich über den nächtlichen Wald. Bevor ihre Augen die seltsame Schönheit der Nacht ganz erfassen konnten, meldete sich ein anderer Sinn. Automatisch sog sie die Luft ein. Dann schnurrte ihr Körper zusammen, und sie hob eine Hand vor Nase und Mund.
„Das Feuer aus!“ flüsterte der Nekromant.
Sie traten es behutsam auseinander und löschten die schwelende Asche mit Wasser.
Hadan erhob sich langsam, und sie ließ ihre Bewegung folgen. Seine Anspannung übertrug sich so deutlich auf sie, dass es sie erschauern machte. Die Tatsache einer enger werdenden Verbundenheit zwischen ihnen berührte sie nicht zum ersten Mal.
Nochmaliges Horchen trug ihnen die Nachtgeräusche des Waldes zu. Dann aber, unverkennbar, fernes Klingen.
Menschen waren in der Nähe.
Musik.
Menschen zu dieser Stunde im Wald. Die Assassine forschte in Hadans Gesicht nach einem Hinweis. Im Mondlicht entging ihr die altvertraute Bewegung seiner Kiefermuskulatur nicht. Da es sich indes nur um Einheimische handeln konnte, begriff sie nicht ganz, was den Nekromanten so beunruhigte. Aber er stammte aus dieser Welt. Nicht sie.
In diesem Augenblick trug die warme Luft eine derart verstärkte Note des zuvor schon Gerochenen heran, dass Eya unwillkürlich ein Laut des Entsetzens entfuhr. An einem Klumpen würgend, der ihr in Hals und Mund einbrach, bemerkte sie aus dem Augenwinkel, dass auch Hadan das Gesicht verzog.
Menschliches Fleisch.
Verbranntes Fleisch.
Hadan machte einen Schritt in die Richtung, aus der dem Dunkel schwacher Feuerschein entkam. Dann sah er sich nach ihr um.
Seine Stimme klang gepresst, da er flach atmete. „Das ist etwas, von dem ich gehofft hatte, es nie wieder mit ansehen zu müssen“, raunte er. „Aber ich muss mich vergewissern.“
Sie nickte stumm, anzeigend, dass sie ihn begleiten wolle.
Er zögerte. „Niemand darf uns bemerken“, fügte er warnend hinzu. Dann tauchte er in die Finsternis unter den Bäumen, und sacht folgte sie.
Schon nach wenigen Schritten glomm der Widerschein sich bewegender Feuer, wahrscheinlich Fackeln, zu hell zwischen den Stämmen, als dass sie gefahrlos weitergehen konnten. Der Gestank verkohlten Fleisches und schwelender Haare wurde eine Qual und ließ Eya taumeln. Durch einen Nebel gewahrte sie, dass Hadan sie nach unten zog.
Alles von da an bis zu ihrer lautlosen Flucht weg von dem Versteck hinter den Büschen war sprachloses Entsetzen, ein Entsetzen ohne Ausbruch, ohne die Möglichkeit, ihm kämpfend zu begegnen.
Eya brannten sich die verschwommenen Bilder ein.
Der Wald wie ein Durcheinander niedriger Säulenhallen, unklar darin Menschen, die sich bewegten, ein Zug von Gestalten. Klang, der sich auseinander schälte in monotone Stimmen, in kehliges Stöhnen, Klagelaute unter einem Baldachin aus Gesängen. Und gepresstes Atmen, der nahe Körper neben ihr im Schwarz und im gelben Flackern durch Blätter hindurch, und überall, überall Gestank, der sich in die Poren drängte. Hadan, der angestrengt starrte, dann die Augen schloss, als brauche er nichts mehr zu sehen. Irgendwann, aus dem nahen Treiben fallend, ein Schrei, so entsetzlich, dass es sie schüttelte. Zucken und der Wille, auf und nach vorn zu springen, der sich gegen das lähmende Wissen bäumte, dass nichts, nichts getan werden konnte, hier, wie sie waren, nur zu Zweien. Tränen von irgendwoher, und Hadan mit geschlossenen Augen, der sich fast unmerklich krümmte, entrückt, und dann sein fremdes Murmeln,
Maathvaa.
Maathvaa.
Irgendwann wurde ihr bewusst, dass sie weinte.
Fußscharren. Fackeln, näher jetzt. Eine Hand berührte sie behutsam.
Sie flohen.
Leise, unbemerkt wie sie gekommen waren, verschwanden sie wieder im Wald. Warfen sich in die mondbeschienene Welt, als sei sie eine Decke, die sie schaudernd um sich zusammenziehen könnten. Lange sprachen sie nicht, und erst, als sie sich in Sicherheit wussten, gingen sie langsamer.
Sie fühlte, Hadan sah sie an. Es war hell genug, um die Intensität seines Blicks wahrzunehmen, und sie wich ihm nicht aus.
„Ich habe uns in Gefahr gebracht“, sagte er leise. „Das tut mir leid.“
Eya ahnte indes, dass es ihm bei einer Entschuldigung darum allein nicht ging. Es war etwas wie Scham, nicht nur ernstes Bedauern, in seiner Stimme. Das Entsetzen hing schwer an ihr, aber trotz aller Taubheit fühlte sie Leben.
Dann nickte sie, und ihre Augen sagten gleichzeitig,
ich verstehe dich. Übergangslos begann sie leise zu zittern.
Schweigend schlugen sie ein zweites Nachtlager auf, Meilen von ihrem ersten entfernt und jeder für sich tief in Gedanken.
Im Dunkeln auf die Spur gesetzt, hatte er das Meer hinter sich gelassen und die Küste.
Das Land war fremd. Gleichviel. Ungeschützt lag es, leicht ließ sich ein Weg finden durch die unbedachten Arme, die es Jedem weit offen entgegenstreckte. Ohne dass er es hindern konnte, widerte es ihn an, und als er sich ertappte, wie er davon träumte, Messer in dieses ewige, milde Leuchten ihres Lächelns zu stoßen, sah er sich gezwungen und fügte den planlosen Mustern auf seiner Brust weitere Striche hinzu.
Es war ihnen nicht gestattet. Gefühl verdarb die Reinheit.
Der Schmerz machte ihn ruhiger.
Kurz darauf fand sich die Spur, und danach ließ er sich zu gleichmäßiger Herablassung hinreißen, die er als Belohnung ansah. Belohnung für seine Beharrlichkeit und Schnelle.
Die Spur war deutlicher, riss selten ab. Das Opfer wurde müder, verwundbarer. Wohin sein Weg führte, verriet sie jedoch nicht klar.
Als er in Lhabarna auf die leerstehende Höhle stieß und begriff, dass er doch nicht schnell genug gewesen war, wütete er maßlos. Aber nur kurz. Das fremde Heim und alles im Umkreis sprach zu ihm von dem Begleiter, der zweiten Gefahr. Und er beruhigte sich.
Yana – nur ein Mensch. Ein gewöhnlicher Mensch, langsam, unbeholfen und taub.
Beide Spuren wiesen nun, nebeneinander herlaufend, nach Süden. Der riesige Kontinent atmete den Verfolger an, und er stürzte sich hinein. Fern, tief unten in ihm, regte es sich jetzt deutlicher. Das Opfer war ein Relikt. Ein Überbleibsel aus einer weniger einigen Zeit des großen Ordens. Sein Überleben bis hierher besudelte die neue Geschlossenheit, und er knirschte den Waldteppichen entgegen,
Verrat. Stundenlang murmelte er das Wort vor sich hin, schmeckte es, kaute darauf. Seine einzige Nahrung.
Ungeduld ließ ihn nächtens zittern. Sein Vorrat an Shiladdigh schrumpfte, aber er achtete nicht darauf. Achtete nicht mehr auf Nacht oder Tag.
Er holte auf. Fand Reste von Feuerstellen und strich mit der Hand über Gras, in dem sich in den wieder aufgerichteten Halmen noch Spuren abzeichneten.
Sie.
Shiladdigh, gegen den Schlaf, gegen den Hunger. Es machte die Augen groß, aber das Herz schlug ein wenig zu schnell hinter den vielfach erweiterten Sinnen.
Verrat. Es würde eine Lust sein, sie zu töten.
Über eine Reihe von felsigen Treppen fiel der schmale Strom in ruhigem Sturz tiefer in die Ebene. Sie überquerten ihn mühelos dort, wo Felsen wie Trittsteine lagen.
Hier, mitten im Katarakt, blieb Eya stehen.
Hadan hielt inne und wandte sich ahnungsvoll zu ihr um.
Die zierliche Gestalt in Anspannung erstarrt, stand sie hinter ihm, einen guten Kopf kleiner als er, und lauschte mit ganzem Wesen nach hinten, zurück auf den Pfad, den sie gekommen waren. Er hätte ihr sagen mögen, wie schön sie war vor dem fallenden Wasser.
Ihre dunklen Augen waren nach innen gerichtet, weil sie horchte. Dann suchten sie seine.
„Wir werden verfolgt“, sagte sie leise. „Ich spüre ganz deutlich, dass jemand nicht weit hinter uns ist, der nicht gesehen werden will, und zwar seit zwei Tagen schon. Er holt auf.“
In diesem Augenblick schloss sich ihre Herkunft, die ausweglose Bildung ihrer Klasse, vollständig um sie. Aus der Vergangenheit reichte ihr altes Leben herüber. In der Blässe, die unter ihrer mittlerweile sanft gebräunten Haut hervorsah, kehrte es zurück und war da.
„Ich weiß“, erwiderte er einfach.
Beredt hatte ihre Unruhe ihm davon gekündet. Er brauchte sie dafür nicht einmal mehr anzusehen.
Von deinen Regungen trennt mich nur noch eine dünne Haut.
„Wir werden uns ihm stellen müssen“, fuhr der Nekromant fort.
Sie nickte, wortlos jetzt, weil wieder ein Gefühl von Schuld sie drückte. Hadan dachte undeutlich, wie dieses Verhalten ihre Person trefflich wiederspiegelte. Überall fürchtete sie, die sie an Verpflichtungen unter Menschen kaum gewohnt war, dass sie Andere belaste, dass man sich wie selbstverständlich weigern würde, sich mit ihrer Gesellschaft auch Verantwortung einzuhandeln. Sie besaß keinerlei Bewusstsein ihres eigenen Wertes.
Erst mit dem Austausch darüber, wie sie dem Verfolger begegnen sollten, fiel die Starre von ihr ab.
Sie sahen sich um. Es dämmerte bereits, und nach Eyas Schätzung befand sich die Bedrohung so dicht hinter ihnen, dass der Einbruch der Dunkelheit eine Entscheidung bringen musste. Es sei denn, der Feind verbarg sich. Wachsamer ließen sie die Augen über den Wald gehen.
Unter türkisem Himmel folgten sie dem Fluss, der eine fast gerade Schneise in das Grün schlug, aus dem Abendstimmen die heranziehende Nacht begrüßten. „Wenn wir keinen Platz finden, bis es dunkel ist, der uns Rückendeckung gibt, bleiben wir besser am Ufer“, raunte Eya dem Nekromanten zu, der wachsam neben ihr schritt.
Als Antwort wies er nach vorn.
Der Strom folgte dort einer Biegung, und linker Hand, auf ihrer Seite, tauchte Stein aus der waldigen Borte immer schattenhafteren Grüns. Dicht am Ufer stand ein verlassenes Gebäude, halb verfallen. Ein Tempel. Die Assassine sah beim Näherkommen, dass ihn ein immer noch schöner, baumbestandener Platz vom Ufer trennte. Der Urwald hatte sich weit in das Gebäude hineingefressen: große Bäume überdachten es, und Pflanzen rankten sich moosig oder mit blütenübersäten Lianen durch den aufgebrochenen Stein.
„Was ist das für ein Tempel?“ fragte sie, und ihr Schritt stockte leicht.
Hadan ahnte, dass sie an das Schreckliche dachte, das ihnen vor Tagen begegnet war. Der Wunsch, ihr diesen Teil der Welt näher zu bringen, streifte ihn zum wiederholten Male, und ungeachtet der Gefahr wurden das Land und das Leben so weit um ihn herum, dass der Schlackenpanzer schmerzhaft auseinander klaffte.
„Der Tempel ist Nari geweiht, der Göttin der Flüsse“, sagte er, als sie im schwindenden Licht an ihn herantraten. „Es ist eine freundliche Gottheit, und eine des Lebens. Sie wird über uns wachen.“
Eya sah ihn rasch von der Seite her an. Nie war ihr in den Sinn gekommen, dass er an die Götter der Welt, aus der er stammte, wahrhaft glauben könne.
Schweigend betraten sie den Tempel über ein paar Stufen und durch einen überwucherten Türsturz. Die Nacht fiel rasch über den Wald. Zu ihrem Glück stand ein heller Mond am Horizont, als wolle er sie im Dunkel nicht allein lassen.
Rasch, eiliger jetzt, suchten sie Winkel, in denen sie den Verfolger erwarten konnten.
Hadan verschwand im Schatten seitlich des Eingangs. Jeder, der auf diesem Wege in den Tempel wollte, musste an ihm vorbei, und sein Standort bot einen guten Überblick über den Innenhof. Durch das offene Dach fiel Mondlicht schräg herein, silbern auf durcheinandergeworfene Säulen, Steine und freie Plätze dazwischen. Hoch ragten die Mauern auf.
Er drückte sich an die Wand.
Du hattest noch nie zuvor Assassinen zu Gegnern. Und dein letzter Kampf ist lange her. Doch noch während er Eya mit Blicken verfolgte, wie sie davonschlich –
fort von dir, vielleicht ein letztes Mal – regte sich tief in seinen Eingeweiden die Macht mit einer ersten, hitzigen Bewegung, wie ein riesiges Tier im Dunkeln. Einatmend sammelte er sich, dann lauschend.
Eya fand unterdessen eine schräge, abgebrochene Säule von doppelter Mannsdicke. Ihr Schatten nahm sie auf.
Allerdings war ihr ein guter Standort wichtiger, als verborgen zu bleiben. Sie wollte sich nicht verkriechen.
Zeit verstrich, ein Stundenglas voll vielleicht.
Blüten schlossen sich im Mondlicht. Andere, fahlere, gingen auf.
Rings um den alten Tempel zirpte der Wald. Die Augen fanden Skulpturen, endlose Gestaltenreigen, und unter diesen immer wiederkehrend Nari, die Schöne, aus deren Händen und Füssen die Flüsse strömten.
Sie standen still und warteten.
Eben als ihm Zweifel kamen, ob der Verfolger sich in den Tempel begeben würde, wohl wissend, dass sie ihn dort erwarteten, spürte Hadan die feindliche Präsenz. Dicht vor dem Tempel, draußen, und sie nahte rasch. Es war tatsächlich nur ein einzelner Verfolger. Er ertastete den fremden Herzschlag –
- dann war der Andere da, an ihm vorbei, schnell wie ein Gedanke und entschlossener oder tollkühner als erwartet.
Für eine Sekunde wusste der Nekromant, dass er nun erfuhr, was Eyas Opfer zuletzt erlebten: den Angriff einer Assassine. Nur ein Schatten huschte vorbei, so geschwind, als gehe ihn die Erdenschwere garnichts an. Aus dem Gewicht seiner eigenen Knochen, seines Fleisches, riss Hadan einen Fluch empor, aber das Feindliche machte sich so gering, dass es schwer zu erfassen war.
Ganz wie sie, als sie in die Höhle kam, ging es ihm blitzartig durch den Kopf – dann stieß eine gegnerische Dunkelheit gegen die Aura seiner Macht, und aus ihr kam es mit einem feinen Singen.
Das Wurfmesser traf ihn zwischen Halsbeuge und Schlüsselbein, genau dort, wo der Harnisch endete.
Erstaunlich, dachte er, schon auf Knien und die Hand am Griff der feindlichen Waffe,
in dieser Finsternis. Neben ihm prallte etwas von Steinen ab, begleitet von einem kurzen, hellen Schrei. Er zog die Waffe heraus und knurrte.
Es fiel ihm schwer, auf Knien zu bleiben, und als er das hervorströmende Blut roch, wusste er auch, warum. Das Messer war vergiftet. Er lächelte. Dann schlug ihm die erste Welle den plötzlich eiskalten Gegenstand aus der Hand und warf ihn zu Boden.
Übelkeit. Schwärze. Irgendetwas in ihm hieb brüllend nach dem Gift. Der Rest aber kapselte sich ab, und eiliger, gehetzt vor Sorge um die schmale Gestalt, die er in seiner Nähe wusste, arbeitete er sich auf die Füße. Das Gift verächtlich in die Tiefen seines Leibs hinabwürgend, stand er schließlich und starrte fieberhaft in den Hof. Wie viel Zeit war vergangen?
Sein Herz schlug schnell, als sei er gelaufen.
Eya.
Unvermutet rasch sah er sie. Und ihren Gegner.
Sie war aus dem Schatten herausgetreten und wartete in sacht geduckter Haltung. Ein Fuß war leicht nach vorn gestellt.
Sie wartete auf ihren Tanz.
Aber selbst über die Entfernung hinweg erahnte der Nekromant im Funkeln ihrer Augen die Verwunderung über die Begegnung mit ihrer Vergangenheit - und die tödliche Angst.
Aus seiner eigenen Richtung näherte sich ihr ein Schatten, den der hellere Hof zu einer schwarzgekleideten Gestalt entzauberte, und Hadan begriff, dass es nur Sekunden für das Niederkämpfen des Giftes gebraucht hatte.
Der Verfolger war eine Assassine. Einem ersten Fluch mochte er entgangen sein, aber dem zweiten gesammelten Zustoßen seiner, Hadans, Macht würde er nicht viel entgegenzusetzen haben.
Du ahnst nicht, dass ich auch aus der Distanz töten kann. Ohne Gift. Ohne beschworene Geschöpfe, von deren totaler Abwesenheit du dich überzeugt hast.
Die aufglühende Macht bestrickend und widerwärtig gegen das Gift anbranden fühlend, als mische sich glimmende Kohle mit verpestetem Schaum, trat er aus dem Schatten. Ballte die Fäuste.
Des Angreifers Kopf zuckte für eine Sekunde herum, und nur an einer winzigen Bewegung war zu erkennen, dass ihn das Wiederauftauchen des überwältigt geglaubten Nekromanten verstörte – und dennoch nur eine kleine Überlegung kostete, um seine Taktik zu ändern. Seine Bewegungen waren fast zu flüssig für einen Menschen.
An Eyas Zucken las Hadan ab, dass auch sie ihn gesehen hatte. Seine Aura glomm fahl um ihn her und ließ ihn aus der Finsternis auftauchen wie einen Dämon. Ein zweites Messer würde er sich nicht einfangen, ganz gleich, wie wild das Gift an ihm zerrte.
Bevor du der Frau, die ich liebe, auch nur ein Haar krümmen kannst, zerreiße ich dich in der Luft, richtete er eine stumme Drohung an den Störenfried des stillen Tempels. Er wusste, dass der Assassine ihn wahrnahm. Vor dessen Schnelligkeit auf der Hut, setzte er an.
Eyas Stimme ließ ihn abrupt innehalten.
In ihr flatterte leise aufkommende Panik, aber auch etwas anderes, und sie war fest.
„Halt!“ rief sie. Alle Bewegungen innerhalb des Hofes kamen zum Erliegen. Sie konnte ihn nicht direkt ansehen, dafür war ihr der Gegner schon zu nah, aber ihre Worte waren an ihn gerichtet.
„Nicht. Das ist
mein Kampf.“
Stille. Er fühlte sich zittern, und die zurückgehaltene Macht und Wut und Angst in sich. Sie stand reglos und ganz allein, die Last ihres Gestern schwer auf den Schultern. Da verstand er, und obwohl es ihn unsagbare Beherrschung kostete, zog er sich zurück.
Langsam, Schritt für Schritt, die aufeinandergepressten Kiefer wie ein Schraubstock.
Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass Hadan ihrem Ruf Folge leistete, wenn auch sein Widerwille den ganzen Hof verdüsterte.
Versteh das. Ich will nicht, dass du mir hilfst. Das hier ist meine Angelegenheit.
Dann musste sie zulassen, dass seine hohe Gestalt im Hintergrund verschwamm, sonst war sie in Sekundenbruchteilen tot. Und vage fürchtete sie, auch Hadan könne hernach in größere Gefahr geraten, als er vielleicht ahnte. Selbst für ihn mochte dieser Verfolger schwer zu töten sein.
Denn wer sich ihr nach Wochen gestaltloser Ahnung und Sorge als der offenbarte, den die Viz-Jaq’Taar ihr hinterhergeschickt hatten, machte ihr Angst.
Die Stille des Ortes war vollkommen unwirklich. Und trügerisch. Ein herabsegelndes Blatt, ein Nachtvogelruf, konnten die unmerklich atmenden Standbilder explosionsartig zum Leben erwecken.
Noch aber standen sie und taxierten einander.
Eyas Auge machte sich rasch frei von dem kalten Zittern, das sie kaum unterdrücken konnte, und sie sah ihren Gegner. Sie wusste, vertieftes Betrachten bedeutete Erkennen, und hier gelang es ihr schneller, als sie erwartet hatte.
Ihr Gegner war eine männliche Assassine. Bereits an den Bewegungen des hereinkommenden Schattens hatte sie es erkannt, doch kaum glauben können. Also nahm der Orden nun auch männliche Kinder und formte sie – entgegen alter Lehren, die unmissverständlich die körperliche Überlegenheit der Frauen hervorhoben. Sie waren kleiner, leichter, beweglicher. In einer überwiegend von Männern beherrschten Welt ließen sie sich besser verstecken. Und müheloser brechen.
Banhi.téna – aus dem zerstoßenen Rohmaterial formen wir uns selbst neu. Das Neue ist das Reine. Reinheit ist Kraft und Tod wie Leben. Das Herz der jungen Frau krampfte sich schmerzhaft zusammen.
’Wir’. ‚Uns’. Die Lüge von einer Gemeinschaft.
Ihr Gegenüber war mittelgroß, feingliedrig. Das Haar war kurz, das Gesicht schwebte bleich über der lackierten, schwarzen Lederrüstung. Er war jung und hätte auf fast grotesk spitzbubenhafte Weise gut ausgesehen – aber überall drängte sich so viel Beunruhigendes aus seiner Erscheinung, wie es Eya selten zuvor gesehen hatte. Diesen Ausdruck der glitzernden Augen konnte nicht einmal eine Strapaze erklären, wie sie sie selbst erinnerte. Sie sah ein höhnisches Zucken um von den Zähnen zurückgezogenen Lippen, und in diesem Hohn ein Flackern. Sie sah, dass er gefährlich war, todbringend und eitel.
Beunruhigender aber hing an ihm Wahnsinn wie ein nebliges Banner. Die Mordlust in seinen Augen, die eigenartig lüstern über ihre Gestalt gingen, entsprach seinem Auftrag gewiss kaum mehr.
In diesem Moment bewegte der Assassine sich.
Ein leichter Schritt nach links. Anspannung wie Eisenkrallen, die ihr die Haut am Kopf zurückzogen. Ihre Füße folgten, geräuschlos, und langsam begannen sie einander zu umkreisen.
„Ich habe Viele getötet“, kam es aus dem Grinsen auf der anderen Seite des Kreises. „Dich zu töten, wird indes ein besonderes Vergnügen sein.“
Er
sprach.
Eya fühlte die Klaue in der rechten und die Suwayyah in der linken Hand und musste sich beherrschen, um ihre Überraschung zu verbergen. Wie konnte es sein, dass er einem Kampf, der letztlich nur Sekunden dauern würde, unnötige Worte voranschickte? Was sie hörte, mochte gedacht sein, sie zu provozieren, aber sie ahnte, dass dies nicht der wahre Grund war.
Seine Bewegungen verrieten ihn. Er war nicht nur eitel. Das unnatürliche Glitzern seiner Augen sprach zu ihr davon, und nun roch sie es auch.
Der Assassine stand unter Drogen.
Plötzlich, nahezu ohne sichtbares Vorzeichen, machte er einen Ausfall, und schweigend, nur mit dem Aufeinanderprallen von Klingen, brach der Kampf los. Die erste Attacke war vorüber, ohne dass ein gewöhnlicher Beobachter mehr von ihr hätte wahrnehmen können als ein Huschen und stählernes Singen.
Sie umkreisten einander wieder, ein aberwitziges Paar in tödlichem Tanz.
Der Assassine lächelte und holte sich mit dem nackten Handgelenk der Linken, die eine Sai hielt, Blut von der Schläfe. Eya hatte seine Klinge blocken können, doch vom Streich seiner anderen Waffe, einem Quhab, klaffte ein Riss in ihrem Oberarmschutz. Darunter war die Haut nur geritzt, sie fühlte kein laufendes Blut.
„Du bist noch schnell“, zischte ihr Gegenüber. „Nicht der halbe Krüppel, als den sie dich nach deiner Genesung gern sähen. Schön, das macht es interessanter.“
Vage fragte sie sich, ob er an der Umstellung von Erics Haus beteiligt gewesen war. Sie würde es nie erfahren.
Dass er wieder redete, wagte sie nicht als hoffnungsvolles Zeichen zu nehmen. Wenn die Drogen ihn auch gesprächig machten, konnten sie ihm dennoch gefährliche Fähigkeiten verleihen. Zudem irrte er sich, sie fühlte die Beeinträchtigung ihrer rechten Seite bitter und hinderlich. Aber in ihrer Klauenhand lag auch, unbemerkt während des blitzartigen Schlagabtausches hervorgeholt, ein Wurfstern.
Sie war eine Andere als früher. Sie starrte jetzt auch jenseits der zwei Klingen vor Waffen, und sie würde es nach Kräften zu verhindern suchen, dass diese neue Viz-Jaq’Taar-Brut sie bekam, oder den Mann hinter ihr im Schatten.
Erzitternd ging ihr auf, wie nahe sie dem Tod und dem Leben gleichermaßen war. Und zum ersten Mal verlangte sie gierig das eine von beiden.
Als der Assassine zuckte und sie ansprang, machte sie einen Satz seitwärts, und aus hochgerissener Hand schnellte der Wurfstern. Dass sein Quhab ihr in die Schulter schnitt, nahm sie zähneknirschend in Kauf. Duckend griff sie einen zweiten, während ihr Ohr den fehlgegangenen Stern im Finstern abprallen hörte. Der Gegner war knapp unter seiner Bahn weggetaucht. Aus seinem Zurückspringen und Kauern flog ein Messer.
Es geht dir um Schnelligkeit? – sie schlug es aus der Luft und ließ in einem Meisterstück, das niemand ihr gezeigt hatte, gleichzeitig den anderen Stern aus der Hand.
Dumpf schlug er in den Brustpanzer des Gegners ein. Kein Schrei. Knurrend, wieder in die langsame Kreisbewegung einschwenkend, riss er sich das Eisen aus der Brust. Sie ihrerseits fühlte einen widerwärtigen Schmerz, wo seine Klinge sie getroffen hatte.
Gift. Alle seine Waffen sind vergiftet.
Sie umkreisten sich, rascher jetzt.
Schweres Atmen allein verriet die Mühe der fein abgestimmten Bewegungen. Und da, im gnädigen Mondlicht, sah Eya es. Die Schritte des Viz-Jaq’Taar hingen ein Weniges am Boden fest. Kamen schwerer, als sie ihre eigenen fühlte. Er wechselte die Waffen.
Nacht, Bewegung, Lauern wurden ihr eins.
Dann griff sie an.
Sie wollte nichts weiter hören. Nur mit einem Schlag konnte sie ihn nicht überwinden. Und die Zeit rann ihr durch die Finger. Fliegend, zwischen starrer Todesangst und verzweifelter Behändigkeit, warf sie sich dem Zurückweichenden entgegen und hieb mit beiden Klingen nach seinem Oberkörper und Kopf. Ihre Arme entblößte sie dabei. Das konnte sie nicht vermeiden.
Und ein heller Schrei rang sich aus ihrer Brust, in dem sich die Not nicht verbergen ließ, denn dies – alles – der ringsumher so stille Hof und das Licht und die Schatten – eine Sekunde sie streifenden Lebens – alles, was zurücklag – alles, was sie hatte – würde ihr letzter Angriff sein.
Die letzten Eindrücke im Sprung warfen ihr seltsamerweise zu, dass es nicht kalt war unter diesem fremden Himmel. Im Sterben würde sie nicht frieren.
Die Assassinen prallten aufeinander.
Eya wusste, dass Hadan nicht würde erkennen können, was geschah. Erreichte sie ein Schrei? Vielleicht bangte er um sie. Dann schlug ihr eigener Angriff um sie zusammen, und alle Gedanken zerstoben zu Nichts.
Grausames Schlitzen und funkelnde Wirbel. Flüchtig sah Eya den Triumph in den Augen des Assassinen, die Gier, sie zu töten. Dann brach alles ab.
Die Zeit schien stillzustehen.
Die Sai in seiner Rechten hielt ihre Großkrallen. Sein Quhab stak mit der Schneide tief in ihrem Unterarm, verzweifelt aufgehalten in ihrer selbstmörderischen Deckungsöffnung. Nur der Knochen ihres Arms hinderte ihn noch, niederzufahren. Und der Viz-Jaq’Taar war stärker. Ihre eigene Bewegung mit der Rechten hatte ihre Beeinträchtigung doch offenbart. Der Schlag mit der Suwwayah war verspielt.
Für die Dauer eines Zuckens standen sie so. Höhnisch teilten sich die Lippen im Gesicht des Assassinen. Sie roch bitteren Atem. Wie viel doch in diese eine Sekunde passte! Ihre Augen blitzten auf.
Und das Teilen der Lippen brach ab.
Da warf sie sich herum. Riss aufschreiend den Arm aus dem Quhab, dass es widerlich am Knochen knirschte, drehte sich und trat zu, hieb aus dem schnurgerade hochgezogenen Oberschenkel, aus der seitlich abgewinkelten Wade die Ferse mit aller Wucht in das grinsende Antlitz. Nicht die kleinste Gelegenheit blieb dem Assassinen, ihre Täuschung zu begreifen. Die eisenverstärkte Hacke traf ihn unterhalb der Nasenöffnung mit makelloser Präzision.
Nichts regte sich. Sie standen, und Nari mochte durch den Mond mit unsterblichen Augen auf die Szenerie herabsehen.
Alles ruhte im Spalt zwischen zwei Herzschlägen.
Dann fiel der Assassine.
Sie strauchelte, als sei ihr das Rückgrat zertrennt worden.
Für Augenblicke gab es nur das Zittern, das sie schüttelte, bis ihre Zähne aufeinander schlugen. Aus dem Wogen des sich langsam verbreitenden Giftes tauchte ihre eigene Hand auf. Sie sah sie überklar, ohne Waffe, die irgendwohin verschwunden war.
Ihre Finger wischten etwas aus dem Weg, das ihr über das Gesicht rann, und erst da, und auch weil sich vom Körperbeben ein leises, ganz eigenes Zucken der Brust ablöste, begriff sie, dass sie weinte. Ohne Gefühl, und als sehe sie sich selbst mit den Augen eines Unbeteiligten.
Das Leben fächelte ihr einen warmen Lufthauch zu.
Vage ging ihr auf, dass sie zwischen alten Steinen am Boden hockte. Sie lebte.
Das Schütteln wollte nicht enden.
Über das Mondlicht fiel ein Schatten. Etwas schloss sich fest um sie, heftig und warm, und das Zittern ebbte ab. Versiegte, um dann wiederzukommen, als ihr bewusst wurde, dass Hadan neben ihr kniete und sie festhielt. Mit beiden Armen, die sich um sie geschlossen hatten, hatte er sie an sich gezogen und ihren Kopf an seine Brust.
Sie erwachte in die Geborgenheit des über sie gebeugten Mannes. Hadan hielt sie so fest, als müsse er eine ganze Welt abschirmen, die sie ihm wieder entreißen könne. Das Herz in der Kehle, spürte sie, dass er schwer atmete, um eigenes Zittern zu unterdrücken.
Rührung, Angst und Erregung stiegen um den eisigen Käfig ihrer Starre auf. Durch die Vorsicht, mit der sie sich in die Umarmung begab – durch ein lautloses, endgültiges Ausatmen zaghaften Begreifens, dass sie ihn fühlen durfte, diesmal – hörte sie seine Stimme.
„Shatryindja“, sagte er leise und rau.
Sie regte sich, und ihre Hand tastete nach seiner Brust. Fest zugreifen war alles, was sie wollte. Der Rest brach weg, zählte nicht mehr, und sie wusste, es bedurfte vorerst keiner Worte dafür.
„Ich hatte Angst um dein Leben“, fuhr er fort. „Angst, dieser“ – er fügte ein Wort in Jabhra ein, dass gepresst klang vor Verachtung – „führt seinen Auftrag aus.“
Das Brennen des Giftes rief sich ihr mit einem Mal in Erinnerung, und auch die Wunden meldeten sich. Ihr war es indes gleich, wenn sie nur so verharren durfte. Aber Hadan spürte, dass sie zusammenzuckte, als er sich bewegte.
Traumwandlerisch ließ sie zu, dass er sich von ihr löste, ihre Wunden untersuchte. Kaute folgsam eine klebrige Kugel aus Kräutern, die er ihr gab. Zuckte nicht einmal, als eines seiner Messer die Schulterverletzung, die schon anschwoll, weiter öffnete und das Gift mit einem feinen Blutstrahl auf den weißen Stein versprengte.
Hatte sie eben noch geweint? Nichts schien ihr jetzt ferner als Tränen.
Still saß sie, fror nicht, und irgendwo lag der tote Viz-Jaq’Taar mit zertrümmertem Gesicht. Hadan stand über der Leiche. Sie begriff, dass die Nachwirkungen des Giftes ihre zeitliche Wahrnehmung zu verändern begannen.
„Du hast ihn mit einem einzigen Tritt umgebracht“, kam die Stimme des Nekromanten zu ihr herüber. Als sie aufsah, kniete er schon wieder vor ihr und band die ausgeblutete Schulterwunde ab. Ihre Hände berührten sich kurz.
„Ich war ihm nicht überlegen“, sagte sie. Worte zu formen, fiel ihr schwer, und das Zittern griff wieder nach ihr. „Er stand unter Drogen... zu meinem Glück. Ohne diese hätte er mich besiegt.“
Übergangslos lehnte sie erneut an dem großen Körper, und Hadans Stimme war ganz nah. Wieder verlieh er ihr diesen eigenartigen Namen. „Vielleicht bist du jetzt frei, Shatryindja.“
Diesmal, befreit vom bösesten Griff des Schocks, hielt sie daran fest.
„Shatryindja?“ Ihre Stimme klang klein im Dunkel der Umarmung, in die sie sich kauerte, und die östlichen Laute ungewohnt auf ihren Lippen. Den Kopf angeschmiegt, noch vorsichtig und gleichsam voller Hingabe, atmete sie den Fremden ein, der bei ihr und keiner mehr war. An seinem Arm vorbei erspähte sie den Tempelhof. Die Stille war jetzt vollkommen und gesegnet.
„Es ist ein Vogel.“ Hadans Atem streifte ihre Schläfe. „Ji-Shatryindja. Du kannst es mit ‚Wiegenwächter’ übersetzen. Oft kommt er sehr nah zu belebten Häusern und setzt sich in ein Fenster. Er bringt Glück, heißt es – den Kindern und den Kranken besonders.
Das ist es, was du für mich bist.“ Er zog sie enger an sich, angespannt noch, aber mit einer bestrickenden Sicherheit. „Was du von Anbeginn für mich warst, Schwarzer Vogel. Im Stillen habe ich dich seit Längerem nur noch so genannt.“
Ich habe dich gefunden.
Sie barg den Kopf in seiner Armbeuge. Ein Bild aus vergessener Zeit kam ihr, von dem sie nicht gewusst hatte, dass sie es besaß: der vollkommene Schutz unter einem radgroßen Strohhut, durch dessen Geflecht das Licht gefiltert in ein winziges Kinderversteck fällt. „Ich liebe dich“, flüsterte sie.
Unter ihr hob ein tiefer Atemzug die Brust, auf der sie ruhte.
„Ka jaal tawani“, kam es dann leise zurück. „Und ich liebe dich, Eya.“
Still, halb gegen eine zerstörte Säule gelehnt, saß Hadan und hielt sie fest, bis sie eingeschlafen war.