Kapitel 25 – bleibt ein Weilchen und hört zu
Shar'Tel stand im Gemeinschaftsraum und sah aus dem Fenster. Gegenüber vom Innenhof mit der Statur in der Mitte gab es auf dieser Seite des Gebäudes einen weiteren Innenhof. Hier wurden in mehreren Beeten Kräuter und Gemüse angebaut. Ein überdachter Gang führte rund um den Hof zum östlichsten Gebäude der Anlage – der Kathedrale. Dies war eine kleine Kathedrale, eher eine Kapelle. Jede Schwester pilgerte am Tag mindestens einmal dorthin und betete zu den Engeln um ihnen zu danken.
Die Engel, von denen Tyrael und Hadriel die bekanntesten waren, hatten den Menschen schon mehrmals im Kampf gegen die Mächte der Hölle geholfen, um zu verhindern, dass diese sich in Sanktuario manifestieren und unvorstellbares Leid über die Menschen bringen.
Von diesem zweiten größeren Innenhof führte ein Gang nach links zur Küche. Er umschloss damit eine weitere Freiluftfläche. Diese konnte Shar'Tel von ihrem Fenster allerdings nicht sehen. Sie verglich was Anara ihr gezeigt hatte mit den Erzählungen ihrer Mutter. Es wollte nicht so recht zusammen passen.
Deckard Cain lächelte. Er war alt. Das sah man ihm an. Er hatte einen langen silbergrauen Bart und eingefallene Wangen. Seine Augen wirkten müde und erschöpft, doch trotzdem ging von ihm eine Weisheit und Würde aus, die Shar'Tel beeindruckte. Er war der letzte der Horadrim. Anara hatte ihnen erzählt, dass er all sein Wissen, damit es nicht verloren ginge, mit den Schwestern teilte und sie alles, was er zu erzählen hatte, nieder geschrieben haben. Die Philioson fragte sich wie viele Bücher in den letzten Jahren so wohl zustande gekommen waren. Sicherlich würde es ganze Regale füllen können. Deckard stellte die Frau neben sich, mit der er sich bis eben unterhalten hatte, als Charsi vor.
__„Der Name Charsi ist mir bekannt. Ihr wart,“ Shar'Tel überlegte, „ihr wart die Schmiedin im Lager während des Exils der Schwestern.“
__„Es erstaunt mich, dass unsere Geschichte bis zu den Amazoneninseln gedrungen ist.“ antwortete Charsi.
__„Meine Mutter Xavia hat sie mir oft erzählt.“
__„Xavia ist deine Mutter? Dann kannst du wahrlich stolz auf sie sein. Sie ist einer der größten Helden der jüngsten Zeit.“ erinnerte sich der Horadrim.
__„Ich entsinne mich. Sie traf zusammen mit den anderen Amazonen im Lager ein kurz nachdem man uns aus Tristram gerettet hatte. Ich hatte mich dort zusammen mit einigen anderen Abenteurern verschanzt, die gegen Diablo kämpfen wollten. Die Schlacht gegen ihn war aber – so glaubten wir – schon gewonnen. Doch dann tauchten neue Dämonen auf und unser Held war verschwunden. Die Dämonen waren so zahlreich, dass die wenigen Krieger dieser Übermacht nicht gewachsen waren und so blieb uns nichts anderes übrig, als auszuharren und auf Rettung zu warten. Zum Glück hatte sich Akara recht bald Sorgen um uns gemacht und einen Trupp Zauberinnen zu uns geschickt.
Aber ab da kennst du ja die Geschichte. Wenn deine Mutter dir davon erzählt hat, hast du sie ja aus erster Hand erfahren.“
__„Aber es passt nicht zusammen. Sie sagte, von der Klosterpforte aus begaben sie sich zur Kaserne. Sie, das heißt meine Mutter und andere die sie begleiteten, darunter wohl auch die Zauberin Selune. In der Kaserne suchten sie einen Hammer…“
__„Den Horadrim Malus, einen magischen Schmiedehammer. Ich musste ihn bei unserer Flucht zurücklassen,“ erzählte Charsi, „doch wir konnten dieses mächtige Artefakt nicht in den Händen der Dämonen lassen.“
__„Soweit so gut, aber von der Kaserne ging es drei Etagen nach unten durch ein…äh…Gefängnis…um dann im zweiten Innenhof wieder herauszukommen und durch die Kathedrale weiter in die Katakomben zu gelangen. Und dort im vierten Untergeschoss haben sie sich dann Andariel gestellt. Wozu braucht dieses Kloster so ein riesiges Gefängnis?“
__„Wir haben kein Gefängnis,“ sagte Charsi, „noch nie gehabt.“
__„Es ist möglich, dass sie damit das Geheimarchiv meinte. Dort gibt es immerhin Gitterstäbe und kleine Räume.“ warf Cain ein.
__„Aber das Archiv hat nur zwei Etagen. Wahrscheinlich wird sie den Korridor, der unsere Werkstatt unterirdisch mit der Bibliothek verbindet, mitgezählt haben.“
__„Was ist denn das für ein Archiv?“ wollte Diana wissen. Sie hatte es sich inzwischen wie Shar'Tel in einem Sessel neben Charsi und Cain gemütlich gemacht.
__„Wie Anara euch schon erzählt haben wird, sammeln wir in unserer Bibliothek das Wissen dieser Welt. Manche Schriften allerdings sind mit Vorsicht zu genießen. Sie enthalten entweder mächtige Zaubersprüche, oder die Beschwörungsformeln für verschiedene Kreaturen. Ohne das nötige Maß an Verantwortung kann dieses Wissen großen Schaden anrichten. Daher halten wir es unter Verschluss. Das Archiv befindet sich auf zwei Etagen verteilt unterirdisch unter der Bibliothek. Wenn ihr euch dort einmal umsehen wollt, müsst ihr aber erst Anara um Erlaubnis fragen.
Bis vor kurzem hatten wir auch noch jedes Buch, welches sich mit den Lehren von Rathma beschäftigt, ebenfalls im Geheimarchiv verwart. Es gibt nämlich ein paar sehr einflussreiche Gruppierungen, die von Vornherein alles verachten, was mit diesen Priestern zu tun hat.“
Charsi verschränkte trotzig die Arme.
__„Aber nur weil sie zu faul sind, sich näher damit zu beschäftigen, lassen wir uns noch lange nicht diktieren, welche Bücher wir in unsere Bibliothek aufnehmen.“
Charsi nahm sich die Zeit tief durchzuatmen und sich wieder zu beruhigen, bevor sie weiter erzählte.
__„Wir können wirklich stolz sein auf unsere Sammlung. Und wir hatten Glück, dass während der Besetzung nur so wenig davon zerstört wurde. Bei dem Gemetzel, das hier stattgefunden hatte, ist es ein Wunder, dass nicht das ganze Gebäude abgefackelt ist. Und bei den zahlreichen Schamanen und Magiern, die sich zwischen all den Büchern sichtlich wohl gefühlt haben müssen, ist es umsomehr verwunderlich.“
__„Aber zum Glück können jetzt die Bücher nicht mehr einfach so abbrennen.“ warf Deckard Cain ein.
__„Richtig! Die Priesterinnen haben dann, als Anara die Leitung übernommen hatte, zur Sicherheit noch einmal die Feuerschutzzauber auf den Büchern erneuert.“
__„Es ist sicher sehr anstrengend gewesen, jedes Buch zu verzaubern.“
__„Eher nicht. Das ist ein ganz einfach Zauber“, erklärte der Horadrim, „Die Bücher werden so verzaubert, dass sie weniger anfällig gegen Feuer sind. So ein Zauber hält ewig, kann aber keinen vollständigen Schutz bieten. Es gibt aber eine bestimmte Temperatur, die notwendig ist, um Papier zu verbrennen. Mit diesem Zauber reicht zum Beispiel eine Kerze nicht mehr aus. Ein vollständiger Schutz gegen Feuer kann zwar auch starke Zaubersprüche abhalten, aber er ist aufwendiger und hält nur eine begrenzte Zeit. Aber so eine gewöhnliche Verzauberung ist wirklich einfach. Wir vier hier sind alle magiebegabt. Von Charsi weiß ich es ja, aber ich gehe davon aus, ihr beiden könnt das auch.“
__„Ich bin magiebegabt?“ fragte Shar'Tel erstaunt. „Und woher weißt du denn, dass Diana zaubern kann? Hast du sie schon kämpfen gesehen?“
__„Ich kann die Magie in eurer Aura fühlen, so wie ich auch die Magie in den Dingen fühlen kann. Ich beschäftige mich schon Zeit meines Lebens mit magischen Artefakten. Daher habe ich wohl mit der Zeit einen Sinn dafür entwickelt.“
__„Aber wie kann ich denn magiebegabt sein? Gut - meine Mutter kann zaubern, aber ich doch nicht. Ich kenne gar keinen Zauberspruch. Mir hat nie irgendwann irgendwer irgendwie einen Spruch beigebracht.“
Sie sah Diana fragend an. Shar'Tel wusste, dass einige Kriegerinnen aus ihrer Stadt zaubern konnten und manche beherrschten schon die ersten Zauber, wenn sie die Weihe erhielten, aber warum wurde ihnen beim Training nie so etwas beigebracht? Diana erklärte es ihr:
__„Aber die Fähigkeit dazu steckt dir im Blut.
Die Kriegerinnen erlernen die magieaufwendigen Techniken erst nachdem sie die Weihe erhalten haben. Erst dann sind sie alt genug und ihr Körper und Geist hat sich soweit entwickelt, dass sie die Magien beherrschen können. Einen Pfeil oder Speer mit magischer Energie aufzuladen, das kann einem auch schon vorher gelingen. Aber beispielsweise einen Pfeil so zu verzaubern, dass er ein Gebiet um ein getroffenes Wesen komplett einfriert anstatt nur das Ziel selbst einwenig zu verlangsamen, erfordert weit mehr Training, als nur einen Pfeil abzufeuern und das Ziel zu treffen. Ich bin bis jetzt erst auf einer Stufe, wo ich mit einem Pfeil ein Wesen für kurze Zeit bewegungsunfähig machen kann. Diesen Effekt mit einem Pfeil an eine nahe zusammenstehende Gruppe anzubringen, ist mein Ziel. Ich habe mich früher oft mit deiner Mutter darüber unterhalten und weiß daher, dass es möglich ist. Ich bin mir ziemlich sicher hier in diesem Kloster ein paar Bücher zu finden, die mir einige Tipps geben können, die ich noch nicht kenne.“
__„Wenn du dich mit ihr unterhalten hast, warum hat sie dir dann nicht gezeigt wie es geht? Sie kann es ja schließlich auch. Sie gehört ja nicht umsonst zu den wenigen, die Baal besiegen konnten.“
__„Oh, sie hat mir alles beigebracht was sie wusste. Es ist ja nicht so, dass sie einfach ein Bisschen vormacht und so tolle Sätze sagt wie 'du musst dich auf die Käteenergie konzentrieren und auf die ganze Gruppe, nicht nur auf ein Ziel' und dann kann man das - nein!
Das Wissen und die Erfahrung sind sehr hilfreich, aber das allein reicht nicht aus. Es gehört sehr viel Training dazu.“
__„Jetzt bin ich verwirrt. Erst hieß es, zaubern sei leicht und nun braucht man doch viel Training dazu?“
__„Es ist einfach zu erlernen, aber schwierig zu meistern.“
__„Wenn man Bücher mit Zaubern belegen kann, dann kann man doch bestimmt auch Waffen und Rüstungen verzaubern, oder?“ fragte Shar'Tel weiter.
__„Richtig“, erklärte Cain, „es funktioniert nach dem gleichen Prinzip. Das Material wird mit einer bestimmten Eigenschaft verzaubert. Bestimmte Materialien sind für bestimmte Verzauberung besser geeignet als andere, aber theoretisch könnte man alles verzaubern.“
__„Wenn das Verzaubern so einfach ist, gibt es dann auch viele magische Waffen, oder sind sie eher eine Ausnahme?“
__„Magische Waffen und Rüstungen sind sogar die Regel“, sagte Cain, „dein Amulett ist auch magisch. Wenn ich es mir einmal genauer betrachten kann, sage ich dir, welche Eigenschaften es hat.“
Shar'Tel nahm das Amulett, welches ihr um den Hals hing, auf die Hand und betrachtete es. An der Halskette hing ein Ring aus Gold, in dem ein roter Edelstein eingefasst war. Dann schloss sie die Hand und drückte den Stein fest an sich. Dies war ein Talisman - ein Glücksbringer. Er brachte ihr glück, weil sie daran glaubte. Und diesen Glauben wollte sie sich nicht zerstören lassen.
__„Ich weiß was es kann“, log sie, „aber ich möchte alles wissen, was mit der Herstellung und Verzauberung zu tun hat.“
__„Das bringe ich dir gerne bei“, sagte Charsi, „wie viele Jahre möchtest du denn hier bleiben?“
__„Jahre? Ich hatte eigentlich eingeplant in zehn Tagen schon wieder weiter zu ziehen. Ich möchte nach Harrogath reisen, weil es heißt, dass dort die fähigsten Waffenschmiede zu finden sind.“
__„Das sind sie – in der Tat...“, Charsi überlegte, „…dann werde ich dir eher etwas zur Verzauberung der Gegenstände sagen, als zur Herstellung. Waffen oder Rüstungen?
__„Waffen.“
Charsi grübelte einen Moment, wo sie anfangen sollte.
__„Die meisten magischen Gegenstände haben ein oder zwei Verzauberungen. Seltener findet man schon welche mit drei bis sechs Eigenschaften. Ganz selten hört man auch mal von einem Gegenstand mit bis zu zehn verschiedenen Eigenschaften.“
__„Nach dem was ich gelesen habe, liegt der Rekord im Moment bei fünfunddreißig.“ erinnerte sich der Horadrim.
Shar’Tel klappte vor Erstauen der Kiefer herunter: „Fünfunddreißig?“
__„Ja. Allerdings hatte der Handwerker beim Zählen ein wenig geschummelt. Und der Gegenstand – eine Waffe ist es, meine ich – ist auch kaum zu gebrauchen. Die einzelnen Eigenschaften, die diese Waffe aufweist, sind alle sehr schwach.“
__„Das ist nämlich der entscheidende Punkt“, nahm Charsi den Faden wieder auf, „der Magier muss sich beim Verzaubern seiner Sache bewusst sein. Es gibt das Risiko, dass etwas schief geht. Diese Chance ist umso höher, je mehr magische Energien schon auf den Gegenstand übertragen wurden. Man kann entweder mehrere verschiedene Verzauberungen vornehmen, oder man beschränkt sich auf wenige, dafür aber stärkere Eigenschaften.
Wenn etwas schief geht, können unterschiedliche Effekte auftreten.
In den meisten Fällen verliert der Gegenstand nur all seine Verzauberungen. Dummerweise kann er dann nicht wieder neu verzaubert werden. Manchmal geschieht es auch, dass der Gegenstand zerbricht. Leder reißt, Holz splittert, Metall zerbirst, und Kristall fliegt dir um die Ohren. Ganz selten sind dabei schon Menschen ums Leben gekommen. Aber um das hinzubekommen, muss man den Gegenstand schon mit gewaltigen Energien aufladen. Ich habe schon hunderte Waffen und Rüstungen verzaubert und wie man sehen kann: lebe ich noch.
Es gibt aber noch eine weitere interessante Möglichkeit, die eintreten kann, wenn beim Verzaubern etwas schief geht. Der Gegenstand kann ätherisch werden. Das ist so als ob er zur Hälfte in eine andere Dimension wegdriftet. Das ist sehr lustig mit anzusehen. Leder, Holz, Metall, ganz gleich welches Material wird durchsichtig und bei Bewegungen verschwimmt es. Bei Rüstungen hat es den positiven Effekt, dass man weniger getroffen wird, weil es den Gegner verwirrt. Seinen Freunden sollte man das aber auch nicht unbedingt antun. Das geht auf Dauer ziemlich auf die Augen. Leider nutzen sich ätherische Gegenstände bei Gebrauch viel schneller ab. Klingen bleiben zwar scharf, aber was nutzt das, wenn bei Schwertern die Griffe lose werden und Helmbarten ihre Spitze verlieren? Interessanter Weise sind ätherische Waffe trotz ihrer Kurzlebigkeit um einiges tödlicher. Hiebwaffen durchtrennen Gewebe und Knochen mühelos. Stoßwaffen brechen Rüstungen auf, anstatt sie nur einzudellen. Wenn du also an einen ätherischen Gegenstand gelangst, verwende ihn bis er sich in Einzelteile auflöst. Die meisten Waffen gehen ohnehin irgendwann kaputt, aber man kann ihre Funktionstüchtigkeit erhalten. Bei Schwertern zum Beispiel kann man ein verbogenes Blatt, oder eine abgebrochene Parierstange wieder reparieren. Wenn allerdings die Klinge durchtrennt wurde, war es das für das Schwert. Da gibt es einen ganz einfachen Zauber. Mal sehen, vielleicht kann ich ihn dir morgen schon beibringen.
…
Ich würde an der Stelle aber erst einmal eine Mittagspause machen.“
Die vier erhoben sich und schlenderten zur langen Halle. Im Innenhof fragte Shar'Tel den Horadrim nach der Funktionsweise der Wegpunkte.
__„Du stellst dich darauf und sprichst laut und deutlich den Namen des Wegpunktes aus um ihn zu aktivieren.“
__„Und wie heißt dieser hier?“
__„Da müsste an dem Beet ein kleines Schild sein, auf dem der Name steht.“
Shar'Tel musste in die Hocke gehen um an der Seitenfläche der steinumrahmten Beete ein halb von Gras zugewachsenes Messingschild zu entdecken.
Sie stellte sich auf den Wegpunkt und sagte: „Tamo-Hochland“.
In den zwei Steinkrügen auf der Marmorplatte flammte blaues Feuer auf.
__„Und wie gelange ich jetzt zu anderen Wegpunkten?“
__„Wenn du den Zielwegpunkt schon aktiviert hast, nennst du den Namen des Zielortes und schon bist du dort.“
__„Man muss also jeden Wegpunkt zuerst zu Fuß erreichen?“
__„Ja. Das haben die Vizjerei so eingerichtet, damit nicht einfach so böswillige Kreaturen mitten ihren Städten auftauchen konnten.“
__„Kann man jemanden beim Teleportieren…wie soll ich sagen…mitnehmen?“
__„Wenn man sich gut festhält, kann man alles mitnehmen, was auf die Steinplatte passt.“
__„Könntest du mich dann bei Gelegenheit mal zu allen Wegpunkten mitnehmen, die du hast? Das würde meine Reise erheblich verkürzen.
__„Leider geht das nicht mehr. Ich habe sie schon lange nicht mehr benutzt. Man muss einen Wegpunkt mindestens einmal alle zwei Jahre besuchen damit er aktiv bleibt. Aber dieser Wegpunkt wird noch regelmäßig von einigen Schwestern benutzt. Am besten fragst du dafür Aliciane, oder Diane. Anara wird dich bestimmt mit ihnen bekannt machen.“
__„Dann will ich das einmal ausprobieren. Wenn ich nicht gleich wieder da bin, wartet nicht mit dem Essen auf mich.
Stonnbagh!“
Augenblicklich verschwamm die Umgebung um Shar'Tel herum. Ein schmerzhaftes Ziehen in der Bauchgegend machte sich bemerkbar. Es war als drehte ihr jemand den Magen um, während ihre Füße wie festgeleimt auf der Marmorplatte standen und ihre Arme und Haare schwerelos umher baumelten. Das Gefühl ließ nach. Der Himmel glich dem über dem Kloster. Die neue Umgebung drehte sich in die richtige Position. Die lehmgelbe Hauswand mit dem abgebröckelten Putz kam ihr bekannt vor. Sie war in Stonnbagh gelandet.
Sie entschied sich zurückzureisen, bevor sie die Besinnung verlor. Wieder riss es ihr an den Eingeweiden. Diesmal nicht ganz so stark. Charsi, Deckard Cain und Diana Windwood standen vor ihr.
__„So eine Reise ist anstrengend.“
__„Beim ersten mal ja – etwas ungewohnt, aber das legt sich mit der Zeit.“
__„Wie ich dir gesagt habe, der Körper muss sich erst an die Magie gewöhnen.“
Die vier setzten sich in der langen Halle an den Tisch. Shar'Tel betrachtete missmutig ihre Schale mit Hirse. Sie zwang sich ein paar Happen zu essen, aber viel bekam sie nicht herunter.
__„Besitzt du noch andere magische Gegenstände, außer deinem Amulett?“ fragte Charsi nach einer Weile.
__„Ich weiß es nicht. Es kann sein. Aber ich weiß nicht, wie man das erkennt.“
__„Dann werde ich dir dies als nächstes zeigen. Kannst du die Runenschrift lesen?“
__„Nein.“
__„Uh, dann wird das in den zehn Tagen aber knapp. Mal sehen…ich werde dir, wenn ich die Zeit dazu finde, eine Liste zusammenstellen mit den Runen, was sie bedeuten und eine Auswahl von Wörtern.
Ich dachte eigentlich ihr hättet auf eurer Insel auch Lehrgänge zu Theoriefächern.“
Diana entschuldigte Shar'Tel und erklärte, dass es auf Rudora schlicht nicht notwendig sei, die Runenschrift lesen zu können. Da es keine Texte in dieser Schrift gäbe. Nur wer vor hatte auf dem Festland zu studieren, brauchte es zu erlernen.
__„Ich bin mir sicher, als Kriegerin befinden sich ein paar magische Waffen in deinem Besitz. Bring einfach mal ein paar Teile mit. Wenn wir aufgegessen haben, treffen wir uns in der Werkstatt.“
Deckard Cain entschied sich sich auch mit ihnen in der Werkstatt zu treffen. Diana hingegen ging in die Bibliothek, da ihr die Benutzung der Waffen eher lag, als ihre Herstellung.
Shar'Tel holte aus ihrem Zimmer ihr Schwert, ihren Dolch und ihre Stiefel. In der Werkstatt hatte Charsi einige Waffen auf Waffenständer verteilt. Cain hatte sich einen Stuhl genommen und vor die Schmiede gesetzt. Charsi machte Shar'Tel mit den Schmiedinnen bekannt:
__„Das ist Cyndia, meine Nachfolgerin als Meisterin an der Schmiede und ihre Assistentinnen Lehara und Pratha, die sich auf die Gesellenprüfung vorbereiten.
Was hast du denn mitgebracht Shar'Tel?“
Die Philioson legte ihre drei Sachen auf den Arbeitstisch, damit die anderen fünf sie betrachten konnten. Als erstes nahm sich der Horadrim das Schwert und besah es von allen Seiten. Er nickte und legte es wieder auf den Tisch, dann begutachteten Lehara und Pratha das Schwert. Sie nahmen es in die Hand, drehten es um und legten es wieder hin. Cyndia fragte Lehara wie es heißt und was es kann.
__„Es ist eine glühende dakische Sichel des Eifers. Es überträgt bei einem Treffer magische Blitze auf den Gegner und wurde so verzaubert, dass man damit schneller zuschlagen kann.“
__„Es ist also magisch? Davon hat der Händler gar nichts gesagt.“
__„Wo hast du es denn her?“
__„Aus dem Abenteurers Allerlei in Duncraig.“
__„Ah, den Laden kenne ich. Der ist sehr beliebt bei Söldnern, Schatzsuchern und Jägern, aber auch Fürsten und Ritter, die einwenig mit ihren Waffen protzen möchten, kaufen bei ihm ein. Er wird wohl davon ausgegangen sein, dass du weißt, was du da hast.
Gut, als nächstes das Messer. Noch einmal Lehara?“
Lehara nahm das Messer in die Hand, legte es zurück und zuckte mit den Schultern.
__„Ganz normales Messer. Schön gearbeitet, aber nicht magisch.“
Deckard griff sich einen der Stiefel, Pratha den anderen. Die schweren schwarzen Lederstiefel waren mit ein paar Kettenringen verstärkt und mit schwarzem Stoff bespannt.
__„Hübsche Dinger, stabiles Leder, die Metallringe sind wahrscheinlich nur für die Optik gut, aber die Klaue von einem Springer wird es wohl abhalten. Wie mit den meisten Stiefeln kann man damit schneller Laufen. Und dann sind da noch zwei weitere Verzauberungen, die ich aber nicht so recht benennen kann.“
Cain nickte und nannte die restlichen beiden Eigenschaften.
__„Sie erhöhen außerdem noch die Geschicklichkeit des Trägers und haben eine Verzauberung, die bewirkt, dass Wunden, die man dem Gegner zufügt, nicht verheilen. So eine Wunde kann dann nur durch Heiltränke oder einen Heiler geschlossen werden und im schlimmsten Fall dazu führen, dass das Opfer verblutet. Das ist ein bösartige Magie und für Stiefel unüblich. Ich kenne nur ein weiteres paar Stiefel, welches das kann. Die Sache ist auch nicht ganz ungefährlich. Stell dir vor, du rutscht mit deinem Messer ab und schneidest dich selbst, dann besteht die Chance dass auch diese Wunde nicht verheilt. Das hängt aber davon ab, wo deine Gedanken gerade sind. Die Magie gehorcht deinem Willen. Du kannst diese Verzauberung also nutzen, oder eben nicht, aber das kommt darauf an, wie gut du dich konzentrieren kannst. Wer auch immer diese Schuhe hergestellt hat, hatte damit nichts Gutes im Sinn. Jedoch meisterhaft gearbeitet und gegen Dämonen recht nützlich. An deiner Stelle würde ich sie nicht so schnell hergeben. Hast du sie auch aus Abenteurers Allerlei?“
__„Nein. Ich habe sie der Anführerin einer Räuberbande abgenommen.
Jetzt verstehe ich auch, warum in der Schlacht im Mausoleum Blitze um meine Schwertklinge gezuckt sind. Aber warum nur dort? In Kämpfen davor und danach ist das nicht passiert.“
__„Nun“, erklärte der Horadrim, „wie du eben sagtest, wusstest du bis heute noch gar nicht, dass dein Schwert diese Verzauberung hat. Folglich hättest du sie auch noch überhaupt nicht nutzen können. Dass es dir aber trotzdem gelungen ist, zeigt, dass du die Fähigkeit dazu hast, die Magien ganz instinktiv zu nutzen. Nimm dein Schwert noch einmal in die Hand und erinnere dich, wie du dich gefühlt hast im Kampf in diesem Mausoleum.“
Shar'Tel nahm ihr Schwert. Sie wartete einen Augenblick und versuchte sich an das Gefühl beim Kampf mit den Skeletten zu erinnern.
__„Ich weiß nicht. Für mich fühlt sich das wie ein ganz normales Schwert an.“
__„Bist du sicher?“ fragte Charsi und schlug ihr vor die dakische Sichel mit ihrem Messer zu vergleichen.
Jetzt spürte Shar'Tel einen deutlichen Unterschied. Sie konnte es nicht genau benennen, aber da war etwas in dem Schwert, das wartete auf ein Ziel losgelassen zu werden. Bei ein paar Schwerthieben konzentrierte sie sich auf die Magien, die darin schlummerten. Schließlich fing es an zu summen. Kleine Blitze zuckten sichtbar die Klinge hinauf. Aber das ganze kostete sie viel Kraft. Schweiß perlte ihr von der Stirn.
__„Für den Anfang schon nicht schlecht. Mit ein Bisschen Training wirst du diese Magie im Kampf auch ohne große Anstrengung freisetzen können.“
Charsi hatte auch ein paar magische Waffen in die Werkstatt mitgebracht. Damit Shar’Tel mit den Magien, die in Gegenständen stecken können, vertraut wurde, sollte sie nach einander die Waffen in die Hand nehmen und sagen, was sie fühlte. Als erstes reichte ihr die Schmiedin eine Kriegsaxt. Shar'Tel fühlte die Wärme darin. Eine andere Waffe, ein Kurzschwert, fühlte sich erfrischen kühl an. So probierte sie einige Waffen durch. Und die Zahl der Verzauberungen darauf steigerte sich von anfänglich einer über zwei, die sie bereits kaum noch auseinander halten konnte bis hin zu drei, die sich wie ein bizarres Wirrwarr aus Energien und Strömen anfühlten. Charsi erklärte ihr im Anschluss jeweils, welche Eigenschaften die Waffen besaßen. So erfuhr sie, dass Waffen neben der Aufladung mit Feuer-, Blitz- und Kälteenergie auch die Kraft und Agilität des Trägers steigern konnten, ihn vor verschiedenen Zaubern und Effekten schützten, oder seine Fähigkeiten effektiver machten. Die zwölfte Waffe war eine Hellebarde. Sie sah aus, wie eine gewöhnliche Stangenwaffe, wie sie wohl jeder Torwächter trug, aber sie ahnte bereits, dass auch dieses Exemplar mindestens drei Verzauberungen hatte. Noch immer perlte der Schweiß von ihrer Stirn, rann die Wangen hinab und tropfte von ihrem Kinn. Ihre Hände kribbelten. Es fiel ihr immer schwerer sich zu konzentrieren. Die verschiedenen Magien, die jeweils ihren Körper durchströmten, verwirrten sie. Als sie nach der Hellebarde griff, spürte sie einen stechenden Schmerz im rechten Oberarm. Reflexartig ließ sie los und die Waffe viel scheppernd zu Boden. Das Kribbeln in ihren Händen breitete sich über die Oberarme aus. Es pulsierte, wurde zu einem Summen. Die Knochen selbst taten ihr weh. Sie kämpfte dagegen an. Verlor das Gleichgewicht, ging in die Hocke um nicht zu stürzen.
__„Ich kann nicht mehr.“ sagte sie. Dann verlor sie schließlich die Kontrolle.
Verschwommen nahm sie war, wie sie jemand einen Korridor entlang stützte und in ein Bett fallen ließ. Hitze und Kälte schwappte in Wellen durch ihren Körper. Vor ihrem geistigen Auge leuchteten helle Farben auf, die sich bewegten, mit anderen Farben vermischten und verschwanden mit einer Geschwindigkeit die kein greifbares Bild hinterließ.