Kapitel 23 – die Suche
Es war dunkel, stockdunkel, so dunkel wie in einem Grab. Shar'Tel sah kaum die Hand vor Augen. Fühlte nur die kalten Steinwände um sich herum. Sie lag auf dem Rücken. Fühlte den Steinboden unter sich, die Wände links und rechts an ihren Ellenbogen und an ihren Fußsohlen. Nun drang etwas Licht an ihre Augen. Sie sah den Rand von dem Sarg, in dem sie lag. Der Deckel war entfernt worden. Sie sah die Decke eines Mausoleums. Schwaches Fackellicht gab dem eben noch schwarzen Fleck eine fast genauso dunkle graue Farbe und ließ die Struktur erahnen. Jemand kam näher. Sie erschrak, als sich dieser Jemand über sie beugte, doch kein Laut entwich ihr. Dieser Jemand schien nur aus einem Kopf zu bestehen, der das Fackellicht reflektierte. Seine schwarze Kleidung hob sich nicht von der Decke ab.
Er richtete einen kurzen Stab auf ihre linke Schulter und griff nach dem Oberarm. Der Arm löste sich. Shar'Tel fühlte eine unnatürliche Leere. Der Arm, den der Mann nun in den Händen hielt bestand nur noch aus Knochen. Markant daran war der goldene. Ihn nahm er an sich, den Rest schleuderte er achtlos zurück in den Sarg. Der Mann verschwand aus der Sicht. Mit der noch verbleibenden rechten Hand griff Shar'Tel nach dem Rand des Sarges um sich aufzurichten. Die Hand wie auch der Rest ihres Körpers bestand nur noch aus Knochen, doch sie hatte keine Zeit sich darüber zu wundern. Sie bewegte sich wie von selbst. Sie war bereits aus ihrer Ruhestätte hinausgestiegen und konzentrierte sich nun auf die Skelette um sie herum, die sie zwar nicht sah, aber wusste, dass sie da waren. Sie wies sie an, den Knochendieb aufzuhalten. Am Ende des Ganges sah sie ihn. Der goldene Knochen leuchtete in seiner Hand. Er war von Knochenkriegern umzingelt. Die Krieger erhoben ihre Waffen, stoppten aber. Wortlos befahl sie ihnen anzugreifen. Es kostete sie erstaunlich viel Kraft, doch sie taten es nicht. Der Mann hatte seinen Stab erhoben. Auch er konzentrierte jetzt seine Magie auf die Skelette.
Schließlich gewann er den mentalen Zweikampf. Die Knochenarmee wurde zurückgedrängt. Explosionsartig schleuderte er sie gegen die Wände. Die magischen Verbindungen zwischen den Knochen rissen. Hunderte Einzelteile lagen nun im ganzen Gang verstreut. Er stieg die letzten Stufe hinauf, wo ihn das Mondlicht schon erwartete. Shar'Tel rannte ihm hinterher. Durch ihre ungewöhnliche Größe war sie in wenigen Schritten an der Treppe, doch weiter konnte sie nicht. Die Magie hielt sie an diesem Ort.
Etwas kaltes Nasses berührte ihre Stirn. Sie schreckte hoch. Kerzenlicht leuchtete einen Raum aus. Sie lag in einem Bett. Das Fenster stand offen und wehte eine leichte Brise ins Zimmer. Sie befand sich in ihrem Zimmer in der Taverne zur aufgehenden Sonne. Neben ihr saß Diana auf ihrem Bett. An Shar'Tels Bett saß eine Frau, die sie nicht kannte. Sie hatte ein kaltes Tuch in der Hand. Ihre Decke war klamm, das Lacken durchgeschwitzt und voller Blut- und Dreckspuren. Dianas Bettwäsche hatte die gleiche Menge roter Farbtupfer und auf ihrem Kopfkissen war ein großer dunkelgrauer Kreis. Neben den Betten standen Schüsseln mit Wasser. In manchen dieser Schüsseln hatte das Wasser eine rote Färbung. Tücher, Stofffetzen und Bandagen hingen über das Fußende. Shar'Tel realisierte langsam wieder wo sie war und was gesehen war. Nach ihrem Kampf im Mausoleum hatten sie sich ins Dorf zurück geschleppt und waren hier verarztet worden. Sie hatte Bandagen an Bein und Schulter. Diana hatte ihre Rüstung abgelegt. Sie trug nur eine leichte Bluse. Bandagen hatte sie keine. Sie schien schon wieder wohlauf.
__„Ich weiß wer den Arm gestohlen hat. Sayew war’s“, erklärte Shar'Tel völlig außer sich. Diana sah sie verdutzt an.
__„Welcher von Zareas Blitzen ist denn in dich gefahren? Kannst Du mir mal erklären, wovon Du faselst?“
__„Ach das hast du ja gar nicht mehr mitbekommen. Hol am besten Hernan her, wenn das geht. Dann muss ich nicht alles doppelt erzählen.“
__„Kann das nicht warten, bis Du wieder völlig genesen bist? Ich fürchte Du hast Fieber.“
Die Frau drängte Shar’Tel sich wieder hinzulegen, doch der war jetzt gar nicht nach Ruhe.
__„Ich fühl’ mich prima. Sie haben ganze Arbeit geleistet…“
__„Das ist Laoghaire.“, gab Diana bekannt, „Sie ist Fergus’ Mutter.“
__„Es tut mir Leid um Ihren Sohn.“
__„Dich trifft keine Schuld, Mädchen. Hernan hätte ihn nicht zu so einer halsbrecherischen Aktion mitnehmen dürfen.“
__„Er hat tapfer gekämpft. Er hat nur seine Pflicht getan und das Dorf beschützt. Das ist in höchstem Maße ehrenwert.“
__„Wahre Worte, aber sie bringen mir meinen Sohn nicht zurück.
…
Hernan ist nebenan. Lasst mich jetzt bitte einen Augenblick allein.“
Ohne noch etwas zu sagen, verließen die Philiosinnen den Raum. Der Flur war nur schwach beleuchtet. Es war mitten in der Nacht. Hernan schlief. Sie weckten ihn. Er versuchte sich aufzurichten und ließ sich gleich wieder in die Kissen fallen.
__„Wie geht es dir?“
__„Ich habe nichts Ernstes: ein paar Kratzer, eine ausgekugelte Schulter und eine angebrochene Rippe. Sie hat mir nur den Verband zu fest angelegt. Laoghaire gibt mir die Schuld an seinem Tod. Als sie mich verarztet haben, habe ich dem Wirt geschildert, was vorgefallen ist. Es weiß praktisch schon das ganze Dorf.“
__„Und ich weiß wo wir nach dem Arm suchen müssen.“ sagte Shar'Tel. Für Diana schilderte sch noch einmal das Versprechen, das sie König Leoric gegeben hat. Anschließend erzählte sie den beiden von ihrem Traum.
__„Wir suchen einen goldenen Knochen, um den ein Band mit bunten Federn gewickelt ist.
Außerdem kenne ich nur einen Menschen, der so blasse Haut hat, so jung aussieht und trotzdem schon komplett silbergraue Haare hat: 'Calishan Sayew'.“
__„Der Händler aus Duncraig?“
__„Genau der. Er ist nach Stonnbagh unterwegs. Er hat schon drei Tage Vorsprung. Wenn wir uns nicht beeilen, verlieren wir ihn.“
__„Ich kann euch nicht begleiten, Mädels. Ich muss bleiben und das Dorf bewachen. Auch wenn uns die Skelette nicht mehr bedrohen, greifen uns hin und wieder Khazra, oder Teufelchen an. Außerdem habe ich mit Fergus wohl einen meiner besten Männer verloren. Er war zwar noch jung, aber er war einer der Diszipliniertesten.“
Shar'Tel wünschte ihm gute Besserung. Sie sah Diana an.
__„Sollen wir gleich loslegen?“
__„Ich bin dabei!“
Sie gingen in ihr Zimmer. Laoghaire kniete vor dem Bett und schlief. Ohne sie zu wecken packten die Kriegerinnen ihre Taschen. Diana legte ihre Rüstung und Shar’Tel zog sich die Stiefel an. Windwood nahm sich noch einen Köcher mit Pfeilen mit, den jemand im Schankraum vergessen hatte. Der Wächter am Südtor wunderte sich zwar was die Beiden zu so später Stunde in der Wildnis suchten, schloss ihnen aber kommentarlos auf.
Ohne zu rasten kamen die Kriegerinnen an die Weggabelung, um nach Osten Richtung Stonnbagh abzubiegen. Erst als die Stadt an den Hängen des Drachenrückens in Sichtweite kam, legten sie eine Pause ein. Es dämmerte zwar schon, sie wollten aber lieber abwarten bis die Sonne höher am Himmel stand.
Die Straßen und Plätze des Ortes füllten sich mit Leben. Karren, mit allem was es wert war verkauft zu werden, wurden an ihnen vorbei aus der Stadt gezogen. Es wurden frische Brötchen gekauft und Bettlaken zum Lüften auf die Fensterbänke gehängt. Körbe mit Eiern und Säcke mit Mehl wurden von den umliegenden Höfen in die Stadt gebracht. Händler priesen ihre Waren an und ein Stadtschreier verkündete den neusten Klatsch. Die Kriegerinnen entschieden sich ihn als erstes zu fragen. Einen Mann mit ganz heller haut und silberblonden Haaren hatte er gesehen.
__„So ein Gesicht merkt man sich, aber wohin es verschwindet doch nicht.“
Auf die Frage, welche Gasthäuser bei Händlern beliebt seien, druckste er erst herum. Diana gab ihm schmollend ein paar Goldmünzen. Als sei die Sonne für ihn ein zweites Mal aufgegangen, erzählte er ihnen, welche Gasthäuser zu empfehlen waren.
Sie fragten die Wirte von allen Tavernen, die ihnen der Stadtschreier genannt hatte. Shar'Tel war sich sicher, dass Sayew in einem davon übernachtet haben muss. Denn die nächste Stadt lag erst jenseits des Drachenrückens. Den steilen Weg den Pass hinauf schafft man nicht an einem Abend. Außerdem galt Stonnbagh als wirtschaftliches Zentrum der Region, seit in Tristram soviel Ärger los ist.
Die Gastwirte bedauerten ihnen nicht weiter helfen zu können auch wenn ihn der beschriebene Mann mit Sicherheit aufgefallen wäre.
__„So einen habe ich hier nicht gesehen.“ hieß es überall.
__„Aber ich hab ihn gesehen.“ meinte ein kleiner Junge, der sich gerade in dem Raum aufhielt.
__„Ich kann euch zeigen, wo euer Freund hingegangen ist. Los, kommt mit!“
Er rannte aus der Kneipe und die Straße entlang. Die Kriegerinnen spurteten ihm hinterher. Er lief über den Marktplatz und bog in eine Seitengasse ein. Sie hofften ihn zwischen all den Straßen und Menschen nicht zu verlieren. In einem Hinterhof zeigte er auf eine Steinplatte.
__„Da hat er sich drauf gestellt und dann ist er verschwunden.“
Die große Marmorplatte war quadratisch und jede Kante zweieinhalb Schritt lang. Sie hatte Verzierungen aus Messing. Auf der Platte standen zwei Tonkrüge.
Shar'Tel betrat die Platte, die auf zwei Seiten von einer Hausecke eingerahmt wurde.
__„Ich würde da nicht drauf gehen.“ sagte der Junge. „Leute verschwinden dann einfach und tauchen tagelang nicht mehr auf.“
In Augenhöhe hing an einer der beiden Wände das Ortsschild mit dem Namen Stonnbagh. Shar’Tel las ihn laut vor und hoffte, dass etwas geschah. Tatsächlich geschah etwas. In den Krügen entbrannten blaue Flammen. Erschrocken sprang sie von der Platte. Sofort gingen die Flammen aus. Als sie die Platte wieder betrat, loderten auch die blauen Flämmchen wieder auf.
__„Ich weiß, was das ist.“, sagte sie langsam und versuchte sich zu erinnern, was ihre Mutter ihr erzählt hatte.
__„Das ist ein Wegpunkt. Kannst du mir sagen wie er funktioniert?“
__„Nö. Selbst wenn ich es wüsste, würde ich um dieses Hexenzeug einen Bogen machen.“ antwortete der Junge.
__„Na gut. Danke trotzdem.“
Ihre Mutter hatte Shar'Tel erzählt, dass sie damals die Wegpunkte benutz hatten und dass sie im ganzen Land verteilt waren. Sie versuchte sich zu erinnern, welche Wegpunkte es überhaupt gibt und sagte dann mit einem nicht geringen Maß an Bestimmtheit in der Stimme:
__„Harrogath.“
Nichts geschah.
__„Lut Gholein.“
Wieder nichts.
__„Verdammt! Wie soll ich ihn nur wieder finden? Er kann überall sein und zu Fuß holen wir ihn nie ein.“
Sie Schlug mit ihrer Faust gegen eine Hauswand. An der Stelle bröckelte der Putz ab.
__„Nimm es nicht so tragisch Shar! Du wirst den Stab schon irgendwann finden.“
__„Hoffentlich…“
…ich will nicht als Skelett enden.