Kapitel 8 – Abschied
Shar'Tel lag in ihrem Zimmer auf dem Bett. Neben ihr stand ein großer leerer Lederrucksack und allerlei Habseligkeiten waren auf dem Boden verstreut. Sie wartete nur darauf, dass jemand herein kam und ihr mitteilte, dass das nur ein Scherz war, oder dass man es sich schlicht anders überlegt hätte. Doch die Zeremonienmeisterinnen hatten sich sowohl untereinander als auch mit der Seherin Enetta beraten. Und der Rat der Weisen hatte ebenfalls dieser 'Reise' zugestimmt. Erst eine Woche zuvor hatte sie die Weihe erhalten und galt damit als volljährig, doch das kam ihr schon als Ewigkeit vor.
Zwei Speere hatte sie herstellen müssen, auch wenn andere die von Kasheel auferlegte Strafe als übertrieben empfunden hatten. Sarchi war mit Shar'Tels Arbeit zu frieden, Kasheel - wie zu erwarten war - nicht, hatte es aber dabei belassen.
__„Wie lange werde ich eigentlich unterwegs sein?“
wollte Shar’'Tel von ihrer Mutter wissen, die geraden das Zimmer betreten hatte, um ihr bei Packen der Tasche zu helfen.
__„Die Überfahrt nach Kingsport wird ein paar Tage dauern.“ antwortete Xavia und legte ein Schwert in einer Scheide auf das Bett.
__„Nein. Ich möchte wissen, wie lange ich insgesamt von Rudora fort sein werde.“ hackte Shar’Tel nach.
__„Das weiß ich beim besten Willen nicht. Die Reise wird solange dauern, wie sie dauern muss. Es wird niemanden geben der sagt: '
wage es nicht vor drei Monaten wiederzukommen, oder wir glauben, du hättest nicht genug gelernt.'
Erinnerst du dich an 'Diana'? Wir haben sie vor zwei Jahren verabschiedet. Letzten Monat hat uns eine Nachricht von ihr erreicht. Sie schreibt, sie trainiere noch eine Weile in Khanduras. Vielleicht begegnet ihr euch ja.
Apropos begegnen: Wenn du noch welche von meinen ehemaligen Kampfgefährten antreffen solltest, grüße sie von mir. In Harrogath solltest du dich unbedingt mit Dekar aufsuchen. Die Kinder von Bul'Kathos sind Fremden gegenüber eher misstrauisch und reagieren zuweilen aggressiv. Ich stelle deine Fertigkeiten nicht in Frage, trotzdem solltest du Kämpfe so weit es geht vermeiden. Sinnloses Blutvergießen ist nicht die Lösung der Probleme. Wann es besser ist zu kämpfen, wirst du selbst entscheiden können.
Aber jetzt wollen wir erstmal deine Tasche packen. Heute Nachmittag wird dein Schiff ablegen und da solltest du nichts vergessen haben.
Sorge immer für ausreichend trockene und warme Kleidung. Es kann
sehr kalt werden im hohen Norden. Ich würde dir meinen Pelzmantel geben, weil er leicht ist und guten Schutz nicht nur gegen Kälte bringt, aber leider - ich weiß auch nicht warum - habe ich ihn nicht mehr. Solange wirst du dich mit einer Lederrüstung begnügen müssen. Nicht nur wegen der Kälte solltest du dir etwas anziehen, sondern auch wegen den Männern. Auf dem Festland herrscht eine andere Mentalität. Sie sind dort nicht so diszipliniert und zurückhaltend wie die auf unserer Insel.“
__„Ich habe mir von Männern noch nie etwas sagen, oder gefallen lassen.“
__„Haue ihnen trotzdem nicht gleich die Schädel ein. Wie gesagt: Kämpfe sind nicht immer sinnvoll. Gib ihnen am besten erst gar keinen Grund aufdringlich zu werden."
__"Hier! Ich habe noch ein Schwert für dich.“
Xavia zog ein Langschwert aus einer einfachen Lederscheide, in die blaue Schnüre eingeflochten waren und zeigte ihr die Waffe, die sie mitgebracht hatte. Sie hatte den gleichen dicken Griff und das gleiche goldene Heft mit den zwei Schlangen, wie das prunkvolle Schwert, welches Shar'Tel zu ihrer Weihe erhalten hatte. Die Klinge war ebenfalls recht breit, wenn auch nicht so breit, wie die des Prunkschwertes. Zwar ist die Klinge schlecht ausbalanciert, aber es eignet sich wohl doch besser zum kämpfen, als das Stück Wohnzimmerdekoration.
__„Mum. Ich will ja nicht meckern, aber diese Schwerter sehen mir eher suboptimal aus.“
__„Es sind die einzigen Schwerter, die wir hier auf der Insel haben. Deine Großmutter hatte sie als Andenken von ihrer Reise mitgebracht. Was du damit machst, ist deine Sache. Du wirst sie von allen auf der Insel noch am ehesten gebrauchen können.“
__„Meine Großmutter hat ebenfalls eine Reise unternommen und die Insel verlassen? Dann liegt es also in der Tradition der Familie besonders zu sein.“
Dieser Gedanke zauberte ihr ein stolzes Lächeln ins Gesicht.
__„Nein, nicht ganz. Während wir, wo wir wieder etwas friedlichere Zeiten haben, den Mädchen
erlauben eine Reise anzutreten, um außerhalb der Insel ihr Können zu perfektionieren, war es zu meiner Zeit einfach eine Ehre sich im Kampf gegen die großen Drei beweisen zu dürfen. Klar hat jeder die Möglichkeit die Insel, oder die Stadt zu verlassen, sobald er Erwachsen ist, aber erstens auf eigene Gefahr hin und zweitens ist so eine Schifffahrt nicht ganz billig. Es sei denn, man heuert als Matrose an.
Du darfst dich wirklich glücklich schätzen. Der Rat der Weisen bezahlt dir die Überfahrt und gibt dir sogar noch ein Taschengeld auf den Weg.“
Xavia angelte aus einer Tasche einen großen mit Goldstücken gefüllten Lederbeutel.
__„Einhundertzwanzig Goldmünzen – du kannst doch mit Geld umgehen, hoffe ich?“
__„Ich war nicht grad schlecht in Algebra - Denke schon.“ überlegte Shar'Tel.
Sie band sich das kürzere der beiden Schwerter links an den Gürtel, den Lederbeutel auf die rechte Seite und das längere und besser zum Kämpfen geeignete Schwert über den Rücken. Den Dolch, den sie, wie jedes Mädchen, im Alter von zehn Zyklen bekommen hatte, befestigte sie am Oberschenkel. Dann schulterte sie noch den Rucksack, um zu sehen, ob er ihr auf dem langen Weg nicht zu schwer werden würde, aber er war recht leicht, da sie außer warmer Kleidung und einer Decke kaum etwas eingepackt hatten. Alles, was Shar'Tel zum Überleben brauchen würde, würde sie in der Natur finden können. Schließlich war das ein Hauptaspekt in ihrem Unterricht.
So bepackt begaben sie sich zum Hafen, wo bereits ein großes Handelsschiff eifrig mit Waren beladen wurde.
Enetta, Ronald Aoln vom Rat der Weisen und Jadzia, die heute Dienstfrei hatte, waren gekommen, um sich von Shar'Tel zu verabschieden.
Ronald, der sie als erster sah, begrüßte sie.
__„Na? Freust du dich schon auf die Reise? Oder möchtest du doch lieber hier bleiben?“
Freuen war wohl stark untertrieben. Schlichtweg sprachlos war Shar'Tel, weil es nun endlich losgehen sollte. Allein schon um Kasheel zu zeigen, dass sie noch mehr konnte, als Speere zu zerbrechen, wollte sie diese Reise so schnell wie möglich beginnen.
Ohne den dezenten Stupser in die Seite, hätte Shar'Tel jedoch vergessen sich bei Aoln für das Geld zu bedanken. Aber das war doch so selbstverständlich, dass man sich bedankt. Es war für Shar'Tel unverständlich, dass die andern bei der von ihnen gezeigten Großherzigkeit meinen könnten, sie wäre nicht dankbar gewesen.
__„Wenn wir bis zum Tag an dem ein Mädchen ihre Weihe erhält, bemerken, dass sie außergewöhnliche Fähigkeiten besitzt und wir ihr kaum noch etwas beibringen können,“, erklärte Enetta, „dann schicken wir sie auf eine Reise. Die Erfahrung die man dabei sammeln kann, ist mit dem Training hier auf der Insel in keinster Weise vergleichbar.
Ich habe die Knochen befragt, um zu sehen, welche Zukunft die Götter für Dich geplant haben.
Du kannst Dich deinem Schicksal nicht entziehen, mein Kind. Aber Du kannst ihm mutig entgegen treten.“
__„Sieh es als eine Art Stipendium.
Wir warten nur noch auf Baldur und dann kann das Abenteuer losgehen.“
Wie als ob Aoln ihn bestellt hatte, trat ein großer, breit gebauter Mann von Bord. Er trug ein aufgeknöpftes Hemd und eine weite Stoffhose, was ihn vom Rest der Mannschaft, wenn man mal vom goldbeschlagenen Säbel absah, kaum unterschied. Seine Haut war sonnen- und wettergegerbt. Die schwarzen Haare mit dem Ansatz von Silber und der zerzauste Bart sahen aus, als würde diese Person schon Wert auf ihr äußeres legen, wenn sie denn mal die Zeit dazu fand.
Der Mann ging auf Aoln zu und begrüßte ihn lautstark.
__„Seid gegrüßt. Wir sind mit dem Einladen fast fertig. Nicht mehr lange und wir können ablegen.“
„Ausgezeichnet. Baldur, das ist Shar'Tel. Sie wird euch als Passagierin bis nach Kingsportl begleiten.“
__„Passagiere sind immer gern gesehen. Ich bin Baldrujan, Käp'ten dieses Schiffes hier, aber du kannst mich Baldur nennen. Mit Etikette und Titeln hab' ich's nich so.
Wenn du dich von deinen Freunden hier verabschiedet hast, kann es losgehen.“
Shar'Tel drehte sich noch einmal um. Ihr Blick blieb auf Jadzia ruhen. Ihre beste Freundin hatte bis jetzt noch nichts gesagt. Sie wird sie vermissen.
__„Damit du mich nicht vergisst Shar:“ Jadzia drückte ihr ein Amulett in die Hand. Mit „Es wird dir Glück bringen.“ beantwortete sie die noch nicht gestellte Frage und küsste Shar'Tel auf die Wange.
__„Ich bin leider viel zu sehr Deine Mutter, um nicht sagen zu können: 'Pass auf Dich auf und gib nicht das ganze Gold auf einmal aus.'“
„Ich bin doch jetzt Erwachsen.“, antwortete sie ihrer Mutter, „Ich werde schon wissen, was gut und richtig ist. Du brauchst Dir keine Sorgen zu machen.“
__„Ich habe Dich viel zu lieb, als dass ich mir keine Sorgen machen könnte.“
__„Möge Athulua ein wachsames Auge auf Dich haben und möge Zerae euch ruhiges Wetter bescheiden.“ wünschte ihnen Enetta, während sie in die Beiboote klettern.
__„Ein bisschen Wind wär' schon schön. Umso schneller sind wir da.“ lachte Baldrujan schallend zurück.
Nicht ohne noch mal zu winken kletterte Shar'Tel die Strickleiter zum Deck hoch.
Auf ins Abenteuer!