schlechte Gedanken
Kapitel 11 – schlechte Gedanken
Das Schiff befand sich wieder in ruhigen Gewässern, doch hunderte Seemeilen entfernt machte sich jemand ernsthaft Sorgen
Die frische Brise, die über die Klippen wehte, belebte die Lebensgeister ein wenig, doch die Melancholie vergangener Träume wollte nicht ganz verschwinden. Xavia stand an diesem Morgen zusammen mit Enetta bei den Kreidefelsen östlich der Stadt Rudora.
„
Trauer und Alpträume sind einer ganz normalen Angst und Sorge um meine Tochter gewichen. Ihr hattet Recht, Enetta; es lag tatsächlich an den Schwertern. Doch wenn ich bedenke, dass diese Alpträume jetzt wohl möglich Shar'Tel plagen…Ich kann nur Hoffen, sie nutzt die erstbeste Gelegenheit sie loszuwerden.“
„
Aber ganz ohne Waffen, könnte es zu gefährlich werden. Wer weiß, was für Gefahren ihr begegnen werden.“
Hoffen ist nun mal nicht Wünschen und selbst Wünsche gehen nicht immer in Erfüllung. Und so kam es, dass Shar'Tel doch von Schrecken heimgesucht wurde.
Leichen lagen ihr zu Füssen. Doch obwohl diese aufgeschlitzt, blutverschmiert und zerstückelt waren, erkannte sie, wer da ag. Ihre Mutter Xavia, die den grünen Bogen umklammert hielt, Jadzia, die selbst tot noch wunderschön aussah, Enetta mit ihren Weisheit ausstrahlenden Haaren und dem blauen Amulett und ein Mann, den die Schwertkämpferin noch nie gesehen hatte. Sie meinte zu wissen, dass dies ihr Vater war, auch wenn sie ihn nie gekannt hatte. Die Indizien, die er bei sich trugt, waren wenig aussagekräftig. Er trugt einen Speer, einen Säbel und eine Kettenrüstung. Außerdem war bei der Leiche ein Bierkrug. Dieser war halb leer.
Ein Strom aus Blut umspülte die Leichen und ihre Knöchel. Freude und Erregung stieg ihre Beine hoch. Sie begann zu lachen – ein triumphierendes Lachen, Jubel.
Sie hatte diese Menschen umgebracht – das Blut tropfte von
ihrem Schwert – und der Fluss wurde zu einem See. Sie wusste, dass sie es war, sie war sich dessen bewusst. Und dieser Gedanke brachte ihr Befriedigung. Doch auch sie blutete. Die Wunde in ihrem Bauch füllte das Meer, in dem sie schwamm.
Die Anderen waren tot, doch sie lebte.
Die Anderen waren geschlagen, doch auch sie war verwundet worden.
Der Preis für den Sieg?
Nichtig im Angesicht des Triumphes
Aber es tat doch weh.
Uferlos war der blutrote Ozean, in dem sie trieb. Eine Flutwelle türmte sich auf und brach über ihr. Sie wurde hinab gezogen. Bis sich das rot zu einem schwarz verdunkelt hatte.
Shar'Tel wachte in einem mit weißen Tuch abgetrennten Raum auf. In einer Hängematte. Ein sich unterschwällig in ihr Bewusstsein drängendas Drücken in der Bauchgegen machte ihr klar: Sie war noch nicht tot.
Schade
Damit kam auch langsam die Erinnerung wieder. Sie war gestern von dieser Höllenbrut verletzt worden.
Gestern? Wie lange hatte sie geschlafen?
Unwichtig!
Das hieß, sie befand sich immer noch auf dem Schiff, wohl auf dem zur Verwundetenstation umfunktionierten Mannschaftsdeck. Sie spürte die Anwesenheit anderer Matrosen in diesem Raum. Sie atmeten, oder stöhnten leise.
Der Kampf am Vortag – Sie hatte nur eine Wunde am Bauch davon getragen, die inzwischen, so schätzte sie, genäht, desinfiziert und mit einer heilenden Paste bestrichen worden war – letzteres auf jeden Fall, das war unter dem Verband zu fühlen und zu riechen.
Sie schien noch relativ glimpflich davon gekommen sein.
Wie es wohl den Anderen ergangen ist?
Sie hatte jedenfalls Glück gehabt im Kampf gegen ausgewachsene Dämonen.
Glück?
Die Worte ihrer Freundin Jadzia kamen ihr wieder in den Sinn, mit denen sie Shar'Tel ein Amulett in die Hand gedrückt hatte:
Es wird dir Glück bringen
Ich hatte es doch gar nicht um den Hals.
Es befand sich noch in ihrem Rucksack, in einer Seitentasche, angebunden an einer der vielen Laschen. Sie hatte es, seit sie das Schiff betreten hatte, nicht mehr in die Hand genommen.
Ein Anflug von Panik traf Shar'Tel.
Ist das Amulett noch da? Ist der Rucksack noch da?
Doch das Gefühl wurde schnell wieder verdrängt.
Wo soll der Rucksack denn sonst sein?
Sie hatte Fragen, viele Fragen, die ihr Kapitän Baldrujan am besten beantworten konnte. Doch an aufstehen war jetzt nicht zu denken. Mal abgesehen davon, dass man ihr die Lederrüstung abgenommen hatte.
Das hieß warten. Warten hieß Regeneration, oder mit anderen Worten: Schlummern. Doch sie hatte Angst die Augen zu schließen. Angst wieder Bilder von Blutflutwellen zu sehen, oder von Rucksäcken, die über Bord gespühlt wurden.
Dieses angenehme Gefühl in die Hängematte zu versinken beim wegnicken. Sie erinnerte sich an den Kampf und an die Freude, die sie beim Töten ihrer Gegner hatte. Sie hatte einem wehrlosen kleinen Schlächter das Genick gebrochen.
Warum?
Die Alternative wäre gewesen, ihn langsam zu ertränken. Und überhaupt, das waren Dämonen, die den Tod mehr als verdienten.
Waren es wirklich Dämonen?
Ja, es waren und sind immer noch Dämonen. Daran gibt es nichts zu rütteln.
Ok, überzeugt. Aber was ist, wenn es nicht so einfach zu erkennen ist? Was ist, wenn der nächste Dämon sich in Menschengestallt versteckt? Werde ich dann auch zu hauen können? Was ist, wenn ein menschliches Wesen in einem Dämonenkörper steckt? Werde ich mich dann bremsen können, zuzuschlagen?
Was spielt das für eine Rolle? Ein toter Gegner ist ein guter Gegner.
Da ist es fast schon wieder enttäuschend geweckt zu werden.
Es waren der Kapitän und Lornehead, die sie weckten. Er hatte sich vorher schon um dem Rest seinen Crew gekümmert und nun war Shar’Tel an der Reihe. Lornehead spielte Krankenschwester und war in den vergangenen Stunden dem Schiffsarzt zur Hand gegangen.
„
Wie wäre es, wenn Sie zusammen mit den Offizieren und mir zu Abend essen, sobald Sie wieder genesen sind? Mit ihrem Kampfeinsatz haben Sie sich dies verdient.“
„
Klingt gut. Ich bin da offen für alles.“
„
Nein, sind Sie nicht; ich hab’s zugenäht.“
antwortete Sementar mit tonloser Stimme.
„
Haben Sie noch Schmerzen?“
erkundigte sich Baldrujan.
„
Nur wenn ich lache.“
Mit diesen Worten verstand der Kapitän die Einladung als abgemacht und wandte sich wieder seinem Schiff zu. Folglich musste Lornehead für die Beantwortung von einigen von Shar'Tels Fragen herhalten. Unteranderem warum sie jetzt auf der Verletztenstation tätig war, obwohl sie doch zu den Passagieren zählte.
„
Ich stamme aus Kurast, aber ich habe mich von den Schwestern vom verborgenen Auge zur Heilerin ausbilden lassen. Die drei großen Übel waren zwar schon besiegt, bevor ich meine Reise antreten konnte, aber ich wollte den Menschen in diesem geschunden Land helfen. Ich habe mitgeholfen das Kloster wieder aufzubauen. In diesen Gemäuern befindet sich die wohl größte Ansammlung von Wissen außerhalb von Deckard Cains Kopf.“
„
Dann waren Sie auch dafür verantwortlich, dass sich die Giftwolke der Wurfelexiere so schnell verzogen hat.“
„
Wie Sie sicherlich gemerkt haben, war es zum Zeitpunkt des Angriffs nahezu windstill. Die Wolke hätte sich noch über Stunden auf dem Schiff gehalten. Übelkeit und Atemnot wären noch die geringsten Gefahren gewesen, aber das wollte ich den Matrosen dann doch lieber nicht antun.“
„
Und warum hatten wir soviel Glück bei diesem Angriff?“
„
Nun ja…“
Ein Crewman, der in einer Hängematte nebenan lag, überlegte, ob er sich in das Gespräch einklinken sollte und kam dann zu dem Schluss, dass er wohl in nächster Zeit nicht Anderes zu tun hatte.
„
...Ich weiß es nicht genau, aber es muss irgendetwas mit dem Kapitän zu tun haben. Es ist, als ob ihn eine Aura des Schutzes umgibt, die uns ein Gefühl von Unangreifbarkeit vermittelt.
Mit Sicherheit kann ich das auch nicht sagen.“
Da dank Lorneheads Hilfe Shar'Tels Wunde schnell verheilt war, nam sie die Einladung zum Offiziersdinner wahr. Emessie Taej drückte ihren Dank über die erneute Rettung ihrer Fracht aus, indem sie Shar'Tel eins der Kleider aus den kostbaren Stoffen schenkte, mit denen sie handelte. Es war aus weißer Seide, verstärkt mit hellgrauer, fast weißer Caschmere-Wolle, deren Farbe und Form an eine Kettenrüstung erinnerte. Das Kleid fiel nach vorn und hinten jeweils in überlange Shorts aus, die ihr bis zu den Knöcheln reichten und am unteren Ende noch zehn Zentimeter breit waren. Der sonst für Kleider typische Rock war hier an den Seiten von der Hüfte an der Länge nach 'aufgeschlitzt'.
Sie schnallte sich das Prunkschwert, diesmal jenes, das einfach nur gut aussah und noch weniger zum Kämpfen geeignet war, um und befestigte den Dolch an ihrem Oberschenkel, der auch diesmal nicht von Stoff bedeckt war. Anschließend hängte sie sich den Talisman ihrer Freundin um, welcher aus einem in einem Goldring eingefassten roten Stein bestand und betrachtete sich im Spiegel. Es war, als sehe sie sich zum ersten Mal bewusst. In Rudora war sie eine von Vielen gewesen und hier war sie ein Unikat, das sich deutlich von der Masse abhob. Das machte sie stolz. Sie gefiel sich. Zwar hatte sie nicht besonders dunkle Haut, aber diese war immer noch dunkler als die Wettergegerbte der restlichen Besatzung. Durch ihre grün eingefärbten Haare schimmerte schon wieder das natürliche Blond durch. Sie nam sich vor diesen Umstand zu beheben, sobald sie wieder an Land war.
Am Tisch der Offiziere ging es heiter zu. Rum floss fleißig in alle Münder und man freute sich des Sieges. Besonders interessante Kampfszenen wurden noch einmal mit viel Pathos erläutert.
Mit neun Toten und siebenunddreißig Verletzten war der Blutzoll recht hoch gewesen, doch in Anbetracht eines Gegners aus fünfundzwanzig der kleinen und siebzehn der großen Dämonen, war dies noch verhältnismäßig glimpflich ausgefallen.
„
Nur fünfundzwanzig von diesen kleinen Biestern? Es kam mir wesentlich mehr vor.“
Meldete sich Shar'Tel zu Wort. Sie allein hatte schon fünf von Diesen aus dem Kampfgeschehen entfernt.
„
Dieser Schamane - wohl ihr Anführer - hat sie sofort wiederbelebt. Hätte er nicht irgendwann selbst in den Kampf eingegriffen, hätte das noch ewig dauern können. Er hat mit Kältemagie um sich gezaubert mit einer Geschwindigkeit, die ich so noch nicht gesehen habe.“
„
Ein paar Matrosen liegen mit Erfrierungen zweiten Grades auf der Verletztenstation, andere haben sich Schnittwunden an den durch die Luft fliegenden Eiskristallen geholt. Sogar unser Käpten wurde verletzt.“
„
Erzähl bloß nicht zu laut rum, dass ich nicht unsterblich bin, sonst kommen noch Andere auf die Idee.“
scherzte Baldrujan, worauf hin ihm die Offiziere zuprosteten.
Der Smutje und zwei Küchenhelfer betraten die Kabine, brachten mit Fleisch beladene Platten und räumten die leeren Vorsuppenteller ab. Baldrujan nam sich, von seinem Recht als Kapitän gebrauch machend, das beste Stück und erklärte dann allen anderen am Tisch Sitzenden lässig mit einer Gabel darauf zeigend:
„
Bauch, Rippen, Lende, Keule, Kotelett.
Ich empfehle vor allen Dingen die Leberpastete“
Natürlich hatte er sich mit seinem Schiffskoch abgesprochen, schließlich wollte dieser selbst dem Schicksal entgehen, an die Fische verfüttert zu werden.
„
Schmeckt wie Schweinefleisch. Mögt Ihr Schweinefleisch?“
Die Frage war direkt an Shar'Tel gerichtet, die diese Frage ein wenig undeutlich formuliert fand.
„
Ich bin dem zumindest nicht abgeneigt.“
Auf ihrer Insel gab es außer den extra dafür gehaltenen Hausschweinen nur Affen, die gelegentlich die nicht-vegetarische Speisekarte ergänzten.
Ein Oberoffizier, der, in Anbetracht des neuen Fleischreichtums des Schiffes, besonders schnell schaltete, scherzte in Richtung Gastgeber:
„
Erhofft Ihr euch dadurch an dämonische Kräfte zu gelangen, Sir?“
„
Durch die Verspeisung eines Wesens an dessen Kräfte zugelangen ist ein Irrglaube, selbst unter Dämonen. Nur ein paar Untote sind heute noch davon besessen, aber denen kann man auch vorwerfen, es nicht besser zu wissen.“
Auch wenn dies noch nicht der letzte Abend war auf diesem Schiff, so kam doch das neue Ufer und damit das unentdeckte Land, erstaunlich schnell näher.