Die Protektoren (11)
Das Angebot
Namensliste und Bezeichnungen:
Anna: Eine Zauberin, die von den Barbaren abstammt
Salcia: Eine Assassine, mit Anna befreundet
Fiska: Eine Amazone, mit Anna befreundet
Largais: Ein Paladin in Annas Gruppe
Remison: Feldherr des Protektors Aodhan und Eroberer der Stadt Madjan
Bradach: Ein Paladin in Geldors Winterlager
Cein: Ein Flüchtlingskind
Darsi: Eine tote Amazone
Aodhan: Der tote Protektor von Ra-Genion
Die Nando: Der Eigenname der Rebellenbewegung
Majan: Eine Stadt im Land Al-Amaris, die von Remison erobert wurde.
Ra-Genion: Der Name von Aodhans Protektorat
Al-Amaris: Das unbekannte Land, in das Anna, Salcia und Fiska verschlagen wurden.
Toltar: rituelle Selbsttötung bei den Amazonen
Durub: „Der Weg“, beschreibt den Kampfkodex der Assassinen
Ischerat: „Wegweiser“, Bezeichnung für den Lehrmeister einer Assassine
*
Anna lag auf ihrem Hügel hinter der Hütte in der späten Frühlingssonne und versuchte, sich zu entspannen. Es war im Lager ruhig geworden, denn nahezu alle Bewohner hatten es inzwischen verlassen, um von den vielen verstreuten kleineren Lagern aus Aktionen gegen die Protektorenherrschaft zu führen. Auch Anna war dazu bereit, aber sie wollte zunächst noch Batrasts Rückkehr abwarten, der bereits seit Wochen die Vorgänge um die Stadt Majan herum beobachtete.
Doch so recht wollte sich keine Entspannung einstellen. Ihre Gedanken kamen immer wieder zurück auf die Frage, wie sie und ihre beiden Freundinnen nach Al-Amaris gekommen waren.
Fiska ist seit September hier, Salcia seit November und ich seit dem März. Wir können uns weder an die Reise erinnern, noch wo Al-Amaris liegt. Warum hat die Begegnung mit Geldor einen Teil der Erinnerung zurückgebracht? Er selbst sagt, er wüsste es nicht, und ihm ginge es ähnlich wie uns.
Das Gefühl, die Antwort zum Greifen nahe vor sich zu haben, aber zu blind zu sein, um sie zu sehen, fing an, Anna zu quälen. Logik war noch nie meine Stärke. Wäre Lykos nur hier, er würde das Rätsel mit Leichtigkeit lösen. Ihre Gedanken drifteten weiter ab, hin zu ihrer Freundin Meri und deren Verlobten Lykos. Ob die Beiden schon geheiratet haben? Das letzte, an das ich mich in der Heimat erinnern kann, sind Meri und Lykos. Sie rennt mir nach und ich drehe meinen Kopf zu ihr um. Sie sagt etwas. Aber was? Dann holt Lykos sie ein und hält sie fest. Ich sehe ihre Gesichter unmittelbar vor mir: Meris Augen flehen, Lykos seine bitten. Was ist damals nur passiert?
Mit einem unzufriedenen Seufzer drehte Anna sich auf den Bauch um. Al-Amaris ist in acht Gebiete aufgeteilt, die so genannten Protektorate. Jedes Protektorat wird von einem absoluten Herrscher, dem Protektor, geleitet. Angeblich sind sie sehr unterschiedlich, doch ich habe bisher nur Aodhans Methoden kennen gelernt. Er ist ein Tyrann und scheint nichts außer Unterdrückung und Krieg zu kennen. Warum hat er mich verfolgt? Woher wusste er von mir? Jetzt habe ich mich seinen Gegnern angeschlossen, den Nando, die ihn stürzen wollen. Aber wie soll das funktionieren?
Ein lauter Ruf riss Anna aus ihrer Grübelei. Sie richtete ihren Oberkörper etwas auf und sah sich um. Ihr Blick fiel auf Fiska, die gerade mit gespielter Wildheit Cein packte und in den Schwitzkasten nahm. Ein leises Lächeln über die Ausgelassenheit ihrer Freundin erschien auf Annas Gesicht. Doch es verblasste, als sie daran denken musste, wie selten sie das erleben durfte, war die junge Amazone doch eine Geächtete ihres Volkes. Fiska war einst einer Verbrecherbande in die Hände gefallen, die sie mit dem Leben ihres Sohnes dazu erpresst hatte, ihnen tagsüber bei Überfällen auf Reisende zu helfen. Fiska hatte zwar nie direkt einen Menschen getötet, doch bei den Überfällen waren die Opfer oft von der Bande getötet worden. Nach den strengen Maßstäben des Amazonenvolkes hatte sie damit ihr Heimatrecht verwirkt. Was die drei Verbrecher ihr dann in den Nächten ihres mehrjährigen Martyriums angetan hatten, musste noch schlimmer gewesen sein, denn darüber hatte sie nie Genaueres berichtet.
Die Menschen sehen es dir nicht an, doch du bist immer noch schwer verwundet. Du hast gelächelt, als du vom Toltar sprachst. Sehnst du ihn herbei?
Cein entdeckte Annas Aufmerksamkeit und lief herbei. Sie zwang sich trotz ihrer trüben Gedanken zu einem Lächeln, um den Fehler ihrer ersten Begegnung nicht zu wiederholen. Er erreichte sie und grinste übermütig. Mit einem Mal hob sich Annas Stimmung, und ihr Lächeln wurde ehrlich.
„Na, Cein, was hast du denn ausgefressen, dass Fiska dich jagt?“
„Nichts!“, sagte er, „Hilfst du mir?“ Er lief hinter Anna.
„Freche Ratte! Mir Salz in den Tee zu schütten!“ Fiska sprang mit einem großen Satz über die verblüffte Anna hinweg, rollte sich ab und riss den Jungen dabei mit sich. Miteinander raufend kugelten sie den Hügel hinab. Das alles sah gefährlich aus, doch Anna kannte die Kraft und Geschicklichkeit ihrer Freundin. Ein Gemisch aus gespielten Hilfeschreien und Lachen erklang vom Fuß des Hügels, als Fiska den Jungen zur Strafe durchkitzelte.
„Es ist schön, den beiden beim Spielen zuzusehen“, sagte eine Stimme links neben Anna.
Sie wandte sich der Sprecherin zu. Es war Salcia, die nur zwei Schritte entfernt ebenfalls in der Sonne lag. Die Assassine hatte sich auf ihre Ellbogen gestemmt und blinzelte etwas gegen die tief stehende Sonne an. Sie war erst vor wenigen Tagen zurückgekehrt. Ihre Aufgabe war es gewesen, in Ergänzung zu Batrasts Beobachtungen der Vorgänge um die Stadt Majan, die Umgebung des Lagers zu überwachen, um gegnerische Spione zu entdecken und möglichst abzufangen. Jetzt war sie dabei von einer der verbliebenen Amazonen abgelöst worden.
„Ja, Fiska kann so ausgelassen sein“, antwortete Anna, doch es klang alles andere als fröhlich.
Salcia ahnte, was ihre Freundin bedrückte. „Glaubst du, sie wird wieder eine normale Amazone?“
Anna drehte sich auf den Rücken und stemmte sich ebenfalls mit ihren Ellbogen hoch. „Ich hoffe es.“
Beide verhielten einige Sekunden ihn nachdenklichem Schweigen.
„Du hast bemerkt, wie die hiesigen Amazonen sie meiden?“, fuhr Anna schließlich fort.
„Natürlich. Fiska fühlt sich schuldig, und das spüren sie“, meinte Salcia.
„Ich weiß nicht, wie ich ihr das ausreden kann. Und du? Du hast mir doch auch einmal dabei helfen können.“
Salcia sah Anna an und schüttelte langsam den Kopf. „Nein, so Leid es mir tut. Im Gegensatz zu dir hat sie tatsächlich Schuld auf sich geladen, das sieht sie selbst so und das kann niemand wegreden. In meinen Augen hat sie aber alles durch ihre erlittenen Leiden gesühnt, doch das scheint ihr selbst nicht zu genügen.“
„Wie meinst du das?“
„Amazonen scheinen Strafe und Sühne in unserem Sinne nicht zu kennen, ich habe das selbst noch nicht richtig begriffen.“
„Das fordern wir Zauberer auch nicht.“
„Ja, ihr fordert Besserung und Wiedergutmachung. Aber was fordern die Amazonen?“
„Ich fürchte, ich weiß es“, sagte Anna leise.
*
„Kommandantin?“
Anna schrak aus ihrem leichten Halbschlaf auf, den sie endlich aus ihren trüben Gedanken heraus gefunden hatte.
„Meine Dame, dürfen wir Euch stören?“
Es gab nur einen Menschen, der sie so nannte. Anna fragte sich manchmal, was die Ursache für Largais sonderbares Gehabe war, das ihr affektiert erschien. Anfangs hatte sie nicht einmal gewusst, was der Begriff „Dame“ bedeutet. Inzwischen hatte sie herausgefunden, dass er so ziemlich das Gegenteil von dem beschrieb, was sie sein wollte. Dennoch beharrte Largais darauf, und das ging Anna desweilen auf die Nerven. Sie war nahe daran, es ihm unter die Nase zu reiben, doch der Klang seiner Stimme ließ sie zögern.
Anna legte ihren Kopf in den Nacken, um den Paladin ansehen zu können.
„Natürlich, Largais. Worum geht es denn?“
„Mein Name ist Bradach“, antwortete eine zweite Stimme, und ein weiterer Paladin, den sie bisher nicht bemerkt hatte, trat in ihr Sichtfeld. „,Wir haben einen Gast bekommen, der Euch sprechen möchte.“
„Mich?“, wunderte Anna sich.
„Nicht persönlich. Genau genommen sucht er Geldor, doch der ist nicht im Lager. Und Ihr als seine Stellvertreterin...“
„He! Wer sagt so etwas?“ Anna sprang wütend auf. „Ich bin nicht seine Stellvertreterin!“
Bradach warf Largais einen verständnislosen Blick zu, wandte sich dann weiter an Anna.
„Wer ist es dann? Ihr seid hier im Lager die Einzige, die ein Kommando besitzt.“
„Deswegen bin ich noch lange nicht Geldors Stellvertreterin.“
Largais hob abwehrend beide Arme. „Bitte! Bradach meint es nicht so, er sucht nur jemanden, der an Geldors statt den Gast empfängt.“
„Genau“, bekräftigte Bradach.
Anna holte tief Luft, ließ sie dann aber langsam durch die Zähne entweichen.
„Na schön, das kann ich machen. Wo ist er?“
„Er wartet in Geldors Haus“, antwortete Bradach.
„In Ordnung.“ Sie blickte an sich herab. Sie trug ihre Lieblingskleidung, einen violetten Rock und ein graues Oberteil, die beide schon sichtbar abgenutzt waren. „Geht Ihr beide bitte vor, ich komme nach, sobald ich mich umgezogen habe.“
Sie nickten.
„Ich hätte nie gedacht, dass Paladine jemals eine Frau als Kommandantin anerkennen würden“, klang Salcias Stimme auf.
„Al-Amaris muss sehr weit von unserer Heimat entfernt liegen“, antwortete Anna nachdenklich.
Bradach erwartete Anna und Salcia im Vorraum von Geldors Hütte.
„Der Gast befindet sich im Hauptraum, Largais ist bereits bei ihm. Er hat freies Geleit und soll die Umgebung des Lagers nicht sehen. Deshalb haben wir ihn mit verbundenen Augen hierher gebracht, und er darf die Hütte bei Tageslicht nicht ohne Augenbinde verlassen.“
„Das verstehe ich“, bestätigte Anna. „Wer ist es?“
„Er nennt sich Parlan und ist vermutlich ein Unterhändler. Das ist nichts ungewöhnliches, meistens geht es darum, Gefangene auszutauschen.“
*
Remison wartete ungeduldig und angespannt auf seinen Verhandlungspartner. Er war zum ersten Mal persönlich bei den Rebellen. Zwar hatten sich in der Vergangenheit die Rebellen stets an die Zusage des freien Geleits gehalten, doch würde das auch noch gelten, sollten sie bemerken, dass er nicht irgendwer war, sondern der Feldherr des Protektors? Er hatte das Risiko wie gewohnt kühl kalkulierend abgeschätzt und schließlich akzeptiert. Er glaubte nicht, dass ihn jemand hier kannte. Diese Rebellengruppe kam von außerhalb, und in einer Sache hatte Aodhan Recht gehabt: Er war so gut wie nie aus seinem Heerlager herausgekommen.
Die Tür öffnete sich, und zu Remisons Überraschung erschien eine Frau in ihr. Er schätzte sie einen halben Kopf kleiner als sich selbst ein. Sie hatte leicht gewellte lange blonde Haare, die im Nacken zwar irgendwie zusammengebunden wirkten, aber dennoch breit über ihre Schultern fielen, und einen kräftigen, aber keineswegs unweiblichen, Körperbau, der sie von den ihm bekannten Amazonen markant unterschied und etwas schwerfällig erscheinen ließ. Ihre Kleidung bestand aus einem dunkelgrünen ärmellosen Oberteil und einem kurzen schwarzen Rock mit auffälliger roter Borte. Eine solche Frau hatte er noch nie gesehen. Seine Überraschung steigerte sich noch, als die Fremde auf ihn zuging. Sie bewegte sich mit einer Leichtigkeit, die ihm eine umfangreiche gymnastische Ausbildung und Übung verriet, und Nichts an ihrer Erscheinung wirkte jetzt noch schwerfällig. Sie kam bis an den Tisch heran und sah ihn wach aus ihren blauen Augen an.
Hinter ihr erschien eine zweite Frau. Sie war nur eine Spur kleiner als die erste, aber von schlankerer Statur. Auch sie machte einen ungewöhnlichen Eindruck, denn sie trug Hosen. Sie hatte schulterlange braune Haare, welche sie offen trug. Als sie sich bewegte, meinte er, eine Katze würde durch den Raum huschen. Sie setzte sich ohne ein Wort zu sagen ihm schräg gegenüber an den Tisch. Graue Augen blitzten ihn abschätzend an. Remison erinnerte sich an Berichte, in denen von einer solchen Person die Rede gewesen war. Doch bevor er tiefer in seinen Erinnerungen nachforschen konnte, sprach ihn die erste Fremde an.
„Ihr wolltet mit uns sprechen?“, fragte Anna den Fremden.
„Mein Name ist Parlan. Ich habe wichtige Nachrichten und ein Angebot, beides würde ich gerne mit Eurem Anführer besprechen.“
„Geldor ist nicht hier, aber Ihr könnt stattdessen mit mir reden.“
„Mit Euch? Die Angelegenheit ist wichtig.“
„Sie ist unsere Kommandantin!“, mischte sich Largais ein.
Remison sah, wie Annas Kopf herumruckte und dem Paladin einen verweisenden Blick zuwarf. Zu seiner Verwunderung machte der große Krieger eine entschuldigende Geste. Doch schon wandte sich die blonde Kriegerin wieder an ihn.
„Verzeihung“, sie reichte ihm nach Sitte der Paladine die rechte Hand über den Tisch. „Ich bin Anna.“
Das ist also jene Anna?
Er nahm die angebotene Hand an und bemerkte die Narben am Handgelenk. Jetzt gab es keine Zweifel mehr.
„Bitte sagt uns, was Euch am Herzen liegt. Wenn notwendig, werde ich es dann an Geldor weiterleiten. Anders geht es nicht.“ Sie verzog ihren Mund zu einem entschuldigenden Lächeln.
„Die Angelegenheit ist wirklich äußerst wichtig und muss unbedingt vertraulich bleiben.“
„Auch wenn es Euch ungewohnt erscheinen mag, Parlan, Anna ist Geldors Stellvertreterin“, sagte Bradach. „Ihr könnt Ihr ebenso vertrauen wie ihm selbst.“
Remison sah, wie die blonde Frau dem Paladin einen strengen Blick zuwarf. Das gab den Ausschlag.
„Ich bin vom Feldherrn Remison bevollmächtigt, euch Rebellen Verhandlungen zum Sturz Aodhans anzubieten.“
„Wie bitte? Das sagt Ihr einfach so?“
„Versteht Ihr jetzt, warum ich unbedingt mit einem führenden Nando reden muss?“
„Das meinte ich nicht. Ihr redet von einem Umsturz, als wenn es etwas alltägliches wäre.“
„Weder ich noch Remison reden um Sachen herum. Warum sollte ich nicht offen sein? Herumlavieren würde nur Zeit kosten.“
Anna sah den Fremden nachdenklich an. Es kam ihr sonderbar vor, dass ein Bote eine solches Vorhaben so gelassen aussprach.
„Na schön ... Remison will also Aodhan stürzen. Und was käme danach?“
„Danach suchen wir zusammen einen neuen Protektor, der etwas taugt und nicht nur das Volk unterdrückt“, antwortete er forsch.
„Zum Beispiel Remison?“
„Warum nicht? Er wäre ein guter Protektor und kein gewissenloser Tyrann. Remison wäre bereit, euch alle wieder in das Protektorat aufzunehmen, natürlich ohne irgendwelche Verfolgungen, wenn ihr ihm beim Umsturz unterstützt.“
Anna lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie hatte ein zwiespältiges Gefühl bei diesem Mann. Einerseits spürte sie, dass er es ehrlich meinte, andererseits schien er ihr aber auch zu lügen. Vor allem jedoch konnte sie eine Sache von solcher Bedeutung nicht alleine entscheiden.
„Ihr habt Recht, eine solche Sache muss von Geldor vertreten werden. Ich werde einen Boten nach ihm schicken. Das wird wahrscheinlich einige Tage dauern. Solange könnt Ihr als Gast im Lager bleiben.“ Sie bemerkte Bradachs Geste. „Auf die Sicherheitsvorkehrungen muss ich leider weiterhin bestehen. Ihr werdet eine eigene Hütte bekommen, die Ihr am Tag nicht ohne Augenbinde verlassen dürft.“
Bradach band dem Fremden eine Binde um den Kopf und geleitete ihn nach draußen. Anna, Salcia und Largais folgten unmittelbar vor die Tür, wo Fiska auf sie gewartet hatte. Es dämmerte bereits der Abend heran.
„Geldor wird zu Euch kommen, sobald er hier ist“, verabschiedete Anna Remison.
„Gut, ich werde warten“, antwortete er und ließ sich am Arm von Bradach wegführen.
Fiska sah beiden nach. Als beide außer Hörweite waren meinte sie: „Was will denn Remison von Geldor?“
„Das war Parlan. Er ist nur ein Bote“, erwiderte Anna. „Doch warum schaust du so zweifelnd?“
Fiska wand sich sichtlich unwohl.
„Sag schon“, forderte Salcia sie auf. „Oder glaubst du etwa, wir verheimlichen dir etwas?“
„Nein, nein“, wehrte Fiska ab. „Ich meine ja nur ... ich habe Remison zwar nur von entfernt gesehen, aber Größe und Gestalt stimmen genau. Vor allem aber, er bewegt sich so wie der Feldherr.“ Salcia sah sie fragend an. „Menschen bewegen sich so unterschiedlich, dass man sie alleine an ihrem Gang erkennen kann. Als Amazone habe ich dafür ein Auge“, erklärte Fiska. „Wir lernen das von Kindheit an, um besser zu treffen. Pfeile fliegen einige Augenblicke lang, da muss man Bewegungen genau voraussagen können.“
„Wusste ich es doch, dass er falsch ist!“, rief Anna aus.
Sie wollte wütend losstapfen, doch Salcia hielt sie am Arm fest. „Warte! Wir sollten erst darüber nachdenken.“
Anna wollte sich im ersten Impuls losreißen, doch dann drehte sie sich um. „Was gibt es da zu überlegen? Ich werde ihm meine Meinung darüber sagen, mich anzulügen!“
Salcia packte auch ihren zweiten Arm. „Anna! Ich verstehe dich ja, doch vielleicht hat er einen verständlichen Grund dafür.“
„Sicher hat er den. So kann er sich selbst für den Protektorenposten vorschlagen.“
„Was?“, rief Fiska erstaunt dazwischen.
„Kommt, lasst uns in unsere Hütte gehen und Fiska alles erzählen. Danach besuchen wir mit kühlem Blut Remison“, schlug Salcia vor.
Anna nickte schließlich. „In Ordnung, machen wir es so.“
*
Es war bereits dunkel geworden, als Anna, Salcia, Fiska und Largais zu Remisons Hütte
gingen. Sie besaß zwei größere Räume, im hinteren war Remison untergebracht, in dem vorderen war Bradach vorübergehend als seine Wache eingezogen. Der Paladin öffnete ihnen die Tür.
„Ihr wollt noch einmal mit Parlan sprechen?“, fragte er.
„Ja“, nickte Anna, „wir haben eine dringende Frage an ihn. Könntet Ihr dabei sein?“
„Natürlich. Der Raum wird nur etwas klein sein.“
Er ging zur Verbindungstür und klopfte an.
Remison lag voll bekleidet auf seinem Bett, als sie eintraten. Als er erkannte, wer ihn alles besuchte, richtete er sich rasch auf und schwang seine Beine auf den Boden. Anna schob sich neben den vorausgegangenen Bradach nach vorne und deutete anklagend mit dem Finger auf ihn.
„Gebt es zu, Ihr seid Remison, der Feldherr des Protektors Aodhan!“
Ihre Blicke kreuzten sich.
„Ja“, antwortete Remison mit ausdruckslosem Gesicht, „das stimmt.“
Anna spürte, wie sich eine schwere Hand auf ihre Schulter legte. Sie konnte nur von Largais stammen, der sie wahrscheinlich von Dummheiten abhalten wollte. Tatsächlich bemerkte sie jetzt, wie sich eine Spannung in ihrem Körper aufgebaut hatte, wie bei einem Tier, das zum Sprung ansetzt. Sie zwang sich zum Entspannen und holte langsam Luft.
„Ihr leugnet es also nicht?“, fragte sie.
„Nein, wozu wäre das nützlich?“
„Warum habt Ihr Euch dann zuerst als sein Bote ausgegeben? Was soll das?“
„Ich glaubte, dass würde die Verhandlungen vereinfachen. Feldherren besuchen normalerweise nie selbst den Feind. Aber ich sehe Euch an, dass Ihr irgendwelche Beweise habt. Hat mich jemand erkannt? Egal, es wäre bestimmt sinnlos, es zu leugnen.“ Er machte eine nachdenkliche Pause, ehe er weitersprach. „Vielleicht begreift Ihr nun endlich die Dringlichkeit. In dieser Situation mein Heer viele Tage alleine zu lassen könnte schreckliche Folgen haben. Ich muss unbedingt früher mit Geldor sprechen.“
„Das Ihr Euer Heer nicht alleine lassen wollt verstehe ich, aber warum seid Ihr dann persönlich gekommen?“, fragte Anna.
„Weil Ihr keinem Eurer Unterhändler Eure Umsturzpläne anvertrauen wolltet?“, spekulierte Salcia.
Remison schüttelte seinen Kopf. „Ich hätte genügend vertrauensvolle Untergebene. Der eigentliche Grund ist der Zeitdruck. Ihr müsst annehmen, ich rede über einen Plan zum Sturz Aodhans, den wir auch in einigen Monaten noch ausführen könnten.“ Er ging zu seinem Reisebeutel und fing an, in ihm zu suchen. „Doch das ist nicht so. Als ich sagte, ich wolle den Protektor stürzen, hatte ich etwas verschwiegen.“ Er sah Anna entschuldigend an, dann wühlte er weiter in seinen Sachen. Endlich fand er das Gesuchte und wandte sich erneut an Anna. Er sah ihr direkt in das Gesicht. „Aodhan ist bereits bei einem Attentat getötet worden“, sagte er ruhig und hielt ihr ein kleines Bündel hin.
„Aodhan ist tot?“, fragte Anna ungläubig und nahm das Päckchen entgegen.
„Ja“, bekräftigte Remison. „Ich habe bis jetzt gezögert, das zu sagen, denn umso weniger Menschen es wissen, desto besser.“
„Wer weiß es alles?“
Remison lächelte andeutungsweise. „Das werde ich Euch nicht sagen. Doch es sind nur Wenige.“
„Ihr fürchtet, dass Nachfolgekämpfe ausbrechen und das Protektorat in einen Bürgerkrieg fallen könnte?“, fragte Bradach dazwischen.
Remison nickte. „Ja, und es könnte auch von außen angegriffen werden. Ich weiß nicht, wie lange Aodhans Tod verborgen bleiben wird. Doch bis dahin muss es einen Nachfolger geben. Ich mit meinem Heer bin jetzt die stärkste Kraft und könnte das Protektorat zusammenhalten.“
„Warum sollen wir ausgerechnet Euch, dem Feldherren dieses Tyrannen, dabei helfen?“, zweifelte Salcia.
Remison sah sie an. „Weil Ihr so sehr viel von euren Zielen erreichen könntet. Sicherlich weit mehr, als wenn Ihr weiterkämpfen würdet.“
Anna hatte die Unterbrechung genutzt, um das Bündel zu öffnen. Es war ein schmutziger Lederlappen, in dem sie einen blutverkrusteten Dolch fand.
„Was ist das?“, fragte sie Remison.
„Der Dolch, mit dem Aodhan getötet worden ist. Sein Blut klebt noch an der Klinge. Es war eine von euch, die ihn erstach. Leider bezahlte sie es mit ihrem Leben.“ Er lächelte leicht. „Ihr habt vorbildliche Kämpfer in Euren Reihen, Anna. Sie hatte bis zuletzt alles gegeben, um den Tyrannen zu töten und starb mit Eurem Namen auf den Lippen.“
„Was? Wer?“, stammelte Anna.
„Sie nannte sich Darsi.“
Es wurde still im Raum. Remison konnte sehen, wie Anna die Augen schloss und sich ihre Hand um den Dolchgriff verkrampfte. Ihr Gesicht versteinerte, dann drehte sie sich zu seiner Überraschung wortlos um und ging. Dabei rempelte sie eine der vor Schreck erstarrten restlichen Besucher an, es war eine blonde kleine Frau in braunen Wildlederkleidern. Anna schien das nicht zu bemerken, ohne irgendeine sichtbare Reaktion ging sie weiter. Kaum war sie aus dem Haus, als auch Largais und die beiden anderen Frauen ihr folgten. Remison wandte sich an den verbliebenen Bradach: „Was hat das zu bedeuten? Ich lobe den Mut ihrer Kämpfer und dann diese Reaktion?“
Bradach zuckte mit den Schultern. „Das kann ich auch nicht sagen. Habt etwas Geduld.“ Dann verließ auch er Remisons Zimmer.
Sie fanden Anna in ihrer Hütte wieder. Sie saß mit angezogenen Knien eng zusammengekauert in einer Ecke des kleinen Waschraums auf dem Boden. Ihr Kopf war kraftlos nach vorne gekippt.
„Anna?“, fragte Salcia sie, doch ihre Freundin reagierte nicht. Sie kniete sich vor sie. „Anna! Was hast du?“ Sie packte sie an den Armen und rüttelte sie. Anna sah kurz auf, doch ihr Blick war leer. „Anna, verdammt!“ Salcia fing an, mit kraftlosen Schlägen gegen ihre Schultern zu boxen. „Bitte, sprich mit mir!“
Largais tat einen Schritt nach vorne und zog Salcia sanft aber bestimmt weg. Dann setzte er sich neben Anna auf den Boden, legte seinen rechten Arm um sie und zog sie an sich. Seine Geste war von tiefem Ernst. Anna löste ihre um die Beine gekrampften Arme und packte damit Largais zweiten Arm. Niemand sagte ein Wort. Fiska zog Salcia fort in den Hauptraum.
„Was können wir tun?“, fragte Salcia und wischte sich ihre Tränen aus dem Gesicht.
„Hatte sie so etwas nicht schon einmal?“, spielte Fiska auf ein Ereignis in der Vergangenheit an.
„Ja, aber damals ging es nur darum, dass sie mich hatte bestrafen müssen.“ Salcia fuhr sich unruhig mit der rechten Hand über das Gesicht. Die Erinnerung daran, dass Anna sich damals beinahe selbst getötet hatte ließ sie erschaudern. „Doch dieses Mal ist jemand gestorben.“ Sie erkannte, wie sich ihre Angst auf Fiska übertrug und zwang sich zu einem zuversichtlichen Lächeln. „Andererseits ist sie älter und reifer geworden. Wir schaffen das schon!“ Sie stand auf und fing an, ruhelos umher zu wandern. „Wir sollten sie auf andere Gedanken bringen. Vor allem müssen wir zeigen, dass wir auf ihrer Seite stehen und ihr keine Vorwürfe machen.“ Sie drehte sich zu der nachgefolgten Fiska um. „Ich mache ihr keine. Und du? Darsi war schließlich eine Amazone, da würde ich es verstehen. Bitte sei ehrlich. Anna würde es spüren.“
„Mache dir da keine Sorgen. Ich kannte Darsi kaum, Freunde waren wir nicht. Auch hatte Darsi den Tod gesucht. Anna konnte nicht wissen, wie ihre Worte auf sie wirken würden. Manchmal kann der Andere sagen was er will, man hört immer dasselbe heraus.“ Sie blickte Salcia in die Augen. „Außerdem“, ein leicht verträumtes Lächeln umzog Fiskas Mund, „der Tod ist nichts schlimmes.“
Salcia starrte ihre Freundin an, nickte schließlich. „Darüber möchte ich später mit dir ausführlich reden, doch jetzt kümmern wir uns um Anna. Hast du eine Idee?“
„Wenn mein Sohn traurig ist, dann koche ich ihm etwas leckeres.“
„Lass uns das versuchen.“ Salcia fuhr sich wieder nervös durch das Gesicht, bemerkte ihre Geste und sah sich auf die Handflächen. „Wie wäre es mit deiner Linsensuppe? Anna mag sie sehr gerne und wir könnten sie ohne Zeitdruck kochen und essen.“
Fiska nickte.
Nach etwa einer Stunde erschien Largais im Hauptraum. Salcia und Fiska saßen an dem Tisch. Auch Cein war da, die Ereignisse hatte ihn wieder aufgeweckt. Er verstand nicht, was passiert war, doch die ernste Stimmung hatte ihn still werden lassen. Alle drei waren gerade dabei, Gemüse zu putzen und Kartoffeln zu schälen. Salcia sah den Paladin an, der sich inzwischen seiner Rüstung entledigt hatte.
„Wie geht es Anna?“, fragte sie.
„Etwas besser. Sie ist nicht mehr ganz so teilnahmslos, aber sie spricht immer noch nicht.“ Er setzte sich auf den vierten Stuhl am Tisch und sah ihnen etwas bei der Arbeit zu. Es war ihm anzusehen, dass noch etwas auf ihm lastete. Endlich gab er sich einen Ruck.
„Kann ich euch beide etwas fragen?“
Salcia sah ihn auffordernd an.
„Ich meine ... nun ... ich weiß nicht, ob ich richtig handle, wenn ich Anna so anfasse.“
„Begehrst du sie?“
Largais wurde von Salcias direkter Frage etwas zurückgestoßen.
„Natürlich nicht! Sie ist meine Kommandantin und ich ihr persönlicher Paladin. Ich weiß, was Anstand ist und werde ihn wahren.“
„Das will Salcia auch gar nicht anzweifeln“, mischte Fiska sich ein. „Ich fand es schön, wie du Anna in den Arm genommen hast, doch wie der Paladin der Kommandantin hat das nicht ausgesehen.“ Sie machte eine beschwichtigende Geste. „Verstehe mich nicht falsch, ich fand das richtig.“
Largais seufzte laut. „Das ist mir eben auch klar geworden, deshalb bin ich zu euch gekommen. Vorhin hatte ich nicht daran gedacht. Dabei denke ich sonst immer daran. Nein, in der Ecke vom Waschraum sitzt ein Häufchen Elend. Keine Kommandantin, keine Frau, einfach nur ein bemitleidendwerter Mensch.“
Fiska lächelte leicht. „Ja, und du hast sie wie ein Kind in den Arm genommen.“
„Das mögen Einige für lächerlich oder peinlich halten.“
Salcia schüttelte leicht ihren Kopf. „Wir sind hier unter uns. Irgendwann braucht jeder einmal diese Art von Hilfe, die angeblich so lächerlich ist. Glaube mir, wenn Anna sich erholt hat, wird sie dir dafür dankbarer sein als für alles andere.“
„Mein ihr?“, fragte Largais und sah beide nacheinander an.
Fiska und Salcia nickten bestimmt.
„Anna ist nicht davongelaufen, weil sie sich ihrer Gefühle schämt, sondern weil sie sich selbst ausstößt. Ohne deine Geste wäre sie noch tiefer in den Abgrund der Einsamkeit gestürzt...“, fuhr Salcia fort, unterbrach sich dann aber, als sie eine Bewegung in der Tür zum Waschraum bemerkte. Es war Anna.
„Darf ich mich zu euch setzen?“, fragte sie leise.
„Anna! Komm, setz dich zu uns. Wir machen eine Linsensuppe.“
„Eine Linsensuppe?“ Anna kam langsam heran und sank kraftlos auf einen Stuhl. Ihr Gesicht war blass und ihre Augen huschten ruhelos umher. „Was richte ich nur an“, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme. „Erst tötet meine Unachtsamkeit die beiden Menschen, die mich gerettet und aufgenommen hatten. Dann drängel ich mich in Gom vor, was zwei Menschen das Leben kostet. Ich schlug meine Freundin nieder, dir mir helfen wollte. Und jetzt schickte ich Darsi in den sicheren Tod. Wäre ich doch nur im Schneesturm erfroren, es würde allen besser gehen!“
Fiskas Gesicht fing an zu zucken. Mit fahrigen Bewegungen sammelte sie hastig die Zutaten ein, stand auf und lief eilig zum Topf, um sie hineinzuwerfen. Doch es war zu still im Raum geworden, um ihr Weinen nicht zu hören.
Salcia suchte angestrengt nach Worten, während Largais erneut versuchte, Anna zu umarmen. Sie sträubte sich nicht, kam dem aber auch nicht entgegen.
„Anna, du darfst das nicht so einseitig auf dich beziehen“, versuchte ihre Freundin es schließlich in der Gewissheit, dass ein einfaches Zurückweisen dieser Selbstanklage scheitern würde. „Es stimmt, die beiden Alten starben, weil sie dir geholfen hatten, aber doch nicht durch dich. Ermordet wurden sie von Kieran. Im Gefängnis war eine Magiefalle, und die Wächter wollten uns töten. Ohne dein Eingreifen wären wir nicht zurückgekehrt, und der gefangene Bäcker wäre grausam hingerichtet worden.“ Salcia ergriff mit beiden Händen Annas Hand und sah ihr bittend in das Gesicht. „Das du mich getroffen hast war mein Fehler, das sagte ich schon. Eine Assassine darf sich nicht von einer solchen Waffe treffen lassen.“ Sie zwang sich ein Lächeln auf, das aber etwas verkrampft wirkte. „Erzähle es bitte nicht weiter.“ Ihr Gesicht wurde wieder ernst. „Und Darsi hat nicht wegen dir den Protektor getötet, sondern ...“
„... sondern für sich selbst“, fiel ihr überraschend Fiska ins Wort. „Darsi war viel zu Stolz gewesen, als dass sie für eine Fremde ihr Leben geopfert hätte.“
Salcia war der bittere Unterton in Fiskas Worten nicht entgangen.
Bitte nicht jetzt!
Doch die Amazone hatte sich bereits wieder umgedreht und widmete sich erneut der Suppe.
Anna schien auf all das nicht zu reagieren.
Etwa eine viertel Stunde später klopfte es. Lagais nahm hastig den Arm von Annas Schulter. Salcia stand auf und öffnete die Tür, zu ihrer Verärgerung standen Remison und Bradach vor ihr.
„Remison wünschte Euch zu besuchen, wenn es um diese Zeit noch Recht ist“, erklärte Bradach.
„Das ist jetzt ungünstig, Anna geht es nicht so gut. Ginge es morgen Nachmittag?“
Remison schob sich nach vorne. „Der Tod ihrer Kriegerin hat sie schwer getroffen?“, fragte er leise.
Salcia sah ihn kühl an. „Darsi war nicht ihre Kriegerin. Sie war eine von den Amazonen.“
„Lass ihn ein, Salcia“, klang Annas Stimme unerwartet auf. „Wenn sein Besuch dieses gegenseitige Töten zu beenden hilft, dann soll es nicht an mir scheitern.“
Die Assassine zögerte noch, deutete schließlich mit dem Finger auf Remison. „Also gut“, sagte sie gefährlich leise, „doch wenn ihr Anna noch mehr schadet, werdet Ihr feststellen, dass Eure Immunität Grenzen hat.“
Er nickte. „Das verstehe ich. Ich stehe auf der anderen Seite und bin Euer Feind, aber ich teile Eure Auffassung über Kameradschaft. Doch es geht um etwas, dass ich unbedingt mit Anna besprechen muss, bevor Geldor eintrifft. Soeben habe ich erfahren, dass er bereits morgen früh hier sein soll.“
„Das stimmt. Ich wollte es euch mitteilen, doch Remison bestand darauf, gleich mitzukommen“, bestätigte Bradach.
Salcia gab den Weg frei. Während der Feldherr eintrat, winkte sein Begleiter ab. Er wolle die Situation nicht noch unübersichtlicher machen, meinte er.
Als Remison eintrat, zuckte Cein zusammen. Er lief zu Fiska, die beruhigend auf ihn einredete.
„Jetzt verstehe ich langsam“, meinte Remison, der den Jungen wiedererkannte. „Nun, wenn wir uns einig werden, dann werden keine Geiseln von den Majanern mehr benötigt werden.“
Salcia stellte etwas unsanft den aus dem Waschraum geholten Schemel neben ihren Stuhl. „Kinder als Geiseln ... Für Euch, verehrter Feldherr.“ Ihre Verachtung war unüberhörbar. „Ihr werdet neben mir sitzen.“
„Ihr seht das falsch. Geiseln sind hier üblich und haben sich gut bewährt. Wenn die Geiselgeber die Vereinbarung brechen, töten wir die Kinder dennoch nicht, sondern geben sie nur zur Adoption frei.“
Salcia sah ihn eisig an, doch ehe sie etwas erwidern konnte mischte sich Fiska ein.
„Bitte streitet euch nicht“, bat sie mit einem Seitenblick auf Anna und stellte die Holzteller auf den Tisch. „Wer kocht, der bestimmt, sagen die Amazonen“, sie versuchte ein Lächeln, „und ich wünsche mir Frieden für heute Abend.“
Remison hob entschuldigend die Arme. „Ich bin nicht zum Streiten gekommen.“
Salcia verschränkte leicht verstimmt die Arme vor der Brust. „Aber wir reden jetzt nicht über Heldentaten. Ist das klar?“
Es war ein bedrückendes Mahl. Außer Remison schien niemand am Tisch Appetit zu haben. Er saß Anna schräg gegenüber, die mit dem Löffel in ihrer Suppe herumrührte. Irgendwann kreuzten sich ihre Blicke.
„Darf ich fragen, was Euch so betroffen macht?“
Er bemerkte im Augenwinkel, wie sich Salcia anspannte.
„Wenn ich vorhin leichtfertig über Darsis Tod erschienen bin, dann tut mir das Leid. Bitte versteht, als Feldherr bin ich den Tod gewohnt. Er gehört zum Kriegshandwerk dazu. Meine Männer wissen das. Aber sie verlangen von mir, nicht sinnlos zu sterben, und ich versprach es ihnen. Darsi ist mit Sicherheit nicht umsonst gestorben, im Gegenteil, sie erreichte viel mehr, als ein Mensch sich normalerweise erträumen kann.“
Anna legte ihren Löffel auf den Tellerrand.
„Ich habe sie kaum gekannt. Sie hat mich kaum gekannt, und dennoch hat sie mir anvertraut, was sie erlebt hatte. Ich hätte einen Weg finden müssen, sie zu retten.“ Anna starrte Remison an. „Ihr habt sie zerbrochen. Einen Menschen, der fühlt, einfach so zu eurer Unterhaltung zerstört. Wolltet Ihr nur wissen, wie das aussieht?“
„Ich? Wie kommt Ihr denn darauf?“
Ihre Arme schossen nach vorne und packten Remisons linken Unterarm.
„Eure Tyrannei war durch Nichts zu rechtfertigen. Einzig mein fester Wille, niemanden zu hassen, und die Vernunft, nicht wegen Euch eine Gelegenheit zum Frieden zu opfern, lässt mich mit Euch reden.“
„Ich habe mit den Gräueltaten nichts zu tun gehabt. Das war der Geheimdienst, mein Bereich ist immer nur das Heer gewesen.“
„Nichts damit zu tun gehabt?“, schrie sie. „Ihr wart eine der Säulen dieses Protektors! Auch wenn Eure Blindheit selbst uns hier bekannt ist, so ist das keine Ausrede. Es war Eure Pflicht, zu wissen, was Ihr da mitgetragen habt!“
„Anna, nicht!“, sagte Salcia und griff nach ihren Händen, die Remisons Arm so fest umklammerten, dass die Knöchel weiß geworden waren.
„Lasst nur“, sagte Remison zu ihr und wehrte ihre Hilfe mit der freien Hand ab. „Eure Kommandantin hat nicht ganz unrecht.“ Er sah Anna an. „Doch was nützt das jetzt? Emotionen dürfen wir uns nicht erlauben, dazu tragen wir zu viel Verantwortung.“
Anna ließ seinen Arm frei. „Auch wenn wir uns nicht verstehen, so stimme ich überein, dass wir zusammenarbeiten müssen.“ Sie sah erst Salcia, dann Fiska an. „Danke euch beiden. Mir geht es wieder besser.“ Sie drehte sich zu Largais um. „Und dir auch.“Dann wandte sie sich wieder an Remison. „Was gibt es, das so dringend ist?“
Remison hob die rechte Hand vom Tisch, ließ sie dann aber wieder zurücksinken. „Ich möchte diesen Krieg beenden. Ich möchte auch mit den Nando Frieden schließen. Ich möchte das Protektorat zu dem machen, was sein Name besagt, doch es gibt noch eine Sache, die geklärt werden muss.“ Er sah Anna an. „Ihr müsst mir schwören, Euch nicht mehr einzumischen und das Land zu verlassen.“
Largais sprang von seinem Stuhl hoch und fing an, auf Remison einzuschimpfen. Fiska wurde blass und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Anna war zunächst sprachlos, erkannte jedoch zugleich, dass Salcia kurz davor war, ihre Beherrschung zu verlieren und Remison anzugreifen. Das wäre ein Bruch, den sie letztlich teuer bezahlen würde. Es war wohl dieser Gedanke, nicht noch jemanden in sein Verderben stürzen zu lassen, der Anna so reagieren ließ. Sie hob beschwörend beide Arme.
„Bitte beruhigt euch alle!“ Flehend sah sie Salcia an. „Bitte!“ Dann schwenkte ihr Blick weiter zu Remison. „Ich verstehe Euch nicht. Wenn wir Frieden haben, werde ich Euch ebenso wenig bekämpfen wie alle Anderen auch.“
„Das genügt mir nicht. Ihr müsstet das Protektorat Ra-Genion verlassen und dürftet es nie wieder betreten.“
„Warum? Was habe ich Euch getan, dass Ihr mich verbannen wollt?“, fragte Anna überrascht.
„Noch nichts, aber wir beide wissen, was Ihr vorhabt. Und das kann ich nicht akzeptieren.“
Anna öffnete ihren Mund, doch bekam kein Wort heraus.
„Deshalb meine Eile, denn Geldor könnte als Euer Kommandant dem nicht zustimmen, ohne sein Gesicht zu verlieren. Ich hoffe, dass wir uns unter uns einigen können.“
„Das ist aber ein starkes Stück!“, empörte sich Largais wieder. „Sich hier an unseren Tisch zu setzen und dann so etwas! Besser Ihr geht, bevor ...“
„Warte!“, unterbrach Anna, „worauf wollt Ihr hinaus? Ich bin hier fremd.“
„Ihr leugnet es?“
„Was soll ich leugnen? Wenn Ihr es wisst, dann sagt es nur. Ihr meint doch, ich wüsste es, also würdet Ihr nichts verraten. Und vor meinen Freunden hier“, sie umfasste mit einer Geste alle am Tisch, „habe ich keine Geheimnisse.“
Remison dachte kurz nach, dann seufzte er.
„Also gut, solche Versteckspiele sind nicht meine Sache. Unser Orakel hat vor Euch gewarnt.“
„Was für ein Orakel?“, fragte Anna.
„Er meint vermutlich das Orakel von Ra-Genion, Anna“, antwortete Largais. „Das soll es wirklich geben.“
„Ja, und es funktioniert tatsächlich. In jedem Protektorat gibt es ein Orakel, und die Macht der Protektoren fußt nicht zuletzt auf ihren Prophezeiungen“, bestätigte und ergänzte Remison.
„Haben wir das richtig verstanden?“, fragte Salcia. Sie warf Anna einen kurzen dankbaren Blick zu. „Dieses Orakel hat vor Anna gewarnt? War der Protektor deshalb hinter Anna her, ließ sie fangen und foltern?“
„Ich weiß zwar nicht genau, was Aodhan alles unternommen hatte, doch er ließ Anna verfolgen, weil er sie fürchtete. Und weil er als Protektor sie fürchtete, müsste ich das dann auch.“
„Das gibt Euch noch lange nicht das Recht, eine solche Forderung zu stellen“, rief Largais zornig. „Ihr wollt ein gerechter Protektor werden?“
„Wäre es Euch lieber, ich hätte das verschwiegen und irgendwann einen Meuchelmörder geschickt? Das wollte ich nicht, auch wenn es einfacher gewesen wäre.“
„Das akzeptieren wir nicht. Wir opfern niemanden von uns und Anna schon gar nicht. Geldor wird das mit Sicherheit genauso sehen“, erwiderte der Paladin.
„Deshalb mein Vorschlag: Anna geht freiwillig, dafür versichere ich, sie nicht zu verfolgen. Dann können wir Frieden schließen.“
„Euer Orakel hatte also von Annas Eintreffen gewusst, noch bevor Ihr sie gefangen genommen habt?“, fragte Salcia in die eisige Stille hinein. Anna sah sie erstaunt an und zog ihre Stirn in Falten.
„So ist es“, bestätigte Remison. „Zum ersten Mal hörte ich letzten August von ihr.“
„Im August? Seid Ihr sicher?“
„Natürlich. Ich wurde vom Legaten Rodhlann aufgefordert, auf eine Fremde mit Narben am rechten Handgelenk zu achten. Aber es kam mir damals nicht besonders wichtig vor. Warum wollt Ihr das wissen?“
Salcia lächelte ihn schief an. „Ihr fordert einiges, da möchten wir wenigstens die Gründe wissen. Wieso meint Ihr, Anna wäre auch in Zukunft eine Gefahr?“
„Das kann ich nicht sagen, nur der Protektor durfte direkt mit dem Orakel reden. Doch ich habe aus seinem Mund gehört, dass Anna eine Bedrohung sei.“ Er sah Anna bedauernd an. „Gerne fordere ich das nicht, aber es ist notwendig. Ich möchte wirklich eine gütige Einigung erreichen und dachte, es wäre am einfachsten, wenn Ihr das Protektorat verlasst. Ihr seid doch ohnehin eine Fremde hier.“
Anna erwiderte ruhig seinen Blick. Sie hatte Salcias Gespräch genutzt, um sich ihre Antwort zu überlegen. „Wahrscheinlich würdet Ihr mir nicht glauben, wenn ich sage, dass ich nichts darüber weiß. Doch könntet Ihr in Ruhe schlafen, wenn Ihr es nicht erfahrt? Wer weiß, wodurch ich einen Protektor angeblich bedrohen würde? Selbst mein Tod könnte es sein. Er könnte einen Racheakt nach sich ziehen. Ich kenne einige Geschichten über Orakelsprüche, bei denen gerade der Versuch, die Prophezeiung abzuwehren, sie eintreten ließ.“
Sie bemerkte, wie ihre Worte Remison nachdenklich werden ließen.
„Wenn dieses Orakel so viel weiß, dann könnte es die Antwort liefern“, meinte Anna weiter.
„Das Orakel scheint es selbst Aodhan nicht gesagt zu haben“, entgegnete Remison zweifelnd.
„Vielleicht offenbart es mehr, wenn ich dabei bin. Das wäre mein Vorschlag: Wir beide befragen das Orakel. Danach sehen wir weiter.“
Salcia wollte etwas sagen, doch Anna machte eine Geste mit der Hand. „Später bitte.“
„Ihr würdet alleine mit mir gehen? Nun ... ich wäre dazu bereit, doch ich kann nichts zusagen. Ich möchte meine Herrschaft nicht mit einem Mord beginnen, aber niemand kann vorhersagen, was das Orakel offenbaren wird.“
„Bitte lasst es mich überdenken. Morgen früh gebe ich Euch Bescheid, wofür ich mich entschieden habe.“
Remison nickte. „Ich bin einverstanden.“ Er stand auf. „Danke für das Essen. Es tut mir Leid, es mit meiner Forderung verdorben zu haben.“ Er ging zur Tür hinaus.
Largais folgte ihm, um ihn zu seiner Hütte zurück zu bringen.
Kaum hatte sich die Tür hinter Remison und Largais geschlossen, brach es aus Salcia heraus.
„Bist du wirklich so verrückt, mit diesem falschen Kerl mitzugehen? Dem traue ich alles zu.“
„Das kann wirklich nicht dein Ernst sein, Anna“, schloss sich ihr Fiska an. „Remison ist nicht nur falsch, er ist vor allem kalt berechnend. Er wird dich töten, wenn er sich einen Vorteil davon verspricht.“
„Ich verstehe eure Ablehnung, doch es ist eine einmalige Gelegenheit, dieses Orakel zu besuchen. Es hat von mir gewusst, noch bevor jemand von uns überhaupt in Al-Amaris war! Ich muss es fragen, warum wir hier sind, und wie wir zurück nach Hause kommen können. Wir wissen doch gar nichts, nicht einmal, wo Al-Amaris liegt.“, erwiderte Anna erregt.
„Glaubst du wirklich, Remison lässt dich mit dem Orakel reden und anschließend frei ziehen? Wo er dich doch als Risiko einschätzt? Nein, er wird dich beseitigen, sobald er vom Orakel erfahren hat, wie das am besten geht“, meinte Salcia.
Anna verschränkte die Arme vor der Brust. „Das ist mir doch egal.“
„Ach? Es ist dir egal, wenn dich jemand umbringt? Jetzt bricht aber die typische Dickköpfigkeit der Zauberinnen durch.“
„Quatsch! Remison wird die Geiseln freilassen, Cein kann zurückkehren und wir erfahren endlich mehr über die Hintergründe. Er wird mich schon gehen lassen, oder denkst du wirklich, ich wäre eine besondere Gefahr? Wegen eines dahergelaufenen Weibs wird er keine Verstimmung mit Geldor riskieren. Im Gegenteil, wenn das Orakel uns den Rückweg zeigt, wird Remison uns los, ohne sich die Hände schmutzig machen zu müssen.“
Salcia sah Anna erstaunt an. „Du nennst dich ein ‚dahergelaufenes Weib’?“ Dann wurden ihre Augen schmal. „Die Geiseln ... Nun, auf jeden Fall werde ich dich begleiten.“
Anna schüttelte ihren Kopf. „Oh nein, du bleibst bei Fiska. Es genügt, wenn ich gehe.“
„Ich komme ebenfalls mit“, meinte Fiska.
„Du bleibst erst recht im Lager und kümmerst dich um Cein!“, schimpfte Anna.
„Wieso? Cein wird doch vorher zu seinen Eltern zurückkehren“, entgegnete Fiska.
Anna schlug wütend mit der Faust auf den Tisch. „Egal, ihr beide haltet euch da raus!“
„Anna“, sagte Salcia ruhig und griff sanft ihren Arm, „wir sind hier zu dritt. Du bist meine Ischerat, ich kann dich nicht alleine in eine solche Gefahr ziehen lassen.“
Ein Blick in ihre Augen versichten Anna, dass Salcia es ernst meinte. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sich damals dazu hinreißen zu lassen, doch Anna wusste, es war nicht rückgängig zu machen. Salcia war die Tochter einer Assassinenvorsteherin, und unterlag daher besonders hohen Ansprüchen an den Durub, dem Kampfkodex dieses strengen Volkes. Ihr Volk schaute immer auf ihre Taten.
„Und wenn ich dich aus dem Ischerat entlasse?“, fragte Anna matt, wusste sie doch bereits die Antwort.
„Dann wäre ich entehrt.“
Anna schloss ihre Augen. Sie fühlte, wie die eben erst verdrängte Verzweiflung erneut in ihr aufstieg.
„Anna“, sagte Fiska, „vielleicht verstehst du uns Beide nicht ganz. Weder ich noch Salcia wollen wegen irgendwelcher Verpflichtungen mit, auch wenn sie existieren mögen. Wir wollen das, weil wir nun einmal zu dritt hier sind.“
Fragend sah Anna sie an. „Wie meinst du das?“
„Einen wirklichen Freund lässt man nicht in der Gefahr alleine.“
Anna fing an zu weinen. Endlich brach aus ihr heraus, was sich in ihr aufgestaut hatte. Es waren bittere Tränen, doch sie schämte sich ihrer nicht.