Anny fand sich in einem düsteren Gewölbegang wieder. Wo war sie denn jetzt? Sie sah an sich hinunter... Ihr Körper schien seine Jugend wiedererlangt zu haben, doch das waren nicht ihre Sachen! Sie trug ein langes, silbernes Gewand - völlig unpraktisch für eine Assassine!
Ihrem Instinkt folgend riss sie den Stoff so ab, dass das Kleid nun auf halber Oberschenkelhöhe endete. Sie fühlte sich schon besser, konnte sie so doch wenigstens im Notfall schnell davonlaufen. Waffen besaß sie hier keine...
Nun galt es aber zunächst, dieses "Hier" erst einmal zu erforschen und irgendwie hinauszufinden.
Plötzlich spürte Anny, dass etwas an ihrer Hand zog. Sie sah hinab und blickte in die dunklen Augen eines Mädchens, das mit verstrubbeltem schwarzem Haar und trotzigem Blick zu ihr aufschaute, während es ungeduldig an ihr zerrte. Es trug ebenfalls ein silbernes Kleid.
"Wer bist du? Und wo sind wir hier?", fragte Anny; ihre Stimme hallte in dem steinernen Gang merkwürdig laut.
"DU hast mich doch hierher gebracht!", schrie das Kind plötzlich los. "Jetzt komm schon, wir sind spät dran!", und sie zog Anny mit erstaunlicher Kraft den Gang entlang.
Irgendwo in Annys Gedächtnis blitzte eine kurze Erinnerung auf. Sie hatte dieses Mädchen schon früher gesehen - doch wo?!
Aber ihr blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, denn in diesem Moment bogen sie um eine Ecke und gelangten in einen rieseigen Saal, der voller Leute war. Sie trugen alle silberne Gewänder mit Kapuzen, so dass man keine Gesichter erkennen konnte. Ihr Gemurmel erfüllte die Halle mit einer Art Summen.
Zwischen den großen Gestalten huschten einige silbergewandete Kinder umher.
Das Mädchen sah zu Anny auf und flüsterte: "Jetzt gehen wir zu Mama und Papa, ja?"
Anny war verwirrt. Sie wollte hier raus, doch ihre Neugier siegte: Sie würde das Kind zu seinen Eltern bringen, vielleicht konnten die ihr helfen!
"Weißt du denn, wo sie sind?", fragte sie.
Statt zu antworten, zog die Kleine sie zwischen den Gestalten, die sie nicht im mindesten beachteten, hindurch und steuerte auf zwei von ihnen zu. Sie schlugen die Kapuzen zurück und sahen Anny an - die schrie vor Schreck auf: Das waren IHRE Eltern!! Aber sie waren tot...
Mit einem Schlag erinnerte sie sich auch daran, wo sie dieses Kind schon unzählige Male gesehen hatte: Daheim, vor vielen Jahren, war sie ihm täglich beim Blick in den Spiegel begegnet... Aber wieso war sie selbst als Kind hier?! Das konnte nicht sein!!
Ihre Mutter sah ihre Verwirrung und sagte: "Beruhige dich, Anny. Ich erkläre es dir. Komm mit..." Und sie nahm Anny sanft beim Arm und ging mit ihr zu einem kleinen Fenster, wo sie sich auf dem inneren Sims niederließen.
"Sieh mal, deine Zeit ist noch nicht gekommen.", sprach sie. "Wir haben dich gerne hier, aber - es ist nicht richtig! Du bist durch einen Zauber hergelangt, der nicht für dich bestimmt war... Du musst zurück!"
"Aber... Mutter... Wer ist dieses Kind?", stammelte Anny.
In diesem Moment kam die Kleine auch schon angeflitzt. "Ja, ich bin doch du!", rief sie zornig. "Erinnerst du dich nicht?
Als du zwölf warst und Mama und Papa... hierherkamen - da bist du zu diesem Orden gegangen. Und du bist so hart geworden - du hast mich hierhergeschickt!"
Verwirrt sah Anny ihre Mutter an. "Begreifst du denn nicht?", sagte die, "Du hast das Kind in dir getötet, als wir starben!
Deine Seele wurde viel zu schnell erwachsen, und für die Anny, die Kind war, gab es dort keinen Platz mehr.
Seitdem ist sie hier, an dem Ort, zu dem die Seelen kommen, wenn ihre Zeit auf der Welt um ist - oder wenn sie gewaltsam hierhergebracht werden. Diese Seelen müssen manchmal warten, bis sie wieder zurückdürfen - manche bleiben auch, das wird nicht von uns entschieden.
Es war deine unbewusste Entscheidung, kein Kind mehr sein zu wollen; doch seitdem gehst du mit einer halben Seele durchs Leben..."
Anny verstand. Sie war also zweimal gestorben - einmal als Kind, und nun durch ihr eigenes dummes Misstrauen.
"Aber wie willst du mich zurückbringen?", fragte sie. "Kann sie gar nicht", meinte die kleine Anny. "Aber ich kann es!"
"Wie das?"
"Ganz einfach: Du lässt mich wieder zu dir, und wir kehren gemeinsam zurück. Ich werde nicht lange bleiben, denn dein Körper ist so eklig alt, dass er viel Kraft braucht. Aber dann -"
Mutter fiel ihr ins Wort. "Dann wird sie keine tote Seele werden. Sie wird in dir aufgehen, wie es in jedem von uns geschieht, wenn die Kindheit vorbei ist.
Ihr werdet eins sein - und deine Seele wird wieder ganz sein. Doch nun müsst ihr gehen, sonst ist es zu spät!"
Ehe Anny sich richtig von ihren Eltern verabschiedet hatte, zog die Kleine sie schon wieder weiter, diesmal in eine andere Ecke des Saales.
Dort stand ein Becken, mit spiegelndem Licht gefüllt. Anny schaute hinein.
Sie sah ein verschwommenes Bild: Die Taverne! Und da war sie, als alte Frau, offensichtlich ohnmächtig.
Daneben standen die anderen, zum Teil ratlos; Dark Summoner sah wieder normal aus - 'wenigstens er hat es geschafft!', dachte Anny - und schien furchtbar wütend auf eNBeWe zu sein.
Die kleine Anny ergriff die Hand der Assassine und sah sie ernst an.
"Bist du soweit?"
"Ja."
"Dann komm..."
Bunte Farbwirbel.
Wind in ihrem Haar, Tränen auf ihren Wangen.
Das warme Gefühl, etwas lange verlorenes wiederzuerlangen.
Kinderlachen - ihr Lachen!
Glücklich, wieder eins zu sein...
Und dann grässliche Kopfschmerzen und Lärm, Biergestank und das schwere Gefühl eines echten Körpers.
Anny öffnete langsam die Augen, und als erstes sah sie Dark Summoners besorgtes Gesicht dicht über ihrem. "Anny? Wie geht es dir?", fragte er leise.
"Beschissen", erwiderte sie - endlich wieder mit normaler Stimme.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie einige Gestalten sich gegenseitig die Hände schüttelten, lächelten. Hier und da hörte sie Sätze wie "...endlich wieder normal..." und "...steht ihr viel besser...".
Sie setzte sich mühsam auf und bekam von irgendjemandem einen heißen Kaffee gereicht.
Während sie ihn trank, betrachtete sie voller Staunen und wie mit anderen Augen die Taverne, sah all das Leben und fühlte sich immer besser...