TwinYawgmoth
Champion des Hains, Storywriter of the Years
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Kapitel 46 – Geschichte
Der Meister starrt ins Leere. Deckard sieht ihn nachdenklich an. Ich bewege mich ebenfalls nicht. Wie wird er auf Cains Mahnungen reagieren? Der Meister strafft sich plötzlich.
„Deckard...ich danke euch dafür, dass Ihr euch Gedanken über mich macht, ich weiß das zu schätzen. Aber ich glaube nicht, dass ich diese Probleme habe, wie ihr sie beschrieben habt. Ich bin ein normaler, ruhiger Mensch, das Einzige, was mich anders macht, sind meine Fähigkeiten als Totenbeschwörer. Mein Golem kann mir bei irgendwelchen Problemen sicher auch nicht helfen, er kann immerhin weder reden noch denken. Euer Rat, so gut er gemeint war, ist von völlig falschen Voraussetzungen ausgegangen. Wenn Ihr mich entschuldigen würdet? Ich habe zu tun. Golem, komm mit.“
Wie kann er nur? Wie kann er nur verkennen, wie richtig Deckard die Situation erkannt hat? Ich verstehe es nicht. Ist er wirklich so blind? Selbst ich, der doch nicht denken kann, hat es klar vor Augen. Ha!
Der Meister geht wieder auf sein Zelt zu. Zittern seine Beine? Nein, das kann doch nicht sein...da ertönt ein Flüstern von Deckard.
„Geh schon, ich habe das Gefühl, dass er dich brauchen wird. Die Zeit, die Masken fallen zu lassen, ist für ihn noch nicht gekommen.“
Und da Deckard Recht hat, folge ich dem Meister, von Zweifeln erfüllt.
Cain zieht derweil den Kiesel mit dem Symbol aus der Tasche und dreht ihn in seinen Händen.
Im Zelt finde ich den Meister, wie er, die Augen geschlossen, auf seinem Lager liegt. Die sauber sortierten Goldhaufen, die ich noch nicht mitgenommen habe, liegen verstreut auf dem Boden, genauso sein Wasserkrug, in Scherben.
Als er mich hört, öffnet er ein Auge, das mich fixiert. Langsam setzt er sich auf, vorsichtig, als wäre er verletzt. Er sieht mir immer noch genau in die Augen, unblinzelnd. Dann senkt er seinen Blick in seinen Schoß.
Er hebt eines seiner Hosenbeine. Die Narben des Knüppelschlages kommen zum Vorschein.
Wieder ist es lange still.
Ich erschrecke ein wenig, als der Meister sein Schweigen bricht.
„Im Turm...das war nicht nur ein Streifschlag, oder? Dieser Dämon hat mich voll erwischt. Mein Bein war wirklich so kaputt, wie ich mich erinnere. War es das?“
Ich nicke, aber er kann mich nicht sehen, den Blick auf die Narben gerichtet.
„Das war es wohl...ich kann mir selbst immer noch trauen. Golem.“
Er hebt den Kopf wieder und sein starrer Gesichtsausdruck begegnet mir.
„...hast du mir im Turm das Leben gerettet?“
Als ich meinen Kopf senke, um zu nicken, weicht sämtliche Spannung aus seinem Körper. Er bricht zusammen, und ich habe meine Müh und Not, ihn daran zu hindern, auf den Boden zu fallen. Er schluchzt, als ich ihn sanft zurück auf die Matte schiebe.
„Gott...oh, verdammt...wie konnte ich so dumm sein. Wie konnte ich nur...oooooh...“
Was soll ich tun? Ich will ihm helfen, das habe ich mir geschworen.
Ich lege ihm zögerlich die Hand auf die Schulter. Seine Augen sind geschwollen, als er sie auf mich richtet, sein Gesicht von Tränen überströmt.
„Golem...weißt du, wie das ist, wenn man kurz vor dem Tod steht? Wenn man es überlebt...und es ist nicht vorbei? Wenn andauernd neue Gefahren auf dich lauern, wenn du immer kaputter gemacht wirst, dein Geist Stück für Stück zermürbt wird, angegriffen, gefoltert? Weißt du das?“
Meine Gedanken bewegen sich rasend schnell. Der Turm hat Spuren nicht nur auf seinem Bein hinterlassen, sondern Narben in seiner Seele. Die Situation dort unten hat ein Trauma hinterlassen. Einen Dämon, der an seinem Geist nagt und ihn zerfrisst. Deckards Rat folgend, muss er ihn freilassen, um dagegen anzukämpfen. Ich muss es schaffen, ihm zu helfen.
Ich nicke, denn ich weiß, wie es ist, kurz vor dem Tod zu stehen.
„Du weißt es auch...ja, du weißt es. Ich habe dich öfter in Gefahr geschickt als ich mich selbst hineinbegeben habe...du kennst das.
Golem...kann ich dir vertrauen?“
Ja, das kann er absolut. Ich bin ihm Gehorsam schuldig, keinen unbedingten, aber ich werde immer in seinem Sinne handeln.
Wieder ein Nicken von mir.
Der Meister setzt sich auf und deutet auf eine Stelle neben sich.
„Ich muss dir eine Geschichte erzählen. Es geht um einen Jungen.
Nun setz dich!“
Ich setze mich neben ihn. Im Sitzen bin ich genauso groß wie er.
„Es war also einmal dieser Junge. In einer Stadt namens Lut Gholein hat er seine ersten bewussten Augenblicke erlebt. In einer Taverne, um genau zu sein, im Hinterzimmer. Dort hat er sich ein Bett geteilt mit fünf anderen, ein zweites Bett gehörte drei größeren Jungen.
Seine Eltern hat er nie gekannt. Man sagte es ihm nicht, aber es gab Gerüchte...Gerüchte, dass das Böse im Begriff war, die Welt zu verheeren.
Der Junge hat es nie verstanden, was genau in der Welt vor sich ging, aber er war sich einer Sache ganz sicher: Die mitleidigen Blicke, die ihn immer erreichten, wenn man von diesem Bösen sprach, bedeuteten viel.
Das Böse war daran schuld, dass er alleine war. Dass er sich immer mit fünf anderen Waisen streiten musste, wer an der Wand schlafen musste und fast erdrückt wurde. Dass die größeren Jungen ihn ständig schlugen, sich einen Spass daraus machten, ihn zu misshandeln. Dass all sein Weinen und Flehen nichts nützte, als sie ihm fast täglich sein spärliches Mittagessen abnahmen, dass er sich nie bei seiner Pflegemutter Atma beschweren durfte, die sich um ihn und die anderen acht kümmerte, ohne dass die Größeren ihn dafür bestrafen würden.
Verließ der Junge die Taverne, war nichts mehr von dem Mitleid zu sehen, dass man ihm darin entgegenbrachte.
Er war nicht gern gesehen bei den Ladenbesitzern auf der Straße, die er, als er noch alleine war, bestohlen hatte, um nicht zu verhungern, bei Müttern, die ihre Kinder nicht mit dreckigen Waisen spielen lassen wollten, bei den Palastwachen, die Abschaum wie ihn meist in eine dunkle Gasse zerrten und den Körper später den Geiern zum Fraß vorwarfen, versteckt und vergessen in der Wüste, ein Leben, dem Niemand eine Träne nachweinte.
Keiner mochte ihn. Er war der Bodensatz der Gesellschaft, immer am Hungern, er wusste nicht, was Freundschaft war.
Bis ein siebter Junge zu ihnen stieß, der den Platz im Bett noch enger machen würde. Keiner mochte diesen Jungen, auch der Junge unserer Erzählung nicht.
Aber der Neue war stark, er wusste, was er wollte, und wie er es bekommen konnte.
Bald schlief er nicht mit den Kleineren in dem überfüllten Bett, sondern teilte es mit den Großen, die nach ein paar „Lektionen“, wie er sie nannte, vor ihm Angst hatten, und oft auf dem Boden schliefen.
Dass diese Großen stattdessen die Kleinen auf den Boden verdrängten, ließ er nicht zu. Er nannte dies „Gerechtigkeit“. Das war ein seltsames Wort, denn der einzige Satz, den die anderen Kinder je gehört hatten, in dem dieses Wort vorkam, war:
„Es gibt keine Gerechtigkeit auf dieser Welt.“
Aber der Neue bewies, dass das nicht stimmte. Er war schlauer als die Erwachsenen, stark, und gerecht. Nach seinen ersten „Lektionen“ erhob er nie wieder die Faust gegen einen anderen Jungen.
Die Meisten fürchteten ihn, verstanden sein Konzept der „Gerechtigkeit“ nicht.
Unser Junge vom Anfang verstand es. Er betete den Neuen an, wurde sein Freund, und das, was ihm vorher von den Großen gestohlen wurde, teilte er jetzt, da es Gerechtigkeit gab, freiwillig mit dem Neuen, der aber dieses Geschenk immer ablehnte.
Ein großes Vorbild war dieser Junge.
Aber er war auch Abschaum wie sie, er war auch nicht gerne gesehen.
Als er eines Tages nicht wie üblich als Erster in das Bett der Großen kroch, wurden die Waisen unruhig. Viele waren erleichtert, und hofften, dass dieser seltsame Junge mit den seltsamen Worten wegbleiben würde.
Nicht so der Held unserer Geschichte. Er fragte sich, was geschehen sei. Er stand mitten in der Nacht von seinem Platz am Boden – denn dorthin hatten ihn die Anderen wieder verbannt – auf, und ging in die Finsternis hinaus.
Er suchte seinen Freund, sein Vorbild.
Er suchte ihn bei den Händlern, suchte ihn bei den Häusern der verdienenden Familien, suchte ihn in der Nähe des Palastes.
Als der Morgen endlich graute, fand er ihn.
Seine Kehle war rot vor Blut, sein Gesicht bleich und vor Schrecken verzerrt. Wie so Viele war er zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, und er war in die Wüste geworfen worden, versteckt, vergessen.
Einer würde ihn nicht vergessen. Unser Junge weinte den ganzen Tag, während er ein Grab in den heißen Sand schaufelte, mit bloßen Händen, tiefer, immer tiefer. Die Geier sollten seinen Freund nicht bekommen.
Die ganze Nacht hielt er Wache, seine Hände brannten, seine nackten Schultern brannten, seine Augen brannten.
Seine Seele brannte.
Er kehrte nie wieder in das Hinterzimmer der Taverne zurück. Er rannte in die Wüste hinaus, er wollte sterben wie sein Freund und ihn wiedersehen, irgendwo.
Zwei Tage später gab es nur noch das Brennen, den Sand, die Sonne. In alle Himmelsrichtungen erstreckten sich Dünen, und der Junge war am Ende.
Gerade, als er sich hinlegen wollte, seiner Qual ein Ende bereiten, aufgeben, erschien am Horizont eine Silhouette. Ein Steinbau war es, was er sah, als er näher und näher kroch, zu erschöpft, um zu gehen.
Ein altes Grabmal, zerfallen, halb im Sand begraben – aber schattig, kühl. Er stolperte die Treppe hinunter, und eine große Halle erwartete ihn. Säulen, viele zerbrochen, Reliefe an der Wand, verwittert und zerstört.
Und der Tod.
Skorpione, Ratten, Schlangen – das Grab eines Menschen war vergessen, und die Tiere eroberten es. Als eines der kleinen Tiere mit dem giftigen Stachel an seinem Schwanz auf ihn zukroch, wusste der Junge, dass es bald vorbei wäre, so oder so. Seine Kehle war ausgetrocknet, sein Magen ein Loch, seine Haut riss an vielen Stellen auf. Er sah weiße Punkte vor den Augen und hatte keine Kraft mehr.
Langsam kroch der Skorpion auf ihn zu. Der Stachel schwankte, ein Tropfen Gift glitzerte in der Sonne, die vom Eingang hereinschien.
Im Nachhinein kann man wohl sagen, dass das Tier keine böse Absicht hatte. Aber der Junge musste feststellen, dass er Angst hatte. Schreckliche Angst. Und das zeigte ihm eines, in einem kurzen Moment, der über seine Zukunft entscheiden würde:
Er wollte nicht sterben.
Genauso langsam, wie der Skorpion auf ihn zuging, hob er sein Bein und zog seinen sohlenlosen Stiefel aus.
Und als das Tier in Reichweite war, wurde es zerschmettert.
Und der Junge stand auf und zog seinen Schuh wieder an. Er hatte immer noch Durst, immer noch Hunger, und seine Haut brannte immer noch. Aber es war kühl, und er war im Schatten. Der Staub störte kaum noch.
Tiefer hinein in das Grab lief er, immer den Skorpionen, Schlangen und Ratten ausweichend, er kam an eine Treppe, folgte ihr nach unten.
Der kurze Schub an Vitalität, den er durch seine Furcht vor dem Tod erhalten hatte, begann abzuklingen, als er fast eine Stunde durch das Untergeschoß gewankt war. Er war bereit, aufzugeben, und sich zu der Leiche eines Grabräubers zu gesellen, der, skelettiert, von Stacheln aus kleinen Löchern im Boden durchbohrt, am Boden lag.
Hätte er ihn nicht gesehen, wäre er selbst über diese Löcher gelaufen, im letzten Moment besann er sich anders.
Und die Fallen beschützten einen Raum: Die Grabkammer.
Ein riesiger Sarkophag stand in der Mitte eines weiten Raumes, geschändet, die goldenen Ornamente abgebrochen, gestohlen. Die Mumie des Toten lag offen dort, der Deckel zersplittert am Boden.
Krüge umgaben den Leichnam, zerbrochen viele, aber der Inhalt noch manchmal zu erkennen: Grabbeigaben, getrocknete Früchte, Nüsse, steinhartes Brot.
Was der Tote für das Leben danach brauchen würde.
Und am Ende des Raumes, versteckt zunächst durch den Sarkophag, das neben Nahrung wichtigste Mittel zum Überleben:
Ein Brunnen mit Wasser, schmutzig, staubig, aber trinkbar.
Der Junge war gerettet.
Er beschloß, in dem Grab zu bleiben. Alleine war er zwar, aber er hatte Wasser, er hatte etwas zu essen – Ratten schmecken nicht gut, aber man kann davon leben – und er fand Unterhaltung.
Als er den Toten anhob, um zu sehen, was er verstecken könnte – denn Überleben stellt Respekt in den Hintergrund, den Grabräuber noch hatten – fand er ein Buch.
Was für ein Glück, dass Atma, die Wirtin, darauf bestand, dass ihre Waisenkinder lesen konnten! Zwar nur genug, um die Speisekarte den Gästen zu erklären, die es nicht konnten – ganz uneigennützig versorgte sie sie nicht – aber es genügte, um die alte, verblichene Schrift des Buches zu entziffern. Die Seiten am Anfang zerbröselten in Unvorsicht, aber der Rest in der Mitte war problemlos umzublättern, und mit viel Mühe und Geduld begann sich, ein neues Universum der Möglichkeiten vor dem Jungen auszubreiten.
Der Tote war ein Nekromant gewesen, berühmt und gefürchtet und eines solchen Grabes würdig. Ein Totenbeschwörer.
Und gut versteckt durch seinen eigenen toten Körper, war ein Buch, sein Lebenswerk in Wort und Bild – ein Werk über die dunkle Kunst der Nekromantie.
Der Junge begann zu lernen, begann zu verstehen.
Er bereitete sich darauf vor, das Grab wieder zu verlassen, und dafür benötigte er jegliche Mittel, die es ihm bieten könnte.
Er forschte und suchte, zerschlug sämtliche Vasen, öffnete die Gräber niederer Diener.
Und wurde fündig.
War er noch alleine zu schwach, die theoretischen Kenntnisse des Buches zu nutzen, ein magischer Stab konnte ihm helfen.
Und einen eben solchen fand er in der Grabkammer, ein Holzstab mit einem kleinen Tierschädel an der Spitze, und als er die arkanen Worte des Buches sprach, erhob sich beim ersten Versuch die Leiche des Grabräubers, um ihm fortan als Skelett zu dienen.
Er füllte Krüge mit Wasser aus dem Brunnen, säuberte uralten Stoff und schlug Verpflegung in ihn ein. Dann bepackte er das Skelett mit so vielen alten Gegenständen, die er finden und mitnehmen konnte, und ging durch die Wüste wieder zurück nach Lut Gholein.
Der Weg war ein Spaziergang mit dem Skelett, dass ihn Nachts bewachte, das ihm die wilden Tiere von Leib hielt und das seine Ausrüstung trug.
Und als er zurück in seiner Heimatstadt war, fand er, sein Gesicht mit einer gefundenen Kutte verbergend, einen Händler, den er bis jetzt noch nicht versucht hatte, zu bestehlen – weil er meist auf Reisen war, mit seiner Karawane Handelswaren austauschend – und verkaufte ihm antike Amulette, Ringe, Masken, Rüstungen.
Er wollte seine neu gewonnenen Fertigkeiten nutzen. Er wollte das Böse bekämpfen, das ihn zu einem Leben in Schmutz und Schmerz verdammt hatte. Er wollte in die Welt hinaus, um es zu suchen.
Warriv, das war der Name des Karawanenführers, nahm ihn gegen den Verzicht auf Bezahlung der Gegenstände aus dem Grab bei seiner nächsten Fahrt nach Westen mit, eine Fahrt, die im Lande Khanduras enden sollte, durch eine Pforte dort ankommend, die ein mächtiges Kloster bewachte, bewohnt von der Schwesterschaft vom verborgenen Auge. Warriv verkaufte seine Ware an viele der Jägerinnen, die Mitglied in der Schwesternschaft waren, und der Junge hörte sich derweil nach Neuigkeiten aus der Welt um.
Wie ein Donnerschlag traf ihn die Nachricht, dass das Böse in den Katakomben einer Stadt namens Tristram besiegt worden sein sollte, und er begann zu verzweifeln – sollte sein neues Lebensziel den Sinn verloren haben?
Doch eines Tages kam ein dunkler Wanderer durch die Klosterpforte, das Gesicht verhüllt von einer Kapuze, in einen braunen Umhang gekleidet. Jeder bekam eine Gänsehaut, wenn er in die Schwärze seines nicht zu erkennenden Gesichtes blickte, und einmal in der Geschichte der Schwesternschaft bot Akara, ihre Hohepriesterin, einem Gast nicht die Unterkunft im Kloster an.
Er war sowieso nicht daran interessiert – sein Weg führte ihn sofort weiter, nach Osten. Ein kollektiver Seufzer der Erleichterung ging durch das Kloster, als er es verließ.
Aber der Junge war vorsichtig geworden: Was hatte dieser seltsame Mensch zu bedeuten?
Tief in der Nacht lag er noch wach und dachte über sich und den Wanderer nach, als Schreie aus den Tiefen des Klosters hallten, als Jägerinnen in panischer Angst aus Türen rannten, und als sie sofort niedergemetzelt wurden von grotesken, Dämonischen Gestalten, die ihnen folgten.
Der Junge sah seine Chance gekommen. Er hatte einmal in seinem Leben keine Angst, er war nur sicher, was er zu tun hatte.
Er rannte zu den Wägen von Warrivs Karawane, zu dem, den er auf seiner Reise bewohnt hatte. Er öffnete die Truhe unter seinem Sitz und zerrte das Skelett hervor, das er hier drin versteckt hatte.
Als kleine rothäutige Dämonen die Tür aufstießen, erwartete sie der Tod in Form seiner eigenen, knöchernen Gestalt. Der untote Diener fuhr unter die wenigen Angreifer, die das Gemetzel im Kloster selbst hinter sich ließen und nach draußen stürmten, und vernichtete sie.
Laut rief der Junge dazu auf, zu fliehen, denn er wusste, eine Übermacht wie diese, die beständig neu aus den Türen des Klosters strömte, konnte man nicht bewältigen.
Warriv rannte zu seiner Karawane und begann, die Wägen anzuspannen. Fieberhafte Eile erfasste den Jungen, als er darauf drängt, den Großteil der Karren zurückzulassen und lieber das eigene Leben zu retten. Das Skelett war hart bedrängt von mehreren Dämonen.
Da fuhren Pfeile in die Gegner; aus einer Tür strömten keine mehr von ihnen, sondern ein Trupp Kriegerinnen, angeführt von einer Frau mit einem weißem Helm, auf dem ein blutroter Rabe eingraviert war. Ihr Bogen verschoß Pfeile, die explodierten.
Sie winkte ihre Kriegerinnen durch, schob förmlich Akara auf die Karawane zu, die sich bereits auf Drängen des Jungen in Bewegung gesetzt hatte, da Warriv den Ernst der Lage endlich erkannt hatte.
Als die Schwestern begannen, die freien Plätze zu füllen, kamen wieder neue Wellen von Dämonen auf die Flüchtenden zu.
Die Kriegerin mit dem Blutraben auf dem Helm verteidigte ihre Stellung, sie blieb zurück, wie das Skelett, das ihr half, die zu nahe kommenden Gegner zu töten. Doch bald verebbte der Strom der flüchtenden Klostereinwohner; wer jetzt nicht mehr kam, war tot oder gefangen.
Als die Karawane aus dem Tor des Klosters rumpelte, hielt die Kriegerin mit dem Feuerbogen die Stellung, damit die Wägen fliehen konnten. Keine Zurufe ihrer untergebenen Schwestern konnten sie davon abbringen.
Als das Skelett zerfiel, wurde ihre rotbehelmte Gestalt unter Dämonen begraben.“
Kapitel 47 – Masken
Der Meister ist verstummt. Er sitzt auf der Bettkante, und er scheint nicht zu wissen, wohin er seine Hände legen soll. Den starren Blick, den er während seiner Erzählung gewonnen hat, behält er bei. Seine Beine zittern.
Ich fühle eine große Anspannung. Der Dämon, der den Meister quält, ist frei. Jetzt muss er bekämpft werden, nicht wieder versteckt. Der Meister blinzelt, lehnt sich gegen ein Kissen. Seufzt.
Lege den Dämon offen! Will ich ihm zurufen, aber ich kann natürlich nicht....er muss es sich eingestehen.
„Du wirst und kannst diesen Jungen natürlich nicht verstehen, Golem...es war eine traurige Geschichte, aber wir müssen uns dem Jetzt stellen.“
Ich wende ihm meinen Kopf zu und lehne mich nach vorn. Sag es!
„Was ist denn? Du verstehst es wohl wirklich nicht. Ja, die traurige Geschichte des Jungen...sie kann uns ein sehr gutes Beispiel liefern...bist du ohne Macht, dann nehmen die Leute dich nicht wahr. Und Macht muss man sich erkämpfen! Sie sich nehmen. Jawohl.“
Ist es denn so schwer? Leg deine Maske ab, General!
Oh.
Ich habe das erste Mal nicht als „Meister“ von ihm gedacht. Bröckelt seine Fassade? Er hat schon viel zugelassen...er muss sich aber noch mehr öffnen. Er ist auch nicht der General.
„Golem...hast du es immer noch nicht verstanden, warum ich den Jungen so gut kenn?“
Sag...es...mir. Ich will es hören, auch wenn ich es weiß!
Er fällt ein wenig in sich zusammen. Ringt um Worte. Als er zu sprechen anfängt, ist seine Stimme belegt.
„Ich...dieser Junge...der Junge...
bin ich.“
Die Spannung weicht von mir. Er hat es zugegeben, seinen Dämon ausgegraben. Jetzt kommt der Kampf.
Der Junge liegt weinend auf dem Bett, das Gesicht in dem Kissen begraben.
Ich lege ihm den Arm auf die Schulter. Er weint leiser. Es reicht nicht. Langsam, zögernd, beginne ich, ihm den Kopf zu streicheln. Und langsam hört das Weinen auf.
Mit rotumrandeten Augen blickt mich der Junge an. Er schluckt.
„Golem...ich habe das noch nie Jemandem erzählt...du bist der Einzige, mit dem ich reden kann.
Schau, ich war so oft der Unterdrückte...der Verlierer...mein ganzes Leben lang der Abschaum der Gesellschaft. Wertlos.
Und als ich geflohen bin, da war ich allein, ganz allein, vergessen, unbetrauert. Dem Tode nahe. Die Einsamkeit konnte ich ertragen. Die Schmerzen. Ich hatte auch keine Angst vor dem Tod.
Aber vor dem Vergessen. Ich habe dieses Grab gesehen...so viel Arbeit, so viel Aufwand, damit dieser eine Totenbeschwörer nicht in Vergessenheit gerät. Und er ist trotzdem vergessen worden. Niemand hat ihn gewürdigt, Keiner hatte Respekt. Doch ich war hier, und ich hatte sein Vermächtnis in der Hand. Und da ist mir eines klar geworden: Man kann sein Leben nicht auf Monumenten aufbauen, auf Symbolen. Man muss sein Leben auf Taten aufbauen, dann wird dein Tod nicht das Ende sein.
Er hat sein ganzes Wissen vergraben, versteckt. Und er selbst ist es auch, vergraben, versteckt.
Ich will nicht so enden. Ich habe Angst vor dem Vergessen, jetzt auch vor dem des Todes.
Ich muss es besser machen als er. Ich muss eine Erinnerung hinterlassen.
Also kämpfe ich gegen das Böse das mir meine Eltern genommen hat und mich zur Vergessenheit verdammen wollte. Und jetzt, da ich es tue, bemerke ich eines:
Die Leute kümmert es überhaupt nicht, dass ich versuche, ihre Welt zu retten. Ich kümmere sie nicht. Sie sehen meine Skelette, meine Macht. Sie haben Angst, und wenn sie keine Angst haben, haben sie keinen Respekt. Wie Kaschya.
Alles, was mir bleibt, ist die Furcht vor mir. Und die Macht. Ich muss ihnen zeigen, wie mächtig ich bin, damit sie so tun, als würden sie mich respektieren.
Aber...damit werde ich genau wie dieser Totenbeschwörer, dessen Namen ich, der nie einen hatte, angenommen habe.
Es gibt Generäle, die von ihren Leuten respektiert werden.
Aber er war nur gefürchtet. Und ich werde es auch sein, und wenn ich sterbe, was so schnell passieren kann, werde ich vergessen werden.
Man wird froh sein, mich zu verscharren.
Und mein Leben wird verschwendet gewesen sein.“
Er sieht mich an, als wüsste ich, wie ich ihm helfen kann. Seine Augen sind Meere der Verzweiflung.
Aber ich weiß, wie ich ihm helfen kann! Ich muss es zu erklären versuchen.
Ich deute auf ihn. Er folgt meinem Finger mit den Augen.
„Ich?“
Ein Nicken von mir dazu. Ich lege meine Hände vor mein Gesicht.
„Sehe nichts?“
Nein.
„Brett vor dem Kopf?“
Ja, auch. Weiter.
„Verstecken?“
Ja! Du versteckst dich. Ich hebe mahnend den Finger.
„Ich...verstecken...Achtung?“
Nein.
„Ich verstecke mich...und muss aufpassen?“
Sehr richtig! Langsam entferne ich erst die eine Hand, dann die andere. Mein Gesicht kommt mit einem Grinsen darauf zum Vorschein.
„Ich soll mich nicht mehr verstecken?“
Nicken.
„Vor was?“
Falsche Frage, ich schüttele den Kopf. Der General blick ein wenig verständnislos drin. Dann dämmert es ihm.
„Hinter was soll ich mich nicht verstecken?“
Sehr gut! Euphorisches Nicken von mir. Ich forme meine Hand um, zu einer emotionslosen Maske vor dem Gesicht.
Dann entferne ich sie, worauf wieder ein Grinsen zum Vorschein kommt.
Der General starrt die Maske an. Fühlt sein Gesicht mit den Finger.
Und dann überzieht ein Lächeln die Lippen des Jungen. Zögerlich zunächst, dann spiegelt es sich in seinen Augen wieder.
Mir fällt auf, dass der Meister nie gelächelt hat. Überlegen gegrinst, ja. Aber es war nie...Freude...dahinter.
Habe ich eigentlich je Freude empfunden? Bis jetzt war ich immer wieder einmal nur froh, wenn wir wieder Widrigkeiten überwunden haben...aber Freude?
Der Junge fängt an zu reden.
„Golem...ich habe den gleichen Fehler begangen wie der Totenbeschwörer in dem Grab. Ich habe das versteckt, was ich bin – man hat mich selbst nie gesehen. Aber meine Maske hat man gesehen...Golem.
Sag es mir ehrlich.
Ist der General ein richtiger Idiot?“
Ich denke.
Der Meister, mit seiner Maske als überlegener Totenbeschwörer.
Als er Kaschya demütigt.
Als er Deckard schneidet.
Als er alleine in den Turm rennt.
Darum nicke ich. Mit seiner Maske als General oder Meister vor dem Gesicht ist der Junge ein echter Soziopath.
Er rollt sich auf den Rücken und wirft die Beine in die Luft. Ich brauche ein Weilchen, um zu bemerken, dass er leise und bitter lacht.
„Gott...oh, Himmel. Ich war so blind. Immer waren für mich die Anderen schuld, immer haben sie mich als völlig Unschuldigen schlecht behandelt.
Aber ich war doch schuldig. So schuldig...sie haben mich aus guten Gründen nicht gemocht.
Was soll ich bloß tun? Es ist viel zu spät...sie werde mich nie mehr respektieren...“
Sein Lachen ist zu Schluchzen geworden. Oh, aber seine letzte Aussage ist falsch. Ich wackele mit einem warnenden Zeigefinger.
„Nicht? Aber was soll ich denn tun?“
Ich hebe die Maske. Dann lasse ich sie einfach zerfließen.
„Ich soll...Ich sein? Aber ich bin ein Nichts. Der General hat Macht.
Der Junge Komplexe...“
Zeigefinger. Ich lege ihm die Hand auf die Schulter. Daumen hoch.
Er starrt mich mit offenem Mund an. Dann:
„Golem...ich muss nachdenken. Könntest du bitte gehen?“
Ein kurzer Schock. Der Meister hat nie „bitte“ gesagt. Dann gehe ich.
Draußen erwartet mich Nachtluft und Deckard, der sich an einem entfachten Lagerfeuer wärmt.
„Und? Wie ist es gelaufen?“
Daumen hoch.
Der Meister starrt ins Leere. Deckard sieht ihn nachdenklich an. Ich bewege mich ebenfalls nicht. Wie wird er auf Cains Mahnungen reagieren? Der Meister strafft sich plötzlich.
„Deckard...ich danke euch dafür, dass Ihr euch Gedanken über mich macht, ich weiß das zu schätzen. Aber ich glaube nicht, dass ich diese Probleme habe, wie ihr sie beschrieben habt. Ich bin ein normaler, ruhiger Mensch, das Einzige, was mich anders macht, sind meine Fähigkeiten als Totenbeschwörer. Mein Golem kann mir bei irgendwelchen Problemen sicher auch nicht helfen, er kann immerhin weder reden noch denken. Euer Rat, so gut er gemeint war, ist von völlig falschen Voraussetzungen ausgegangen. Wenn Ihr mich entschuldigen würdet? Ich habe zu tun. Golem, komm mit.“
Wie kann er nur? Wie kann er nur verkennen, wie richtig Deckard die Situation erkannt hat? Ich verstehe es nicht. Ist er wirklich so blind? Selbst ich, der doch nicht denken kann, hat es klar vor Augen. Ha!
Der Meister geht wieder auf sein Zelt zu. Zittern seine Beine? Nein, das kann doch nicht sein...da ertönt ein Flüstern von Deckard.
„Geh schon, ich habe das Gefühl, dass er dich brauchen wird. Die Zeit, die Masken fallen zu lassen, ist für ihn noch nicht gekommen.“
Und da Deckard Recht hat, folge ich dem Meister, von Zweifeln erfüllt.
Cain zieht derweil den Kiesel mit dem Symbol aus der Tasche und dreht ihn in seinen Händen.
Im Zelt finde ich den Meister, wie er, die Augen geschlossen, auf seinem Lager liegt. Die sauber sortierten Goldhaufen, die ich noch nicht mitgenommen habe, liegen verstreut auf dem Boden, genauso sein Wasserkrug, in Scherben.
Als er mich hört, öffnet er ein Auge, das mich fixiert. Langsam setzt er sich auf, vorsichtig, als wäre er verletzt. Er sieht mir immer noch genau in die Augen, unblinzelnd. Dann senkt er seinen Blick in seinen Schoß.
Er hebt eines seiner Hosenbeine. Die Narben des Knüppelschlages kommen zum Vorschein.
Wieder ist es lange still.
Ich erschrecke ein wenig, als der Meister sein Schweigen bricht.
„Im Turm...das war nicht nur ein Streifschlag, oder? Dieser Dämon hat mich voll erwischt. Mein Bein war wirklich so kaputt, wie ich mich erinnere. War es das?“
Ich nicke, aber er kann mich nicht sehen, den Blick auf die Narben gerichtet.
„Das war es wohl...ich kann mir selbst immer noch trauen. Golem.“
Er hebt den Kopf wieder und sein starrer Gesichtsausdruck begegnet mir.
„...hast du mir im Turm das Leben gerettet?“
Als ich meinen Kopf senke, um zu nicken, weicht sämtliche Spannung aus seinem Körper. Er bricht zusammen, und ich habe meine Müh und Not, ihn daran zu hindern, auf den Boden zu fallen. Er schluchzt, als ich ihn sanft zurück auf die Matte schiebe.
„Gott...oh, verdammt...wie konnte ich so dumm sein. Wie konnte ich nur...oooooh...“
Was soll ich tun? Ich will ihm helfen, das habe ich mir geschworen.
Ich lege ihm zögerlich die Hand auf die Schulter. Seine Augen sind geschwollen, als er sie auf mich richtet, sein Gesicht von Tränen überströmt.
„Golem...weißt du, wie das ist, wenn man kurz vor dem Tod steht? Wenn man es überlebt...und es ist nicht vorbei? Wenn andauernd neue Gefahren auf dich lauern, wenn du immer kaputter gemacht wirst, dein Geist Stück für Stück zermürbt wird, angegriffen, gefoltert? Weißt du das?“
Meine Gedanken bewegen sich rasend schnell. Der Turm hat Spuren nicht nur auf seinem Bein hinterlassen, sondern Narben in seiner Seele. Die Situation dort unten hat ein Trauma hinterlassen. Einen Dämon, der an seinem Geist nagt und ihn zerfrisst. Deckards Rat folgend, muss er ihn freilassen, um dagegen anzukämpfen. Ich muss es schaffen, ihm zu helfen.
Ich nicke, denn ich weiß, wie es ist, kurz vor dem Tod zu stehen.
„Du weißt es auch...ja, du weißt es. Ich habe dich öfter in Gefahr geschickt als ich mich selbst hineinbegeben habe...du kennst das.
Golem...kann ich dir vertrauen?“
Ja, das kann er absolut. Ich bin ihm Gehorsam schuldig, keinen unbedingten, aber ich werde immer in seinem Sinne handeln.
Wieder ein Nicken von mir.
Der Meister setzt sich auf und deutet auf eine Stelle neben sich.
„Ich muss dir eine Geschichte erzählen. Es geht um einen Jungen.
Nun setz dich!“
Ich setze mich neben ihn. Im Sitzen bin ich genauso groß wie er.
„Es war also einmal dieser Junge. In einer Stadt namens Lut Gholein hat er seine ersten bewussten Augenblicke erlebt. In einer Taverne, um genau zu sein, im Hinterzimmer. Dort hat er sich ein Bett geteilt mit fünf anderen, ein zweites Bett gehörte drei größeren Jungen.
Seine Eltern hat er nie gekannt. Man sagte es ihm nicht, aber es gab Gerüchte...Gerüchte, dass das Böse im Begriff war, die Welt zu verheeren.
Der Junge hat es nie verstanden, was genau in der Welt vor sich ging, aber er war sich einer Sache ganz sicher: Die mitleidigen Blicke, die ihn immer erreichten, wenn man von diesem Bösen sprach, bedeuteten viel.
Das Böse war daran schuld, dass er alleine war. Dass er sich immer mit fünf anderen Waisen streiten musste, wer an der Wand schlafen musste und fast erdrückt wurde. Dass die größeren Jungen ihn ständig schlugen, sich einen Spass daraus machten, ihn zu misshandeln. Dass all sein Weinen und Flehen nichts nützte, als sie ihm fast täglich sein spärliches Mittagessen abnahmen, dass er sich nie bei seiner Pflegemutter Atma beschweren durfte, die sich um ihn und die anderen acht kümmerte, ohne dass die Größeren ihn dafür bestrafen würden.
Verließ der Junge die Taverne, war nichts mehr von dem Mitleid zu sehen, dass man ihm darin entgegenbrachte.
Er war nicht gern gesehen bei den Ladenbesitzern auf der Straße, die er, als er noch alleine war, bestohlen hatte, um nicht zu verhungern, bei Müttern, die ihre Kinder nicht mit dreckigen Waisen spielen lassen wollten, bei den Palastwachen, die Abschaum wie ihn meist in eine dunkle Gasse zerrten und den Körper später den Geiern zum Fraß vorwarfen, versteckt und vergessen in der Wüste, ein Leben, dem Niemand eine Träne nachweinte.
Keiner mochte ihn. Er war der Bodensatz der Gesellschaft, immer am Hungern, er wusste nicht, was Freundschaft war.
Bis ein siebter Junge zu ihnen stieß, der den Platz im Bett noch enger machen würde. Keiner mochte diesen Jungen, auch der Junge unserer Erzählung nicht.
Aber der Neue war stark, er wusste, was er wollte, und wie er es bekommen konnte.
Bald schlief er nicht mit den Kleineren in dem überfüllten Bett, sondern teilte es mit den Großen, die nach ein paar „Lektionen“, wie er sie nannte, vor ihm Angst hatten, und oft auf dem Boden schliefen.
Dass diese Großen stattdessen die Kleinen auf den Boden verdrängten, ließ er nicht zu. Er nannte dies „Gerechtigkeit“. Das war ein seltsames Wort, denn der einzige Satz, den die anderen Kinder je gehört hatten, in dem dieses Wort vorkam, war:
„Es gibt keine Gerechtigkeit auf dieser Welt.“
Aber der Neue bewies, dass das nicht stimmte. Er war schlauer als die Erwachsenen, stark, und gerecht. Nach seinen ersten „Lektionen“ erhob er nie wieder die Faust gegen einen anderen Jungen.
Die Meisten fürchteten ihn, verstanden sein Konzept der „Gerechtigkeit“ nicht.
Unser Junge vom Anfang verstand es. Er betete den Neuen an, wurde sein Freund, und das, was ihm vorher von den Großen gestohlen wurde, teilte er jetzt, da es Gerechtigkeit gab, freiwillig mit dem Neuen, der aber dieses Geschenk immer ablehnte.
Ein großes Vorbild war dieser Junge.
Aber er war auch Abschaum wie sie, er war auch nicht gerne gesehen.
Als er eines Tages nicht wie üblich als Erster in das Bett der Großen kroch, wurden die Waisen unruhig. Viele waren erleichtert, und hofften, dass dieser seltsame Junge mit den seltsamen Worten wegbleiben würde.
Nicht so der Held unserer Geschichte. Er fragte sich, was geschehen sei. Er stand mitten in der Nacht von seinem Platz am Boden – denn dorthin hatten ihn die Anderen wieder verbannt – auf, und ging in die Finsternis hinaus.
Er suchte seinen Freund, sein Vorbild.
Er suchte ihn bei den Händlern, suchte ihn bei den Häusern der verdienenden Familien, suchte ihn in der Nähe des Palastes.
Als der Morgen endlich graute, fand er ihn.
Seine Kehle war rot vor Blut, sein Gesicht bleich und vor Schrecken verzerrt. Wie so Viele war er zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, und er war in die Wüste geworfen worden, versteckt, vergessen.
Einer würde ihn nicht vergessen. Unser Junge weinte den ganzen Tag, während er ein Grab in den heißen Sand schaufelte, mit bloßen Händen, tiefer, immer tiefer. Die Geier sollten seinen Freund nicht bekommen.
Die ganze Nacht hielt er Wache, seine Hände brannten, seine nackten Schultern brannten, seine Augen brannten.
Seine Seele brannte.
Er kehrte nie wieder in das Hinterzimmer der Taverne zurück. Er rannte in die Wüste hinaus, er wollte sterben wie sein Freund und ihn wiedersehen, irgendwo.
Zwei Tage später gab es nur noch das Brennen, den Sand, die Sonne. In alle Himmelsrichtungen erstreckten sich Dünen, und der Junge war am Ende.
Gerade, als er sich hinlegen wollte, seiner Qual ein Ende bereiten, aufgeben, erschien am Horizont eine Silhouette. Ein Steinbau war es, was er sah, als er näher und näher kroch, zu erschöpft, um zu gehen.
Ein altes Grabmal, zerfallen, halb im Sand begraben – aber schattig, kühl. Er stolperte die Treppe hinunter, und eine große Halle erwartete ihn. Säulen, viele zerbrochen, Reliefe an der Wand, verwittert und zerstört.
Und der Tod.
Skorpione, Ratten, Schlangen – das Grab eines Menschen war vergessen, und die Tiere eroberten es. Als eines der kleinen Tiere mit dem giftigen Stachel an seinem Schwanz auf ihn zukroch, wusste der Junge, dass es bald vorbei wäre, so oder so. Seine Kehle war ausgetrocknet, sein Magen ein Loch, seine Haut riss an vielen Stellen auf. Er sah weiße Punkte vor den Augen und hatte keine Kraft mehr.
Langsam kroch der Skorpion auf ihn zu. Der Stachel schwankte, ein Tropfen Gift glitzerte in der Sonne, die vom Eingang hereinschien.
Im Nachhinein kann man wohl sagen, dass das Tier keine böse Absicht hatte. Aber der Junge musste feststellen, dass er Angst hatte. Schreckliche Angst. Und das zeigte ihm eines, in einem kurzen Moment, der über seine Zukunft entscheiden würde:
Er wollte nicht sterben.
Genauso langsam, wie der Skorpion auf ihn zuging, hob er sein Bein und zog seinen sohlenlosen Stiefel aus.
Und als das Tier in Reichweite war, wurde es zerschmettert.
Und der Junge stand auf und zog seinen Schuh wieder an. Er hatte immer noch Durst, immer noch Hunger, und seine Haut brannte immer noch. Aber es war kühl, und er war im Schatten. Der Staub störte kaum noch.
Tiefer hinein in das Grab lief er, immer den Skorpionen, Schlangen und Ratten ausweichend, er kam an eine Treppe, folgte ihr nach unten.
Der kurze Schub an Vitalität, den er durch seine Furcht vor dem Tod erhalten hatte, begann abzuklingen, als er fast eine Stunde durch das Untergeschoß gewankt war. Er war bereit, aufzugeben, und sich zu der Leiche eines Grabräubers zu gesellen, der, skelettiert, von Stacheln aus kleinen Löchern im Boden durchbohrt, am Boden lag.
Hätte er ihn nicht gesehen, wäre er selbst über diese Löcher gelaufen, im letzten Moment besann er sich anders.
Und die Fallen beschützten einen Raum: Die Grabkammer.
Ein riesiger Sarkophag stand in der Mitte eines weiten Raumes, geschändet, die goldenen Ornamente abgebrochen, gestohlen. Die Mumie des Toten lag offen dort, der Deckel zersplittert am Boden.
Krüge umgaben den Leichnam, zerbrochen viele, aber der Inhalt noch manchmal zu erkennen: Grabbeigaben, getrocknete Früchte, Nüsse, steinhartes Brot.
Was der Tote für das Leben danach brauchen würde.
Und am Ende des Raumes, versteckt zunächst durch den Sarkophag, das neben Nahrung wichtigste Mittel zum Überleben:
Ein Brunnen mit Wasser, schmutzig, staubig, aber trinkbar.
Der Junge war gerettet.
Er beschloß, in dem Grab zu bleiben. Alleine war er zwar, aber er hatte Wasser, er hatte etwas zu essen – Ratten schmecken nicht gut, aber man kann davon leben – und er fand Unterhaltung.
Als er den Toten anhob, um zu sehen, was er verstecken könnte – denn Überleben stellt Respekt in den Hintergrund, den Grabräuber noch hatten – fand er ein Buch.
Was für ein Glück, dass Atma, die Wirtin, darauf bestand, dass ihre Waisenkinder lesen konnten! Zwar nur genug, um die Speisekarte den Gästen zu erklären, die es nicht konnten – ganz uneigennützig versorgte sie sie nicht – aber es genügte, um die alte, verblichene Schrift des Buches zu entziffern. Die Seiten am Anfang zerbröselten in Unvorsicht, aber der Rest in der Mitte war problemlos umzublättern, und mit viel Mühe und Geduld begann sich, ein neues Universum der Möglichkeiten vor dem Jungen auszubreiten.
Der Tote war ein Nekromant gewesen, berühmt und gefürchtet und eines solchen Grabes würdig. Ein Totenbeschwörer.
Und gut versteckt durch seinen eigenen toten Körper, war ein Buch, sein Lebenswerk in Wort und Bild – ein Werk über die dunkle Kunst der Nekromantie.
Der Junge begann zu lernen, begann zu verstehen.
Er bereitete sich darauf vor, das Grab wieder zu verlassen, und dafür benötigte er jegliche Mittel, die es ihm bieten könnte.
Er forschte und suchte, zerschlug sämtliche Vasen, öffnete die Gräber niederer Diener.
Und wurde fündig.
War er noch alleine zu schwach, die theoretischen Kenntnisse des Buches zu nutzen, ein magischer Stab konnte ihm helfen.
Und einen eben solchen fand er in der Grabkammer, ein Holzstab mit einem kleinen Tierschädel an der Spitze, und als er die arkanen Worte des Buches sprach, erhob sich beim ersten Versuch die Leiche des Grabräubers, um ihm fortan als Skelett zu dienen.
Er füllte Krüge mit Wasser aus dem Brunnen, säuberte uralten Stoff und schlug Verpflegung in ihn ein. Dann bepackte er das Skelett mit so vielen alten Gegenständen, die er finden und mitnehmen konnte, und ging durch die Wüste wieder zurück nach Lut Gholein.
Der Weg war ein Spaziergang mit dem Skelett, dass ihn Nachts bewachte, das ihm die wilden Tiere von Leib hielt und das seine Ausrüstung trug.
Und als er zurück in seiner Heimatstadt war, fand er, sein Gesicht mit einer gefundenen Kutte verbergend, einen Händler, den er bis jetzt noch nicht versucht hatte, zu bestehlen – weil er meist auf Reisen war, mit seiner Karawane Handelswaren austauschend – und verkaufte ihm antike Amulette, Ringe, Masken, Rüstungen.
Er wollte seine neu gewonnenen Fertigkeiten nutzen. Er wollte das Böse bekämpfen, das ihn zu einem Leben in Schmutz und Schmerz verdammt hatte. Er wollte in die Welt hinaus, um es zu suchen.
Warriv, das war der Name des Karawanenführers, nahm ihn gegen den Verzicht auf Bezahlung der Gegenstände aus dem Grab bei seiner nächsten Fahrt nach Westen mit, eine Fahrt, die im Lande Khanduras enden sollte, durch eine Pforte dort ankommend, die ein mächtiges Kloster bewachte, bewohnt von der Schwesterschaft vom verborgenen Auge. Warriv verkaufte seine Ware an viele der Jägerinnen, die Mitglied in der Schwesternschaft waren, und der Junge hörte sich derweil nach Neuigkeiten aus der Welt um.
Wie ein Donnerschlag traf ihn die Nachricht, dass das Böse in den Katakomben einer Stadt namens Tristram besiegt worden sein sollte, und er begann zu verzweifeln – sollte sein neues Lebensziel den Sinn verloren haben?
Doch eines Tages kam ein dunkler Wanderer durch die Klosterpforte, das Gesicht verhüllt von einer Kapuze, in einen braunen Umhang gekleidet. Jeder bekam eine Gänsehaut, wenn er in die Schwärze seines nicht zu erkennenden Gesichtes blickte, und einmal in der Geschichte der Schwesternschaft bot Akara, ihre Hohepriesterin, einem Gast nicht die Unterkunft im Kloster an.
Er war sowieso nicht daran interessiert – sein Weg führte ihn sofort weiter, nach Osten. Ein kollektiver Seufzer der Erleichterung ging durch das Kloster, als er es verließ.
Aber der Junge war vorsichtig geworden: Was hatte dieser seltsame Mensch zu bedeuten?
Tief in der Nacht lag er noch wach und dachte über sich und den Wanderer nach, als Schreie aus den Tiefen des Klosters hallten, als Jägerinnen in panischer Angst aus Türen rannten, und als sie sofort niedergemetzelt wurden von grotesken, Dämonischen Gestalten, die ihnen folgten.
Der Junge sah seine Chance gekommen. Er hatte einmal in seinem Leben keine Angst, er war nur sicher, was er zu tun hatte.
Er rannte zu den Wägen von Warrivs Karawane, zu dem, den er auf seiner Reise bewohnt hatte. Er öffnete die Truhe unter seinem Sitz und zerrte das Skelett hervor, das er hier drin versteckt hatte.
Als kleine rothäutige Dämonen die Tür aufstießen, erwartete sie der Tod in Form seiner eigenen, knöchernen Gestalt. Der untote Diener fuhr unter die wenigen Angreifer, die das Gemetzel im Kloster selbst hinter sich ließen und nach draußen stürmten, und vernichtete sie.
Laut rief der Junge dazu auf, zu fliehen, denn er wusste, eine Übermacht wie diese, die beständig neu aus den Türen des Klosters strömte, konnte man nicht bewältigen.
Warriv rannte zu seiner Karawane und begann, die Wägen anzuspannen. Fieberhafte Eile erfasste den Jungen, als er darauf drängt, den Großteil der Karren zurückzulassen und lieber das eigene Leben zu retten. Das Skelett war hart bedrängt von mehreren Dämonen.
Da fuhren Pfeile in die Gegner; aus einer Tür strömten keine mehr von ihnen, sondern ein Trupp Kriegerinnen, angeführt von einer Frau mit einem weißem Helm, auf dem ein blutroter Rabe eingraviert war. Ihr Bogen verschoß Pfeile, die explodierten.
Sie winkte ihre Kriegerinnen durch, schob förmlich Akara auf die Karawane zu, die sich bereits auf Drängen des Jungen in Bewegung gesetzt hatte, da Warriv den Ernst der Lage endlich erkannt hatte.
Als die Schwestern begannen, die freien Plätze zu füllen, kamen wieder neue Wellen von Dämonen auf die Flüchtenden zu.
Die Kriegerin mit dem Blutraben auf dem Helm verteidigte ihre Stellung, sie blieb zurück, wie das Skelett, das ihr half, die zu nahe kommenden Gegner zu töten. Doch bald verebbte der Strom der flüchtenden Klostereinwohner; wer jetzt nicht mehr kam, war tot oder gefangen.
Als die Karawane aus dem Tor des Klosters rumpelte, hielt die Kriegerin mit dem Feuerbogen die Stellung, damit die Wägen fliehen konnten. Keine Zurufe ihrer untergebenen Schwestern konnten sie davon abbringen.
Als das Skelett zerfiel, wurde ihre rotbehelmte Gestalt unter Dämonen begraben.“
Kapitel 47 – Masken
Der Meister ist verstummt. Er sitzt auf der Bettkante, und er scheint nicht zu wissen, wohin er seine Hände legen soll. Den starren Blick, den er während seiner Erzählung gewonnen hat, behält er bei. Seine Beine zittern.
Ich fühle eine große Anspannung. Der Dämon, der den Meister quält, ist frei. Jetzt muss er bekämpft werden, nicht wieder versteckt. Der Meister blinzelt, lehnt sich gegen ein Kissen. Seufzt.
Lege den Dämon offen! Will ich ihm zurufen, aber ich kann natürlich nicht....er muss es sich eingestehen.
„Du wirst und kannst diesen Jungen natürlich nicht verstehen, Golem...es war eine traurige Geschichte, aber wir müssen uns dem Jetzt stellen.“
Ich wende ihm meinen Kopf zu und lehne mich nach vorn. Sag es!
„Was ist denn? Du verstehst es wohl wirklich nicht. Ja, die traurige Geschichte des Jungen...sie kann uns ein sehr gutes Beispiel liefern...bist du ohne Macht, dann nehmen die Leute dich nicht wahr. Und Macht muss man sich erkämpfen! Sie sich nehmen. Jawohl.“
Ist es denn so schwer? Leg deine Maske ab, General!
Oh.
Ich habe das erste Mal nicht als „Meister“ von ihm gedacht. Bröckelt seine Fassade? Er hat schon viel zugelassen...er muss sich aber noch mehr öffnen. Er ist auch nicht der General.
„Golem...hast du es immer noch nicht verstanden, warum ich den Jungen so gut kenn?“
Sag...es...mir. Ich will es hören, auch wenn ich es weiß!
Er fällt ein wenig in sich zusammen. Ringt um Worte. Als er zu sprechen anfängt, ist seine Stimme belegt.
„Ich...dieser Junge...der Junge...
bin ich.“
Die Spannung weicht von mir. Er hat es zugegeben, seinen Dämon ausgegraben. Jetzt kommt der Kampf.
Der Junge liegt weinend auf dem Bett, das Gesicht in dem Kissen begraben.
Ich lege ihm den Arm auf die Schulter. Er weint leiser. Es reicht nicht. Langsam, zögernd, beginne ich, ihm den Kopf zu streicheln. Und langsam hört das Weinen auf.
Mit rotumrandeten Augen blickt mich der Junge an. Er schluckt.
„Golem...ich habe das noch nie Jemandem erzählt...du bist der Einzige, mit dem ich reden kann.
Schau, ich war so oft der Unterdrückte...der Verlierer...mein ganzes Leben lang der Abschaum der Gesellschaft. Wertlos.
Und als ich geflohen bin, da war ich allein, ganz allein, vergessen, unbetrauert. Dem Tode nahe. Die Einsamkeit konnte ich ertragen. Die Schmerzen. Ich hatte auch keine Angst vor dem Tod.
Aber vor dem Vergessen. Ich habe dieses Grab gesehen...so viel Arbeit, so viel Aufwand, damit dieser eine Totenbeschwörer nicht in Vergessenheit gerät. Und er ist trotzdem vergessen worden. Niemand hat ihn gewürdigt, Keiner hatte Respekt. Doch ich war hier, und ich hatte sein Vermächtnis in der Hand. Und da ist mir eines klar geworden: Man kann sein Leben nicht auf Monumenten aufbauen, auf Symbolen. Man muss sein Leben auf Taten aufbauen, dann wird dein Tod nicht das Ende sein.
Er hat sein ganzes Wissen vergraben, versteckt. Und er selbst ist es auch, vergraben, versteckt.
Ich will nicht so enden. Ich habe Angst vor dem Vergessen, jetzt auch vor dem des Todes.
Ich muss es besser machen als er. Ich muss eine Erinnerung hinterlassen.
Also kämpfe ich gegen das Böse das mir meine Eltern genommen hat und mich zur Vergessenheit verdammen wollte. Und jetzt, da ich es tue, bemerke ich eines:
Die Leute kümmert es überhaupt nicht, dass ich versuche, ihre Welt zu retten. Ich kümmere sie nicht. Sie sehen meine Skelette, meine Macht. Sie haben Angst, und wenn sie keine Angst haben, haben sie keinen Respekt. Wie Kaschya.
Alles, was mir bleibt, ist die Furcht vor mir. Und die Macht. Ich muss ihnen zeigen, wie mächtig ich bin, damit sie so tun, als würden sie mich respektieren.
Aber...damit werde ich genau wie dieser Totenbeschwörer, dessen Namen ich, der nie einen hatte, angenommen habe.
Es gibt Generäle, die von ihren Leuten respektiert werden.
Aber er war nur gefürchtet. Und ich werde es auch sein, und wenn ich sterbe, was so schnell passieren kann, werde ich vergessen werden.
Man wird froh sein, mich zu verscharren.
Und mein Leben wird verschwendet gewesen sein.“
Er sieht mich an, als wüsste ich, wie ich ihm helfen kann. Seine Augen sind Meere der Verzweiflung.
Aber ich weiß, wie ich ihm helfen kann! Ich muss es zu erklären versuchen.
Ich deute auf ihn. Er folgt meinem Finger mit den Augen.
„Ich?“
Ein Nicken von mir dazu. Ich lege meine Hände vor mein Gesicht.
„Sehe nichts?“
Nein.
„Brett vor dem Kopf?“
Ja, auch. Weiter.
„Verstecken?“
Ja! Du versteckst dich. Ich hebe mahnend den Finger.
„Ich...verstecken...Achtung?“
Nein.
„Ich verstecke mich...und muss aufpassen?“
Sehr richtig! Langsam entferne ich erst die eine Hand, dann die andere. Mein Gesicht kommt mit einem Grinsen darauf zum Vorschein.
„Ich soll mich nicht mehr verstecken?“
Nicken.
„Vor was?“
Falsche Frage, ich schüttele den Kopf. Der General blick ein wenig verständnislos drin. Dann dämmert es ihm.
„Hinter was soll ich mich nicht verstecken?“
Sehr gut! Euphorisches Nicken von mir. Ich forme meine Hand um, zu einer emotionslosen Maske vor dem Gesicht.
Dann entferne ich sie, worauf wieder ein Grinsen zum Vorschein kommt.
Der General starrt die Maske an. Fühlt sein Gesicht mit den Finger.
Und dann überzieht ein Lächeln die Lippen des Jungen. Zögerlich zunächst, dann spiegelt es sich in seinen Augen wieder.
Mir fällt auf, dass der Meister nie gelächelt hat. Überlegen gegrinst, ja. Aber es war nie...Freude...dahinter.
Habe ich eigentlich je Freude empfunden? Bis jetzt war ich immer wieder einmal nur froh, wenn wir wieder Widrigkeiten überwunden haben...aber Freude?
Der Junge fängt an zu reden.
„Golem...ich habe den gleichen Fehler begangen wie der Totenbeschwörer in dem Grab. Ich habe das versteckt, was ich bin – man hat mich selbst nie gesehen. Aber meine Maske hat man gesehen...Golem.
Sag es mir ehrlich.
Ist der General ein richtiger Idiot?“
Ich denke.
Der Meister, mit seiner Maske als überlegener Totenbeschwörer.
Als er Kaschya demütigt.
Als er Deckard schneidet.
Als er alleine in den Turm rennt.
Darum nicke ich. Mit seiner Maske als General oder Meister vor dem Gesicht ist der Junge ein echter Soziopath.
Er rollt sich auf den Rücken und wirft die Beine in die Luft. Ich brauche ein Weilchen, um zu bemerken, dass er leise und bitter lacht.
„Gott...oh, Himmel. Ich war so blind. Immer waren für mich die Anderen schuld, immer haben sie mich als völlig Unschuldigen schlecht behandelt.
Aber ich war doch schuldig. So schuldig...sie haben mich aus guten Gründen nicht gemocht.
Was soll ich bloß tun? Es ist viel zu spät...sie werde mich nie mehr respektieren...“
Sein Lachen ist zu Schluchzen geworden. Oh, aber seine letzte Aussage ist falsch. Ich wackele mit einem warnenden Zeigefinger.
„Nicht? Aber was soll ich denn tun?“
Ich hebe die Maske. Dann lasse ich sie einfach zerfließen.
„Ich soll...Ich sein? Aber ich bin ein Nichts. Der General hat Macht.
Der Junge Komplexe...“
Zeigefinger. Ich lege ihm die Hand auf die Schulter. Daumen hoch.
Er starrt mich mit offenem Mund an. Dann:
„Golem...ich muss nachdenken. Könntest du bitte gehen?“
Ein kurzer Schock. Der Meister hat nie „bitte“ gesagt. Dann gehe ich.
Draußen erwartet mich Nachtluft und Deckard, der sich an einem entfachten Lagerfeuer wärmt.
„Und? Wie ist es gelaufen?“
Daumen hoch.